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007 BUND – 09 – SCHWARZ 9 MONTAG, 10. JANUAR 2005 KULTUR Kann denn Gärtnern sexy sein? DODO HUG Seit 30 Jahren auf der Bühne und immer noch unfassbar. Ein Gespräch mit der grossen Dame der kleinen Kunst. Seite 13 LITERATUR Selbst wenn es um die Frau gehen soll, gehts um Thomas Mann. «Die Frauen der Familie Mann» ist ein Buch mit Schwachstellen. Seite 13 Tanzchef Stijn Celis spaltet mit seiner zweiten Produktion «Hidden Garden» das Berner Publikum «Hidden Garden», der zweite Tanzabend von Stijn Celis am Stadttheater Bern, zeigt ein für Berner Verhältnisse mutiges Regietheater voller visueller Reize und Brüche, in dem das wandlungsfähige Ensemble viel zum Reden, aber kaum zum Tanzen kommt. MARIANNE MÜHLEMANN So einfach ist es nicht. Den Skandal, den einige entrüstete Theaterbesucher und Ballettomanen auf dem Heimweg herbeireden wollen, bietet «Hidden Garden» ebenso wenig wie die provokative Innovation, die einige andere im Publikum zuvor frenetisch bejubeln. Die Ambivalenz führt zum Kern des Unbehagens, den der fünfviertelstündige Theaterabend bei vielen zurücklässt. Die zweite Produktion des neuen Tanzchefs Stijn Celis ist eine der kürzesten in den letzten Jahren am Stadttheater. Ein optisches Pot-au-feu im Grenzbereich zwischen Performance und Tanz, in dem multimediale visuelle Reize aus der Tanzszene der Neunzigerjahre ausgeschlachtet und aufgekocht werden. Jedoch, ohne sie vor dem Servieren sorgfältig intellektuell abzuschmecken. Allerweltsthema Liebe Laut Programmheft handelt «Hidden Garden» von Leidenschaft und Aggression in menschlichen Beziehungen, von sexuellen Phantasien und Sehnsüchten, von Zurückweisung und Hingabe, kurz: von der Suche nach Liebe – ein Allerweltsthema, das mehr offen lässt, als es bezeichnet. In diesem Sinn unvorbereitet tritt der Zuschauer in den verborgenen Garten, der so verborgen gar nicht ist. Der Vorhang steht längst offen, bevor der von nostalgischen Klängen aus den Vierzigerjahren begleitete Tanz beginnt. Der Tanz? Von der Seite schreitet einer in die Weite der Bühne. Der Raum gleicht einer stilisierten modernen Parklandschaft (Raphael Barbier, Stephan Testi) – auf der Rückseite wird sie von einer weissen Leinwand begrenzt und dominiert von einem riesigen roten Würfel. Ein Blickfang sind ein paar schwarze Stühle, ein Mikrofon und ein runder Lautsprecher. Weder Skandal noch innovative Provokation: Im freizügigen Stück «Hidden Garden» läuft das Tanzensemble höchstens Gefahr, sich selbst obsolet zu machen. Der Tänzer trägt den Kopf hoch, sein Blick ist direkt ins Publikum gerichtet, seine Haltung zeigt Eleganz, einen natürlichen Stolz, Würde, Selbstbewusstsein. Ein Gentleman, der wie alle Frauen und Männer, die sich nach und nach flanierend zu ihm gesellen, nichts zu verbergen hat. Und das ist wörtlich zu nehmen: Die Leute sind alle nackt. Splitternackt. «Take my lovely illusion» ist ein Satz, der im Ohr hängen bleibt. Aus dem Lautsprecher ergiesst er sich über die absurde Szenerie, in einem von vielen Musiktiteln, die den von Assoziationen unterfütterten Abend illustrieren. Das stilistische Spektrum wirkt wie ein beliebiges Potpourri durch die Musikwelt und reicht von Marlene Dietrich über Roberta Flack und Frédéric Chopin bis Stereo Total, Holly Cole und Panic Stepper. Ebenso fragmentiert wie die akustische Kulisse ist die optische: Auf den Monitoren, die am rechten Bühnenrand als flimmernder Bilderturm das Bühnengeschehen zu KULTURNOTIZEN LITERATUR Der französische Cork feiert KULTURHAUPTSTADT Mit Feuerwerk und Strassenkarneval hat das irische Cork am Samstagabend sein Jahr als «Kulturhauptstadt Europas» begonnen. Etwa 80 000 Menschen feierten auf den Strassen und Plätzen der zweitgrössten irischen Stadt. Cork ist eine der kleinsten Städte, denen der 1985 von der EU geschaffene Titel bisher zuerkannt wurde. (sda) Seu Jorge in Rubigen POP Der Programmverantwortliche der Mühle Hunziken legt Wert auf die Feststellung, dass der brasilianische Sänger Seu Jorge («Bund» vom letzten Samstag) nicht nur am Jazzfestival Cully spielt, sondern am 15. April auch in Rubigen auftritt. (kul) Wortreich, textilarm Dies ist eine der Botschaften, die Celis eindrücklich vermittelt. Im Garten der Liebe gärtnern ist nicht sexy. In seinem Stück gleicht das Gärtnern Kampf und schweisstreibender Ackerarbeit, bei der der eine oder die andere nicht nur die klassische Pose, die Fassung, sondern auch den Mut und ein paar (Schwanen-)Federn verliert. In diesem Spiel der Beziehungen bleiben mehr Fragen und Zweifel als Antworten. Vielleicht ist das auch gut so, wenn nachher die Debatte eröffnet wird. Emotional auf der Strecke Wie weit darf man auf der Suche nach dem Gegenüber gehen? Wie weit sich anbieten, herablassen, sich demütigen lassen? Wie viel Sehnsucht verträgt die Nähe? Nach welchen Regeln lässt sich der Hunger nach Liebe, nach Berührung, nach Sex stillen, ohne dass jemand sich selbst verliert? Wann ist «much» eben «too much»? Der Zuschauer nimmt viele Gedankenanstösse nach Hause, sofern er denn bis zum Schluss bleibt. Einige suchten vorher die Tür. Obwohl in «Hidden Garden» alles gezeigt, direkt ausgesprochen, mikrofonverstärkt formuliert und in Grossaufnahme wiedergegeben wird, bleibt es haften wie ein Zettel an einer Pinnwand. Zu viel wird angetippt und im Raum stehen gelassen, die vermeintliche Provokation verkommt zur harmlosen Unterhaltung. Und gerade dies wünschte man sich für die Tanzenden am wenigsten. Denn sie geben im blinden Vertrauen in die Regiearbeit ihres Chefs alles an diesem Abend. Sie treten aus ihrer tänzerischen Rolle, überwinden Ängste, Verletzbarkeiten und Hemmungen, tragen nicht nur ihre Lebensgeschichten zur Schau, sondern auch ihre Haut, als wäre sie nicht mehr als eine textilähnliche Grenzmembran zwischen Leib und Raum. Und sie wagen sich vom Tanzparkett, wo sie sich auskennen, aufs Glatteis der schauspielerischen Zunft, indem sie zu reden beginnen, etwas, das ein Tänzer sonst nicht tut, da er sich selbst und seine Kunst, die Körpersprache, sonst überflüssig macht. Apropos Überflüssigmachen. Die Angst, dass ein Tanzensemble obsolet werden könnte, weil es nicht vorab tanzt, sondern schauspielert, stand einigen im Publikum an diesem Abend ins Gesicht geschrieben. Zu nah sind die Diskussionen der vergangenen Jahre ums Ballett und seine Existenz. Eine Gefährdung der Beziehung Tanzpublikum/Theater könnte sich fatal auswirken. Experimentierfreude, radikalere Formen und Brüche wie in «Hidden Garden» sind wünschenswert und sollten Platz haben an einem öffentlichen Haus wie dem Berner Stadttheater, das ja alles leisten muss, weil ein zweites Haus mit einer regelmässigen Off-Szene fehlt. Der Abend zeigte aber auch eine Gefahr: Wenn sich ein etabliertes Ensemble von seinem Kerngeschäft, der Tanzkunst, entfernt, könnte wie in «Hidden Garden» der Tanz selbst gefährdet sein. Experimente wären im Tanz auch ohne gestische Codes und plakative Worte möglich, wenn die Körperkunst das Unsagbare des Alltags nach den Gesetzen der Bewegung und den Regeln der Choreografie zu einer universell verständlichen radikalen Sprache bündelt, die dort anfängt, wo das Wort aufhört. [i] WEITERE AUFFÜHRUNGEN bis 29. April. Infos: www.stadttheaterbern.ch. Opernhit im Konzertsaal Pierre Daninos gestorben Humorist und Schriftsteller Pierre Daninos ist tot. Der Verfasser des witzigen Welterfolgs «Major Thompson entdeckt die Franzosen» starb im Alter von 91 Jahren in Paris. (sda) synchronem Zeitgeist vervielfältigen, wird die nackte Wirklichkeit digital zerstückelt und zum von Reizen überquellenden Selbstbedienungsladen umfunktioniert. Doch zeigen die Fenster auch die Wahrheit? Wer sich der Bilder bedient, wird mit Garantie nicht satt. So soll es sein, denn das Verborgene in diesem Verwirrspiel ist Programm, der Garten ist ein Labyrinth, wenn man sich am Ziel der Erfüllung glaubt, ist man noch meilenweit davon entfernt. KEYSTONE Klar und nachvollziehbar – Puccinis «Bohème» in szenischer Aufführung im Berner Casino Bar jeglicher Gags und Mätzchen und ohne Modernisierungstendenzen setzte Theo Loosli mit seinem bunten Ensemble «La Bohème» in Szene. Immer wieder wagt sich Theo Loosli, der Gründer und Leiter des Berner Bach-Chors, an das künstlerische Abenteuer und das finanzielle Risiko einer eigenen Opernproduktion. Für die Saison 2004/2005 wählte er sich Giacomo Puccinis Opernhit «La Bohème» aus und stellte die aus eigener Kraft erarbeitete Aufführung – nach Wiedergaben im Rüttihubelbad, in Neuenburg und in Düdingen – nun auch mit erhebli- chem Erfolg dem Berner Publikum vor. Loosli selbst führte sein tüchtiges Orchestre Symphonique Neuchâtelois zu staunenswert flexiblen, klangintensiven und im Spiel kultivierten Leistungen. Seine Vorliebe für langsame Tempi verstärkte zweifellos die verinnerlichende Wirkung seiner Partiturauslegung, stellte aber die Atemkraft einiger Solisten bisweilen auf eine harte Probe. Das Septett des beteiligten, aus allen vier Himmelsrichtungen zusammengestellten Ensembles wurde vom Regisseur Sylvain Muster (und seinem Assistenten Bart van Doorn) zu überaus natürlichen, oft witzigen und immer wieder berührenden Rollenporträts angeleitet: eine Inszenierungsarbeit, die sich genau an die Vorschriften von Libretto und Vertonung hielt und die Handlung ohne Modernisierungstendenzen, ohne Gags und ohne Mätzchen schlicht, klar und nachvollziehbar erzählte. Bedeutende Hilfe leistete ihm dabei Thomas Ziegler mit seiner ebenso stimmungsvollen wie tourneegerechten Ausstattung. Alles in allem ergab sich eine dichte, von starken Gefühlen inspirierte und professionelle Interpretation auf erfreulich hohem Niveau. Geeignete Rollenträger Auch in der Wahl seiner Darstellerinnen und Darsteller hatte Loosli eine glückliche Hand. Die Bernerin Christa Goetze führte ihren ebenso strahlenden wie klug geführten Sopran und ihr natürliches schauspielerisches Talent zu einer idealen Verkörperung der Mimi – und Noëmi Nadelmann lieh ihr expansives Temperament, ihre Wandlungsfähigkeit und ihr weltbekanntes stimmliches Können der Musetta. Eine Tenorhoffnung für die Gegenwart und die Zukunft bedeutet Georgy Faradzhev aus Moskau: Er spielte herrlich natürlich, bezauberte mit einer geradezu magischen Mezzavoce und blieb auch den gefährlichen Spitzentönen nichts an Strahlkraft und Schönheit schuldig. Ruben Amoretti assistierte als Marcello mit sonorem und gleichzeitig unfor- ciert eingesetztem Luxus-Bariton, Hugues Georges als Schaunard mit rollenentsprechender Stimme und Darstellungsgabe, René Perler als Colline mit diskretem Feingefühl und untadeligem Bassfundament. Und der Regisseur Sylvain Muster war als Hausbesitzer Benoît und als Staatsrat Alcindoro ein vorzüglicher Betreuer kleiner, aber wichtiger Nebenrollen. Noch sind der lebhaft agierende Berner Konzertchor und der von Markus Rindlisbacher geleitete Berner Kinderchor lobend zu erwähnen. Sie alle haben mitgeholfen, dass diese «Oper im Konzertsaal» ereignishafte Züge trug und entsprechend lange und begeistert verdankt wurde. (-tt-)