Ulrich Ladurner, Der Fleck, Einleitung
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Ulrich Ladurner, Der Fleck, Einleitung
ULRICH LADURNER – DER FLECK Einleitung Dieses Buch ist auf der Grundlage eines Wettbewerbes entstanden, den das Südtiroler Amt für Kultur im Frühjahr 2005 ausgeschrieben hat. Südtirol 2025, Kulturelle Visionen – so der Titel des Wettbewerbes. Ein Buchprojekt mit einem Arbeitstitel „Südtirol 2025“ wird in aller Regel ein Sammelband, in dem eine Reihe von Autoren das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Das ist der traditionelle, durchaus verdienstvolle Weg. Der Nachteil solcher Sammelbände ist, dass sie in ihrer fein austarierten Ausgewogenheit alle Bedürfnisse zu befriedigen suchen. Mit anderen Worten: Sie tun niemandem weh. Ich habe mich bewusst gegen einen solchen enzyklopädischen Ansatz entschieden, weil ich glaube, dass das Allumfassende die Gefahr birgt, profillos zu werden. Wenn Südtirol etwas braucht, dann pointierte ist es nicht ein Auseinandersetzung. Einheitsbrei, Nein, in diesem sondern Buch die kommt nicht alles vor, und es ist auch nicht von allem die Rede. Es ist sehr selektiv, zugespitzt und daher streitbar. Der Kulturbegriff, der diesem Buch zu Grunde liegt, ist allerdings weit gefasst. Ich verzichte auf die Unterscheidung zwischen als die Hochkultur Art, wie und Populärkultur. Menschen in der Ich Welt verstehe leben, Kultur an ihr teilnehmen, sie wahrnehmen und sie verändern. Kultur besteht aber auch aus dem Bild, das sich Außenstehende machen, und aus den Erwartungen, die wir an dieses Bild des „Fremden“ richten. Kultur also reicht vom Südtiroler Theater bis zu den in Südtirol angepflanzten Apfelsorten. In diesem einen Punkt ist das Buch „all inclusive“. 1 Ein Buch, das sich mit dem Jahr 2025 beschäftigt, hat notwendigerweise etwas Spekulatives. Darum ist es wichtig zu sagen, was das Buch nicht ist und nicht leisten kann. Die Leser finden hier keine Antwort auf die Frage, wie Südtirol im Jahre 2025 aussehen wird oder was es braucht, um den Herausforderungen der Zukunft zu begegnen. Trotzdem wird eine Tür aufgestoßen, in der Hoffnung, dass Konturen eines zukünftigen Südtirol sichtbar werden, Möglichkeiten, Chancen und auch Gefahren. Diese Tür sollte möglichst weit geöffnet werden. Es sollen viele Leser gewonnen werden. Darum kam der guten Lesbarkeit eine zentrale Bedeutung bei der Konzeption dieses Buches zu. Die einzelnen Teile des Buches sind von ihrem Charakter her eine Mischung aus literarischer Reportage, kulturpolitischem Essay, Reisebeschreibung, historischer Reportage und in die Zukunft gerichteten Betrachtungen. Das Buch gliedert sich in acht Kapitel. Wenn es einen roten Faden gibt, dann ist es die Frage: Wo liegt Südtirol? Drei Elemente strukturieren dieses Buch: Zeit, Raum, Blickwinkel. Da weder Gegenwart noch Zukunft ohne unsere Vergangenheit zu verstehen ist, schlägt das Buch einen Bogen über mehr als ein Jahrhundert – die erste von insgesamt acht Geschichten setzt 1905 ein, die letzte endet 2025. Der Raum, in dem sich diese Geschichten ereignen, ist natürlich Südtirol, doch der Großraum Südtirol ist im Erleben der Menschen in viele kleine Räume aufgeteilt. Die einzelnen Geschichten in diesem Buch spielen dementsprechend in unterschiedlichen Räumen. Da sind das Dorf, die Stadt, das Tal und die Grenze. Und schließlich wechselt der Blickwinkel der Figuren. Jedes Kapitel handelt von anderen Personen und macht sich deren Sichtweise zu 2 eigen. So begegnen wir Südtirol in acht verschiedenen Spiegelungen. Die Blickwinkel sind nicht rein zufällig gewählt. Sie entsprechen – freilich im Groben – dem „Erscheinen“ Südtirols in den Augen von Betrachtern aus verschiedenen Ländern und Nationen. Das gilt für die Vergangenheit wie für die Zukunft. Jeder Zeitabschnitt hat eine zentrale Figur aus einem Land, das mit Südtirol in engem Kontakt stand oder von dem wir annehmen können, dass es in Zukunft in engerem Kontakt mit Südtirol stehen wird (zum Beispiel die aufstrebenden Weltmächte China und Indien). Die vier Kapitel, die in der Vergangenheit spielen: Das Jahr 1905 in Toblach, betrachtet durch die Augen eines sozialistischen Eisenbahners, der aus dem galizischen Lemberg stammt: Hier erleben wir Südtirol noch als Teil ÖsterreichUngarns. Toblach ist ein Beispiel für den zu jener Zeit entstehenden Südtiroler Tourismus. Gleichzeitig ist Toblach in dieser Geschichte auch der Schauplatz für eine der großen weltanschaulichen Jahrhunderts, Auseinandersetzungen nämlich die des zwischen vergangenen Sozialismus und Kapitalismus, zwischen Moderne und Tradition. Das Jahr 1949 Landpfarrers. in Graun Südtirol ist erlebt mit den jetzt Teil des Augen eines italienischen Staatsgebietes. Graun stand in den ersten Nachkriegsjahren im Zentrum einer ganz besonderen Modernisierung. Das Dorf wurde geflutet, um den Stausee am Reschen anzulegen. Graun ist Bühne für die Auseinandersetzung zwischen dem Staat und der lokalen Bevölkerung, die von ihrem Pfarrer angeführt wird. Es geht in dieser Geschichte um die Macht der Kirche, um Frömmigkeit, Glauben, Tradition und staatliche Willkür. 3 Das Jahr 1965 wird von einem Carabinieri geschildert, der in dem Pustertaler Dorf Kiens stationiert ist. Die Carabinieri standen damals ganz unter dem Eindruck der Südtiroler Bombenleger. Wir sehen einen Staat, der sich einbunkert, und der keinen Zugang zu der Südtiroler Bevölkerung findet. Der Blick des Carabinieri zeigt uns ein Südtirol, das nicht nur ihm verschlossen ist, sondern auch ein Südtirol, das sich selbst gegenüber nicht offen ist. Das Jahr 1985 spielt in der Stadt Meran. Wir sind in einer Zeit des schon sehr weit entwickelten Tourismus. Ein deutscher Tourist sieht Meran, so wie es sich am liebsten zeigt: als Perle Südtirols und Destination Nummer eins für den modernen Massentourismus. Doch wird dem Touristen über die Freundschaft mit einem einheimischen Jugendlichen ein Meran präsentiert, das er noch nicht kennen gelernt hat. Es ist eine Stadt, Konflikten, Geschichte die die gezeichnet unter regelrecht der ist Spannung vibriert. Der von alten einer wie neuen unaufgelösten Tourismus ist der Zuckerguss über einer Stadt, die unter dieser verführerischen Oberfläche verzweifelt versucht, sich selbst zu definieren. Die vier Geschichten, die in der Zukunft spielen: Ein Chinese besucht im Jahr 2010 im Auftrag seiner Regierung Bozen. Er soll ergründen, warum dieses kleine Land so erfolgreich ist. Welches sind die Akteure, die Bedingungen und Faktoren für diesen Erfolg? Der chinesische Forscher trifft zu seiner Überraschung auf eine Welt, die er zu kennen glaubt. Im Jahr 2015 kommt ein deutscher Tourist auf den Brenner. Was der Mann nicht weiß, ist, dass die Gemeinde Brenner als ehemaliger Grenzort sich radikal ändern musste, um überhaupt 4 eine Zukunft zu haben. Der Deutsche erlebt eine Gemeinde, die sich ganz und gar einem Ziel unterworfen hat. Das Jahr 2020 zeigt uns, was ein indischer Filmproduzent erlebt, als er auf Einladung in das Martelltal kommt. Die Bewohner des Tales suchen auf originelle Weise, sich neu zu erfinden. Der Produzent aus Bollywood ist ein zentraler Baustein in den Plänen für die Marteller Zukunft. Das Jahr 2025 schließt mit dem Abschied eines Weingutsbesitzers von seinem Gut in Kaltern. Wir sehen einen Mann, der einen melancholischen Blick zurück wirft und einen verhalten optimistischen nach vorne. Diese Geschichte steht bereits im Zeichen großer Veränderungen, wie Klimaerwärmung, Globalisierung und Immigration. Das Buch ist als Einheit konzipiert, doch steht jedes Kapitel für sich. Der Leser muss nicht von vorne nach hinten lesen, er kann sich ganz nach Wunsch jede Geschichte einzeln vornehmen. Er wird immer eine Geschichte lesen können, die in sich abgeschlossen radikal anders. vielgestaltig – ist. Das ganz Jedes Buch so Kapitel ist wie ist also Südtirols gleichzeitig vielstimmig und Vergangenheit und Südtirols Zukunft. Zum Abschluss Ähnlichkeiten bleibt mit mir noch zu sagen, lebenden oder verstorbenen dass sämtliche Personen rein zufällig sind. 5 RECHTLICHER HINWEIS: © Autonome Provinz Bozen-Südtirol. Der Druck bzw. die Vervielfältigung des Textes ist nur für den Privatgebrauch gestattet. Die Genehmigung von Veröffentlichungen von Textauszügen erteilt die Abteilungsdirektion Deutsche Kultur. 6