Soziale Berufe in der Diakonie

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Soziale Berufe in der Diakonie
Ausgabe 3 | 2013
sozial
Magazin für Politik, Kirche und Gesellschaft in Baden-Württemberg
Soziale Berufe
in der Diakonie
Was ist diese Arbeit wert?
Talentiert
Tatkräftig
Taktvoll
Tolerant
Der Heilerziehungspfleger Ralf
Eisele schafft es immer wieder,
Menschen mit schwersten
Behinderungen zu motivieren.
Y Seite 4
Pflegekräfte engagieren sich
gerne in ihrem Beruf, beklagen
aber häufig schlechte Arbeitsbedingungen, so Experte Buxel.
Y Seite 6
Marieta Kronfeldt nimmt als
Betreuungsassistentin die gedanklichen Zeitsprünge von
demenziell Erkrankten ernst.
Y Seite 7
Für den Kickboxer Gökhan
Arslan gehört ein respektvolles
Miteinander zur Sportart dazu.
Das gibt er an Kinder weiter.
Y Seite 12
sozial • Ausgabe 3 | 2013
Soziale Berufe in der Diakonie – Was ist diese Arbeit wert?
E D I TO R I A L
Liebe Leserinnen und Leser,
„Soziale Berufe kann nicht jeder.“ So hat die Bundesdiakonie ihre Onlinekampagne genannt, mit der sie
junge Menschen für soziale Berufe gewinnen will.
Gewonnen hat die Diakonie bereits, und zwar den
Deutschen Preis für Onlinekommunikation 2013.
„Vom Imagegewinn der sozialen Berufe durch unsere
Kampagne profitieren alle“, meinte Diakonie-Präsident Johannes Stockmeier bei der Preisverleihung. Es
geht also über die reine Nachwuchswerbung hinaus
auch um das Ansehen und die Anerkennung sozialer
Arbeit in der Öffentlichkeit.
Soziale Berufe kann nicht jeder. Das musste wohl
einmal gesagt werden, obwohl es sich eigentlich von
selbst versteht. Nur Insider wissen, wie anspruchsvoll und vielfältig die Ausbildungsgänge sind, wie
qualifiziert angehende Altenpfleger, Heilpädagogen,
Jugend- und Heimerzieher oder Arbeitserzieher am
Ende der Ausbildung sein müssen. Ob der Slogan
geeignet ist, das Selbst- und Kompetenzbewusstsein
der in Pflege- und Erziehungsberufen tätigen Menschen nachhaltig zu stärken, wird sich zeigen.
Wir haben nachgefragt. Bei Experten und bei Menschen aus verschiedenen Arbeitsfeldern der BruderhausDiakonie. Nach Motiven für die Berufswahl,
Kompetenzen, Arbeitsbedingungen und Arbeitserfahrungen und nicht zuletzt nach dem Lohn der
Arbeit als Ausdruck der materiellen Wertschätzung.
Wir stellen Ihnen einen Heilerziehungspfleger vor,
der seinen Beruf seit vielen Jahren mit Freude ausübt und dennoch manches kritisch betrachtet, und
eine Betreuungsassistentin im Pflegeheim, die bei
den Senioren verweilen kann, was den Pflegekräften
wegen des engen Zeitplans häufig nicht möglich ist.
Wir sprachen mit der Leiterin einer Fachschule für
Sozialwesen, deren Schülerzahlen seit Jahren zunehmen, und mit einem Professor der Fachhochschule
Münster, der eine Studie zur Berufswahl, Motivation
und Zufriedenheit von Pflegekräften vorgelegt hat.
Und wir wünschen Ihnen bei all dem eine anregende
Lektüre
Ihre „Sozial“-Redaktion
Impressum
Inhalt
ISSN 1861-1281
TITELTHEMA
REGIONEN
3 Nachwuchskräfte begehrter denn je
11 Reutlingen:
4 Heilerziehungspfleger –
Ein vielseitiger Beruf
6 Motivation und Arbeitszufriedenheit von Pflegekräften
7 Zurück in die Gegenwart –
Betreuung im Demenzbereich
Ausbildung zur Gastronomiefachkraft in der Wilhelm-Maybach-Schule
12 Nürtingen/Esslingen:
Der Kickboxer Gökhan Arslan
lehrt Toleranz
14 Nürtingen/Kirchheim:
Jugendliche Migranten kicken
KOLUMNE
für ein gemeinsames Ziel
9 Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender
der BruderhausDiakonie:
NACHRICHTEN
Altenpflege – und die Frage nach
15 Aus der BruderhausDiakonie
dem Erfolg
DIAKONISCHER IMPULS
AKTUELL
10 Kompetenzschmiede soziale Berufe
16 Peter King:
Wem fehlt das
Kompetenzbewusstsein?
2
BruderhausDiakonie
Stiftung Gustav Werner und Haus am Berg
Ringelbachstraße 211, 72762 Reutlingen
Telefon 07121 278-225, Telefax 07121 278-955
Mail [email protected]
Herausgeber
Pfarrer Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender
Verantwortlich
Sabine Steininger (ste)
Redaktion
Martin Schwilk (msk), Sabine Steininger (ste),
Karin Waldner (kaw)
Mitarbeiter
Walter Herrmann (her), Marianne Mösle (mar),
Karoline Müller (klm)
Gestaltung und Satz
Susanne Sonneck
Druck und Versand
Grafische Werkstätte der BruderhausDiakonie,
Werkstatt für behinderte Menschen
Erscheint vierteljährlich
Fotonachweis
Seite 6: privat; Seite 3, 10: faktum/Weise, Seite 15:
Judith Midinet (Hohenzollerische Zeitung), Diakonisches Institut für Soziale Berufe, alle anderen:
Archiv und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
BruderhausDiakonie
Spendenkonto
Evangelische Kreditgenossenschaft Kassel,
BLZ 520 604 10, Konto 4006
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Soziale Berufe in der Diakonie – Was ist diese Arbeit wert?
T I T E LT H E M A
Ausbildungsberufe mit Zukunft
Nachwuchskräfte begehrter denn je
Mit diesem Ansturm hatte selbst Renate Trojahn
nicht gerechnet. „Unsere Schülerzahlen steigen zwar
kontinuierlich. Dieses Jahr erleben wir aber einen
richtigen Boom“, sagt die Leiterin der Fachschule für
Sozialwesen in Lichtenstein-Traifelberg. Die Aus- und
Fortbildungsstätte auf der Schwäbischen Alb wurde
1979 von der damaligen Gustav-Werner-Stiftung, der
heutigen BruderhausDiakonie, gegründet und gehört
seit 1999 zum Diakonischen Institut für soziale Berufe. Rund 200 vorwiegend junge Menschen werden
hier und am Standort Reutlingen unterrichtet. 78
davon haben diesen Monat mit der Ausbildung zur
Heilerziehungspflegerin begonnen. Renate Trojahn
führt das große Interesse zum einen auf den qualifizierten Unterricht zurück, zum anderen auf die vielfältigen Kontakte der Schule. „In 44 Einrichtungen der
Behindertenhilfe und der Sozialpsychiatrie werden
die Auszubildenden drei Jahre lang bestens im fachpraktischen Teil der Ausbildung begleitet.“
„Traifelberg ist Kult“, bestätigt Peter King das „hohe
Ansehen“, das die Fachschule bei Trägern und Auszubildenden genießt. „Gutes Flair, gutes Lernmilieu:
Schulleitung und Mitarbeiter machen ihre Arbeit
ausgezeichnet“, lobt der Geschäftsführer des Diakonischen Instituts für soziale Berufe, zu dem 22 Aus-,
Fort- und Weiterbildungsstätten in Baden-Württemberg gehören. Bei den meisten sind die Schülerzahlen
in den letzten Jahren leicht gestiegen. Das gilt auch
für die Altenpflege. Dort macht sich der Fachkräftemangel vor allem in den Pflegeeinrichtungen der Ballungsgebiete schon deutlich bemerkbar. Schulabgänger werden umworben wie noch nie. So informiert
zum Beispiel das Diakonische Werk Württemberg
mit der Kampagne „ran ans Leben“ über Freiwilligendienste und soziale Berufe in der Diakonie – per Online-Börse und mobiler Roadshow an den Schulen.
Solche Projekte können die Beliebtheit von sozialen
Berufen steigern. Die demografische Entwicklung
halten sie nicht auf. „Wir bilden zwar immer mehr
Altenpfleger aus. Die Nachfrage ist jedoch weitaus
größer“, sagt Peter King und spricht von einem „enormen Wachstumsmarkt“. Qualitativ stellt er der Altenpflege-Ausbildung ein gutes Zeugnis aus. „Leistung
und Motivation werden hier besonders belohnt.“ Wer
etwa nach der Hauptschule eine Ausbildung zum
Altenpflegehelfer beginnt, kann nach einem Jahr und
mit einem Notendurchschnitt
von mindestens 2,5 direkt die
Ausbildung zum Altenpfleger
anschließen. „Ohne dass sich
die Ausbildungszeit verlängert“,
betont King. Normalerweise
brauchen Altenpfleger einen
mittleren Bildungsabschluss.
So wie Heilerziehungspfleger,
die zudem ein einjähriges Vorpraktikum nachweisen müssen. Schließlich sollen sie Menschen mit
unterschiedlichsten Behinderungen bei der Lebensgestaltung unterstützen und zunehmend auch Leitungs- und Verwaltungsaufgaben übernehmen. „Die
fachlichen Ansprüche an die Auszubildenden sind
sehr hoch“, sagt Renate Trojahn. Darüber hinaus gehe
es in der Ausbildung darum, die eigene psychische
Belastbarkeit zu trainieren und ein gutes Konflikt-,
Zeit- und Stressmanagement zu entwickeln.
Die Motive für die Berufswahl sind vielfältig. „Die
meisten wollen eine sinnvolle Tätigkeit ausüben und
Menschen mit Unterstützungsbedarf zu mehr Lebensqualität verhelfen“, weiß Trojahn. Der Verdienst
sei zunächst zweitrangig. Dabei gibt es in der Öffentlichkeit immer wieder Diskussionen darüber, ob
Pflege- und Erziehungsberufe angemessen bezahlt
werden. Diakonische Einrichtungen wie die BruderhausDiakonie vergüten ihre Mitarbeiter nach den
Arbeitsvertragsrichtlinien-Württemberg (AVR-Wü),
die sich weitgehend am Tarifvertrag des öffentlichen
Dienstes (TVöD) orientieren. Ein Heilerziehungspfleger verdient als Berufseinsteiger rund 2300 Euro
brutto im Monat, nach zehn Jahren rund 2800, nach
15 Jahren rund 2900 Euro – Zulagen nicht mitgerechnet. Ein Altenpfleger bekommt nach der Ausbildung
rund 2200 Euro, nach zehn Jahren rund 2800 Euro
und nach 15 Jahren rund 3000 Euro brutto. Weiterbildungen ermöglichen den Aufstieg in leitende Positionen mit entsprechend mehr Gehalt.
Neben der finanziellen Anerkennung spielt für Renate Trojahn auch die öffentliche Wertschätzung von
Menschen in sozialen Berufen eine große Rolle. „Weil
sie einen wichtigen Beitrag zu einer funktionierenden Gesellschaft leisten.“
kaw Z
Eine Altenpflegerin braucht sich
um ihre berufliche Zukunft
keine Sorgen zu
machen.
+ www.diakonisches-institut.de
+ www.ran-ans-leben-diakonie.de
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Soziale Berufe in der Diakonie – Was ist diese Arbeit wert?
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Heilerziehungspfleger – ein vielseitiger Beruf
HEP, HEP, Hurra
Thomas Gottschalk und Ralf Eisele haben etwas gemeinsam: Beide verbreiten
Heiterkeit. Der Showmaster vor Millionen, der Heilerziehungspfleger – kurz HEP
– vor einer kleinen Gruppe. Ralf Eisele fühlt sich häufig in der Rolle eines Animateurs, der Menschen mit schwersten Behinderungen aus der Reserve lockt.
motivieren. Der 37-Jährige greift nach einem neuen
Sein Kopf hängt über der linken Schulter. Die Augen
sind geschlossen, als wolle er sich fortträumen aus ei- Notenblatt. Anna Mai* klatscht in die Hände, wirft
den Kopf hin und her. Statt mitzusingen, brabbelt die
ner Welt, die ihm viel zugemutet hat. Um ihn herum
junge Frau vor sich hin. Andere summen oder bewelebt es, lacht es, singt es. „Mach mit. Du hast so eine
gen stumm die Lippen.
schöne Stimme“, drängt
Vollständige Sätze bilden
der junge Mann neben
kann nur Markus Walz.
ihm auf dem Sofa. Er
Doch der lehnt wieder in
sagt es mehrmals, stupst
sich zusammengesunken
ihn sanft, stimmt eines
an Eiseles Schulter – und
seiner Lieblingslieder an.
schweigt.
„I am sailing ...“ Keine
Es ist kurz vor neun
Reaktion. „Home again
Uhr morgens im Lotte’cross the sea.“ Nicht
Merkh-Haus. Zeit für
mal ein Wimpernzucken.
die Frühstückspause
„I am sailing, stormy
der Fördergruppe zwei.
waters.“ Rod Stewart
Birgit Moll* läuft zur
kämpft. „To be near you,
Küchenzeile. Die kleine,
to be free.“ Mit einem
rundliche Frau sucht wie
Mal öffnet sich eines der Nach mehreren Anläufen schafft es Ralf Eisele (rechts), seinen
Klienten
zum
Singen
zu
bewegen.
immer eine Aufgabe. Ralf
schweren Lider, beginnt
Eisele bittet sie, Anna
zu blinzeln. Dann das
Mai an ihren Platz zu bringen. Diese rutscht unruhig
andere, während sich die Mundwinkel nach oben
auf dem Sofa nach vorn und ruft „fort“ und „weg“.
schieben, bis ein Lächeln die starren Züge belebt.
Fürsorglich nimmt die Ältere die Jüngere an die Hand.
„I am flying ...“ Seine Stimme ist überraschend tief
und wohlklingend. Vergessen scheinen in diesem Mo- „Und du setzt bitte Wasser für den Kaffee auf“, sagt
Eisele zu Markus Walz, der auf der Couch verharrt
ment die schwere geistige Behinderung, die epileptiund sich taub stellt. Er lässt nicht locker, bis Markus
schen Anfälle, die halbseitige Lähmung. Er singt den
Walz den Wasserkessel gefüllt hat. Neben ihm kippt
Klassiker bis zum Schluss. „... to be free – oh Lord.“
Birgit Moll einen Löffel Kaffee nach dem anderen
Zwei Frauen applaudieren. Ralf Eisele nimmt Markus
in eine hohe Kanne. Dann tippelt sie trällernd zum
Walz* in den Arm. „Rod Stewart ist nichts dagegen“,
Esstisch, hält an und blickt sich um. Sekundenlang
beteuert er.
fixiert sie Markus Walz, der mit gesenktem Kopf daRalf Eisele arbeitet seit zehn Jahren als Heilerziesteht. Die scharfen Linien um ihren Mund bekommen
hungspfleger bei der BruderhausDiakonie. In einer
einen energischen Zug. Sie macht kehrt, packt den
Fördergruppe der Reutlinger Werkstätten betreut er
Kessel und … Bevor sie das lauwarme Wasser in die
Menschen mit schwersten Behinderungen wie MarKaffeekanne schütten kann, springt Ralf Eisele auf sie
kus Walz. „Ein anstrengender Beruf, aber ein vielseitizu und hält ihren Arm fest. „Noch nicht!“ Beschwichger.“ Eisele ist Ansprechpartner für die Angehörigen,
tigend fügt er hinzu: „Ich weiß, du willst nur helfen.“
arbeitet mit Kollegen und Fachdiensten zusammen
Murrend lässt Birgit Moll das Gerät los und stapft in
und dokumentiert jeden Schritt seiner Tätigkeit. Vor
den Entspannungsraum. Dort findet die lebhafte Frau
allem versucht er immer wieder, seine Klienten zu
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sozial • Ausgabe 3 | 2013
Soziale Berufe in der Diakonie – Was ist diese Arbeit wert?
am besten zur Ruhe. Als es kurz darauf sprudelt und
Markus Walz das heiße Wasser einschenkt, trällert sie
schon wieder, als wäre nichts gewesen.
Für Ralf Eisele sind solche Szenen Alltag. Vor kurzem,
er brachte gerade Birgit Moll zur Toilette, hörte er
lautes Geschrei aus dem Gruppenraum. Ein Klient
schlug einen anderen in den Nacken. Eisele rannte los
und ging dazwischen, Birgit Moll musste mit ihrem
Gang zur Toilette warten. „Man steht als Gruppenleiter ständig unter einer gewissen Spannung“, sagt
Eisele, der zusammen mit zwei Kolleginnen für neun
Klienten Verantwortung trägt. „Weil man oft situativ
handeln muss.“ Gespür und Erfahrung helfen ihm
dabei. „In der Heilerziehungspflege braucht man immer einen Plan B und einen Plan C.“ Plan A hat er an
diesem Morgen schon zu Arbeitsbeginn verworfen,
nachdem sich eine Kollegin krank gemeldet hatte.
Glück für ihn, dass nicht alle Beschäftigten der Fördergruppe um 7.45 Uhr eintreffen. Paul Lang* zum
Beispiel kommt erst um zehn. Der Gruppensenior
schnappt sich eine Tasse Kaffee und läuft trinkend
um den langen Tisch herum. Ein Teil der heißen
Die Beschäftigten führen einfache Arbeiten
für die Werkstätten aus wie
Nägel sortieren
mit Hilfe eines
Holzstücks.
Flüssigkeit schwappt über und hinterlässt auf dem
Boden eine braune Spur. Dann streckt sich Paul Lang
auf dem Sofa aus. Die anderen machen derweil am
Nebentisch einfache Sortierarbeiten für die Werkstätten. Nach dem Frühstück holt Ralf Eisele ein vierkantiges Stück Holz vom Regal, in das 30 Vertiefungen
gestanzt sind. In jede steckt Birgit Moll einen Nagel.
Als alle Löcher gefüllt sind, schüttet sie die Nägel in
eine Schachtel. „Gut gemacht“, lobt Eisele, der darauf
achtet, dass genau 30 Nägel in der Schachtel liegen.
Das Arbeitstempo spielt eine untergeordnete Rolle.
„Selbst Abläufe, die den Beschäftigten bekannt sind,
müssen ständig wiederholt werden“, erklärt Eisele,
„bleibende Fortschritte stellen sich oft erst nach
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Jahren ein.“ Dennoch betrachtet er seinen Beruf als
Glücksfall. Während des Pädagogikstudiums jobbte
er als Pflegehelfer in einem Heim für mehrfachbehinderte Menschen, als zufällig ein Ausbildungsplatz
an der Fachschule für
Sozialpädagogik Fachrichtung Heilerziehungspflege
in Ulm frei wurde. „Der
intensive Kontakt mit
den Menschen während
der Ausbildung hat mir
gezeigt: Das ist das Richtige für mich.“ Einziger
Wermutstropfen: „Die
ungenügende gesellschaftliche und finanzielle Anerkennung. Für das, was
Heilerziehungspfleger leisten müssen, werden sie
nicht adäquat bezahlt“, findet Eisele. „Einer Familie
mit Kindern reicht ein Monatsgehalt definitiv nicht.“
Er hat deshalb eine Weiterbildung zum Fachwirt für
Organisation und Führung gemacht und studiert berufsbegleitend Bildungswissenschaften an der Fernuni Hagen. Das fördert seine Chancen auf eine leitende Funktion und ist ein Ausgleich zum Arbeitsalltag.
In der Freizeit erholt er sich beim Tanzen und bei den
integrativen Theaterprojekten der BruderhausDiakonie. „Darf ich vorstellen?“, schmunzelnd legt Eisele
seinen Arm um Birgit Moll, „meine Theaterkollegin.“
Sie kichert und kuschelt sich an ihn.
Die Wanduhr zeigt Viertel nach zwölf. Zeit für Plan B,
der heute so aussieht: Alle bleiben zum Essen im
Gruppenraum, auch diejenigen, die sonst mit einer
Mitarbeiterin in die Cafeteria gehen. Später machen
alle einen Spaziergang oder, und das wäre Plan C,
backen gemeinsam Kuchen. Doch erst gönnt sich der
Gruppenleiter eine kurze Pause in seinem kleinen
Büro. Während Paul Lang Fleischbrühe schlürft und
Markus Walz verträumt Maultaschen kaut, atmet Ralf
Eisele ein paar Mal tief durch. „Eines ist wichtig“, sagt
er dann und es klingt wie ein Resümee: „Wir haben
es mit erwachsenen Menschen zu tun, die wir als
Erwachsene behandeln müssen, auch wenn sie sich
sehr oft kindlich verhalten.“
kaw Z
Das gemeinsame
Frühstück genießen alle.
* Namen geändert
+ www.bruderhausdiakonie-werkstaetten.de
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Soziale Berufe in der Diakonie – Was ist diese Arbeit wert?
sozial • Ausgabe 3 | 2013
Motivation und Arbeitszufriedenheit von Pflegekräften
Guter Beruf, schwierige Bedingungen
Wer einen Pflegeberuf ergreift, will mit Menschen arbeiten. Die meisten Pflegekräfte lieben ihren Beruf, sind aber mit den Arbeitsbedingungen nicht immer
glücklich, sagt der Münsteraner Professor Holger Henning Buxel.
Holger Henning
Buxel hat
Pflegekräfte in
Krankenhäusern
und Altenhilfeeinrichtungen
befragt.
Y Sie haben eine Studie zur Motivation für die Berufswahl sowie zur Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit in Pflegeberufen veröffentlicht. Was sind aus
Ihrer Sicht die wichtigsten Ergebnisse daraus?
Y Was die Zufriedenheit mit dem Arbeitsplatz anbelangt, schneiden aus Sicht der Pflegekräfte offenbar die
Altenpflegeeinrichtungen besser ab als beispielsweise
Krankenhäuser. Worauf führen sie das zurück?
Erfreulicherweise lässt sich festhalten, dass die meisten Pflegerinnen und Pfleger sich mit ihrem Berufsbild stark identifizieren können. Auch machen 85
Prozent ihre Arbeit generell gerne. Schaut man auf
die konkrete Arbeitsplatzzufriedenheit, zeichnen die
Ergebnisse der Studie jedoch leider auch ein anderes
Bild. Nur circa die Hälfte der Befragten stimmt der
Aussage zu, dass sie alles in allem mit ihrem Arbeitsplatz zufrieden sind und diesen für insgesamt sehr
attraktiv halten. Es gibt also aus Sicht des Pflegepersonals einigen Handlungsbedarf zur Verbesserung
der Bedingungen am Arbeitsplatz und der Arbeitsplatzzufriedenheit in der Pflege.
Die Arbeitsverdichtung ist in vielen Krankenhäusern
weiter fortgeschritten als in der Altenpflege. Zudem
bestehen in der Altenpflege in der Regel langfristige
Beziehungen zwischen denen, die Pflege brauchen,
und dem Pflegepersonal. Im Krankenhaus dagegen
wird der Raum für den Aufbau eines guten zwischenmenschlichen Kontakts zu den Patienten eher
weniger, weil die Verweildauer der Patienten sinkt.
Die soziale Kontaktqualität des Berufes ist aber einer
der Hauptmotivatoren für die Berufswahl – und auch
dafür, dass Arbeitsplatzzufriedenheit entsteht.
Y Was hat Pflegekräfte motiviert, den Beruf zu
ergreifen?
Wir haben 740 Auszubildende danach befragt,
welches die wichtigsten Gründe gewesen sind, sich
für eine Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger beziehungsweise zur Gesundheits- und
Krankenpflegerin zu entscheiden. Damit wollten wir
Anhaltspunkte gewinnen über die Ansprüche des
Nachwuchses an einen Arbeitsplatz sowie über
dessen zielgerichtete Ansprache.
Hier zeigte sich, dass die drei wichtigsten Gründe
für die Berufswahl die Arbeit am Menschen und die
Möglichkeit zur Hilfeleistung sind sowie das Interesse an medizinischen Fragestellungen. Soziale
Aspekte spielen also eine wichtige Rolle.
Als vergleichsweise eher unwichtig wurden die Empfehlungen von Eltern, die Fortführung einer familiären Berufstradition oder die Verdienstmöglichkeiten
angesehen.
Holger Henning Buxel ist Professor für Dienstleistungs- und
Produktmarketing an der Fachhochschule Münster. 2011 hat
er eine groß angelegte Studie zur Berufswahl, Motivation und
Arbeitsplatzzufriedenheit von Pflegekräften in der Altenhilfe
und in Krankenhäusern vorgelegt.
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Y Die überwiegende Mehrheit der identifiziert sich mit
dem Beruf und tut ihre Arbeit gerne. Dennoch würde
weit weniger als die Hälfte der von Ihnen Befragten
anderen empfehlen, den Pflegeberuf zu ergreifen. Wie
interpretieren Sie diesen Widerspruch?
Von den befragten Pflegerinnen und Pflegern beispielsweise aus dem Krankenhausbereich identifizieren sich in der Tat rund 80 Prozent mit ihrem Beruf.
Dort, wo aber im Alltag die konkreten Arbeitsplatzbedingungen nicht zufriedenstellen, wird der Beruf
natürlich trotzdem selten weiterempfohlen. Es handelt sich also nur um einen bedingten Widerspruch,
es liegt eher an den aktuellen Rahmenbedingungen
im Alltag. Für viele ist der Beruf als solcher grundsätzlich attraktiv.
Y Die meisten Pflegekräfte sehen nach Ihren Ergebnissen eher schwarz für die Zukunft der Pflegeberufe. Wie
wird das begründet?
Mit Blick auf die Zukunftserwartungen der Pflegekräfte zeichnet sich in der Tat ein düsteres Bild ab. 70
Prozent, also gut zwei Drittel der Befragten, machen
sich Sorgen, dass sie mit 55 Jahren oder älter den Job
körperlich nicht mehr bewältigen könnten und dann
keine Arbeit mehr haben. Die Mehrheit des Pflegepersonals befürchtet für die kommenden zehn Jahre
zudem, dass der körperliche und psychische Stress
sozial • Ausgabe 3 | 2013
Soziale Berufe in der Diakonie – Was ist diese Arbeit wert?
im Beruf zunimmt und dass die Möglichkeit, einen
guten Kontakt zum Patienten beziehungsweise Pflegebedürftigen aufzubauen, zurückgehen wird. Und
sie befürchtet, dass der Anteil an Verwaltungs- und
Dokumentationsarbeiten steigen wird. Auch die Entwicklung der Verdienstmöglichkeiten in der Pflege
wird eher negativ eingeschätzt.
Y Mangelnde Wertschätzung der Pflegetätigkeit wird
offenbar von vielen Pflegekräften beklagt – ebenso wie
die Bezahlung. Was sind die meistgenannten Schattenseiten des Berufes?
Wir haben untersucht, welche konkreten Arbeitsplatzmerkmale im Pflegeberuf derzeit am ehesten zu
Unzufriedenheit führen – und damit den höchsten
Handlungsdruck erzeugen, die Arbeitsplatzzufriedenheit wieder zu steigern. Bemängelt werden vor allem
die Verdienstmöglichkeiten in der Pflege beziehungsweise die Einkommenshöhe. Angeführt wird aber
auch die Schwierigkeit, den Beruf mit dem Privatleben zu vereinbaren – Stichwort Work-Life-Balance.
Außerdem die fehlende Möglichkeit, einen guten
persönlichen Kontakt zu den Patienten aufzubauen:
Es bleibt zu wenig Zeit für den Menschen. Ferner
beanstanden die Befragten die geringe Anzahl von
Kollegen, mit denen eine Schicht besetzt wird. Aber
T I T E LT H E M A
auch eine mangelnde Wertschätzung von Leistung
im Arbeitsalltag – also zu wenig Lob und Anerkennung durch Vorgesetzte – wird häufig moniert.
Y Welche Möglichkeiten sehen Sie, die Wertschätzung
zu erhöhen?
Es gibt sicherlich mehrere sinnvolle Ansatzpunkte,
die Wertschätzung im Berufsalltag zu verbessern. In
Altenpflegeeinrichtungen wie Krankenhäusern gilt,
dass die Führung die Leistung regelmäßig würdigen
sollte. Dafür müssen systematische Feedback-Systeme etabliert werden – immaterielle und materielle. Das können etwa Belobigungen im Alltag und vor
dem Team sein sowie übers Jahr verteilte, beispielsweise vierteljährlich stattfindende Mitarbeitergespräche – oder auch Gratifikationen. Führungskräfte
und die Verwaltung müssen dafür sensibilisiert
werden, dass sie den Wertschätzungsbedarf systematischer und stärker befriedigen. Eng verbunden mit
diesem Punkt ist sicherlich auch die Frage, inwieweit
die traditionell hierarchischen Führungsstrukturen
etwa in Krankenhäusern den aktuellen Herausforderungen des Arbeitsmarktes gerecht werden – oder ob
noch mehr partizipative Elemente in den Führungsstrukturen umzusetzen sind.
msk Z
+ https://www.fh-muenster.de/fb8/downloads/buxel/2011_
Studie_Zufriedenheit_Pflegepersonal.pdf
Betreuungsassistentin im Demenzbereich
Zurück in die Gegenwart
Antonie Haubensak lebt seit fast vier Jahren im Seniorenzentrum Gönningen.
Ihr Geist springt zwischen verschiedenen Lebensphasen und fordert viel Einfühlungsvermögen – zum Beispiel von Betreuungsassistentin Marieta Kronfeldt.
Heute muss ein Tag im Jahre 1932 sein. Vielleicht
aber auch irgendein Tag der 50er bis 70er Jahre. Toni
ist müde, sie hat den ganzen Vormittag auf dem Acker geschuftet. Im Moment sitzt sie am Gönninger
Wasserfall und wärmt ihre müden Knochen in der
Sonne. Es stört sie nicht, dass ihr Rollstuhl ein wenig
schief auf der abschüssigen Wiese steht.
„Sie müssen noch etwas trinken! Und bitte essen Sie
doch noch ein Stück Banane.“ Mit resoluter Stimme
dringt Marieta Kronfeldt zu der träumenden Toni –
mit vollem Namen Antonie Haubensak – durch. Die
Mittfünfzigerin ist Betreuungsassistentin im Seniorenzentrum Gönningen. Bei ihrer Ankunft am Morgen hat sie gespürt, dass Antonie Haubensak unruhig
war und nicht genug essen wollte.
Haubensaks ackermüde Augen beginnen jetzt zu leuchten, freudig nimmt
sie ein Stück Banane. Kronfeldt nickt
zufrieden – nicht immer klappt alles
reibungslos bei der Arbeit mit demenziell Erkrankten.
Auch nicht mit Antonie Haubensak:
Als ehemalige Gastwirtin haut die
charakterstarke 99-Jährige schon mal
auf den Tisch und „wirft die Gäste hinaus“. Auch an
anderen Tagen lebt sie in der Vergangenheit; besonders gerne ist sie gedanklich auf ihrem Acker. 1932
kam sie als 18-Jährige aus dem damaligen Oberösterreich nach Deutschland auf einen Bauernhof, später
bewirtschaftete sie einen eigenen Acker.
Marieta Kronfeldt geht besonnen auf die
demenzkranke
Seniorin ein.
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Welche Farbe
soll es sein? Die
Betreuungsassistentin hat der
demenzerkrankten Künstlerin
ihr Malwerkzeug
bereitgelegt.
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Betreuungsassistentin Marieta Kronfeldt kennt diese Situationen: Menschen mit Demenzerkrankung
durchleben oft längst vergangene Lebensphasen
– und sind in diesen Momenten auf das Verständnis
ihrer Umwelt angewiesen. „Passiert etwas, das ihr
nicht gefällt oder das sie nicht
versteht, kann Frau Haubensak
toben und schreien, dass der Rollstuhl wackelt.“
Ortswechsel: Monika Weipert,
die Hausleiterin des Seniorenzentrums Gönningen, telefoniert.
Kaum hat sie aufgelegt, klingelt
ihr mobiles Telefon erneut. Als
Hausleiterin ist sie für alle Bereiche des Seniorenzentrums verantwortlich – neben dem Demenzbereich
zum Beispiel auch für die Tages- und Kurzzeitpflege
und das betreute Wohnen. Den Demenzbereich mag
sie besonders: „Demenziell Erkrankte sind die ehrlichsten Menschen.“ Die Demenz legt die ureigenen,
bisweilen auch unterdrückten Charaktereigenschaften eines Menschen frei, ebenso die durch Erziehung
und Konventionen hervorgerufene Hemmung, den
Gefühlen freien Lauf zu lassen.
Kronfeldt mag es, wenn die Senioren ihre Gefühle
ehrlich und unverhohlen ausleben. Selbst ein Wutanfall schüchtert sie nicht ein. „Wenn ich abends nach
Hause komme, bin ich ausgeglichen.“
Und der Verdienst? „Mein Reichtum besteht darin,
jeden Tag mit liebenswerten Menschen zu verbringen und dabei kreativ zu sein.“ Während ihren Kolleginnen, die in der Pflege tätig sind, die Gelegenheit
für persönliche Gespräche häufig fehlt, schenkt Kronfeldt Zeit – als Betreuungsassistentin ist sie nicht an
die enge Taktung der Fachkräfte gebunden.
„Wann kommt denn mein Sohn?“, fragt Antonie Haubensak unvermittelt auf dem Rückweg zum Seniorenzentrum. Am Gönninger Wasserfall sind wenige
Minuten vergangen, für Haubensak viele Jahre.
Solche Zeitsprünge sind typisch bei fortgeschrittener
Demenz. „Wichtig ist vor allem, sich auf die Menschen einzulassen und sie in ihrer momentan erlebten Zeit ernst zu nehmen“, betont Weipert, die vor
dem Haus eine kleine Atempause einlegt.
Kronfeldt hat das verinnerlicht: Besonnen geht sie
auf alle Themen ein, ob Gasthaus oder Nachmittagskaffee – je nachdem, in welcher Phase sich Antonie
Haubensak gerade befindet.
sozial • Ausgabe 3 | 2013
Zurück im Seniorenzentrum wartet schon Haubensaks Sohn Werner. Er besucht seine Mutter sehr
oft. Denn „die Entscheidung für die dauerhafte
Betreuung meiner Mutter im Seniorenzentrum fiel
uns sehr schwer“, sagt er. Mit der fortschreitenden
Demenz stieg jedoch das Sicherheitsrisiko für seine
Mutter – zum Beispiel hatte die Seniorin manchmal
vergessen, den Herd auszuschalten.
Heute ist er froh, sich für das Seniorenzentrum Gönningen entschieden zu haben. „Meine Mutter hat
hier gute Fortschritte gemacht – die kreativen Beschäftigungsangebote und Gedächtnistrainings, die
die Betreuungsassistentinnen ermöglichen, helfen
enorm.“ Werner Haubensak und seine Frau sind sich
einig, dass die individuelle Zuwendung von Marieta
Kronfeldt dazu beiträgt, die fortschreitende Demenz
zu verlangsamen und alte Fähigkeiten neu zu entdecken. „Dass sie so sein kann, wie sie ist – mit allen
Ecken und Kanten – und die Mitarbeiter auf ihre Persönlichkeit eingehen, gibt uns Sicherheit, dass es ihr
gut geht“, ergänzt Werner Haubensak. Dieses Gefühl
ist ihm ebenso wichtig wie die Gewissheit, dass seine
Mutter medizinisch und pflegerisch gut versorgt ist.
„Ich war heute schon auf dem Feld“, eröffnet Antonie
Haubensak ihrem Sohn. Der kennt die geistigen Zeitsprünge seiner Mutter und geht darauf ein. „Wir haben viel gelernt, seit sie hier in der Demenzgruppe ist.
Der persönliche Kontakt zu dem Team hier hilft uns,
mit ihrer Krankheit umzugehen“, erzählt seine Frau.
In der Zwischenzeit widmet sich Kronfeldt einer anderen dementen Seniorin, die früher eine begabte
Künstlerin war. Sie breitet verschiedene bunte Stifte
und Papiere vor ihr aus. „Sollen wir die Blumenblätter
in dunkel- oder hellgrün malen?“ Unschlüssig hält die
Seniorin zwei Holzmalstifte in der Hand. „Na, Sie sind
die Künstlerin von uns beiden.“ Kronfeldt ermutigt
sie mit sanfter Stimme und legt ihre Hand auf den
Arm der alten Frau. „Am Anfang hat sie sich kaum etwas zugetraut, heute malt sie wieder gerne“, erzählt
die Betreuungsassistentin. Die Künstlerin entscheidet
sich für dunkelgrün.
Antonie Haubensak ist derweil in einem Ruhesessel eingenickt, ihre Lider sind entspannt – vielleicht
ist sie gerade vom Acker zurückgekommen und im
Wirtshaus sind auch die letzten Gäste nach Hause
gegangen.
klm Z
+ www.seniorenzentrum-goenningen.de
KO L U M N E
sozial • Ausgabe 1
3 | 2013
Lothar Bauer: Altenpflege –
und die Frage nach dem Erfolg
Die Altenpflege leidet unter einem Mangel an Erfolgserlebnissen und Anerkennung. So das Ergebnis
einer kürzlich veröffentlichten Untersuchung. In der
Tat erscheinen Pflegeheime gern dann im Horizont
der Öffentlichkeit, wenn es um Missstände geht. Wo
aber spricht man über die Erfolge und über die „Helden des Alltags“ in der Altenpflege?
Was sind die Erfolge in der Altenpflege?
Ein gewaschener und erfrischter Mensch, eine zubereitete und in Einzelportionen dargereichte Mahlzeit,
eine Pflegeversorgung, ein gelöster Konflikt zwischen
Bewohnern, eine Lagerung, die das Liegen erträglicher macht, ein Über-den-Kopf-streicheln. Täglich
jedem Menschen aus seinem Bett helfen, ein gebeteter Gute-Nacht-Vers, die Zuwendung, die Ehrenamtliche geben, das sind die Erfolge, über die man in der
Altenpflege Buch führen sollte.
Und in der Tat – es wird Buch geführt, sogar ausführlich. Unendlich fleißig werden die Leistungen derer,
die in der Altenpflege arbeiten, dokumentiert und
von den medizinischen Diensten der Pflegekassen
und von der Heimaufsicht kontrolliert. Man muss nur
verstehen, was man liest. Die Berichte sind eigentlich
ja auch nicht als Erfolgsberichte geschrieben. Es sind
eher Kontrollberichte. Benennung von Lob erfolgt
schwäbisch zurückhaltend. „Net geschimpft ist genug gelobt.“ „Nicht zu beanstanden“ ist eine Aussage, die man immer wieder findet. Man kann die Berichte aber auch lesen als einen Leistungsbericht und
als Erfolgsstory. In der Zusammenfassung eines Be-
Pfarrer Lothar
Bauer, Vorstandsvorsitzender der
BruderhausDiakonie
richtes kommt das auch explizit zum Ausdruck, wenn
gesagt wird, dass die unangekündigte Begehung
„eine gute Versorgung der begutachteten Bewohner
entsprechend dem allgemein anerkannten Standard
pflegewissenschaftlicher Erkenntnisse“ ergab. Und
weiter: „Insgesamt sehr angenehme Atmosphäre im
Seniorenzentrum mit freundlichen und kompetenten
Mitarbeitern.“
Bravo! Hier ist Applaus angesagt und es wäre schön,
wenn der auch mal durchdringen würde bis zu den
vielen teils unsäglichen Talkrunden zum Thema
Altenpflege. Hier haben wir es also amtlich, dass
eine tolle Mannschaftsleistung erbracht wurde. Die
Berichte zu einzelnen Bewohnern zeigen, was man
sich unter dem Begriff der Multimorbidität vorstellen
muss. Die Arbeit in der Altenpflege ist häufig ein permanentes Krisenmanagement, ein andauernder Feuerwehreinsatz. Es gibt keine Lösungen mehr, sondern
nur noch Behelfe, die besser oder schlechter sind.
Die Aufgabe besteht darin, Menschen so
zu begleiten, dass das Unerträgliche erträglich wird.
Will man die Leistung in der Altenpflege würdigen,
muss man den Tod anerkennen. Ihn besiegen die
Pflegenden nicht. Aber mit ihrer hohen Fachlichkeit
und mit christlichem Geist und diakonischer Haltung
vermögen sie, Menschen gut durch die letzte Lebensphase bis zu der Schwelle zu begleiten, an der man
einen Menschen loslässt und ihn in Gottes Hand gibt.
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AKTUELL
sozial • Ausgabe 3 | 2013
Reutlingen
Kompetenzschmiede soziale Berufe
Shanghai-Reutlingen: Der Vorstand von Wafios scheut keine Flugmeilen,
um über den Erwerb von Kompetenzen in sozialen Berufen zu sprechen.
Überzeugt: Wafios-Vorstand Martin Holder und Sozialpädagogin Martina Mäder.
Zufrieden: Altenpflegerin Katrin Tilk (dritte von rechts)
im Gespräch mit Moderatorin Dorothee Schad.
Wegweisend: Geschäftsführer Peter King (rechts) und
Dienststellenleiter Edwin Benner.
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Gerade gelandet, kurz erfrischt und schon auf dem Podium beim Jahresfest der BruderhausDiakonie zum Thema „Soziale Berufe – ein heißer Job“.
Martin Holder, Vorstand der Reutlinger Wafios AG, weiß, welche sozialen
Kompetenzen im internationalen Kundengeschäft zwischen Asien, Südamerika und Europa erwartet werden: zum Beispiel Frustrationstoleranz
und insbesondere Anforderungen standzuhalten. Deshalb schickt das
Unternehmen, das Präzisionsmaschinen baut, sämtliche Auszubildenden
zum zweiwöchigen Praktikum in die BruderhausDiakonie. In der Arbeit
mit Menschen mit Behinderung lernen die angehenden Mechatroniker, Mechaniker oder kaufmännischen Auszubildenden die Basis dieser
gefragten Fähigkeiten – soziale Berufsfelder als Schule fürs internationale
Parkett. Katrin Tilk, fast fertige Altenpflegerin in der BruderhausDiakonie,
stellt sich jeden Tag neuen Herausforderungen. Dabei, erklärte sie dem
Publikum im Gespräch, käme so viel von den älteren Menschen zurück:
immer wieder ein Lächeln und Dankbarkeit. Und bei der Pflegedokumentation am Computer lerne sie Planung und gezielte Organisation. „Das
finde ich spitze.“
Mehr als 3000 Personen arbeiten in der BruderhausDiakonie in sozialen Berufen, erläuterte Moderatorin Dorothee Schad, die die Abteilung
Personalentwicklung und Bildung in der Stiftung verantwortet. Einige
von ihnen machten ein duales Studium. So auch Martina Mäder. Die
mittlerweile fertige Sozialpädagogin begeistert an dieser Form der Ausbildung die enge Verzahnung von Theorie und Praxis. Seit Abschluss
ihres Studiums arbeitet sie in der Behindertenhilfe. „Jeden Tag stelle ich
mich auf etwas Neues ein, Geduld und Ausdauer sind unter anderem
Eigenschaften, die wir Kollegen brauchen.“ Edwin Benner ist überzeugter
Sozialpädagoge – einer, der seinen Traumberuf gefunden hat. Der Leiter
des Jugendhilfeverbundes Kinderheim Rodt plädiert für mehr Männer in
sozialen Berufen. „In der Jugendhilfe lassen sich Abenteuerlust und Beruf
verbinden.“ Erlebnispädagogik mit Jugendlichen heißt zum Beispiel Radfahren, Klettern und Skifahren. Basis solcher Projekte ist eine Ausbildung
zum Jugend- und Heimerzieher oder ein Sozialpädagogik-Studium. Als
große Aufgabe könne man Verantwortung für eine ganze Wohngruppe
übernehmen. Verschiedene Ausbildungswege führen zu einem sozialen
Beruf. Peter King, Geschäftsführer des Diakonischen Instituts für Soziale
Berufe, erklärte sie dem Publikum. Und er machte die Grundvoraussetzung deutlich: „Wer einen sozialen Beruf ergreifen möchte, muss Menschen mögen – und sich selbst.“ Und wer genügend Leistungsmotivation
mitbringe, könne es auch mit einem Hauptschulabschluss zum Beispiel in
der Pflege weit bringen: „Aufstocken kann man immer.“
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REGIONEN
sozial • Ausgabe 3 | 2013
Reutlingen
Auf Weltmeeren unterwegs sein
Ob der Traum von Sascha Lulei in Erfüllung geht? Noch ist er in der Ausbildung in
einem Vier-Sterne-Hotel in Reutlingen und in der Wilhelm-Maybach-Schule der
BruderhausDiakonie.
Sascha Lulei schwärmt vom Meer: „Wenn für mich
der Wehrdienst in Frage gekommen wäre, hätte ich
mich bei der Marine beworben.“ Auch bei seinem
Hobby hat er es mit Wasser zu tun. Schon seit zehn
Jahren trainiert er Kinder im Pfullinger Hallenbad.
Auf den ersten Blick hat seine Berufsausbildung mit
Wasser nichts zu tun. Er ist im zweiten Ausbildungsjahr zur Fachkraft Gastronomie. Nach Beendigung
der Ausbildung will er noch ein Jahr Ausbildung zum
Hotel- oder Gaststättenfachmann anhängen und
dann – und da kommt er wieder auf sein Element zu
sprechen – klappt es vielleicht mit einem Arbeitsplatz
auf einem Kreuzfahrtschiff.
19 Jahre ist Sascha Lulei alt. Aufgewachsen ist er
als Zweitältester mit vier Geschwistern, nun lebt er
selbstständig. In die Wilhelm-Maybach-Schule der
BruderhausDiakonie in Reutlingen ist er vor drei
Jahren gekommen. Zuerst machte er dort seinen
Hauptschulabschluss und im Anschluss die Berufsausbildung.
Der 19-jährige Sascha Lulei begeistert sich für die See.
„Fachrechnen, Wirtschaftskunde, Deutsch, Englisch
Gemeinschaftskunde …“, zählt er die Unterrichtsfächer auf. Besonders gefallen ihm die Fachpraktika in
der Schule. Er lernt dort, wie – je nach Anlass der Veranstaltung – Geschirr, Besteck und Gläser bei einem
Mehrgänge-Menü ausgewählt und auf der Tafel positioniert werden und wie saisonal und anlassbezogen
die Tische dekoriert werden können.
In seiner Klasse sind neben den Auszubildenden
zur Fachkraft Gastronomie auch zwei Kollegen,
die sich zum Beikoch ausbilden lassen. Davon
profitiert er. „Das macht Spaß, in der WilhelmMaybach-Schule zu kochen.“
Im Lehrrestaurant der Schule üben sie das Bedienen. Fleisch und Gemüse auf den Platten sind
aus Kunststoff. „Besser ist besser“, meint Sascha
Lulei und lacht verschmitzt. „Man lernt hier
sogar, wie man Speisekarten gestaltet.“
Gerne möchte Sascha außer dem Tagungshotel,
in dem er die Praxis lernt, auch einmal ein Familienhotel kennenlernen. Dort hätten die Gäste viel mehr
Zeit, und schon beim Frühstück ergäben sich Möglichkeiten für Gespräche. „Begegnung mit Menschen,
das ist mir wichtig.“ Das erträumt er sich auch von
der Arbeit auf einem Kreuzfahrtdampfer.
Jetzt liegt aber noch ein Ausbildungsjahr in der
Wilhelm-Maybach-Schule vor ihm. „Das Gebäude war
früher einmal eine französische Kaserne“, erklärt er.
„Vor dem Rektorat sind Vorrichtungen, wo man ehemals die Waffen abgestellt hat – aber die brauchen
wir hier nicht“, fügt er rasch hinzu. Dafür steht jetzt
auf dem Waffenbord zweckentfremdet – aber schön
– ein Strauß mit Sommerblumen.
Warum die Schule den Namen von Wilhelm Maybach
trägt, hat seinen Grund. Der spätere Autokonstrukteur kam vor mehr als 150 Jahren, als neunjähriger
Waisenjunge, in die Obhut von Pfarrer Gustav Werner
nach Reutlingen. Dort machte er als Lehrling von
Gottlieb Daimler eine Ausbildung in den Wernerschen Fabriken. Daimler und Maybach freundeten
sich an und konstruierten später das erste Automobil, den Mercedes. Mercedes und Maybach sind heute
noch Namen von Luxuslimousinen. Vielleicht arbeitet
Sascha Lulei ja später einmal auf Luxuslinern. Aber
das ist noch Zukunft.
Viel näher liegt für ihn der nächste Urlaub. Da will er
mit einigen Kumpels nach Hamburg. Die Stadt an der
Elbe hat es ihm angetan. Vielleicht sieht er im Hafen
ja ein Kreuzfahrtschiff, das gerade angelegt hat.
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Im Fachpraktikum
lernt Sascha Lulei,
zu dekorieren.
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REGIONEN
sozial • Ausgabe 3 | 2013
Nürtingen/Esslingen
Ein Kämpfer lehrt Toleranz
Als Kickboxer hat Gökhan Arslan alles erreicht, was zu erreichen ist. Als Migrant
hat er sich in Deutschland eine Existenz aufgebaut. Seine Lebenserfahrung gibt er
an Kinder und Jugendliche weiter.
Jugendliche. „Sie sollen auch an die Zukunft denken“,
Gökhan Arslan hängt in den Seilen. Der Schweiß
sagt er. „Sie sollen sich überlegen, was ist, wenn sie
drückt aus seinen Poren. Helm und Mundschutz hat
30 sind.“
er abgenommen. Zweimal tief durchatmen. Dann
Seine „Tiger-Sportakademie“ in Esslingen hat er vor
geht es weiter: Tritte mit dem Fuß, Schläge mit der
einem guten Jahr aufgemacht. Er betreibt sie mit seiFaust, blitzschnell und fast tänzerisch ausgeführt.
ner Frau und einem befreundeten Ehepaar. „So etwas
Ausweichen, wegducken, zuschlagen. Das war die
ist nur zusammen machbar“, ist er überzeugt. Die
Choreographie. Jeweils drei Minuten lang. Danach:
Partner haben Geld in das Studio gesteckt und kümein Handschlag, eine schweißnasse Umarmung. Er
mern sich um Buchhaltung
steigt aus dem Ring und
und Organisation. Arslan
stellt sich vor das gute Dutist der Sportexperte. „Jeder
zend Männer und Frauen.
von uns hat seinen Bereich,
Deutet eine Verbeugung an.
keiner mischt sich in die
Lächelt. Die Gruppe applauArbeit des anderen ein.“
diert. Und Gökhan, wie ihn
Freundinnen, Freunde, Ehehier alle nennen, beklatscht
partner und Kinder sitzen
seine Schüler und Trainingsim Empfangsraum und
partner. Ein respektvolles
schauen bei türkischem
Miteinander gehört zur
Tee und Kaffee dem TraiSportart. „Immer wenn
Kurze Atempause für Gökhan Arslan. Helm und Mundning zu. Ein italienischer
Egoismus ins Spiel kommt
schutz hat er abgenommen.
Gastwirt fachsimpelt mit
oder wenn jemand extrem
einem kroatischen Kickboxer, der mit geschientem
ist, dann wird es schwierig“, das ist seine Erfahrung.
Bein und Krücken am Mattenrand sitzt. Die Kondition
Gökhan Arslan ist nicht irgendwer. In der Kampfzweier Polizeischüler, die zum Gasttraining da sind,
sportszene hat er einen Namen: Weltmeister 2006,
fasziniert die beiden Zuschauer. Liegestütze, Sprünge
2011 und 2012. Im Oktober will er seinen Titel verteiaus der Hocke. Die jungen Männer auf der Matte
digen – ein letztes Mal.
triefen. Aber sie geben nicht auf. „Vierundzwanzig,
Das Kickboxen hat er erst spät angefangen, mit 24
fünfundzwanzig, Schluss“, ruft Gökhan Arslan. Die
Jahren. Und in etwas mehr als einem Jahrzehnt alles
Polizeischüler schütteln Arme und Beine aus, schnaperreicht, was man in dieser Sportart erreichen kann.
pen nach Luft. Arslan klopft ihnen anerkennend auf
Jetzt ist er 37 und findet: „Ich muss mir nichts mehr
den Rücken.
beweisen.“
Mit 16 Jahren, erzählt Arslan, ist er von Anatolien
Was er sich erkämpft hat an Erfahrung im Sport und
nach Deutschland gekommen. „Von einem Tag auf
im Leben, das will er weitergeben – an Kinder und
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sozial • Ausgabe 3 | 2013
den anderen habe ich die Heimat verlassen müssen.“
Nach einem schweren Erdbeben waren die Verhältnisse in seiner Heimatstadt unerträglich geworden.
Über diese Zeit spricht er nicht gerne.
„In Deutschland habe ich zuerst bei Verwandten
Unterschlupf gefunden“, berichtet er, „dann habe ich
Asyl beantragt.“ Er lebte im Asylheim und bei einem
Freund – und eine Zeitlang sogar unter freiem Himmel. Schließlich kam er im Mietshaus eines Onkels
unter. Er machte ein Berufsvorbereitungsjahr und
arbeitete als Bauhelfer und Fahrer. Und er lernte
seine Frau Meliha kennen – eine sunnitische Türkin
aus einer sehr konservativen Familie.
Ihre Eltern waren gegen die Verbindung. „Ein Alevit und eine Sunnitin, das ging eigentlich gar nicht
zusammen“, erinnert er sich. Dennoch haben die
beiden jungen Leute damals schnell beschlossen zu
heiraten. „Bei mir gibt’s keinen Unterschied zwischen
Sunniten und Aleviten“, betont er.
Genau genommen, sagt Arslan, gebe es nur zwei
Probleme im Leben: Religion und Nationalität. „Wenn
man die abschaffen könnte, hätten wir eine gute
Welt.“ Respekt und Toleranz anderen gegenüber, das
lebt er – und das lehrt er. „Ich muss nicht das Gleiche
tun und denken wie der andere“, sagt er, „aber ich
muss ihm Respekt zeigen.“
In Schulen und Vereinen erzählt er über sich und
seine Geschichte – und versucht den jungen Menschen beizubringen, „wie man miteinander umgehen
soll auf dem Schulhof“. Und wie man sich wehren
kann gegen Stärkere. „Sich wehren zu können schadet nicht und gibt den Kindern Sicherheit.“ Um
Selbstverteidigung geht es dabei nur am Rande.
Arslan will den Kindern und Jugendlichen soziales
Verhalten beibringen. „Wichtig ist“, sagt er und hebt
den Finger, „die richtigen Wege zu zeigen in einer
Sprache, die Kinder verstehen.“ Kickboxen ist Körperbeherrschung, Selbstdisziplin, Selbstvertrauen – und
vor allem: Achtung des Gegners. „Wir geben uns
immer die Hand, wenn wir gegeneinander gekämpft
haben“, betont Arslan.
REGIONEN
Er scrollt den Terminkalender seines Smartphones
durch. Vor zwei Tagen war er beim Integrationsausschuss der Stadt Kirchheim eingeladen – auf Vermittlung des Fachdienstes Jugend, Bildung, Migration der
BruderhausDiakonie. Dort hat er einen Vortrag gehalten. Thema: Was müssen Migranten selbst beitragen,
um in Deutschland Fuß fassen zu können? Morgen
steht eine Einheit „Soziales
Lernen“ in einem Stuttgarter
Gymnasium auf dem Plan.
„Die Direktorin hat mich
beim Tag der offenen Tür in
einer alevitischen Moschee
angesprochen, da habe ich
mit meinen Kindern Kickboxen vorgeführt.“
Für die Zeit nach den Schulferien hat er Termine in seinem Wohnort Nürtingen
und in der Nachbarstadt Kirchheim. Der Fachdienst
Jugend, Bildung, Migration will ihn dort bei Projekten gegen alkoholbedingte Jugendgewalt einsetzen
und als Motivator bei Sprachkursen für jugendliche
Migranten.
Gökhan Arslan macht dabei gerne mit. „Ich versuche
weiterzugeben, dass erfolgreich sein auch heißt,
sozial zu sein“, sagt er. Und er erzählt von einem kurdischen Freiheitshelden, der mit 24 Jahren hingerichtet wurde. „Der hat vor der Hinrichtung gesagt: Es ist
nicht wichtig, lange zu leben, sondern viel zu tun und
Gutes zu tun.“
Die Trainingseinheit ist zu Ende. Gökhan Arslans Frau
Meliha hat Baklava verteilt und türkische Kekse. Ein
verschwitzter Boxer stillt in der Ecke seine blutende
Nase: Der kräftige Haken seines Sparringspartners
hatte ihn erwischt. Arslan ermahnt: „Ihr sollt Druck
machen, aber nicht hart schlagen.“ Die ersten kommen schon aus der Dusche, verabschieden sich. Jeder
bekommt einen Handschlag. „Das ist normal bei
uns“, kommentiert Arslan, „wir sind wie eine Familie.“
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Gökhan Arslan
ist stolz auf seine
„Tiger-Sportakademie“. Neben
dem Eingang
hängen Bilder
erfolgreicher
Schüler.
Schnelligeit und
Körperbeherrschung gehören
zum Kickboxen –
und Ausdauer im
Training.
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REGIONEN
sozial • Ausgabe 3 | 2013
Nürtingen/Kirchheim
Kicken für ein gemeinsames Ziel
Im Projekt LIWING stärken jugendliche Migranten ihre Persönlichkeit.
Mädchen und
Jungen spielen
gleichberechtigt.
Abdullah, Denis, Volkan, Tarkan und Murat sind
Freunde. Fünf gute Freunde, seit sie zusammen die
Schulbank in der Nürtinger Ersbergschule gedrückt
haben und nun in der Parkour-Gruppe des Projekts
„LIWING“ vom Fachdienst Jugend, Bildung, Migration
der BruderhausDiakonie Mauern und Wände hoch
laufen. Fußball spielen sie, abgesehen von Murat, selten. Aber an diesem heißen Samstagvormittag beim StraßenfußballTurnier im Scharnhauser Park in
Ostfildern kicken sie, was das Zeug
hält. „Sogar mit einem Mädchen.“
Als Sozialpädagogin Ivana Serka,
in der Parkour-Gruppe nachfragte,
wer Lust auf ein Straßenfußballturnier habe, meldeten sich die 14
bis 18 Jahre alten Freunde spontan; und waren sich
einig, dass Jessica dabei sein sollte. Das Mädchen
gehört schon lange zur Mannschaft, auch wenn sie
nicht über Wände und Mauern springt. Gleich nach
dem Anpfiff auf dem Trendsportfeld versenkt sie den
ersten Ball im Zwei-Meter-Tor: „Check“, abklatschen
und strahlen.
Es ist nicht einfach, Mädchen und Jungs in diesem
Alter für gemeinsame Aktionen zu begeistern. Obwohl eine Regel des Straßenfußballs bei KICKFAIR
sagt, dass die Teams gemischt sein sollen, bestehen
elf von zwölf Mannschaften, die aus Nürtingen,
Kirchheim, Reutlingen, Bad Urach, Esslingen, Göppingen und Ostfildern zum Turnier gekommen sind, nur
aus Jungs. Ob die Teilnahme von Jessica einen Bonuspunkt extra für die Nürtinger gibt?
Die jugendlichen Kicker nehmen teil an einem von
vielen unterschiedlichen Angeboten im Rahmen des
Projektes „LIWING“, die der Fachdienst Jugend, Bildung, Migration der BruderhausDiakonie an Berufs-
„LIWING – Leben In Würde: Integration Nachhaltig Gestalten “
Mit dem Projekt haben sich fünf Träger – Kreisjugendring Esslingen
e.V., Fachdienst Jugend, Bildung, Migration der BruderhausDiakonie,
Berufsbildungswerk Waiblingen gGmbH, KICKFAIR e.V., BBQ Berufliche
Bildung gGmbH – zusammengeschlossen. Ihr Ziel ist, die berufliche
und gesellschaftliche Integration benachteiligter junger Menschen zu
verbessern.
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schulen wie der Max-Eyth-Schule in Kirchheim oder
der Fritz-Ruoff-Schule in Nürtingen unterstützt. Außerschulische Bildungsangebote mit dem Ziel, soziale
Kompetenzen zu erwerben, gehören dazu, aber auch
gezielte sozialpädagogische Ausbildungsbegleitung
und individuelle Sprachförderung. „Räume schaffen,
um sich auszuprobieren“, sei wichtig, sagt die Projektleiterin Amina Ramadan. „Wir wollen mit unseren
Angeboten die persönliche Entwicklung der Jugendlichen stärken. Denn wenn sie was drauf haben und
wahrgenommen werden, schafft das Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen.“
Vor jedem Turnierspiel ruft die Spielleitung zur Vorbesprechung der Mannschaften ins Dialogzelt. Mit
Youth Leadern, jugendlichen Mentorinnen und Mentoren, werden drei Spielregeln aufgestellt. Dafür gibt
es Punkte: Entschuldigen bei Fouls zum Beispiel oder
Bolzen ist tabu. Fairness zählt genauso viel wie Tore.
„Straßenfußball ist schöner als normaler Fußball“,
meint Tarkan, „weil er nach eigenen Regeln funktioniert und weil wir hinterher noch Ausdauer haben.“
Die Vorfreude auf das Spiel blitzt den sechs Freunden
aus dem Gesicht.
Die Nürtinger Parkour-Gruppe trifft sich seit über
zwei Jahren. Dabei geben die Jugendlichen ihre Fähigkeiten als Mentoren an Jüngere weiter und sind
stolz auf die „Kleinen“, wenn alles klappt. Neben dem
Training engagieren sich die Jugendlichen außerdem
bei Gemeindefesten – Stichwort
gesellschaftliche
Teilhabe – oder
spielen zur Abwechslung Straßenfußball.
Sport in einer Mannschaft stärkt
Wie heute: Acht
das Gemeinschaftsgefühl.
Minuten werden
im Zehn-auf-zehn-Meter-Feld in Ostfildern bis zum
Abpfiff gespielt. Am Ende treffen sich die Mannschaften erneut zur Besprechung. Was war fair, was unfair,
aggressiv oder gemein, wie sind wir miteinander
umgegangen? „Super! Wenn wir nett sind, dann sind
die anderen auch nett“, kommentiert Denis. „Kluger
Spruch“, Jessica hebt den Daumen.
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N NACH RICHTEN
sozial • Ausgabe 3 | 2013
Unterstützungszentrum für psychisch Erkrankte eröffnet
Hechingen – Die BruderhausDiakonie hat in der Hechinger Stutenhofstraße ein Unterstützungszentrum
mit zehn Wohnplätzen für Menschen mit psychischer
Erkrankung eingerichtet.
Für Lothar Bauer (am Rednerpult) ist das Unterstützungszentrum „eine gelungene bauliche Lösung“.
Pfarrer Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender der
BruderhausDiakonie und Dorothea Bachmann, Bürgermeisterin von Hechingen, haben das Gebäude
mit einem Festakt eröffnet. Mit dem Wohnprojekt
bietet die BruderhausDiakonie intensive Hilfen für
psychisch kranke Menschen wohnortnah in einem
ambulanten Rahmen an und schließt eine bislang
bestehende Versorgungslücke in Hechingen.
Bachmann begrüßte das neue Angebot in ihrer Stadt.
„Es ist wichtig, dass es für Menschen, die Hilfe brauchen, individuelle Lösungen gibt.“ Und auch der Sozialdezernent des Zollernalbkreises, Eberhard Wiget,
betonte: „Die Angebote müssen vor Ort geschaffen
werden.“ Pfarrer Lothar Bauer freute sich über die
„sehr gelungene bauliche Lösung“, die „gemeinsam
mit allen Partnern“ entwickelt und umgesetzt wurde.
Die BruderhausDiakonie hat das Wohnprojekt in
enger Kooperation mit der Landkreisverwaltung des
Zollernalbkreises und dem Bürgermeisteramt Hechingen verwirklicht. Die Stiftung Mensch der Sparkasse Zollernalb unterstützte das Vorhaben finanziell.
Zwei von der BruderhausDiakonie betreute Bewohner schilderten, wie ihnen die Unterstützung hilft,
durch Krisenzeiten zu kommen. „Ich weiß, dass ich
mich immer an die Mitarbeiter wenden kann – sowohl tagsüber als auch nachts“, sagte einer der Betroffenen.
Der evangelische Pfarrer Herbert Würth und der
katholische Geistliche Benedikt Ritzler segneten gemeinsam das Haus.
Die BruderhausDiakonie ist mit ihrem „Wohnprojekt
Hechingen“ seit vier Jahren vor Ort tätig und schafft
mit dem Neubau die räumlichen Voraussetzungen
für die Unterstützung psychisch erkrankter Menschen. Das Zentrum bietet betreute Wohnplätze in
Einzelappartements sowie Räume für die Tagesstruktur und ein Mitarbeiterbüro. Klienten finden hier
Hilfe in der Krankheits- und Alltagsbewältigung, die
Möglichkeit zum Austausch und zur Unterstützung
für weiterführende Hilfeangebote. Vom Stützpunkt
Stutenhofstraße aus werden passgenaue, sozialraumorientierte und lebensweltnahe Hilfen angeboten,
auch für Klienten , die an anderen Orten im Rahmen
des Wohnprojektes Hechingen betreut werden.
Neue Pflegeakademie
Stuttgart – Für Pflegeberufe gibt es in Stuttgart in
der Nordbahnhofstraße eine neue Ausbildungsstätte,
die evangelische Pflegeakademie. Zwei Bildungsanbieter betreiben den Lehr- und Weiterbildungsbetrieb: die Berufsfachschule für Altenpflege des
Diakonischen Instituts für Soziale Berufe (DI), das von
der BruderhausDiakonie gegründet wurde, und die
Schule für Gesundheits- und Krankenpflege des Evangelischen Bildungszentrums für Gesundheitsberufe
Stuttgart (EBZ). DI und EBZ sind diakonische Anbieter
mit langjähriger Erfahrung in Aus-, Fort- und Weiterbildung in der Pflege.
Weitere Informationen unter www.ebz-pflege.de und
unter www.diakonisches-institut.de
Im Haus der Diakonischen Bildung in Stuttgart haben zwei
Bildungsanbieter ein modernes Ausbildungszentrum für Pflegeberufe geschaffen.
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D I A KO N I S C H E R I M P U L S
Peter King
Wem fehlt das Kompetenzbewusstsein?
Peter King ist
Geschäftsführer
des Diakonischen
Institutes für
Soziale Berufe
Zur Entwicklung von Kompetenzbewusstsein müssen
personeninterne und personenexterne Bedingungen
gegeben sein, welche die Persönlichkeitsentwicklung
beeinflussen. Personeninterne Bedingungen sind genetische Entwicklungsdispositionen und erworbene
Fähigkeiten. Personenexterne Bedingungen sind Einflüsse durch die Umwelt und die Gesellschaft. Person
und Umwelt stehen also in Interaktion. Sozialisationsziele sind dabei zu erfüllen.
Innere Entwicklung und äußere Anforderungen müssen bei sozialen Berufen besonders reflektiert werden,
damit Professionalität und „Ich-Stärke“ entstehen
können. Analyse- und Urteilsfähigkeiten führen dann
zur beruflichen Kompetenz.
Die drei Handlungsdimensionen positives Selbstbild,
Kompetenzbewusstsein und psychische Stabilität sind
die Voraussetzung für soziale Berufe.
In der Ausbildung der sozialen Berufe ist, neben der
Vermittlung von Fachkompetenz, die Erhöhung des
eigenen Kompetenzbewusstseins von großer Bedeutung – darüber hinaus wird die Klientel bei der Entwicklung ihres Kompetenzbewusstseins unterstützt
und begleitet. Dieser reflexive Interaktionsansatz
stellt eine besondere Herausforderung an die Wahrnehmung des eigenen Kompetenzbewusstseins dar.
Ressourcen aller Beteiligten müssen erkannt und genutzt werden.
Diakonische Bildung ist getragen von dem
Verständnis der Interaktion auf Augenhöhe.
Die Interaktion ist geprägt von Achtung und Wertschätzung gegenüber der Klientel und gegenüber sich
selbst. Nur wer sich selbst wertschätzt, kann auf Dauer in sozialen Arbeitsfeldern professionell arbeiten.
Das Angebot zur gegenseitigen Wertschätzung ist das
Fundament zur Bildung. Darauf aufbauend kommt
Fachlichkeit, Organisationskompetenz und Sozialkompetenz hinzu.
Dieses Verständnis der sozialen Berufe beschreibt
zugleich die Persönlichkeitsentwicklung in sozialen
Handlungsfeldern.
Bei den personenexternen Bedingungen sind Strukturen zu gestalten, um Arbeitszufriedenheit zu erreichen und im Beruf Sinn zu finden. Dies wiederum ist
die Voraussetzung für ein positives Arbeitsklima.
Anerkennende Werthaltungen sind
von großer Bedeutung.
Wenn auf der Seite der personenexternen Bedingungen allerdings Bewertungen anzutreffen sind, dass
in sozialen Berufen wenig gearbeitet werde oder gar,
dass die Arbeit jede Person verrichten könne, fehlt es
der Gesellschaft an Kompetenzbewusstsein. Der Mangel wird noch verstärkt durch die Einschätzung auch
von vermeintlichen Experten/innen, dass die Arbeit
auch von Personen verrichtet werden könne, die über
keine oder wenig Ausbildung – noch über personeninterne Persönlichkeitskompetenzen – verfügen. Dieses
Defizit wiederum den sozialen Berufen zuzuschreiben,
grenzt an Ignoranz.
Träger von sozialen Einrichtungen sollten hier klar
Stellung beziehen gegen niederschwellige Ausbildungen und die Ausweitung von verkürzten Qualifikationsprofilen. Schließlich stellen sie die Kompetenz
ihres eigenen Geschäftsfeldes in Frage, eines Tätigkeitsfeldes, dem durch die Arbeit mit Menschen eine
besondere Bedeutung und Verantwortung zukommt.
Nicht den sozialen Berufen fehlt das Kompetenzbewusstsein, sondern weiten Teilen der Gesellschaft das
Bewusstsein über die Kompetenzen der Sozialberufe.
+ www.diakonisches-institut.de