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Die heilige Nacht Geschichte einer Versöhnung Max Lucado Die Heilige Nacht Geschichte einer Versöhnung I ch klappte die Sonnenblende herunter, um meine Augen vor der tief stehenden Nachmittagssonne zu schützen, und griff nach dem Foto. Mit dem Foto in der einen Hand und dem Lenkrad in der anderen fuhr ich im Schritttempo die Hauptstraße hinunter. Clearwater, Texas, war in Weihnachtsstimmung. Der klare Winterhimmel leuchtete hellblau. Eine frische Brise ließ die Plastikglocken unter den Straßenlampen hin und her schwingen, Aluminiumgirlanden hingen zwischen den Strommasten und im Fenster eines Wirtshauses hing ein Bild von Frosty dem Schneemann.1 Sogar an der Heckklappe des Kleintransporters vor mir baumelte ein Kranz. Diese Kleinstadt in Texas war auf Weihnachten eingestellt. Ich war es nicht. Ich wünschte mir, wieder in Chicago zu sein, ich wünschte mir, zu Hause zu sein. »Frosty the Snowman« (Frosty der Schneemann) ist ein beliebtes Weihnachtslied, das Steve »Jack« Rollins und Steve Nelson 1950 dichteten. 1954 drehte Robert Cannon einen Kurzfilm dazu. 1 13 Aber zu Hause lief es nicht so gut. Meg und ich hatten uns verkracht. Nachdem wir wochenlang unsere Spannungen verdrängt hatten, ist das Fass gestern übergelaufen. Immer das alte Lied. »Du hast mir versprochen, länger zu Hause zu sein«, sagte sie. »Du hast mir versprochen, mit dem Nörgeln aufzuhören«, erwiderte ich. Sie sagt, ich arbeite zu viel. Ich sage, wir haben Rechnungen zu bezahlen. Sie fühlt sich vernachlässigt. Ich bin frustriert. Schließlich meinte sie, wir brauchen etwas – wie drückte sie es aus? Ach ja, wir brauchen etwas »Freiraum« … eine Auszeit. Ich war einverstanden. Ich hatte sowieso einen Auftrag in Dallas, also warum nicht schon ein paar Tage früher nach Texas fahren? Der Streit mit Meg hat mich also nach Texas gebracht. Aber wegen dem Foto bin ich nach Clearwater gefahren. Mein Vater hatte es mit der Post erhalten, ohne 15 Angabe eines Absenders, ohne beiliegenden Brief. Einfach nur dieses SchwarzWeiß-Foto von einem großen gemauerten Gebäude. Ich konnte kaum die Inschrift auf der Tafel davor entziffern: Lutherische Kirche Clearwater. Mein Vater hatte keine Ahnung, was dieses Foto bedeutet oder wer es geschickt haben könnte. Der Name der Stadt war uns natürlich geläufig. In Clearwater wurde ich geboren und adoptiert. Allerdings wohnten wir nie dort. Ich war nur ein einziges Mal dorthin gefahren, und zwar aus Neugierde, nach dem Abschluss der Schule. Damals bin ich einen Tag lang durch die Straßen geschlendert und habe Fragen gestellt. Aber das ist schon zwanzig Jahre her, und seither bin ich nie mehr zurückgekehrt. Ich wäre auch jetzt nicht zurückgekehrt, wenn Meg nicht »Freiraum« bräuchte. Außerdem wollte ich wissen, was es mit dem Foto auf sich hat. Ich fuhr an den Straßenrand und hielt vor einem zweistöckigen Gerichtsgebäude aus 17 Backstein. Kartonfiguren des Weihnachtsmannes und seines Rentiers zierten den Rasen. Ich kurbelte mein Fenster herunter und zeigte das Bild ein paar älteren Landarbeitern, die an einem LKW lehnten. »Haben Sie eine Ahnung, wo das ist?«, fragte ich. Sie schmunzelten und einer ergriff das Wort: »Wenn Sie einen starken Arm haben, könnten Sie von hier aus einen Stein werfen und es treffen.« Er erklärte mir, ich solle rechts am Gerichtsgebäude vorbeifahren und dann noch einmal rechts abbiegen. Ich folgte seiner Beschreibung und dann sah ich die Kirche vom Foto. Was ich sah, entsprach nicht meiner Vorstellung von einer kleinstädtischen Kirche. Ich hatte mir immer ein kleines, weiß gestrichenes Gebäude mit einem einfachen Glockenturm über dem Eingang vorgestellt, so etwa wie ein großes Puppenhaus. Aber dieses Bauwerk war ganz anders. Die 18