„Ich bin durch und durch eine Künstlerin“

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„Ich bin durch und durch eine Künstlerin“
Bericht | Text und Foto: Michael Heß
„Ich bin durch und durch eine Künstlerin“
Portrait der Münsteraner Künstlerin Sylvia Forstmann
Obdachlosigkeit und Kunst - es ist im
Grunde ein unmögliches Paar. Dennoch
versuchen sich immer wieder Künstler an
der sperrigen Materie. Sylvia Forstmann
gehört zu ihnen und sie sucht Einblicke
in diese fremde Welt. Für ~-Autor
Michael Heß Grund genug, sich mit der
Künstlerin zu unterhalten.
_Das rollende „r“ ist das erste, was an
Sylvia Forstmann auffällt. Eine Prägung
ihrer Heimatstadt Rheine, auch wenn sie
später in Hamburg und in den Niederlanden aufwächst. Diese seien noch heute
ihre emotionale Heimat und von dort
habe sie „eine gewisse Art von Liberalität
und Offenheit“ mitgebracht. Verheiratet
ist die 42-jährige Wahlmünsteranerin und
Mutter eines vierjährigen Sohnes mit einem Franzosen, auch die weitere Verwandtschaft ist international geprägt.
„Wie so viele bin ich in Münster hängen
geblieben“, lacht sie - ein ästhetisches
Gegenbild des Paohlbürgers.
_Dieser Vielfalt entspricht ihr beruflicher
Werdegang. Nach dem Abitur studiert
Sylvia Forstmann auf Lehramt Kunst
und Deutsch, ergänzt durch Studien zur
Philosophie und Theaterpädagogik. Die
anschließende Arbeit an einer Schule
bricht sie nach anderthalb Jahren ab; sie
empfindet zu viel äußere und innere
Einengung. Schließlich studiert sie doch
noch Kunst und beendet ihr Studium 2002
erfolgreich. Seitdem dokumentieren Ausstellungen in Hamburg, Hamm, Istanbul,
Ovedinkel und natürlich in Münster ihren
künstlerischen Werdegang. Der Vielfältigkeit ihres Werdegangs entspricht ihre
künstlerische Arbeit. Sie habe keinen bevorzugten Stil, sagt sie. Tatsächlich arbeitet sie gleichermaßen mit Fotos, Installationen, Performances und Zeichnungen.
Auf den Tischen ihres Ateliers im Speicher
II im Hafen liegen Dias und Drucke. Neue
Materialien und Medien erarbeitet sie sich,
wenn nötig. Sylvia Forstmann sucht den
Geschichten in und um die alten Dinge
herum eine Form zu geben. Sie sagt über
sich selber, „durch und durch eine Künstlerin“ zu sein.
_Wie aber fand Sylvia Forstmann zum
Thema Obdachlosigkeit? „Vor ungefähr
fünf Jahren“, erinnert sie sich, „bemerkte
ich in Paris einen Clochard. Er lag mit
seinem Schlafsack in einem Hauseingang
und schaute ständig auf die Uhr. Irgendwann schlüpfte er in den Sack, zog sich
aus und legte seine Kleidung säuberlich
zusammengerollt neben sich. Und dann
hatte er plötzlich ein Buch in der Hand
und las!“ Dieses zutiefst bürgerliche Bild
des lesenden Clochards lässt sie nicht
mehr los. Sie beginnt, sich mit dem Thema
gezielt zu beschäftigen. Sie knüpft in
Münster Kontakte zu Hilfeeinrichtungen
wie dem Haus der Wohnungslosenhilfe
und dem Gertrudenhaus. Dort lernt sie
die heute 36-jährige Heike Schäfer kennen, damals obdachlos. „Das ist nichts,
was ein Kunstwerk widerspiegeln kann“,
fasst Forstmann ihre Eindrücke zunächst
zusammen. Zwischen den beiden so unterschiedlichen Frauen wächst allmählich ein verbindendes Band. Jede weiß
der anderen aus einer fremden Welt zu
erzählen: Für Forstmann Anlass genug,
sich im September mit einer Arbeit erstmals konkret mit diesem Thema zu befassen.
_Viele Leser werden ihre Installation „birds
of passage - Zugvögel“ am MercureHotel in der Herwarthstraße bemerkt
haben. Als Teil der Schau „hbf - häuser
bilder fenster“ der ISG Bahnhofsviertel.
Die Installation näherte sich dem Thema
Obdachlosigkeit auf eigene Weise: Sie
funktionierte das Fenster eines Viersternehotels um zum Lagerplatz für eine Obdachlose. Sie arbeitete mit Pappe und
Sichtfenstern anstelle von Glas und edlem
Stein - der Kontrast konnte nicht größer
sein. Innen weitere Pappe, ein Schlafsack,
Tippelbrüder, eine abgenutzte Wasserflasche. Klischees? Vielleicht, aber auch
Klischees tragen eine Botschaft und weisen auf die zerbrechlichen Biografien der
Betroffenen hin. Forstmanns Installation
lädt gerade deshalb ein zu einem Blick
in diese fremde, nahe Welt mitten unter
uns, die auch ein Teil des Bahnhofsviertels
ist.
_Ende September wurde die Installation
zunächst abgebaut und eingelagert. Sylvia
Forstmann möchte weiterhin zum Thema
Obdachlosigkeit mit ihren Mitteln arbeiten und der menschlichen Not eine weitere künstlerische Stimme geben - es ist
nötig genug. Die ~ freut sich schon
auf die nächste Arbeit von Sylvia Forstmann zum Thema. #
Kontakt zu Sylvia Forstmann
Fon: 0176 / 43 01 85 32
Mail: [email protected]
Net : www.speicher2muenster.de
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