Soziale Berufe in der Diakonie
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Soziale Berufe in der Diakonie
Ausgabe 3 | 2013 sozial Magazin für Politik, Kirche und Gesellschaft in Baden-Württemberg Soziale Berufe in der Diakonie Was ist diese Arbeit wert? Talentiert Tatkräftig Taktvoll Tolerant Der Heilerziehungspfleger Ralf Eisele schafft es immer wieder, Menschen mit schwersten Behinderungen zu motivieren. Y Seite 4 Pflegekräfte engagieren sich gerne in ihrem Beruf, beklagen aber häufig schlechte Arbeitsbedingungen, so Experte Buxel. Y Seite 6 Marieta Kronfeldt nimmt als Betreuungsassistentin die gedanklichen Zeitsprünge von demenziell Erkrankten ernst. Y Seite 7 Für den Kickboxer Gökhan Arslan gehört ein respektvolles Miteinander zur Sportart dazu. Das gibt er an Kinder weiter. Y Seite 12 sozial • Ausgabe 3 | 2013 Soziale Berufe in der Diakonie – Was ist diese Arbeit wert? E D I TO R I A L Liebe Leserinnen und Leser, „Soziale Berufe kann nicht jeder.“ So hat die Bundesdiakonie ihre Onlinekampagne genannt, mit der sie junge Menschen für soziale Berufe gewinnen will. Gewonnen hat die Diakonie bereits, und zwar den Deutschen Preis für Onlinekommunikation 2013. „Vom Imagegewinn der sozialen Berufe durch unsere Kampagne profitieren alle“, meinte Diakonie-Präsident Johannes Stockmeier bei der Preisverleihung. Es geht also über die reine Nachwuchswerbung hinaus auch um das Ansehen und die Anerkennung sozialer Arbeit in der Öffentlichkeit. Soziale Berufe kann nicht jeder. Das musste wohl einmal gesagt werden, obwohl es sich eigentlich von selbst versteht. Nur Insider wissen, wie anspruchsvoll und vielfältig die Ausbildungsgänge sind, wie qualifiziert angehende Altenpfleger, Heilpädagogen, Jugend- und Heimerzieher oder Arbeitserzieher am Ende der Ausbildung sein müssen. Ob der Slogan geeignet ist, das Selbst- und Kompetenzbewusstsein der in Pflege- und Erziehungsberufen tätigen Menschen nachhaltig zu stärken, wird sich zeigen. Wir haben nachgefragt. Bei Experten und bei Menschen aus verschiedenen Arbeitsfeldern der BruderhausDiakonie. Nach Motiven für die Berufswahl, Kompetenzen, Arbeitsbedingungen und Arbeitserfahrungen und nicht zuletzt nach dem Lohn der Arbeit als Ausdruck der materiellen Wertschätzung. Wir stellen Ihnen einen Heilerziehungspfleger vor, der seinen Beruf seit vielen Jahren mit Freude ausübt und dennoch manches kritisch betrachtet, und eine Betreuungsassistentin im Pflegeheim, die bei den Senioren verweilen kann, was den Pflegekräften wegen des engen Zeitplans häufig nicht möglich ist. Wir sprachen mit der Leiterin einer Fachschule für Sozialwesen, deren Schülerzahlen seit Jahren zunehmen, und mit einem Professor der Fachhochschule Münster, der eine Studie zur Berufswahl, Motivation und Zufriedenheit von Pflegekräften vorgelegt hat. Und wir wünschen Ihnen bei all dem eine anregende Lektüre Ihre „Sozial“-Redaktion Impressum Inhalt ISSN 1861-1281 TITELTHEMA REGIONEN 3 Nachwuchskräfte begehrter denn je 11 Reutlingen: 4 Heilerziehungspfleger – Ein vielseitiger Beruf 6 Motivation und Arbeitszufriedenheit von Pflegekräften 7 Zurück in die Gegenwart – Betreuung im Demenzbereich Ausbildung zur Gastronomiefachkraft in der Wilhelm-Maybach-Schule 12 Nürtingen/Esslingen: Der Kickboxer Gökhan Arslan lehrt Toleranz 14 Nürtingen/Kirchheim: Jugendliche Migranten kicken KOLUMNE für ein gemeinsames Ziel 9 Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender der BruderhausDiakonie: NACHRICHTEN Altenpflege – und die Frage nach 15 Aus der BruderhausDiakonie dem Erfolg DIAKONISCHER IMPULS AKTUELL 10 Kompetenzschmiede soziale Berufe 16 Peter King: Wem fehlt das Kompetenzbewusstsein? 2 BruderhausDiakonie Stiftung Gustav Werner und Haus am Berg Ringelbachstraße 211, 72762 Reutlingen Telefon 07121 278-225, Telefax 07121 278-955 Mail [email protected] Herausgeber Pfarrer Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender Verantwortlich Sabine Steininger (ste) Redaktion Martin Schwilk (msk), Sabine Steininger (ste), Karin Waldner (kaw) Mitarbeiter Walter Herrmann (her), Marianne Mösle (mar), Karoline Müller (klm) Gestaltung und Satz Susanne Sonneck Druck und Versand Grafische Werkstätte der BruderhausDiakonie, Werkstatt für behinderte Menschen Erscheint vierteljährlich Fotonachweis Seite 6: privat; Seite 3, 10: faktum/Weise, Seite 15: Judith Midinet (Hohenzollerische Zeitung), Diakonisches Institut für Soziale Berufe, alle anderen: Archiv und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der BruderhausDiakonie Spendenkonto Evangelische Kreditgenossenschaft Kassel, BLZ 520 604 10, Konto 4006 sozial • Ausgabe 3 | 2013 Soziale Berufe in der Diakonie – Was ist diese Arbeit wert? T I T E LT H E M A Ausbildungsberufe mit Zukunft Nachwuchskräfte begehrter denn je Mit diesem Ansturm hatte selbst Renate Trojahn nicht gerechnet. „Unsere Schülerzahlen steigen zwar kontinuierlich. Dieses Jahr erleben wir aber einen richtigen Boom“, sagt die Leiterin der Fachschule für Sozialwesen in Lichtenstein-Traifelberg. Die Aus- und Fortbildungsstätte auf der Schwäbischen Alb wurde 1979 von der damaligen Gustav-Werner-Stiftung, der heutigen BruderhausDiakonie, gegründet und gehört seit 1999 zum Diakonischen Institut für soziale Berufe. Rund 200 vorwiegend junge Menschen werden hier und am Standort Reutlingen unterrichtet. 78 davon haben diesen Monat mit der Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin begonnen. Renate Trojahn führt das große Interesse zum einen auf den qualifizierten Unterricht zurück, zum anderen auf die vielfältigen Kontakte der Schule. „In 44 Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Sozialpsychiatrie werden die Auszubildenden drei Jahre lang bestens im fachpraktischen Teil der Ausbildung begleitet.“ „Traifelberg ist Kult“, bestätigt Peter King das „hohe Ansehen“, das die Fachschule bei Trägern und Auszubildenden genießt. „Gutes Flair, gutes Lernmilieu: Schulleitung und Mitarbeiter machen ihre Arbeit ausgezeichnet“, lobt der Geschäftsführer des Diakonischen Instituts für soziale Berufe, zu dem 22 Aus-, Fort- und Weiterbildungsstätten in Baden-Württemberg gehören. Bei den meisten sind die Schülerzahlen in den letzten Jahren leicht gestiegen. Das gilt auch für die Altenpflege. Dort macht sich der Fachkräftemangel vor allem in den Pflegeeinrichtungen der Ballungsgebiete schon deutlich bemerkbar. Schulabgänger werden umworben wie noch nie. So informiert zum Beispiel das Diakonische Werk Württemberg mit der Kampagne „ran ans Leben“ über Freiwilligendienste und soziale Berufe in der Diakonie – per Online-Börse und mobiler Roadshow an den Schulen. Solche Projekte können die Beliebtheit von sozialen Berufen steigern. Die demografische Entwicklung halten sie nicht auf. „Wir bilden zwar immer mehr Altenpfleger aus. Die Nachfrage ist jedoch weitaus größer“, sagt Peter King und spricht von einem „enormen Wachstumsmarkt“. Qualitativ stellt er der Altenpflege-Ausbildung ein gutes Zeugnis aus. „Leistung und Motivation werden hier besonders belohnt.“ Wer etwa nach der Hauptschule eine Ausbildung zum Altenpflegehelfer beginnt, kann nach einem Jahr und mit einem Notendurchschnitt von mindestens 2,5 direkt die Ausbildung zum Altenpfleger anschließen. „Ohne dass sich die Ausbildungszeit verlängert“, betont King. Normalerweise brauchen Altenpfleger einen mittleren Bildungsabschluss. So wie Heilerziehungspfleger, die zudem ein einjähriges Vorpraktikum nachweisen müssen. Schließlich sollen sie Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen bei der Lebensgestaltung unterstützen und zunehmend auch Leitungs- und Verwaltungsaufgaben übernehmen. „Die fachlichen Ansprüche an die Auszubildenden sind sehr hoch“, sagt Renate Trojahn. Darüber hinaus gehe es in der Ausbildung darum, die eigene psychische Belastbarkeit zu trainieren und ein gutes Konflikt-, Zeit- und Stressmanagement zu entwickeln. Die Motive für die Berufswahl sind vielfältig. „Die meisten wollen eine sinnvolle Tätigkeit ausüben und Menschen mit Unterstützungsbedarf zu mehr Lebensqualität verhelfen“, weiß Trojahn. Der Verdienst sei zunächst zweitrangig. Dabei gibt es in der Öffentlichkeit immer wieder Diskussionen darüber, ob Pflege- und Erziehungsberufe angemessen bezahlt werden. Diakonische Einrichtungen wie die BruderhausDiakonie vergüten ihre Mitarbeiter nach den Arbeitsvertragsrichtlinien-Württemberg (AVR-Wü), die sich weitgehend am Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TVöD) orientieren. Ein Heilerziehungspfleger verdient als Berufseinsteiger rund 2300 Euro brutto im Monat, nach zehn Jahren rund 2800, nach 15 Jahren rund 2900 Euro – Zulagen nicht mitgerechnet. Ein Altenpfleger bekommt nach der Ausbildung rund 2200 Euro, nach zehn Jahren rund 2800 Euro und nach 15 Jahren rund 3000 Euro brutto. Weiterbildungen ermöglichen den Aufstieg in leitende Positionen mit entsprechend mehr Gehalt. Neben der finanziellen Anerkennung spielt für Renate Trojahn auch die öffentliche Wertschätzung von Menschen in sozialen Berufen eine große Rolle. „Weil sie einen wichtigen Beitrag zu einer funktionierenden Gesellschaft leisten.“ kaw Z Eine Altenpflegerin braucht sich um ihre berufliche Zukunft keine Sorgen zu machen. + www.diakonisches-institut.de + www.ran-ans-leben-diakonie.de 3 T I T E LT H E M A Soziale Berufe in der Diakonie – Was ist diese Arbeit wert? sozial • Ausgabe 3 | 2013 Heilerziehungspfleger – ein vielseitiger Beruf HEP, HEP, Hurra Thomas Gottschalk und Ralf Eisele haben etwas gemeinsam: Beide verbreiten Heiterkeit. Der Showmaster vor Millionen, der Heilerziehungspfleger – kurz HEP – vor einer kleinen Gruppe. Ralf Eisele fühlt sich häufig in der Rolle eines Animateurs, der Menschen mit schwersten Behinderungen aus der Reserve lockt. motivieren. Der 37-Jährige greift nach einem neuen Sein Kopf hängt über der linken Schulter. Die Augen sind geschlossen, als wolle er sich fortträumen aus ei- Notenblatt. Anna Mai* klatscht in die Hände, wirft den Kopf hin und her. Statt mitzusingen, brabbelt die ner Welt, die ihm viel zugemutet hat. Um ihn herum junge Frau vor sich hin. Andere summen oder bewelebt es, lacht es, singt es. „Mach mit. Du hast so eine gen stumm die Lippen. schöne Stimme“, drängt Vollständige Sätze bilden der junge Mann neben kann nur Markus Walz. ihm auf dem Sofa. Er Doch der lehnt wieder in sagt es mehrmals, stupst sich zusammengesunken ihn sanft, stimmt eines an Eiseles Schulter – und seiner Lieblingslieder an. schweigt. „I am sailing ...“ Keine Es ist kurz vor neun Reaktion. „Home again Uhr morgens im Lotte’cross the sea.“ Nicht Merkh-Haus. Zeit für mal ein Wimpernzucken. die Frühstückspause „I am sailing, stormy der Fördergruppe zwei. waters.“ Rod Stewart Birgit Moll* läuft zur kämpft. „To be near you, Küchenzeile. Die kleine, to be free.“ Mit einem rundliche Frau sucht wie Mal öffnet sich eines der Nach mehreren Anläufen schafft es Ralf Eisele (rechts), seinen Klienten zum Singen zu bewegen. immer eine Aufgabe. Ralf schweren Lider, beginnt Eisele bittet sie, Anna zu blinzeln. Dann das Mai an ihren Platz zu bringen. Diese rutscht unruhig andere, während sich die Mundwinkel nach oben auf dem Sofa nach vorn und ruft „fort“ und „weg“. schieben, bis ein Lächeln die starren Züge belebt. Fürsorglich nimmt die Ältere die Jüngere an die Hand. „I am flying ...“ Seine Stimme ist überraschend tief und wohlklingend. Vergessen scheinen in diesem Mo- „Und du setzt bitte Wasser für den Kaffee auf“, sagt Eisele zu Markus Walz, der auf der Couch verharrt ment die schwere geistige Behinderung, die epileptiund sich taub stellt. Er lässt nicht locker, bis Markus schen Anfälle, die halbseitige Lähmung. Er singt den Walz den Wasserkessel gefüllt hat. Neben ihm kippt Klassiker bis zum Schluss. „... to be free – oh Lord.“ Birgit Moll einen Löffel Kaffee nach dem anderen Zwei Frauen applaudieren. Ralf Eisele nimmt Markus in eine hohe Kanne. Dann tippelt sie trällernd zum Walz* in den Arm. „Rod Stewart ist nichts dagegen“, Esstisch, hält an und blickt sich um. Sekundenlang beteuert er. fixiert sie Markus Walz, der mit gesenktem Kopf daRalf Eisele arbeitet seit zehn Jahren als Heilerziesteht. Die scharfen Linien um ihren Mund bekommen hungspfleger bei der BruderhausDiakonie. In einer einen energischen Zug. Sie macht kehrt, packt den Fördergruppe der Reutlinger Werkstätten betreut er Kessel und … Bevor sie das lauwarme Wasser in die Menschen mit schwersten Behinderungen wie MarKaffeekanne schütten kann, springt Ralf Eisele auf sie kus Walz. „Ein anstrengender Beruf, aber ein vielseitizu und hält ihren Arm fest. „Noch nicht!“ Beschwichger.“ Eisele ist Ansprechpartner für die Angehörigen, tigend fügt er hinzu: „Ich weiß, du willst nur helfen.“ arbeitet mit Kollegen und Fachdiensten zusammen Murrend lässt Birgit Moll das Gerät los und stapft in und dokumentiert jeden Schritt seiner Tätigkeit. Vor den Entspannungsraum. Dort findet die lebhafte Frau allem versucht er immer wieder, seine Klienten zu 4 sozial • Ausgabe 3 | 2013 Soziale Berufe in der Diakonie – Was ist diese Arbeit wert? am besten zur Ruhe. Als es kurz darauf sprudelt und Markus Walz das heiße Wasser einschenkt, trällert sie schon wieder, als wäre nichts gewesen. Für Ralf Eisele sind solche Szenen Alltag. Vor kurzem, er brachte gerade Birgit Moll zur Toilette, hörte er lautes Geschrei aus dem Gruppenraum. Ein Klient schlug einen anderen in den Nacken. Eisele rannte los und ging dazwischen, Birgit Moll musste mit ihrem Gang zur Toilette warten. „Man steht als Gruppenleiter ständig unter einer gewissen Spannung“, sagt Eisele, der zusammen mit zwei Kolleginnen für neun Klienten Verantwortung trägt. „Weil man oft situativ handeln muss.“ Gespür und Erfahrung helfen ihm dabei. „In der Heilerziehungspflege braucht man immer einen Plan B und einen Plan C.“ Plan A hat er an diesem Morgen schon zu Arbeitsbeginn verworfen, nachdem sich eine Kollegin krank gemeldet hatte. Glück für ihn, dass nicht alle Beschäftigten der Fördergruppe um 7.45 Uhr eintreffen. Paul Lang* zum Beispiel kommt erst um zehn. Der Gruppensenior schnappt sich eine Tasse Kaffee und läuft trinkend um den langen Tisch herum. Ein Teil der heißen Die Beschäftigten führen einfache Arbeiten für die Werkstätten aus wie Nägel sortieren mit Hilfe eines Holzstücks. Flüssigkeit schwappt über und hinterlässt auf dem Boden eine braune Spur. Dann streckt sich Paul Lang auf dem Sofa aus. Die anderen machen derweil am Nebentisch einfache Sortierarbeiten für die Werkstätten. Nach dem Frühstück holt Ralf Eisele ein vierkantiges Stück Holz vom Regal, in das 30 Vertiefungen gestanzt sind. In jede steckt Birgit Moll einen Nagel. Als alle Löcher gefüllt sind, schüttet sie die Nägel in eine Schachtel. „Gut gemacht“, lobt Eisele, der darauf achtet, dass genau 30 Nägel in der Schachtel liegen. Das Arbeitstempo spielt eine untergeordnete Rolle. „Selbst Abläufe, die den Beschäftigten bekannt sind, müssen ständig wiederholt werden“, erklärt Eisele, „bleibende Fortschritte stellen sich oft erst nach T I T E LT H E M A Jahren ein.“ Dennoch betrachtet er seinen Beruf als Glücksfall. Während des Pädagogikstudiums jobbte er als Pflegehelfer in einem Heim für mehrfachbehinderte Menschen, als zufällig ein Ausbildungsplatz an der Fachschule für Sozialpädagogik Fachrichtung Heilerziehungspflege in Ulm frei wurde. „Der intensive Kontakt mit den Menschen während der Ausbildung hat mir gezeigt: Das ist das Richtige für mich.“ Einziger Wermutstropfen: „Die ungenügende gesellschaftliche und finanzielle Anerkennung. Für das, was Heilerziehungspfleger leisten müssen, werden sie nicht adäquat bezahlt“, findet Eisele. „Einer Familie mit Kindern reicht ein Monatsgehalt definitiv nicht.“ Er hat deshalb eine Weiterbildung zum Fachwirt für Organisation und Führung gemacht und studiert berufsbegleitend Bildungswissenschaften an der Fernuni Hagen. Das fördert seine Chancen auf eine leitende Funktion und ist ein Ausgleich zum Arbeitsalltag. In der Freizeit erholt er sich beim Tanzen und bei den integrativen Theaterprojekten der BruderhausDiakonie. „Darf ich vorstellen?“, schmunzelnd legt Eisele seinen Arm um Birgit Moll, „meine Theaterkollegin.“ Sie kichert und kuschelt sich an ihn. Die Wanduhr zeigt Viertel nach zwölf. Zeit für Plan B, der heute so aussieht: Alle bleiben zum Essen im Gruppenraum, auch diejenigen, die sonst mit einer Mitarbeiterin in die Cafeteria gehen. Später machen alle einen Spaziergang oder, und das wäre Plan C, backen gemeinsam Kuchen. Doch erst gönnt sich der Gruppenleiter eine kurze Pause in seinem kleinen Büro. Während Paul Lang Fleischbrühe schlürft und Markus Walz verträumt Maultaschen kaut, atmet Ralf Eisele ein paar Mal tief durch. „Eines ist wichtig“, sagt er dann und es klingt wie ein Resümee: „Wir haben es mit erwachsenen Menschen zu tun, die wir als Erwachsene behandeln müssen, auch wenn sie sich sehr oft kindlich verhalten.“ kaw Z Das gemeinsame Frühstück genießen alle. * Namen geändert + www.bruderhausdiakonie-werkstaetten.de 5 T I T E LT H E M A Soziale Berufe in der Diakonie – Was ist diese Arbeit wert? sozial • Ausgabe 3 | 2013 Motivation und Arbeitszufriedenheit von Pflegekräften Guter Beruf, schwierige Bedingungen Wer einen Pflegeberuf ergreift, will mit Menschen arbeiten. Die meisten Pflegekräfte lieben ihren Beruf, sind aber mit den Arbeitsbedingungen nicht immer glücklich, sagt der Münsteraner Professor Holger Henning Buxel. Holger Henning Buxel hat Pflegekräfte in Krankenhäusern und Altenhilfeeinrichtungen befragt. Y Sie haben eine Studie zur Motivation für die Berufswahl sowie zur Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit in Pflegeberufen veröffentlicht. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Ergebnisse daraus? Y Was die Zufriedenheit mit dem Arbeitsplatz anbelangt, schneiden aus Sicht der Pflegekräfte offenbar die Altenpflegeeinrichtungen besser ab als beispielsweise Krankenhäuser. Worauf führen sie das zurück? Erfreulicherweise lässt sich festhalten, dass die meisten Pflegerinnen und Pfleger sich mit ihrem Berufsbild stark identifizieren können. Auch machen 85 Prozent ihre Arbeit generell gerne. Schaut man auf die konkrete Arbeitsplatzzufriedenheit, zeichnen die Ergebnisse der Studie jedoch leider auch ein anderes Bild. Nur circa die Hälfte der Befragten stimmt der Aussage zu, dass sie alles in allem mit ihrem Arbeitsplatz zufrieden sind und diesen für insgesamt sehr attraktiv halten. Es gibt also aus Sicht des Pflegepersonals einigen Handlungsbedarf zur Verbesserung der Bedingungen am Arbeitsplatz und der Arbeitsplatzzufriedenheit in der Pflege. Die Arbeitsverdichtung ist in vielen Krankenhäusern weiter fortgeschritten als in der Altenpflege. Zudem bestehen in der Altenpflege in der Regel langfristige Beziehungen zwischen denen, die Pflege brauchen, und dem Pflegepersonal. Im Krankenhaus dagegen wird der Raum für den Aufbau eines guten zwischenmenschlichen Kontakts zu den Patienten eher weniger, weil die Verweildauer der Patienten sinkt. Die soziale Kontaktqualität des Berufes ist aber einer der Hauptmotivatoren für die Berufswahl – und auch dafür, dass Arbeitsplatzzufriedenheit entsteht. Y Was hat Pflegekräfte motiviert, den Beruf zu ergreifen? Wir haben 740 Auszubildende danach befragt, welches die wichtigsten Gründe gewesen sind, sich für eine Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger beziehungsweise zur Gesundheits- und Krankenpflegerin zu entscheiden. Damit wollten wir Anhaltspunkte gewinnen über die Ansprüche des Nachwuchses an einen Arbeitsplatz sowie über dessen zielgerichtete Ansprache. Hier zeigte sich, dass die drei wichtigsten Gründe für die Berufswahl die Arbeit am Menschen und die Möglichkeit zur Hilfeleistung sind sowie das Interesse an medizinischen Fragestellungen. Soziale Aspekte spielen also eine wichtige Rolle. Als vergleichsweise eher unwichtig wurden die Empfehlungen von Eltern, die Fortführung einer familiären Berufstradition oder die Verdienstmöglichkeiten angesehen. Holger Henning Buxel ist Professor für Dienstleistungs- und Produktmarketing an der Fachhochschule Münster. 2011 hat er eine groß angelegte Studie zur Berufswahl, Motivation und Arbeitsplatzzufriedenheit von Pflegekräften in der Altenhilfe und in Krankenhäusern vorgelegt. 6 Y Die überwiegende Mehrheit der identifiziert sich mit dem Beruf und tut ihre Arbeit gerne. Dennoch würde weit weniger als die Hälfte der von Ihnen Befragten anderen empfehlen, den Pflegeberuf zu ergreifen. Wie interpretieren Sie diesen Widerspruch? Von den befragten Pflegerinnen und Pflegern beispielsweise aus dem Krankenhausbereich identifizieren sich in der Tat rund 80 Prozent mit ihrem Beruf. Dort, wo aber im Alltag die konkreten Arbeitsplatzbedingungen nicht zufriedenstellen, wird der Beruf natürlich trotzdem selten weiterempfohlen. Es handelt sich also nur um einen bedingten Widerspruch, es liegt eher an den aktuellen Rahmenbedingungen im Alltag. Für viele ist der Beruf als solcher grundsätzlich attraktiv. Y Die meisten Pflegekräfte sehen nach Ihren Ergebnissen eher schwarz für die Zukunft der Pflegeberufe. Wie wird das begründet? Mit Blick auf die Zukunftserwartungen der Pflegekräfte zeichnet sich in der Tat ein düsteres Bild ab. 70 Prozent, also gut zwei Drittel der Befragten, machen sich Sorgen, dass sie mit 55 Jahren oder älter den Job körperlich nicht mehr bewältigen könnten und dann keine Arbeit mehr haben. Die Mehrheit des Pflegepersonals befürchtet für die kommenden zehn Jahre zudem, dass der körperliche und psychische Stress sozial • Ausgabe 3 | 2013 Soziale Berufe in der Diakonie – Was ist diese Arbeit wert? im Beruf zunimmt und dass die Möglichkeit, einen guten Kontakt zum Patienten beziehungsweise Pflegebedürftigen aufzubauen, zurückgehen wird. Und sie befürchtet, dass der Anteil an Verwaltungs- und Dokumentationsarbeiten steigen wird. Auch die Entwicklung der Verdienstmöglichkeiten in der Pflege wird eher negativ eingeschätzt. Y Mangelnde Wertschätzung der Pflegetätigkeit wird offenbar von vielen Pflegekräften beklagt – ebenso wie die Bezahlung. Was sind die meistgenannten Schattenseiten des Berufes? Wir haben untersucht, welche konkreten Arbeitsplatzmerkmale im Pflegeberuf derzeit am ehesten zu Unzufriedenheit führen – und damit den höchsten Handlungsdruck erzeugen, die Arbeitsplatzzufriedenheit wieder zu steigern. Bemängelt werden vor allem die Verdienstmöglichkeiten in der Pflege beziehungsweise die Einkommenshöhe. Angeführt wird aber auch die Schwierigkeit, den Beruf mit dem Privatleben zu vereinbaren – Stichwort Work-Life-Balance. Außerdem die fehlende Möglichkeit, einen guten persönlichen Kontakt zu den Patienten aufzubauen: Es bleibt zu wenig Zeit für den Menschen. Ferner beanstanden die Befragten die geringe Anzahl von Kollegen, mit denen eine Schicht besetzt wird. Aber T I T E LT H E M A auch eine mangelnde Wertschätzung von Leistung im Arbeitsalltag – also zu wenig Lob und Anerkennung durch Vorgesetzte – wird häufig moniert. Y Welche Möglichkeiten sehen Sie, die Wertschätzung zu erhöhen? Es gibt sicherlich mehrere sinnvolle Ansatzpunkte, die Wertschätzung im Berufsalltag zu verbessern. In Altenpflegeeinrichtungen wie Krankenhäusern gilt, dass die Führung die Leistung regelmäßig würdigen sollte. Dafür müssen systematische Feedback-Systeme etabliert werden – immaterielle und materielle. Das können etwa Belobigungen im Alltag und vor dem Team sein sowie übers Jahr verteilte, beispielsweise vierteljährlich stattfindende Mitarbeitergespräche – oder auch Gratifikationen. Führungskräfte und die Verwaltung müssen dafür sensibilisiert werden, dass sie den Wertschätzungsbedarf systematischer und stärker befriedigen. Eng verbunden mit diesem Punkt ist sicherlich auch die Frage, inwieweit die traditionell hierarchischen Führungsstrukturen etwa in Krankenhäusern den aktuellen Herausforderungen des Arbeitsmarktes gerecht werden – oder ob noch mehr partizipative Elemente in den Führungsstrukturen umzusetzen sind. msk Z + https://www.fh-muenster.de/fb8/downloads/buxel/2011_ Studie_Zufriedenheit_Pflegepersonal.pdf Betreuungsassistentin im Demenzbereich Zurück in die Gegenwart Antonie Haubensak lebt seit fast vier Jahren im Seniorenzentrum Gönningen. Ihr Geist springt zwischen verschiedenen Lebensphasen und fordert viel Einfühlungsvermögen – zum Beispiel von Betreuungsassistentin Marieta Kronfeldt. Heute muss ein Tag im Jahre 1932 sein. Vielleicht aber auch irgendein Tag der 50er bis 70er Jahre. Toni ist müde, sie hat den ganzen Vormittag auf dem Acker geschuftet. Im Moment sitzt sie am Gönninger Wasserfall und wärmt ihre müden Knochen in der Sonne. Es stört sie nicht, dass ihr Rollstuhl ein wenig schief auf der abschüssigen Wiese steht. „Sie müssen noch etwas trinken! Und bitte essen Sie doch noch ein Stück Banane.“ Mit resoluter Stimme dringt Marieta Kronfeldt zu der träumenden Toni – mit vollem Namen Antonie Haubensak – durch. Die Mittfünfzigerin ist Betreuungsassistentin im Seniorenzentrum Gönningen. Bei ihrer Ankunft am Morgen hat sie gespürt, dass Antonie Haubensak unruhig war und nicht genug essen wollte. Haubensaks ackermüde Augen beginnen jetzt zu leuchten, freudig nimmt sie ein Stück Banane. Kronfeldt nickt zufrieden – nicht immer klappt alles reibungslos bei der Arbeit mit demenziell Erkrankten. Auch nicht mit Antonie Haubensak: Als ehemalige Gastwirtin haut die charakterstarke 99-Jährige schon mal auf den Tisch und „wirft die Gäste hinaus“. Auch an anderen Tagen lebt sie in der Vergangenheit; besonders gerne ist sie gedanklich auf ihrem Acker. 1932 kam sie als 18-Jährige aus dem damaligen Oberösterreich nach Deutschland auf einen Bauernhof, später bewirtschaftete sie einen eigenen Acker. Marieta Kronfeldt geht besonnen auf die demenzkranke Seniorin ein. 7 T I T E LT H E M A Welche Farbe soll es sein? Die Betreuungsassistentin hat der demenzerkrankten Künstlerin ihr Malwerkzeug bereitgelegt. 8 Betreuungsassistentin Marieta Kronfeldt kennt diese Situationen: Menschen mit Demenzerkrankung durchleben oft längst vergangene Lebensphasen – und sind in diesen Momenten auf das Verständnis ihrer Umwelt angewiesen. „Passiert etwas, das ihr nicht gefällt oder das sie nicht versteht, kann Frau Haubensak toben und schreien, dass der Rollstuhl wackelt.“ Ortswechsel: Monika Weipert, die Hausleiterin des Seniorenzentrums Gönningen, telefoniert. Kaum hat sie aufgelegt, klingelt ihr mobiles Telefon erneut. Als Hausleiterin ist sie für alle Bereiche des Seniorenzentrums verantwortlich – neben dem Demenzbereich zum Beispiel auch für die Tages- und Kurzzeitpflege und das betreute Wohnen. Den Demenzbereich mag sie besonders: „Demenziell Erkrankte sind die ehrlichsten Menschen.“ Die Demenz legt die ureigenen, bisweilen auch unterdrückten Charaktereigenschaften eines Menschen frei, ebenso die durch Erziehung und Konventionen hervorgerufene Hemmung, den Gefühlen freien Lauf zu lassen. Kronfeldt mag es, wenn die Senioren ihre Gefühle ehrlich und unverhohlen ausleben. Selbst ein Wutanfall schüchtert sie nicht ein. „Wenn ich abends nach Hause komme, bin ich ausgeglichen.“ Und der Verdienst? „Mein Reichtum besteht darin, jeden Tag mit liebenswerten Menschen zu verbringen und dabei kreativ zu sein.“ Während ihren Kolleginnen, die in der Pflege tätig sind, die Gelegenheit für persönliche Gespräche häufig fehlt, schenkt Kronfeldt Zeit – als Betreuungsassistentin ist sie nicht an die enge Taktung der Fachkräfte gebunden. „Wann kommt denn mein Sohn?“, fragt Antonie Haubensak unvermittelt auf dem Rückweg zum Seniorenzentrum. Am Gönninger Wasserfall sind wenige Minuten vergangen, für Haubensak viele Jahre. Solche Zeitsprünge sind typisch bei fortgeschrittener Demenz. „Wichtig ist vor allem, sich auf die Menschen einzulassen und sie in ihrer momentan erlebten Zeit ernst zu nehmen“, betont Weipert, die vor dem Haus eine kleine Atempause einlegt. Kronfeldt hat das verinnerlicht: Besonnen geht sie auf alle Themen ein, ob Gasthaus oder Nachmittagskaffee – je nachdem, in welcher Phase sich Antonie Haubensak gerade befindet. sozial • Ausgabe 3 | 2013 Zurück im Seniorenzentrum wartet schon Haubensaks Sohn Werner. Er besucht seine Mutter sehr oft. Denn „die Entscheidung für die dauerhafte Betreuung meiner Mutter im Seniorenzentrum fiel uns sehr schwer“, sagt er. Mit der fortschreitenden Demenz stieg jedoch das Sicherheitsrisiko für seine Mutter – zum Beispiel hatte die Seniorin manchmal vergessen, den Herd auszuschalten. Heute ist er froh, sich für das Seniorenzentrum Gönningen entschieden zu haben. „Meine Mutter hat hier gute Fortschritte gemacht – die kreativen Beschäftigungsangebote und Gedächtnistrainings, die die Betreuungsassistentinnen ermöglichen, helfen enorm.“ Werner Haubensak und seine Frau sind sich einig, dass die individuelle Zuwendung von Marieta Kronfeldt dazu beiträgt, die fortschreitende Demenz zu verlangsamen und alte Fähigkeiten neu zu entdecken. „Dass sie so sein kann, wie sie ist – mit allen Ecken und Kanten – und die Mitarbeiter auf ihre Persönlichkeit eingehen, gibt uns Sicherheit, dass es ihr gut geht“, ergänzt Werner Haubensak. Dieses Gefühl ist ihm ebenso wichtig wie die Gewissheit, dass seine Mutter medizinisch und pflegerisch gut versorgt ist. „Ich war heute schon auf dem Feld“, eröffnet Antonie Haubensak ihrem Sohn. Der kennt die geistigen Zeitsprünge seiner Mutter und geht darauf ein. „Wir haben viel gelernt, seit sie hier in der Demenzgruppe ist. Der persönliche Kontakt zu dem Team hier hilft uns, mit ihrer Krankheit umzugehen“, erzählt seine Frau. In der Zwischenzeit widmet sich Kronfeldt einer anderen dementen Seniorin, die früher eine begabte Künstlerin war. Sie breitet verschiedene bunte Stifte und Papiere vor ihr aus. „Sollen wir die Blumenblätter in dunkel- oder hellgrün malen?“ Unschlüssig hält die Seniorin zwei Holzmalstifte in der Hand. „Na, Sie sind die Künstlerin von uns beiden.“ Kronfeldt ermutigt sie mit sanfter Stimme und legt ihre Hand auf den Arm der alten Frau. „Am Anfang hat sie sich kaum etwas zugetraut, heute malt sie wieder gerne“, erzählt die Betreuungsassistentin. Die Künstlerin entscheidet sich für dunkelgrün. Antonie Haubensak ist derweil in einem Ruhesessel eingenickt, ihre Lider sind entspannt – vielleicht ist sie gerade vom Acker zurückgekommen und im Wirtshaus sind auch die letzten Gäste nach Hause gegangen. klm Z + www.seniorenzentrum-goenningen.de KO L U M N E sozial • Ausgabe 1 3 | 2013 Lothar Bauer: Altenpflege – und die Frage nach dem Erfolg Die Altenpflege leidet unter einem Mangel an Erfolgserlebnissen und Anerkennung. So das Ergebnis einer kürzlich veröffentlichten Untersuchung. In der Tat erscheinen Pflegeheime gern dann im Horizont der Öffentlichkeit, wenn es um Missstände geht. Wo aber spricht man über die Erfolge und über die „Helden des Alltags“ in der Altenpflege? Was sind die Erfolge in der Altenpflege? Ein gewaschener und erfrischter Mensch, eine zubereitete und in Einzelportionen dargereichte Mahlzeit, eine Pflegeversorgung, ein gelöster Konflikt zwischen Bewohnern, eine Lagerung, die das Liegen erträglicher macht, ein Über-den-Kopf-streicheln. Täglich jedem Menschen aus seinem Bett helfen, ein gebeteter Gute-Nacht-Vers, die Zuwendung, die Ehrenamtliche geben, das sind die Erfolge, über die man in der Altenpflege Buch führen sollte. Und in der Tat – es wird Buch geführt, sogar ausführlich. Unendlich fleißig werden die Leistungen derer, die in der Altenpflege arbeiten, dokumentiert und von den medizinischen Diensten der Pflegekassen und von der Heimaufsicht kontrolliert. Man muss nur verstehen, was man liest. Die Berichte sind eigentlich ja auch nicht als Erfolgsberichte geschrieben. Es sind eher Kontrollberichte. Benennung von Lob erfolgt schwäbisch zurückhaltend. „Net geschimpft ist genug gelobt.“ „Nicht zu beanstanden“ ist eine Aussage, die man immer wieder findet. Man kann die Berichte aber auch lesen als einen Leistungsbericht und als Erfolgsstory. In der Zusammenfassung eines Be- Pfarrer Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender der BruderhausDiakonie richtes kommt das auch explizit zum Ausdruck, wenn gesagt wird, dass die unangekündigte Begehung „eine gute Versorgung der begutachteten Bewohner entsprechend dem allgemein anerkannten Standard pflegewissenschaftlicher Erkenntnisse“ ergab. Und weiter: „Insgesamt sehr angenehme Atmosphäre im Seniorenzentrum mit freundlichen und kompetenten Mitarbeitern.“ Bravo! Hier ist Applaus angesagt und es wäre schön, wenn der auch mal durchdringen würde bis zu den vielen teils unsäglichen Talkrunden zum Thema Altenpflege. Hier haben wir es also amtlich, dass eine tolle Mannschaftsleistung erbracht wurde. Die Berichte zu einzelnen Bewohnern zeigen, was man sich unter dem Begriff der Multimorbidität vorstellen muss. Die Arbeit in der Altenpflege ist häufig ein permanentes Krisenmanagement, ein andauernder Feuerwehreinsatz. Es gibt keine Lösungen mehr, sondern nur noch Behelfe, die besser oder schlechter sind. Die Aufgabe besteht darin, Menschen so zu begleiten, dass das Unerträgliche erträglich wird. Will man die Leistung in der Altenpflege würdigen, muss man den Tod anerkennen. Ihn besiegen die Pflegenden nicht. Aber mit ihrer hohen Fachlichkeit und mit christlichem Geist und diakonischer Haltung vermögen sie, Menschen gut durch die letzte Lebensphase bis zu der Schwelle zu begleiten, an der man einen Menschen loslässt und ihn in Gottes Hand gibt. 9 AKTUELL sozial • Ausgabe 3 | 2013 Reutlingen Kompetenzschmiede soziale Berufe Shanghai-Reutlingen: Der Vorstand von Wafios scheut keine Flugmeilen, um über den Erwerb von Kompetenzen in sozialen Berufen zu sprechen. Überzeugt: Wafios-Vorstand Martin Holder und Sozialpädagogin Martina Mäder. Zufrieden: Altenpflegerin Katrin Tilk (dritte von rechts) im Gespräch mit Moderatorin Dorothee Schad. Wegweisend: Geschäftsführer Peter King (rechts) und Dienststellenleiter Edwin Benner. 10 Gerade gelandet, kurz erfrischt und schon auf dem Podium beim Jahresfest der BruderhausDiakonie zum Thema „Soziale Berufe – ein heißer Job“. Martin Holder, Vorstand der Reutlinger Wafios AG, weiß, welche sozialen Kompetenzen im internationalen Kundengeschäft zwischen Asien, Südamerika und Europa erwartet werden: zum Beispiel Frustrationstoleranz und insbesondere Anforderungen standzuhalten. Deshalb schickt das Unternehmen, das Präzisionsmaschinen baut, sämtliche Auszubildenden zum zweiwöchigen Praktikum in die BruderhausDiakonie. In der Arbeit mit Menschen mit Behinderung lernen die angehenden Mechatroniker, Mechaniker oder kaufmännischen Auszubildenden die Basis dieser gefragten Fähigkeiten – soziale Berufsfelder als Schule fürs internationale Parkett. Katrin Tilk, fast fertige Altenpflegerin in der BruderhausDiakonie, stellt sich jeden Tag neuen Herausforderungen. Dabei, erklärte sie dem Publikum im Gespräch, käme so viel von den älteren Menschen zurück: immer wieder ein Lächeln und Dankbarkeit. Und bei der Pflegedokumentation am Computer lerne sie Planung und gezielte Organisation. „Das finde ich spitze.“ Mehr als 3000 Personen arbeiten in der BruderhausDiakonie in sozialen Berufen, erläuterte Moderatorin Dorothee Schad, die die Abteilung Personalentwicklung und Bildung in der Stiftung verantwortet. Einige von ihnen machten ein duales Studium. So auch Martina Mäder. Die mittlerweile fertige Sozialpädagogin begeistert an dieser Form der Ausbildung die enge Verzahnung von Theorie und Praxis. Seit Abschluss ihres Studiums arbeitet sie in der Behindertenhilfe. „Jeden Tag stelle ich mich auf etwas Neues ein, Geduld und Ausdauer sind unter anderem Eigenschaften, die wir Kollegen brauchen.“ Edwin Benner ist überzeugter Sozialpädagoge – einer, der seinen Traumberuf gefunden hat. Der Leiter des Jugendhilfeverbundes Kinderheim Rodt plädiert für mehr Männer in sozialen Berufen. „In der Jugendhilfe lassen sich Abenteuerlust und Beruf verbinden.“ Erlebnispädagogik mit Jugendlichen heißt zum Beispiel Radfahren, Klettern und Skifahren. Basis solcher Projekte ist eine Ausbildung zum Jugend- und Heimerzieher oder ein Sozialpädagogik-Studium. Als große Aufgabe könne man Verantwortung für eine ganze Wohngruppe übernehmen. Verschiedene Ausbildungswege führen zu einem sozialen Beruf. Peter King, Geschäftsführer des Diakonischen Instituts für Soziale Berufe, erklärte sie dem Publikum. Und er machte die Grundvoraussetzung deutlich: „Wer einen sozialen Beruf ergreifen möchte, muss Menschen mögen – und sich selbst.“ Und wer genügend Leistungsmotivation mitbringe, könne es auch mit einem Hauptschulabschluss zum Beispiel in der Pflege weit bringen: „Aufstocken kann man immer.“ ste Z REGIONEN sozial • Ausgabe 3 | 2013 Reutlingen Auf Weltmeeren unterwegs sein Ob der Traum von Sascha Lulei in Erfüllung geht? Noch ist er in der Ausbildung in einem Vier-Sterne-Hotel in Reutlingen und in der Wilhelm-Maybach-Schule der BruderhausDiakonie. Sascha Lulei schwärmt vom Meer: „Wenn für mich der Wehrdienst in Frage gekommen wäre, hätte ich mich bei der Marine beworben.“ Auch bei seinem Hobby hat er es mit Wasser zu tun. Schon seit zehn Jahren trainiert er Kinder im Pfullinger Hallenbad. Auf den ersten Blick hat seine Berufsausbildung mit Wasser nichts zu tun. Er ist im zweiten Ausbildungsjahr zur Fachkraft Gastronomie. Nach Beendigung der Ausbildung will er noch ein Jahr Ausbildung zum Hotel- oder Gaststättenfachmann anhängen und dann – und da kommt er wieder auf sein Element zu sprechen – klappt es vielleicht mit einem Arbeitsplatz auf einem Kreuzfahrtschiff. 19 Jahre ist Sascha Lulei alt. Aufgewachsen ist er als Zweitältester mit vier Geschwistern, nun lebt er selbstständig. In die Wilhelm-Maybach-Schule der BruderhausDiakonie in Reutlingen ist er vor drei Jahren gekommen. Zuerst machte er dort seinen Hauptschulabschluss und im Anschluss die Berufsausbildung. Der 19-jährige Sascha Lulei begeistert sich für die See. „Fachrechnen, Wirtschaftskunde, Deutsch, Englisch Gemeinschaftskunde …“, zählt er die Unterrichtsfächer auf. Besonders gefallen ihm die Fachpraktika in der Schule. Er lernt dort, wie – je nach Anlass der Veranstaltung – Geschirr, Besteck und Gläser bei einem Mehrgänge-Menü ausgewählt und auf der Tafel positioniert werden und wie saisonal und anlassbezogen die Tische dekoriert werden können. In seiner Klasse sind neben den Auszubildenden zur Fachkraft Gastronomie auch zwei Kollegen, die sich zum Beikoch ausbilden lassen. Davon profitiert er. „Das macht Spaß, in der WilhelmMaybach-Schule zu kochen.“ Im Lehrrestaurant der Schule üben sie das Bedienen. Fleisch und Gemüse auf den Platten sind aus Kunststoff. „Besser ist besser“, meint Sascha Lulei und lacht verschmitzt. „Man lernt hier sogar, wie man Speisekarten gestaltet.“ Gerne möchte Sascha außer dem Tagungshotel, in dem er die Praxis lernt, auch einmal ein Familienhotel kennenlernen. Dort hätten die Gäste viel mehr Zeit, und schon beim Frühstück ergäben sich Möglichkeiten für Gespräche. „Begegnung mit Menschen, das ist mir wichtig.“ Das erträumt er sich auch von der Arbeit auf einem Kreuzfahrtdampfer. Jetzt liegt aber noch ein Ausbildungsjahr in der Wilhelm-Maybach-Schule vor ihm. „Das Gebäude war früher einmal eine französische Kaserne“, erklärt er. „Vor dem Rektorat sind Vorrichtungen, wo man ehemals die Waffen abgestellt hat – aber die brauchen wir hier nicht“, fügt er rasch hinzu. Dafür steht jetzt auf dem Waffenbord zweckentfremdet – aber schön – ein Strauß mit Sommerblumen. Warum die Schule den Namen von Wilhelm Maybach trägt, hat seinen Grund. Der spätere Autokonstrukteur kam vor mehr als 150 Jahren, als neunjähriger Waisenjunge, in die Obhut von Pfarrer Gustav Werner nach Reutlingen. Dort machte er als Lehrling von Gottlieb Daimler eine Ausbildung in den Wernerschen Fabriken. Daimler und Maybach freundeten sich an und konstruierten später das erste Automobil, den Mercedes. Mercedes und Maybach sind heute noch Namen von Luxuslimousinen. Vielleicht arbeitet Sascha Lulei ja später einmal auf Luxuslinern. Aber das ist noch Zukunft. Viel näher liegt für ihn der nächste Urlaub. Da will er mit einigen Kumpels nach Hamburg. Die Stadt an der Elbe hat es ihm angetan. Vielleicht sieht er im Hafen ja ein Kreuzfahrtschiff, das gerade angelegt hat. her Z Im Fachpraktikum lernt Sascha Lulei, zu dekorieren. 11 REGIONEN sozial • Ausgabe 3 | 2013 Nürtingen/Esslingen Ein Kämpfer lehrt Toleranz Als Kickboxer hat Gökhan Arslan alles erreicht, was zu erreichen ist. Als Migrant hat er sich in Deutschland eine Existenz aufgebaut. Seine Lebenserfahrung gibt er an Kinder und Jugendliche weiter. Jugendliche. „Sie sollen auch an die Zukunft denken“, Gökhan Arslan hängt in den Seilen. Der Schweiß sagt er. „Sie sollen sich überlegen, was ist, wenn sie drückt aus seinen Poren. Helm und Mundschutz hat 30 sind.“ er abgenommen. Zweimal tief durchatmen. Dann Seine „Tiger-Sportakademie“ in Esslingen hat er vor geht es weiter: Tritte mit dem Fuß, Schläge mit der einem guten Jahr aufgemacht. Er betreibt sie mit seiFaust, blitzschnell und fast tänzerisch ausgeführt. ner Frau und einem befreundeten Ehepaar. „So etwas Ausweichen, wegducken, zuschlagen. Das war die ist nur zusammen machbar“, ist er überzeugt. Die Choreographie. Jeweils drei Minuten lang. Danach: Partner haben Geld in das Studio gesteckt und kümein Handschlag, eine schweißnasse Umarmung. Er mern sich um Buchhaltung steigt aus dem Ring und und Organisation. Arslan stellt sich vor das gute Dutist der Sportexperte. „Jeder zend Männer und Frauen. von uns hat seinen Bereich, Deutet eine Verbeugung an. keiner mischt sich in die Lächelt. Die Gruppe applauArbeit des anderen ein.“ diert. Und Gökhan, wie ihn Freundinnen, Freunde, Ehehier alle nennen, beklatscht partner und Kinder sitzen seine Schüler und Trainingsim Empfangsraum und partner. Ein respektvolles schauen bei türkischem Miteinander gehört zur Tee und Kaffee dem TraiSportart. „Immer wenn Kurze Atempause für Gökhan Arslan. Helm und Mundning zu. Ein italienischer Egoismus ins Spiel kommt schutz hat er abgenommen. Gastwirt fachsimpelt mit oder wenn jemand extrem einem kroatischen Kickboxer, der mit geschientem ist, dann wird es schwierig“, das ist seine Erfahrung. Bein und Krücken am Mattenrand sitzt. Die Kondition Gökhan Arslan ist nicht irgendwer. In der Kampfzweier Polizeischüler, die zum Gasttraining da sind, sportszene hat er einen Namen: Weltmeister 2006, fasziniert die beiden Zuschauer. Liegestütze, Sprünge 2011 und 2012. Im Oktober will er seinen Titel verteiaus der Hocke. Die jungen Männer auf der Matte digen – ein letztes Mal. triefen. Aber sie geben nicht auf. „Vierundzwanzig, Das Kickboxen hat er erst spät angefangen, mit 24 fünfundzwanzig, Schluss“, ruft Gökhan Arslan. Die Jahren. Und in etwas mehr als einem Jahrzehnt alles Polizeischüler schütteln Arme und Beine aus, schnaperreicht, was man in dieser Sportart erreichen kann. pen nach Luft. Arslan klopft ihnen anerkennend auf Jetzt ist er 37 und findet: „Ich muss mir nichts mehr den Rücken. beweisen.“ Mit 16 Jahren, erzählt Arslan, ist er von Anatolien Was er sich erkämpft hat an Erfahrung im Sport und nach Deutschland gekommen. „Von einem Tag auf im Leben, das will er weitergeben – an Kinder und 12 sozial • Ausgabe 3 | 2013 den anderen habe ich die Heimat verlassen müssen.“ Nach einem schweren Erdbeben waren die Verhältnisse in seiner Heimatstadt unerträglich geworden. Über diese Zeit spricht er nicht gerne. „In Deutschland habe ich zuerst bei Verwandten Unterschlupf gefunden“, berichtet er, „dann habe ich Asyl beantragt.“ Er lebte im Asylheim und bei einem Freund – und eine Zeitlang sogar unter freiem Himmel. Schließlich kam er im Mietshaus eines Onkels unter. Er machte ein Berufsvorbereitungsjahr und arbeitete als Bauhelfer und Fahrer. Und er lernte seine Frau Meliha kennen – eine sunnitische Türkin aus einer sehr konservativen Familie. Ihre Eltern waren gegen die Verbindung. „Ein Alevit und eine Sunnitin, das ging eigentlich gar nicht zusammen“, erinnert er sich. Dennoch haben die beiden jungen Leute damals schnell beschlossen zu heiraten. „Bei mir gibt’s keinen Unterschied zwischen Sunniten und Aleviten“, betont er. Genau genommen, sagt Arslan, gebe es nur zwei Probleme im Leben: Religion und Nationalität. „Wenn man die abschaffen könnte, hätten wir eine gute Welt.“ Respekt und Toleranz anderen gegenüber, das lebt er – und das lehrt er. „Ich muss nicht das Gleiche tun und denken wie der andere“, sagt er, „aber ich muss ihm Respekt zeigen.“ In Schulen und Vereinen erzählt er über sich und seine Geschichte – und versucht den jungen Menschen beizubringen, „wie man miteinander umgehen soll auf dem Schulhof“. Und wie man sich wehren kann gegen Stärkere. „Sich wehren zu können schadet nicht und gibt den Kindern Sicherheit.“ Um Selbstverteidigung geht es dabei nur am Rande. Arslan will den Kindern und Jugendlichen soziales Verhalten beibringen. „Wichtig ist“, sagt er und hebt den Finger, „die richtigen Wege zu zeigen in einer Sprache, die Kinder verstehen.“ Kickboxen ist Körperbeherrschung, Selbstdisziplin, Selbstvertrauen – und vor allem: Achtung des Gegners. „Wir geben uns immer die Hand, wenn wir gegeneinander gekämpft haben“, betont Arslan. REGIONEN Er scrollt den Terminkalender seines Smartphones durch. Vor zwei Tagen war er beim Integrationsausschuss der Stadt Kirchheim eingeladen – auf Vermittlung des Fachdienstes Jugend, Bildung, Migration der BruderhausDiakonie. Dort hat er einen Vortrag gehalten. Thema: Was müssen Migranten selbst beitragen, um in Deutschland Fuß fassen zu können? Morgen steht eine Einheit „Soziales Lernen“ in einem Stuttgarter Gymnasium auf dem Plan. „Die Direktorin hat mich beim Tag der offenen Tür in einer alevitischen Moschee angesprochen, da habe ich mit meinen Kindern Kickboxen vorgeführt.“ Für die Zeit nach den Schulferien hat er Termine in seinem Wohnort Nürtingen und in der Nachbarstadt Kirchheim. Der Fachdienst Jugend, Bildung, Migration will ihn dort bei Projekten gegen alkoholbedingte Jugendgewalt einsetzen und als Motivator bei Sprachkursen für jugendliche Migranten. Gökhan Arslan macht dabei gerne mit. „Ich versuche weiterzugeben, dass erfolgreich sein auch heißt, sozial zu sein“, sagt er. Und er erzählt von einem kurdischen Freiheitshelden, der mit 24 Jahren hingerichtet wurde. „Der hat vor der Hinrichtung gesagt: Es ist nicht wichtig, lange zu leben, sondern viel zu tun und Gutes zu tun.“ Die Trainingseinheit ist zu Ende. Gökhan Arslans Frau Meliha hat Baklava verteilt und türkische Kekse. Ein verschwitzter Boxer stillt in der Ecke seine blutende Nase: Der kräftige Haken seines Sparringspartners hatte ihn erwischt. Arslan ermahnt: „Ihr sollt Druck machen, aber nicht hart schlagen.“ Die ersten kommen schon aus der Dusche, verabschieden sich. Jeder bekommt einen Handschlag. „Das ist normal bei uns“, kommentiert Arslan, „wir sind wie eine Familie.“ msk Z Gökhan Arslan ist stolz auf seine „Tiger-Sportakademie“. Neben dem Eingang hängen Bilder erfolgreicher Schüler. Schnelligeit und Körperbeherrschung gehören zum Kickboxen – und Ausdauer im Training. 13 REGIONEN sozial • Ausgabe 3 | 2013 Nürtingen/Kirchheim Kicken für ein gemeinsames Ziel Im Projekt LIWING stärken jugendliche Migranten ihre Persönlichkeit. Mädchen und Jungen spielen gleichberechtigt. Abdullah, Denis, Volkan, Tarkan und Murat sind Freunde. Fünf gute Freunde, seit sie zusammen die Schulbank in der Nürtinger Ersbergschule gedrückt haben und nun in der Parkour-Gruppe des Projekts „LIWING“ vom Fachdienst Jugend, Bildung, Migration der BruderhausDiakonie Mauern und Wände hoch laufen. Fußball spielen sie, abgesehen von Murat, selten. Aber an diesem heißen Samstagvormittag beim StraßenfußballTurnier im Scharnhauser Park in Ostfildern kicken sie, was das Zeug hält. „Sogar mit einem Mädchen.“ Als Sozialpädagogin Ivana Serka, in der Parkour-Gruppe nachfragte, wer Lust auf ein Straßenfußballturnier habe, meldeten sich die 14 bis 18 Jahre alten Freunde spontan; und waren sich einig, dass Jessica dabei sein sollte. Das Mädchen gehört schon lange zur Mannschaft, auch wenn sie nicht über Wände und Mauern springt. Gleich nach dem Anpfiff auf dem Trendsportfeld versenkt sie den ersten Ball im Zwei-Meter-Tor: „Check“, abklatschen und strahlen. Es ist nicht einfach, Mädchen und Jungs in diesem Alter für gemeinsame Aktionen zu begeistern. Obwohl eine Regel des Straßenfußballs bei KICKFAIR sagt, dass die Teams gemischt sein sollen, bestehen elf von zwölf Mannschaften, die aus Nürtingen, Kirchheim, Reutlingen, Bad Urach, Esslingen, Göppingen und Ostfildern zum Turnier gekommen sind, nur aus Jungs. Ob die Teilnahme von Jessica einen Bonuspunkt extra für die Nürtinger gibt? Die jugendlichen Kicker nehmen teil an einem von vielen unterschiedlichen Angeboten im Rahmen des Projektes „LIWING“, die der Fachdienst Jugend, Bildung, Migration der BruderhausDiakonie an Berufs- „LIWING – Leben In Würde: Integration Nachhaltig Gestalten “ Mit dem Projekt haben sich fünf Träger – Kreisjugendring Esslingen e.V., Fachdienst Jugend, Bildung, Migration der BruderhausDiakonie, Berufsbildungswerk Waiblingen gGmbH, KICKFAIR e.V., BBQ Berufliche Bildung gGmbH – zusammengeschlossen. Ihr Ziel ist, die berufliche und gesellschaftliche Integration benachteiligter junger Menschen zu verbessern. 14 schulen wie der Max-Eyth-Schule in Kirchheim oder der Fritz-Ruoff-Schule in Nürtingen unterstützt. Außerschulische Bildungsangebote mit dem Ziel, soziale Kompetenzen zu erwerben, gehören dazu, aber auch gezielte sozialpädagogische Ausbildungsbegleitung und individuelle Sprachförderung. „Räume schaffen, um sich auszuprobieren“, sei wichtig, sagt die Projektleiterin Amina Ramadan. „Wir wollen mit unseren Angeboten die persönliche Entwicklung der Jugendlichen stärken. Denn wenn sie was drauf haben und wahrgenommen werden, schafft das Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen.“ Vor jedem Turnierspiel ruft die Spielleitung zur Vorbesprechung der Mannschaften ins Dialogzelt. Mit Youth Leadern, jugendlichen Mentorinnen und Mentoren, werden drei Spielregeln aufgestellt. Dafür gibt es Punkte: Entschuldigen bei Fouls zum Beispiel oder Bolzen ist tabu. Fairness zählt genauso viel wie Tore. „Straßenfußball ist schöner als normaler Fußball“, meint Tarkan, „weil er nach eigenen Regeln funktioniert und weil wir hinterher noch Ausdauer haben.“ Die Vorfreude auf das Spiel blitzt den sechs Freunden aus dem Gesicht. Die Nürtinger Parkour-Gruppe trifft sich seit über zwei Jahren. Dabei geben die Jugendlichen ihre Fähigkeiten als Mentoren an Jüngere weiter und sind stolz auf die „Kleinen“, wenn alles klappt. Neben dem Training engagieren sich die Jugendlichen außerdem bei Gemeindefesten – Stichwort gesellschaftliche Teilhabe – oder spielen zur Abwechslung Straßenfußball. Sport in einer Mannschaft stärkt Wie heute: Acht das Gemeinschaftsgefühl. Minuten werden im Zehn-auf-zehn-Meter-Feld in Ostfildern bis zum Abpfiff gespielt. Am Ende treffen sich die Mannschaften erneut zur Besprechung. Was war fair, was unfair, aggressiv oder gemein, wie sind wir miteinander umgegangen? „Super! Wenn wir nett sind, dann sind die anderen auch nett“, kommentiert Denis. „Kluger Spruch“, Jessica hebt den Daumen. mar Z N NACH RICHTEN sozial • Ausgabe 3 | 2013 Unterstützungszentrum für psychisch Erkrankte eröffnet Hechingen – Die BruderhausDiakonie hat in der Hechinger Stutenhofstraße ein Unterstützungszentrum mit zehn Wohnplätzen für Menschen mit psychischer Erkrankung eingerichtet. Für Lothar Bauer (am Rednerpult) ist das Unterstützungszentrum „eine gelungene bauliche Lösung“. Pfarrer Lothar Bauer, Vorstandsvorsitzender der BruderhausDiakonie und Dorothea Bachmann, Bürgermeisterin von Hechingen, haben das Gebäude mit einem Festakt eröffnet. Mit dem Wohnprojekt bietet die BruderhausDiakonie intensive Hilfen für psychisch kranke Menschen wohnortnah in einem ambulanten Rahmen an und schließt eine bislang bestehende Versorgungslücke in Hechingen. Bachmann begrüßte das neue Angebot in ihrer Stadt. „Es ist wichtig, dass es für Menschen, die Hilfe brauchen, individuelle Lösungen gibt.“ Und auch der Sozialdezernent des Zollernalbkreises, Eberhard Wiget, betonte: „Die Angebote müssen vor Ort geschaffen werden.“ Pfarrer Lothar Bauer freute sich über die „sehr gelungene bauliche Lösung“, die „gemeinsam mit allen Partnern“ entwickelt und umgesetzt wurde. Die BruderhausDiakonie hat das Wohnprojekt in enger Kooperation mit der Landkreisverwaltung des Zollernalbkreises und dem Bürgermeisteramt Hechingen verwirklicht. Die Stiftung Mensch der Sparkasse Zollernalb unterstützte das Vorhaben finanziell. Zwei von der BruderhausDiakonie betreute Bewohner schilderten, wie ihnen die Unterstützung hilft, durch Krisenzeiten zu kommen. „Ich weiß, dass ich mich immer an die Mitarbeiter wenden kann – sowohl tagsüber als auch nachts“, sagte einer der Betroffenen. Der evangelische Pfarrer Herbert Würth und der katholische Geistliche Benedikt Ritzler segneten gemeinsam das Haus. Die BruderhausDiakonie ist mit ihrem „Wohnprojekt Hechingen“ seit vier Jahren vor Ort tätig und schafft mit dem Neubau die räumlichen Voraussetzungen für die Unterstützung psychisch erkrankter Menschen. Das Zentrum bietet betreute Wohnplätze in Einzelappartements sowie Räume für die Tagesstruktur und ein Mitarbeiterbüro. Klienten finden hier Hilfe in der Krankheits- und Alltagsbewältigung, die Möglichkeit zum Austausch und zur Unterstützung für weiterführende Hilfeangebote. Vom Stützpunkt Stutenhofstraße aus werden passgenaue, sozialraumorientierte und lebensweltnahe Hilfen angeboten, auch für Klienten , die an anderen Orten im Rahmen des Wohnprojektes Hechingen betreut werden. Neue Pflegeakademie Stuttgart – Für Pflegeberufe gibt es in Stuttgart in der Nordbahnhofstraße eine neue Ausbildungsstätte, die evangelische Pflegeakademie. Zwei Bildungsanbieter betreiben den Lehr- und Weiterbildungsbetrieb: die Berufsfachschule für Altenpflege des Diakonischen Instituts für Soziale Berufe (DI), das von der BruderhausDiakonie gegründet wurde, und die Schule für Gesundheits- und Krankenpflege des Evangelischen Bildungszentrums für Gesundheitsberufe Stuttgart (EBZ). DI und EBZ sind diakonische Anbieter mit langjähriger Erfahrung in Aus-, Fort- und Weiterbildung in der Pflege. Weitere Informationen unter www.ebz-pflege.de und unter www.diakonisches-institut.de Im Haus der Diakonischen Bildung in Stuttgart haben zwei Bildungsanbieter ein modernes Ausbildungszentrum für Pflegeberufe geschaffen. 15 D I A KO N I S C H E R I M P U L S Peter King Wem fehlt das Kompetenzbewusstsein? Peter King ist Geschäftsführer des Diakonischen Institutes für Soziale Berufe Zur Entwicklung von Kompetenzbewusstsein müssen personeninterne und personenexterne Bedingungen gegeben sein, welche die Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen. Personeninterne Bedingungen sind genetische Entwicklungsdispositionen und erworbene Fähigkeiten. Personenexterne Bedingungen sind Einflüsse durch die Umwelt und die Gesellschaft. Person und Umwelt stehen also in Interaktion. Sozialisationsziele sind dabei zu erfüllen. Innere Entwicklung und äußere Anforderungen müssen bei sozialen Berufen besonders reflektiert werden, damit Professionalität und „Ich-Stärke“ entstehen können. Analyse- und Urteilsfähigkeiten führen dann zur beruflichen Kompetenz. Die drei Handlungsdimensionen positives Selbstbild, Kompetenzbewusstsein und psychische Stabilität sind die Voraussetzung für soziale Berufe. In der Ausbildung der sozialen Berufe ist, neben der Vermittlung von Fachkompetenz, die Erhöhung des eigenen Kompetenzbewusstseins von großer Bedeutung – darüber hinaus wird die Klientel bei der Entwicklung ihres Kompetenzbewusstseins unterstützt und begleitet. Dieser reflexive Interaktionsansatz stellt eine besondere Herausforderung an die Wahrnehmung des eigenen Kompetenzbewusstseins dar. Ressourcen aller Beteiligten müssen erkannt und genutzt werden. Diakonische Bildung ist getragen von dem Verständnis der Interaktion auf Augenhöhe. Die Interaktion ist geprägt von Achtung und Wertschätzung gegenüber der Klientel und gegenüber sich selbst. Nur wer sich selbst wertschätzt, kann auf Dauer in sozialen Arbeitsfeldern professionell arbeiten. Das Angebot zur gegenseitigen Wertschätzung ist das Fundament zur Bildung. Darauf aufbauend kommt Fachlichkeit, Organisationskompetenz und Sozialkompetenz hinzu. Dieses Verständnis der sozialen Berufe beschreibt zugleich die Persönlichkeitsentwicklung in sozialen Handlungsfeldern. Bei den personenexternen Bedingungen sind Strukturen zu gestalten, um Arbeitszufriedenheit zu erreichen und im Beruf Sinn zu finden. Dies wiederum ist die Voraussetzung für ein positives Arbeitsklima. Anerkennende Werthaltungen sind von großer Bedeutung. Wenn auf der Seite der personenexternen Bedingungen allerdings Bewertungen anzutreffen sind, dass in sozialen Berufen wenig gearbeitet werde oder gar, dass die Arbeit jede Person verrichten könne, fehlt es der Gesellschaft an Kompetenzbewusstsein. Der Mangel wird noch verstärkt durch die Einschätzung auch von vermeintlichen Experten/innen, dass die Arbeit auch von Personen verrichtet werden könne, die über keine oder wenig Ausbildung – noch über personeninterne Persönlichkeitskompetenzen – verfügen. Dieses Defizit wiederum den sozialen Berufen zuzuschreiben, grenzt an Ignoranz. Träger von sozialen Einrichtungen sollten hier klar Stellung beziehen gegen niederschwellige Ausbildungen und die Ausweitung von verkürzten Qualifikationsprofilen. Schließlich stellen sie die Kompetenz ihres eigenen Geschäftsfeldes in Frage, eines Tätigkeitsfeldes, dem durch die Arbeit mit Menschen eine besondere Bedeutung und Verantwortung zukommt. Nicht den sozialen Berufen fehlt das Kompetenzbewusstsein, sondern weiten Teilen der Gesellschaft das Bewusstsein über die Kompetenzen der Sozialberufe. + www.diakonisches-institut.de