Die Bedeutung der EGMR-Rechtsprechung fįr das deutsche

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Die Bedeutung der EGMR-Rechtsprechung fįr das deutsche
Anwaltspraxis
Anwaltspraxis
Die Bedeutung der
EGMR-Rechtsprechung fçr
das deutsche Arbeitsrecht
Stårkung der Arbeitnehmerrechte durch
menschenrechtliche Argumentationen
Dr. Nina Althoff, Berlin
Die Europåische Menschenrechtskonvention (EMRK) sichert
auch die Rechte von Arbeitnehmern. Das mag fçr viele Anwåltinnen und Anwålte çberraschend sein: Gerade haben sie
gelernt, welche Bedeutung das europåische Recht und der
EuGH fçr das Arbeitsrecht haben, da wird der Europåische
Gerichtshof fçr Menschenrecht (EGMR) mit seinen Entscheidungen immer wichtiger. Die Bedeutung der EGMRRechtsprechung im Arbeitsrecht, erlåutert die Autorin. Der
Beitrag setzt eine 2011 begonnene Serie zur Durchsetzung
der Menschenrechte fort.*
Die internationale, die europåische und die innerstaatliche
Rechtsetzungsebene verschrånken sich auch im Arbeitsrecht
zunehmend. Die Bedeutung internationaler und europåischer
Menschenrechtsabkommen steigt mit der wachsenden Ausdifferenzierung
menschenrechtlicher Normen durch neue Regelungswerke1 sowie auch durch die Spruchpraxis der jeweiligen Kontrollorgane, wie dem Europåischen Gerichtshof fçr
Menschenrechte (EGMR).
So haben im Arbeitsrecht die
2
EGMR-Urteile
¹Schçthª
zum
kirchlichen Arbeitsrecht sowie
¹Heinischª3 zu Kçndigung wegen Whistleblowing viel Beachtung gefunden. Sie kænnen Impulse und Wirkung çber den
Einzelfall hinaus entfalten und es sind zahlreiche weitere Konstellationen denkbar, in denen die EMRK in ihrer Auslegung
durch den EGMR weitreichende Tragweite fçr die deutsche
Arbeitsrechtspraxis haben kann. Im Folgenden soll die Wirkungsweise der EGMR-Rechtsprechung allgemein und deren
Bedeutung und Potential fçr arbeitsrechtliche Mandate anhand von Beispielen vorgestellt werden.
I. Innerstaatliche Geltung von EGMR-Urteilen
Die EMRK und ihre durch Deutschland ratifizierten Zusatzprotokolle haben durch die jeweiligen Ratifikationsgesetze
Eingang in die deutsche Rechtsordnung im Rang eines einfachen Bundesgesetzes erhalten. Als solche sind sie innerstaatlich zu beachten und zur Anwendung zu bringen
(Art. 59 Abs. 2 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG). Dieser so genannte
Rechtsanwendungsbefehl richtet sich an Behærden4 und Gerichte, einschlieûlich der Arbeitsgerichtsbarkeit. Teils begrçnden die menschenrechtlichen Normen unmittelbar5 anwendbare und einklagbare Rechte fçr Einzelpersonen. Vor
allem aber ist die EMRK, wie alle Menschenrechtsvertråge,
Maûstab fçr die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der
Grundrechte; und auch sonstiges
innerstaatliches Recht ist
in ihrem Lichte auszulegen.6
Zur menschenrechtskonformen Auslegung sind die einschlågigen menschenrechtlichen Normen wie auch die
Die Bedeutung der EGMR-Rechtsprechung fçr das deutsche Arbeitsrecht, Althoff
Spruchpraxis der jeweiligen Kontrollorgane heranzuziehen.
Zwar binden die EGMR-Urteile unmittelbar nur die beteiligten Parteien, also Beschwerdefçhrer/in
und Vertragsstaat
(Art. 46 Abs. 1 EMRK).7 Die Wirkung geht aber mittelbar
darçber hinaus, indem zur innerstaatlichen Rechts- und Entscheidungsfindung im Lichte der EMRK deren Inhalt und
Entwicklungsstand in Betracht zu ziehen sind. Die EMRK
wird als ¹living documentª verstanden, die vom EGMR ausgelegt und fortentwickelt wird. Als der insoweit hæchsten Autoritåt kommt dem EGMR die Befugnis zur Konkretisierung
der Konventionsnormen zu, die innerstaatlich berçcksichtigt
werden muss ± unabhångig
davon, gegen welchen Staat die
Entscheidung erging.8
Zur Fortentwicklung der Konventionsbestimmungen hat
der EGMR immer wieder den Grundsatz zugrunde gelegt,
dass die EMRK so weit wie mæglich im Einklang mit anderen9
internationalen Standards des Vælkerrechts auszulegen ist.
Entscheidungsmaûstab des Gerichtshofs ist zwar ausschlieûlich die EMRK mit ihren Zusatzprotokollen, die Auslegung
erfolgt jedoch unter Bezugnahme auf internationale Standards, wozu z. B. die fçr das Arbeitsrecht relevante Europåische Sozialcharta oder die Konventionen 10der ILO (International Labour Organisation der UN) zåhlen.
Auch im Anwendungsbereich des Unionsrechts wirkt die
EMRK in der Auslegung durch den EGMR, da diese als
Rechtserkenntnisquelle Eingang in Unionsrecht gefunden
hat (Art. 6 Abs. 3 EUV). Mit dem bevorstehenden Beitritt
der
EU zur EMRK wird diese Bedeutung noch steigen.11
II. Arbeitsrechtlich relevante EMRK-Bestimmungen
Das Arbeitsrecht ist von der Reichweite der EMRK und der
jeweiligen Auslegung durch den EGMR nicht ausgenommen. Obwohl die EMRK und ihre Zusatzprotokolle das Recht
auf Arbeit nicht ausdrçcklich nennen, hat der EGMR Verlet* Cremer, Menschenrechte als Quelle von individuellen Rechten, AnwBl 2011, 159;
Althoff, Diskriminierungsschutz aus Menschenrechten, AnwBl 2011, 482; Aichele,
Die UN-Behindertenrechtskonvention in der gerichtlichen Praxis, AnwBl 2011,
727; Althoff, Das Individualbeschwerdeverfahren zu den UN-Fachausschçssen,
AnwBl 2012, 52; Cremer, Kinderrechte und der Vorrang des Kindeswohls, AnwBl
2012, 327; Rudolf, Diskriminierung wegen des Geschlechts ist mehr als Ungleichbehandlung, AnwBl 2012, 599 und Mahler, Wirtschaftliche, kulturelle und soziale
Rechts sind einklagbar!, AnwBl 2013, 245.
1 Z. B. UN-Behindertenrechtskonvention oder die Europaratskonvention gegen
Menschenhandel.
2 EGMR, Nr. 1620/03, 23.9.10.
3 EGMR, Nr. 28274/08, 27.8.11. Als Folge des Urteils werden derzeit verschiedene
Gesetzentwçrfe zur Verbesserung des Schutzes von Whistleblowern im Bundestag diskutiert.
4 Ståndige Rspr. s. BVerfGE 111, 307ff; 82, 106ff; 74, 358ff.
5 Zur Einklagbarkeit wirtschaftlicher und sozialer Rechte s. C. Mahler, AnwBl 2013,
245ff.
6 BVerfGE 74, 358, 370; exemplarisch zur UN-BRK s. BVerfG, 2BvR882/09; BSG,
B1KR10/11R.
7 So sind auch Arbeitgeber nicht gebunden, die nicht Partei im Verfahren waren.
Und das beanstandete Arbeitsgerichtsurteil bleibt gçltig; es sei denn, es besteht
die Mæglichkeit zur Wiederaufnahme des Verfahrens (§ 580 Nr. 8 ZPO).
8 Ausdrçckl. BVerfGE 111, 307, 319, 328; so bereits BVerfGE 74, 358, 370; 82, 106,
120. Nach wie vor umstritten ist die Bindungswirkung im Falle eines von der
Rechtsprechung des EGMR abweichenden Bundesverfassungsgerichtsurteils. S.
U. Heckætter, Die Bedeutung der EMRK und der Rspr. des EGMR fçr die deutschen Gerichte, Kæln 2007, S. 73 ff, 135 ff.; J.M. Hoffmann, Die EMRK und nationales Recht, Kæln 2010, S. 100 ff. Sollte ein Gericht der Auffassung des BVerfG
und nicht des EGMR folgen, wçrde dies mindestens ein erhæhtes Begrçndungserfordernis darstellen. Verneinend BVerfGE 111, 307 ff.
9 Zu Auslegungsregeln von Vælkerrechtsvertråge s. Art. 31ff. Wiener Vertragsrechtskonvention.
10 S. z. B. Demir u. Baykara/Tçrkei, Nr. 34503/97; oder zur Heranziehung der BRK s.
Glor/Schweiz, Nr. 13444/04, v. 30.4.09, Rn. 53; s. auch EGMR-Infoblatt, Use of international conventions by the ECHR, ab S. 6, www.echr.coe.int.
11 Der BRK ist die EU 2011 beigetreten und erste EuGH-Urteile mit entscheidenden
Bezçgen zur Konvention sind ergangen: EuGH, Rs. C-335/11, Ring und C-337/11,
Werge.
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zungen der Konvention z. B. in Bezug auf Kçndigungen, Zugang zu Beschåftigung oder Vereinigungsfreiheit festgestellt
und eine
das Arbeitsrecht prågende Spruchpraxis entAbwågungsfragen
wickelt.12 In der Regel handelt es sich um
zwischen geschçtzten Rechtspositionen.13
1. Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens
Insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK hat der EGMR fçr den Beschåftigungsbereich ausgelegt. In einer Beschwerde wegen des verwehrten Zugangs zum æffentlichen Dienst stellte der EGMR
fest, dieser Sachverhalt falle in den Anwendungsbereich von
Art. 8, da er ¹die Fåhigkeit der Beschwerdefçhrer zur Herstellung von Beziehungen zur Auûenwelt auûerordentlich beeintråchtige, fçr sie gravierende Schwierigkeiten mit sich
brachte, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und
damit offensichtlich negativ auf ihr Privatleben auswirkte.ª14 In den meisten Fållen geht es aber um die staatliche Verantwortung fçr
die Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens in privaten Arbeitsverhåltnissen, wenn der Staat es
also etwa unterlåsst, die Privatsphåre gegen einen Eingriff des
Arbeitgebers zu schçtzen.
In dem bereits erwåhnten Beschwerdeverfahren ¹Schçthª
gegen Deutschland rçgte der Gerichtshof die gerichtliche
Aufrechterhaltung einer Kçndigung und stellte eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest. In dem zugrunde liegenden arbeitsgerichtlichen Verfahren ging es um die Kçndigung eines Kantors einer katholischen Gemeinde, nachdem dieser
sich von seiner Ehefrau getrennt und spåter eine neue Beziehung eingegangen war. Die Abwågung der deutschen Arbeitsgerichte zwischen den Rechten des Beschwerdefçhrers
und denen des kirchlichen Arbeitgebers (Erhaltung der
Glaubwçrdigkeit und kirchliches Selbstbestimmungsrecht
aus Art. 9 Religionsfreiheit und Art. 11 Vereinigungsfreiheit)
wertete15der EGMR als unvollståndig und damit konventionswidrig. Die Gerichte håtten neben den Interessen des Arbeitnehmers am Bestand des Arbeitsverhåltnisses auch seine
familiåre Situation sowie die besondere Schwierigkeit fçr einen Kantor einen neuen Arbeitgeber zu finden berçcksichtigen mçssen. Auch die Verkçndungsnåhe des Arbeitsplatzes
wurde als Kriterium gewertet. Vor allem in letzterem zeigt
sich das Potential der EGMR-Rechtsprechung, denn weder
im deutschen noch im Unions-Recht finden sich entsprechende Vorgaben.
Das Recht auf Privatsphåre am Arbeitsplatz spielt auch
bei Ûberwachung
von Telefon/E-Mail/Internetnutzung eine
groûe Rolle.16 Denkbar sind zudem Fallkonstellationen, in
denen Arbeitgeber das Recht auf Achtung des Familienlebens beeintråchtigen, indem sie in der Arbeitszeiteinteilung von Alleinerziehenden keine Rçcksicht auf17 die Pflege
minderjåhriger oder behinderter Kinder nehmen.
Art. 8 wird vor allem immer dann relevant, wenn das Privat- und Familienleben zu einer Kçndigung oder sonstigen
arbeitsrechtlichen Maûnahme fçhrt. So wurde auch wiederholt festgestellt, dass die18 sexuelle Identitåt nicht als Kçndigungsgrund gelten darf.
2. Meinungsåuûerungsfreiheit
Das Recht zur Kçndigung kann auch durch die Meinungsåuûerungsfreiheit aus Art. 10 EMRK begrenzt sein.19 Eine
Verletzung von Art. 10 stellte der EGMR in dem Whistleblowing-Fall ¹Heinischª gegen Deutschland fest. Dabei ging es
um die gerichtliche Beståtigung der auûerordentlichen
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Kçndigung einer Altenpflegerin, die gegen ihre Arbeitgeberin Strafanzeige wegen Betruges erstattet und Pflegemissstånde æffentlich beanstandet hatte. Die Arbeitsgerichte hatten keinen angemessenen Ausgleich zwischen den
Interessen der Arbeitgeberin und den Rechten der Beschwerdefçhrerin einschlieûlich der Interessen der Allgemeinheit
herbeigefçhrt. Als relevante Abwågungskriterien fçhrte der
EGMR u. a. die Absicht zur Beseitigung bestehender Missstånde, die erfolglose, ineffektive oder unzumutbare Beschreitung anderer Beschwerdewege oder die Fundiertheit
der 20 der Staatsanwaltschaft çbermittelten Informationen
auf. Auûerdem sei in einer demokratischen Gesellschaft
das æffentliche Interesse an Informationen çber Mångel in
der institutionellen Altenpflege so wichtig, dass es gegençber
dem Interesse des Unternehmens am Schutz seines Rufes
und seiner Geschåftsinteressen çberwiege. Dies gelte umso
mehr, wenn sich das Unternehmen in æffentlicher Hand befinde. Auch wenn dies grundsåtzlich mit der Rechtsprechung sowohl des Bundesverfassungsgerichts
als auch des
Bundesarbeitsgerichts çbereinstimmt,21 waren Nichtzulassungs- und Verfassungsbeschwerde im Fall ¹Heinischª erfolglos. Neu ist die besondere Gewichtung æffentlicher Interessen, die im Rahmen der Abgrenzung von Loyalitåtspflicht
und Meinungsfreiheit zu berçcksichtigen sind. Unter Zugrundelegung der EGMR-Rechtsprechung wird die Position
von Whistleblowern auch insofern gestårkt, als dass eine
Sensibilisierung fçr die Problematik und fçr die
Abwågungsrelevanten Menschenrechtsaspekte erfolgt ist.22 Im Rahmen
der Prçfung einer Nichtzulassungsbeschwerde muss die
grundsåtzliche Bedeutung der streitgegenståndlichen Frage
bejaht werden, wenn das Urteil nach
der Rechtsprechung
des EGMR gegen die EMRK verstæût.23
3. Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit
Auch die Gedanken-, Gewissens- und Religions- bzw. Weltanschauungsfreiheit aus Art. 9 EMRK kænnen im Arbeitsrecht Bedeutung haben. Um den Schutz der Religionsfreiheit am Arbeitsplatz ging es in einem Urteil des EGMR zu
vier verbundenen Beschwerden
gegen das Vereinigte Kænigreich Anfang des Jahres.24
Zwei Verfahren betrafen Beschwerden praktizierender
Christinnen bezçglich des Verbots, wåhrend ihrer Arbeit als
Angestellte einer Fluggesellschaft bzw. als Altenpflegerin in
einem staatlichen Krankenhaus sichtbar Ketten mit Kreuz12 Fçr eine Aufbereitung relevanter Rechtsprechung zum Arbeitsrecht s. EGMR-Infoblatt, Work-related rights, www.echr.coe.int; s. auch Jacobs, White, & Overy
(Hrsg.), The European Convention on Human Rights, 2010 Oxford.
Allg. Entscheidungssammlung in deutscher Sprache: www.eugrz.info.
13 S. auch A. Nuûberger, Auswirkungen der Rspr. des EGMR auf das deutsche Arbeitsrecht, RdA 2012, 270ff.
14 Sidabras u. Diziautas/Litauen, Nr. 55480/00 u. 59330/00, 27.7.04, Rn. 48; åhnlich
in Bigaeva/Griechenland, Nr. 26713/05, 28.5.09.
15 In anderen Kçndigungsfållen wegen Loyalitåtspflichtverletzungen hielt der Gerichtshof die Abwågung fçr konventionskonform, s. Obst/Deutschland, Nr. 425/03
und Siebenhaar/Deutschland, Nr. 18136/02.
16 Halford/UK, Nr. 20605/92, 25.6.97; Copland/UK, Nr. 62617/00, 3.4.07. Keine Verletzung im Falle einer zeitlich befristeten Videoçberwachung einer Supermarktkasse, Kæple/Deutschland, Nr. 429/97, 5.10.10.
17 M. Schlachter, DB 2012.
18 U. a. Lustig-Prean u. Beckett/UK, Nr. 31417/96, 32377/96.
19 S. auch Vogt/Deutschland, Nr. 17851/91, 26.9.95.
20 B. Heinisch/B. Hopmann, Ûber das Recht, Missstånde anzuzeigen, Hamburg
2012.
21 BVerfG, 1 BvR 2049/00; BAG, 2 AZR 235/02.
22 M. Reufels/K. Molle, Neuere Rspr. des EGMR im Arbeitsrecht, KSzW 2012, 3, 6ff.;
C. Becker, DB 2011, 2202, 2203.
23 A. Sagan, Konvergenzen und Divergenzen zwischen EGMR, EuGH, BVerfG und
BAG, DB 2012, 11.
24 Eweida u. andere/UK, Nr. 48420/10, 59842/10, 51671/10, 36516/10, 15.1.13.
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anhångern zu tragen. Nach der Einfçhrung einer neuen Regel durch die Fluggesellschaft, nach der das Tragen sichtbarer religiæser Symbole untersagt wurde, blieb die Beschwerdefçhrerin so lange zu Hause, bis das Verbot
gelockert wurde. Wåhrend dieser Zeit erhielt sie keinen
Lohn. In der Zurçckweisung ihrer Klage hiergegen sah der
EGMR eine Konventionsverletzung. Die Religionsfreiheit
çberwiege hier die Arbeitgeberinteressen an einem einheitlichen Unternehmensbild. Auch das Angebot zur Versetzung
in einen anderen Bereich, in dem die Uniform nicht zu tragen war, ånderte hieran nichts. Zu berçcksichtigen sei, dass
es sich um ein diskretes Kreuz handelte, das die Arbeit nicht
beeintråchtige. Unerheblich sei, ob es eine religiæse Pflicht
gebe, ein sichtbares Kreuz zu tragen. Nicht jedes religiæs motivierte Verhalten sei zwar von der Religionsfreiheit erfasst,
eine enge und direkte Verbindung zur religiæsen Ûberzeugung aber ausreichend. So wurde auch in dem Fall der Krankenpflegerin das Tragen der Kreuzkette als von der Religionsfreiheit umfasst gewertet. Allerdings håtten hier die Gerichte
eine konventionsgemåûe Abwågung vorgenommen, indem
der Schutz der Gesundheit der Patienten und die Sicherheit
des Krankenhauses als vorrangig eingestuft wurden. Die
Kleidungsvorschrift in dem Krankenhaus verbot das Tragen
von Schmuck aus diesen Erwågungen.
In zwei weiteren Beschwerden ging es um gerichtlich beståtigte Disziplinarmaûnahmen zum einen gegen eine Standesbeamtin, die sich weigerte gleichgeschlechtliche Partnerschaften zu registrieren, und zum anderen gegen einen Paarund Sexualtherapeuten, der sich weigerte homosexuelle Paare
zu beraten. Beide begrçndeten dies mit ihrer religiæsen Ûberzeugung. Die Kçndigung bzw. die Drohung damit wurde von
den britischen Gerichten als rechtmåûig angesehen ± zu
Recht, wie der EGMR feststellte. In der Abwågung habe die
Religionsfreiheit hinter dem Anliegen der Arbeitgeber zum
Diskriminierungsschutz wegen der sexuellen Identitåt, welches ebenfalls von der Konvention umfasst ist, zurçck zu stehen. Der diskriminierungsfreie Zugang zu den jeweiligen
Diensten stelle ein fundamentales Interesse einer demokratischen Gesellschaft dar, und Ungleichbehandlungen wegen
der sexuellen Identitåt seien ohnehin stets einer besonders
ernsthaften Rechtfertigungsprçfung zu unterziehen.
Insgesamt wurde mehr Klarheit geschaffen, unter welchen Voraussetzungen die Religionsfreiheit (einschlieûlich
dem Recht, die religiæse oder weltanschauliche Ûberzeugung
auch am Arbeitsplatz kundzutun und zu manifestieren) nur
zu begrenzen ist. Ob die vor dem Hintergrund staatlicher
Neutralitåtspflicht bisher vom EGMR in das Ermessen der
25 Dahlab/Schweiz, Nr. 42396/98, 15.2.01; Sahin/Tçrkei, Nr. 44774/98, 10.11.05.
26 S. auch die Entscheidung des UN-Menschenrechtsausschusses, Singh/Frankreich, Nr. 1852/2008, 1.11.12, in der eine Verletzung der Religionsfreiheit darin gesehen wurde, dass ein Sikh-Anhånger aufgrund der Weigerung des Ablegens seines Keski (Stoffstçck anstatt Turban) der Schule verwiesen wurde.
27 Polizeigewerkschaft/Belgien, Nr. 4464/70, 27.19.95.
28 Demir u. Baykara/Tçrkei, Nr. 34503/97, 12.11.08. S. auch das EGMR-Infoblatt,
Gewerkschaftsrechte, www.echr.coe.int.
29 Enerji Yapi-Yol Sen/Tçrkei, Nr. 68959/01, 21.4.09; Karacay/Tçrkei, Nr. 6615/03,
27.3.07. S. auch E. Kocher, Bundesverfassungsgericht und Verrechtlichung auf
europåischer Ebene: Das kollektive Arbeitsrecht, APuZ 11, 35, 40f.
30 Siliadin/Frankreich, Nr. 73316/01, 26.7.05. S. auch EGMR-Infoblatt, Zwangsarbeit
und Menschenhandel; www.echr.coe.int.
31 Cudak/Litauen, Nr. 15869/02, 23.3.10; s. auch Sabeh el Leil/Frankreich,
Nr. 34869/05, 29.6.11.
32 Das EMRK-Zusatzprotokoll Nr. 12 enthålt ein weitreichenderes Diskriminierungsverbot, ist aber mangels Ratifikation durch Deutschland noch nicht anwendbar.
33 Demir u. Baykara/Tçrkei, Nr. 34503/97, 12.11.08.
34 N. Althoff, Diskriminierungsschutz aus den Menschenrechten, AnwBl 2011, 482ff.
35 http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/de/projekt-anwaltschaft-fuer-menschenrechte-und-vielfalt.html
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Staaten gestellte Frage nach der Rechtmåûigkeit von Kopftuchverboten
eine Weiterentwicklung erfåhrt, bleibt abzuwarten.25 Generelle Verbote dçrften unzulåssig sein.26
4. Weitere arbeitsbezogene Konventionsrechte
9
Originår arbeitsrechtliche Konventionsbestimmung ist
die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit in Art. 11 EMRK, die
das Recht enthålt,
Gewerkschaften zu bilden und sich ihnen
anzuschlieûen.27 Art.2811 begrçndet auch das Recht auf Kollektivverhandlungen. Zum Arbeitskampf hat der EGMR
festgestellt, dass das Streikrecht zu Art. 1129 gehært und ein generelles Verbot nicht zu rechtfertigen ist.
9
Unmittelbar fçr das Arbeitsrecht relevant ist auch das
Verbot der Zwangsarbeit und Sklaverei aus Art. 4 EMRK. Unmenschliche Arbeitsbedingungen kænnen gegen Art. 4 verstoûen. Der fehlende strafrechtliche Schutz gegen die sklavereiåhnliche Ausnutzung einer
Hausangestellten wurde als
EMRK-Verletzung gewertet.30
9
Weitere Wirkung kann im Arbeitsrecht das Recht auf Zugang zum Gericht und das Recht auf ein faires Verfahren aus
Art. 6 EMRK entfalten. Der EGMR hat die Geltung des
Grundsatzes der Staatenimmunitåt fçr eine arbeitsrechtliche
Klage einer Botschaftssekretårin verneint, so dass eine gerichtliche Ûberprçfung in arbeitsrechtlichen Fragen nicht
mehr 31generell wegen Immunitåt ausgeschlossen werden
kann.
9
In einigen der genannten und vielen weiteren denkbaren
arbeitsrechtlichen Fallkonstellationen spielt selbstverståndlich das Diskriminierungsverbot eine weitere Rolle. Zwar enthålt Art. 14 EMRK nur ein akzessorisches Diskriminierungsverbot, das aber im Anwendungsbereich 32einer anderen
Konventionsbestimmung Anwendung findet. So wurde einer Beschwerde wegen einer Diskriminierung aufgrund der
Mitgliedschaft in einer 33Gewerkschaft stattgegeben (Art. 11
i. V. m. Art. 14 EMRK). Diskriminierungsschutz umfasst
auch herabwçrdigende Behandlung, Mobbing 34und Belåstigung und schlieût positive Maûnahmen mit ein.
III. Ausblick
Es hat sich gezeigt: Die Positionen klagender Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kænnen durch die Einbeziehung
menschenrechtlicher Argumentation gestårkt und damit Erfolgsaussichten verbessert werden. Dazu benætigen Rechtsanwåltinnen und Rechtsanwålte vertiefte Kenntnisse der
Menschenrechtsnormen einschlieûlich der Spruchpraxis.
Entsprechende Qualifizierungsmæglichkeiten werden im
Rahmen des Projekts ¹Anwaltschaft fçr Menschenrechte und
Vielfaltª am Deutschen Institut fçr Menschenrechte mit einem besonderen Fokus auf das35Arbeitsrecht entwickelt. Eine
Auseinandersetzung lohnt sich.
Dr. Nina Althoff, Berlin
Die Autorin ist Mitarbeiterin am Deutschen Institut fçr
Menschenrechte.
Leserreaktionen an [email protected].
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