Information zur ERASMUS-Lehrveranstaltung

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Information zur ERASMUS-Lehrveranstaltung
Dr. Ines Fornell
Seminar für Indologie und Tibetologie der
Georg-August-Universität Göttingen
Erasmus-Lehrveranstaltung
„Die Darstellung religiöser Gewalt in der zeitgenössischen Hindi-Literatur“
Kommunalistische Unruhen zwischen Hindus und Muslimen, der mit ca. 138 Millionen (Census of India 2001) zahlengrößten Minorität, durchziehen die Geschichte des unabhängigen
Indiens. Dabei markieren die Zerstörung der Bābrī-Moschee in Ayodhya im Dezember 1992
sowie die sich daran anschließenden, das ganze Land erschütternden Unruhen einen Höhepunkt in der Geschichte kommunalistischer Gewalt. Als vorerst jüngstes Beispiel derartiger
Gewalt sind die schweren Ausschreitungen in weiten Teilen Gujarats im Jahre 2002 zu nennen.
Die Brisanz dieser Problematik hat viele Hindi-Autoren unterschiedlicher literarischer Strömungen dazu veranlasst, sich in ihren Werken mit Ursachen und Hintergründen sowie mit
Wirkungsmechanismen kommunalistischer Gewalt auseinanderzusetzen und darüber hinaus
zu erkunden, welche Auswirkungen diese auf das Zusammenleben von Hindus und Muslimen
haben.
Die Lehrveranstaltung gliedert sich in ein dreistündiges Seminar und eine zweistündige Vorlesung. Beide Veranstaltungen sind inhaltlich aufeinander abgestimmt, können jedoch auch
unabhängig voneinander besucht werden.
Seminar am Dienstag, dem 22. Mai 2012, 10-13 Uhr
1. Teil: Die Ereignisse von Ayodhya im Spiegel der gegenwärtigen Hindi-Literatur:
am Beispiel der Romane Triśūl von Śivmūrti und Kathāvācak von Ābid Surtī
In der ersten Hälfte des Seminars werden wir uns detaillierter mit zwei Romanen beschäftigen, die jeweils eine unterschiedliche Etappe im Ayodhya-Konflikt thematisieren:
Der erste Roman, Triśūl (Dreizack), des 1950 im Distrikt Sultanpur (U.P.) geborenen Autors
Śivmūrti spielt vor dem Hintergrund von L.K. Advanis Rath yātrā und der versuchten ersten
Erstürmung der Bābrī-Moschee in Ayodhya durch hindunationalistische Kār Sevaks im Jahre
1990 und schildert die immer aggressiver werdende Stimmung gegenüber Muslimen in einer
nordindischen Stadt. Diese politischen Ereignisse bilden die Folie, vor der die Geschichte des
halbwüchsigen Muslims Mahmūd erzählt wird, der als Hausangestellter in einer HinduFamilie lebt. Triśūl gehört zweifellos zu den eindrucksvollsten Hindi-Werken der letzten Jahre, die sich auf nuancierte Art und Weise mit religiösen Konflikten auseinandersetzen und
dabei die Verantwortung des Einzelnen nicht aussparen. Der Roman liegt bisher nicht in deutscher oder englischer Übersetzung vor, im Seminar arbeiten wir daher mit einigen ausgewählten Textstellen in Rohübersetzung.
Der zweite in diesem Seminar zu behandelnde Roman, Kathāvācak (Der Geschichtenerzähler), wurde 2001 zunächst auf Hindi verfasst und 2003 in Urdu und Gujarati sowie 2005 in
englischer Übersetzung unter dem Titel In the Name of Rama publiziert. Der Autor des Werkes, Ābid Surtī (geb. 1935) entstammt einer muslimischen Familie. In diesem Roman geht es
um Rāmāsre, einen Geschichten-Erzähler, der bei seinem Versuch, die Kār sevaks von der
Zerstörung der Babri-Moschee am 6. Dezember 1992 abzuhalten, vom Mob niedergetrampelt
wird. Ich-Erzähler ist Dr. Śuklā, ein junger indischer Arzt, der nach langjährigem Aufenthalt
in den USA in seine Heimat zurückkehrt und sich mit dem ungewöhnlichen Fall Rāmāsres
beschäftigt. Die Geschichte dieses Koma-Patienten rekonstruiert der Arzt aus den Schilderungen von Sumatiyā, der Jugendgefährtin Rāmāsres, die ihn seit acht Jahren pflegt, sowie aus
verschiedenen Zeitungsmeldungen und anderen Quellen. Während der Behandlung des Koma-Patienten macht Dr. Śuklā selbst eine Art Reifeprozess durch. Ausgewählte Ausschnitte
aus diesem Roman werden den Teilnehmer(inne)n vor dem Seminar zur Verfügung gestellt.
2. Teil: Die Auswirkungen kommunalistischer Gewalt auf die Psyche und die Wahrnehmung der Individuen als Thema von Hindi-Erzählungen
In der zweiten Hälfte des Seminars wollen wir uns vor allem damit beschäftigen, auf welche
Weise in einigen Hindi-Werken die Auswirkungen von kommunalistischer Gewalt und des
zunehmenden Hindu-Nationalismus auf die Psyche und auf die Wahrnehmung des Einzelnen
dargestellt werden. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel hierfür ist die Langerzählung „Mar
gayā Dīpnāth“ (1992/93, Umgekommen ist Dipnath) von Candrakiśor Jāyasvāl (geb. 1940).
In diesem Werk, das vorwiegend aus den Reflexionen des Hindu Dīpnāth besteht, der im Anwesen eines Sufi-Meisters Asyl vor den gerade ausgebrochenen Hindu-Muslim-Unruhen gefunden hat, geht es um tief sitzende Vorurteile und Ängste eines Menschen, die sich in dieser
besonderen Situation sogar bis ins Irrationale steigern können. Aus dieser Erzählung, die eine
unerwartete Wendung nimmt, werden zur Analyse ausgewählte Ausschnitte in Rohübersetzung vorgestellt, da dieses Werk bisher in keiner englischen oder deutschen Übersetzung vorliegt,
Zum Vergleich soll die ins Englische übersetze Kurzgeschichte „Khauf“ (1994, Angst) von
Gulzār (1936) herangezogen werden. Den Hintergrund der Kurzgeschichte bilden die verheerenden Ausschreitungen, die sich im Gefolge des Abrisses der Bābrī-Moschee ereigneten und
mit besonderer Intensität in Mumbai wüteten. Die Hauptfigur Yāsin war von einem Hindu vor
dem sicheren Tode gerettet und tagelang versteckt worden. Allerdings vermag Yasin die
selbst erfahrene Menschlichkeit und Freundschaft nicht weiterzugeben, sondern wird später
durch Angst und Panik selbst zum Täter. Diese Kurzgeschichte wird den Teilnehmer(inne)n
vor dem Seminar zur Verfügung gestellt.
Literatur für das Seminar:
FORNELL, INES: Wenn Misstrauen und Angst das Handeln bestimmen. Drei HindiKurzprosawerke zu spezifischen Aspekten der Kommunalismus-Problematik im heutigen
Indien. Tohfa-e-Dil: Festschrift Helmut Nespital, Reinbek (hrsg. von Dirk W. Lönne). Reinbek 2001, 189-210.
GULZAR: Khauf. In: GULZAR: Raavi Paar and Other Stories. New Delhi 1997, 1-7.
SURTI, AABID: In the Name of Rama. (Transl. by Aalif Surti et al.) New Delhi 2005.
Für die entsprechenden Hindi-Quellen sowie weitere Lesempfehlungen siehe Bibliographie.
Vorlesung am Mittwoch, den 23. Mai 2012, 12-14 Uhr
„Die Darstellung religiöser Gewalt in der zeitgenössischen Hindi-Literatur“
In dieser Vorlesung soll eine sowohl in inhaltlicher als auch erzähltechnischer Hinsicht repräsentative Auswahl an Hindi-Kurzgeschichten und -Romanen vor allem aus den letzten drei
Jahrzehnten zu dieser Thematik vorgestellt werden. Wie wir feststellen werden, bedienen sich
die Autorinnen und Autoren bei der Auseinandersetzung mit Ursachen und Hintergründen
sowie Wirkungsmechanismen kommunalistischer Gewalt recht unterschiedlicher Erklärungsmodelle, so können wir bspw. in einigen Werken der 1980er und frühen 1990er Jahre
einen so genannten „mikrosoziologischen“ Ansatz finden, der die ökonomischen Aspekte der
Problematik hervorhebt, welcher jedoch für die Unruhen im Gefolge des Aufschwungs des
Hindu-Nationalismus allein nicht mehr ausreicht.
Die Darstellung der direkten und indirekten Auswirkungen kommunalistischer Gewalt auf das
Leben der Menschen in den betroffenen Gebieten bildet einen besonders interessanten Aspekt. Beispielsweise schildert Vibhūti Nārāyaṇ Rāy in seinem Kurzroman Śahar meṁ karfyū,
(1988, Ausgangssperre in der Stadt) am Beispiel einer muslimischen Familie, welche enormen Belastungen eine Ausgangssperre für Teile der Bevölkerung mit sich bringen kann und
welche Rolle die Polizei dabei spielt. Wiederum andere Werke konzentrieren sich auf die
ebenfalls fatalen Auswirkungen kommunalistischer Gewalt auf die Psyche betroffener Menschen, wie etwa in der Langerzählung „Mar gayā Dīpnāth“ (1992/93, Umgekommen ist Dipnath) von Candrakiśor Jāyasvāl oder die Kurzgeschichte „Khauf“ (1994, Angst) von Gulzār
(welche im Seminar detaillierter betrachtet wurden).
In einem weiteren Schwerpunkt sollen einige Hindi-Romane und Kurzgeschichten vorgestellt
werden, die sich in unterschiedlicher Art und Weise mit den Ereignissen um die BābrīMoschee in Ayodhya auseinandersetzen. Neben den im Seminar behandelten Kurzromanen
Triśūl (1993, Der Dreizack) von Śivmūrti und Kathāvācak (2001, Der Geschichtenerzähler)
von Ābid Surtī werden noch einige weitere Werke vorgestellt, darunter die Kurzgeschichte
Ayodhyā (1997) von Sañjay Khātī, die den Teilnehmer(inne)n vor der Vorlesung zur Verfügung gestellt wurde.
Literatur für die Vorlesung:
FORNELL, INES: Wenn Misstrauen und Angst das Handeln bestimmen. Drei HindiKurzprosawerke zu spezifischen Aspekten der Kommunalismus-Problematik im heutigen
Indien. Tohfa-e-Dil: Festschrift Helmut Nespital, Reinbek (hrsg. von Dirk W. Lönne). Reinbek 2001, 189-210.
GULZAR: Khauf. In: GULZAR: Raavi Paar and Other Stories. New Delhi 1997, 1-7.
KHATI, SAÑJAY: Ayodhyā (übers. von K. MEISIG). Orientalische Erzähler der Gegenwart
(hrsg. von K. MEISIG). Wiesbaden 1999, 207-212.
Für die entsprechenden Hindi-Quellen sowie weitere Lesempfehlungen siehe Bibliographie.
Bibliographie für die Erasmus-Lehrveranstaltung
Religiöse Konflikte in der zeitgenössischen Hindi-Literatur
1. Texte (in Hindi oder Übersetzung)
‚AGYEY‘: Beschützer (übersetzt von M. Gatzlaff). Orientalische Erzähler der Gegenwart
(hrsg. von K. MEISIG). Wiesbaden 1999, 164-173.
BIṢṬ, PAṆKAJ: Kyā kahnā hai jaṭāyu?. In: BIṢṬ, P.: Ṭuṇḍrā pradeś tathā anya kahāniyāṁ. Nayī
Dillī 1995, 98-117.
GĪTĀÑJALĪ ŚRĪ: Hamārā śahar us baras. Naī Dillī et al. 1998.
GULZĀR: Khauf. in: Haṃs. Naī Dillī, May 1994, 24-25.
GULZAR: Khauf. in: GULZAR: Raavi Paar and Other Stories. New Delhi 1997, 1-7.
JĀYASVĀL, CANDRAKIŚOR: Śīrṣak. Pūrṇiyā et al. 1996.
 Mar gayā dīpnāth. In: C. JĀYASVĀL: Mar gayā dīpnāth: (kahānī saṅgrah). Pūrṇiyā et
al.1997, 9-60.
KĀLIYĀ, RAVĪNDRA: Khudā sahī salāmat hai. Ilāhābād 2005 (ursprünglich in 2 Bänden erschienen: 1982 und 1984).
KHATI, SAÑJAY: Ayodhyā (übers. von K. MEISIG). Orientalische Erzähler der Gegenwart
(hrsg. von K. MEISIG). Wiesbaden 1999, S. 207-212.
PRAKĀŚ, UDAY: Pīlī chatrī vālī laṛkī. Dillī 2001.
PRIYAṂVAD: Ve vahāṁ qaid haiṁ. Nayī Dillī 1994.
RĀY, VIBHŪTI NĀRĀYAṆ: Śahar meṁ karfyū, Dillī 1988.
RAY, VIBHUTI NARAIN: Curfew in the City, New Delhi 1998.
RAZĀ, RĀHĪ MĀSŪM: Asantoṣ ke din. Nayī Dillī et al. 1986.
SĀHNĪ, BHĪṢM: Amṛtsar ā gayā hai”. In: SĀHNĪ, B.: Paṭriyāṁ, Nayī Dillī et al 1973, S. 21-35.
 Tamas. Nayī Dillī et al. 1977 (1. Auflage 1973).
SARAOGI, ALKA: Kalikata: via bypass. (Transl. by the author.) New Delhi 2002.
SARĀVGĪ, ALKĀ: Kalikathā: vāyā bāipās. Pañckūlā 2002 (1. Auflage 1998).
ŚIVMŪRTI: Triśūl. Nayī Dillī et al. 1995.
SURTĪ, ĀBID: Kathāvācak. Mumbaī 2001.
SURTI, AABID: In the Name of Rama. (Transl. by Aalif Surti et al.) New Delhi 2005.
2. Sekundärliteratur
FORNELL, INES: Wenn Misstrauen und Angst das Handeln bestimmen: Drei HindiKurzprosawerke zu spezifischen Aspekten der Kommunalismus-Problematik im heutigen
Indien. Tohfa-e dil. Festschrift Helmut Nespital (hrsg. von DIRK LÖNNE). Reinbek 2001, 189210.
 Im Spannungsfeld zwischen Globalisierung und Nationalismus. Einige vieldiskutierte
Werke der neuesten Hindi-Literatur. Acta Orientalia, Havniae 67 (2006), 229-242.
 Die Ereignisse von Ayodhya im Spiegel der gegenwärtigen Hindi-Literatur. Studien zur
Indologie und Iranistik. 28 (2011) (im Druck).
JAFFRELOT, CHRISTOPHE: Gewalttätige Zusammenstöße zwischen Hindus und Moslems. Versuch einer Gewichtung der kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Faktoren. Religion –
Macht – Gewalt: Religiöser ‘Fundamentalismus‘ und Hindu-Moslem-Konflikte in Südasien
(hrsg. von CHRISTIAN WEISS ET AL.), Frankfurt a.M. 1996, 99-125.
KAKAR, Sudhir: Die Gewalt der Frommen. Zur Psychologie religiöser und ethnischer Konflikte. München: Beck, 1997.
MEISIG, KONRAD: Junge Autoren der Hindi-Literatur. Orientalische Erzähler der Gegenwart
(hrsg. von KONRAD MEISIG). Wiesbaden 1999, S. 187-221.
STARK, ULRIKE: Tage der Unzufriedenheit: Identität und Gesellschaftsbild in den Romanen
muslimischer Hindischriftsteller (1965-1990). Stuttgart 1995.
WEISS, CHRISTIAN ET AL.: Einleitung. Religion – Macht – Gewalt: Religiöser ‘Fundamentalismus‘ und Hindu-Moslem-Konflikte in Südasien (hrsg. von CHRISTIAN WEISS ET AL.), Frankfurt a.M. 1996, 1-25.