Sterilisationen zwischen Selbst- und Fremdbestimmung

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Sterilisationen zwischen Selbst- und Fremdbestimmung
Historische Schuld und Verantwortung | S C H W E R P U N K T
Sterilisationen zwischen Selbstund Fremdbestimmung
Der lange Weg vom Sozialdarwinismus zur umfassenden Aufklärung der Betroffenen
Text: Lucie Kniel-Fux
Die Frage nach Schuld und Verantwortung in der Sozialen
­Arbeit stellt sich im Bereich der Sexualität besonders häufig
und ausgeprägt, denn in diesem höchst persönlichen Bereich
sind Menschen sehr verletzlich. Machtmissbrauch und Angstmacherei, oft unter dem Deckmantel einer gesellschaftlichen
Doppelmoral, sind hier äusserst leicht anzuwenden. Der Umgang mit dem Thema Sterilisation von Menschen mit einer
Behinderung zeigt dies sehr eindrücklich.
Wer Menschen mit einer Behinderung in ihrem Leben begleitet, ist nicht selten auch mit intimsten Fragen ihres Lebens konfrontiert. Aus meiner Berufspraxis im Behindertenbereich erinnere ich mich an Situationen, welche im
Umgang nicht nur Fachwissen erforderten, sondern nicht
selten auch schwierige ethische Fragen aufwarfen: Wie ist
mit dem Wunsch von Eltern umzugehen, welche ihrem erwachsenen, geistig behinderten Sohn das Leben seiner
­Sexualität zugestehen, aus Sorge wegen einer möglichen
Vaterschaft aber eine baldige Sterilisation in die Wege leiten möchten und die Fachpersonen um schnelle Mithilfe
­bitten? Was ist zu tun, wenn eine fast 40-jährige Frau mit
nur leichten kognitiven Beeinträchtigungen beim Aufklärungsunterricht plötzlich realisiert, dass die vor vielen Jah-
Das Begleiten einer Entscheidungsfindung
für oder gegen eine Sterilisation ist mit
Stolpersteinen gepflastert
ren vorgegebene Blinddarm-OP eine Eileiterunterbindung
war? Und wie wird vorgegangen, wenn ein Paar, welches
seit Längerem in fester Partnerschaft lebt und klar zum
Ausdruck bringen kann, dass es keine Kinder möchte, sich
eine endgültige Lösung der lästigen Verhütung wünscht,
beide Partner aber nach damaligem Recht unter Vormundschaft standen?
Die Konfrontation mit diesen Situationen hat mich und
meine Mitarbeitenden dazu gebracht, uns mit den damals
noch weitgehend fehlenden Vorgaben des Rechts sowie
Lucie Kniel-Fux,
Erwachsenenbildnerin, MA in Nachhaltiger Entwicklung für Bildung und Soziales, ist Dozentin
an der Hochschule für Soziale Arbeit (HES-SO),
Kursleiterin zu Sexualität und Behinderung sowie
Dozentin im 2014 beginnenden CAS «Sexualität
und Leben mit Einschränkungen» an der Hochschule Luzern.
den «Medizinisch-ethischen Richtlinien zur Sterilisation»
der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW)1 und mit Fachwissen aus Medizin
und Psychologie auseinanderzusetzen. Dabei ergaben sich
für mich zwei grundlegende Erkenntnisse: einerseits die
Gewissheit, dass es galt, persönlich eine hohe Verantwortung zu übernehmen, auch wenn endgültige Entscheidungen nie von mir alleine abhängig waren, und andererseits
die Tatsache, dass das Begleiten einer Entscheidungsfindung für oder gegen eine Sterilisation gepflastert war mit
Stolpersteinen, denn es galt, unterschiedlichsten Bedürfnissen und Grundhaltungen gerecht zu werden, und dies
löst immer auch eine Wertediskussion aus.
Historischer Rückblick
Kaum ein Bereich der Sozialen Arbeit steht so stark im
Spannungsfeld von Werthaltungen wie die Thematik der
Sexualität und hier eingebettet auch Fragen nach Ver­
hütung, Kinderwunsch oder Sterilisation. Ein historischer
Rückblick auf das Thema von (Zwangs-)Sterilisationen
zeigt, dass Fachpersonen des Gesundheits- und Sozial­
bereichs meist die vorherrschenden Werthaltungen der
jeweiligen Gesellschaft mittrugen. So hat die Schweiz bereits Ende des 19. Jahrhunderts die unrühmliche Rolle
übernommen, als erstes europäisches Land Zwangssterilisationen durchzuführen. Wegbereiter waren VerantwortNr. 3_März 2014 | SozialAktuell
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liche der Klinik Burghölzli, der angesehene Psychiater Auguste Forel und der Arzt Emil Oberholzer2, der 1911 festhielt, dass «im Kampf gegen geistig und körperlich Minderwertige […] vergebens an die freiwillige Verzichtleistung auf Fortpflanzung derer, die unfähig sind, gesunde
Nachkommen zu zeugen, appelliert wurde». Auguste Forel3 beschrieb, dass er unter dem Vorwand einer medizinischen Indikation 1892 eine Sterilisation an einem 14-jährigen Mädchen vornahm, welche in Wirklichkeit «einen sozialen Zweck hatte», da er «der Entstehung unglücklicher
Nachkommen vorbeugen wollte». Auf Behördenseite waren diese Vorgehensweisen damals kaum umstritten, die
Angst vor finanziellen Belastungen bei der Versorgung von
Kindern bereits armengenössiger Personen war grösser als
eventuelle ethische Bedenken. Eugenisches Gedankengut,
beziehungsweise alle Anstrengungen, die Weitergabe von
«schlechten und ungesunden» Genen zu verhindern, war
im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis nach
dem 2. Weltkrieg hoch anerkannt im Wissenschaftsbereich. Dieser Sozialdarwinismus war in der Gesellschaft
breit abgestützt und wurde von Heilanstalten, sozialen
­Institutionen, Behörden und Fachpersonen des Sozialbereichs mitgetragen.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schüttelte Europa voll Scham den Kopf über die Verbrechen des Nationalsozialismus, zu denen auch die Zwangssterilisationen
von Zehntausenden von Menschen gehörten. Die nationalsozialistische Rassenhygiene als radikalste Form der Eugenik wurde an den Pranger gestellt, gleichzeitig hat es sich
in der Praxis über Jahrzehnte weiter gehalten, Menschen
zu einer Sterilisation zu nötigen. Paradoxerweise wurden
Zwangssterilisationen weder moralisch noch juristisch als
Unrecht bezeichnet: Bei Frauen mit einer kognitiven Einschränkung wurde meist ohne ihr eigenes Mitwissen eine
Sterilisation vorgenommen. Obwohl dies bereits nach damaligem Recht ein Eingriff in die körperliche Integrität
war, funktionierten viele solcher Situationen nach dem
Grundsatz «Wo kein Kläger, da kein Richter». Ärzte, welche
eine Sterilisation vornahmen, waren nicht selten, oft führten sie den Eingriff aus unter dem Hinweis, dass die Sorge
der Eltern oder anderer Angehöriger vor einer ungewollten
Schwangerschaft ernst zu nehmen sei.
Die LIVE-Studie4, eine Befragung von Frauen mit ­Kör­peroder Sinnesbehinderungen, bestätigte 1999, dass in
Deutschland mehr als ein Drittel (35,9 Prozent) der erwachsenen Frauen mit einer Behinderung sterilisiert sind,
und machte darauf aufmerksam, dass diese Quote zum
damaligen Zeitpunkt zehnmal höher war als bei den nicht
behinderten Frauen. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass
Frauen mit einer Behinderung ohne kognitive Einschränkung zwar nicht zu einer Sterilisation gezwungen wurden,
diese aber häufig von den ÄrztInnen ohne anderen ersichtlichen Grund – ausser der vorliegenden Behinderung – vorgeschlagen wurde.
Noch aufrüttelnder sind die Zahlen, wenn sich in der Untersuchungsgruppe vorwiegend Frauen mit einer geistigen Behinderung befinden: Zemp und Pircher5 haben 1996
in einer Studie in Österreich festgestellt, dass 62,5 Prozent
der befragten Frauen sterilisiert waren. Bei 27 Prozent dieser Frauen war der Eingriff bereits in den Jugendjahren, oft
auf Wunsch von Eltern oder Vormündern, vorgenommen
worden. Hier kann mit grösster Wahrscheinlichkeit von
unfreiwilligen, fremdbestimmten Unterbindungen, also
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Zwangssterilisationen, ausgegangen werden. Die Institutionen des Gesundheits- und Sozialwesens haben hier
Hand in Hand gearbeitet. Auch wenn es in der Schweiz
keine Studienergebnisse zur Anzahl der durchgeführten
Sterilisa­tionen im Behindertenbereich gibt, kann davon
ausge­gangen werden, dass die Prozentzahlen ähnlich wie
in Deutschland und Österreich sind.
Die Gründe für (Zwangs-)Sterilisationen bei Menschen mit
einer kognitiven Beeinträchtigung sind vielfältig: Neben
der bereits genannten Angst vor einer nicht gewollten
Schwangerschaft wird vom Umfeld nicht selten auch die
Angst vor den Folgen eines möglichen sexuellen Übergriffs
als Legitimation für eine Sterilisation genannt. Diese Haltung an sich stellt gegenüber den betroffenen Frauen eine
Die Angst vor finanziellen Belastungen bei
der Versorgung von Kindern armengenössiger
Personen war grösser als ethische Bedenken
Grenzverletzung dar: Ihre körperliche Integrität wird zusätzlich gefährdet durch ein Nicht-ernst-Nehmen der Person und eine fehlende Auseinandersetzung mit dem
Thema Sexualität. Aus vielfältigen Erfahrungen im Behindertenbereich wissen wir heute, dass die Tabusierung und
Verdrängung der Sexualität der ideale Nährboden für sexuelle Übergriffe ist, da die Sprachlosigkeit in diesem Bereich dazu führt, dass viele Menschen mit kognitiven Einschränkungen weder selber Grenzen setzen können noch
einordnen können, wann eine Berührung eine legitime
Pflegehandlung ist und wann eine sexuelle Ausbeutung.
Trotzdem ist die Thematisierung der Sexualität in vielen
Bereichen der Behindertenarbeit, aber auch in vielen anderen Berufsfeldern der Sozialen Arbeit noch nicht selbstverständlich.
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Gesetzliche Grundlagen
Folge des Unbehagens in dieser Thematik war die bereits
erwähnte Fassung der «Medizinisch-ethischen Richtlinien
zur Sterilisation», welche 1981 von der Schweizerischen
Akademie der Medizinischen Wissenschaften veröffentlicht wurde. Hier wurde erstmals erwähnt, dass der Eingriff bei Urteilsunfähigkeit unzulässig und die ausdrückliche Zustimmung der betroffenen Person nötig sei. Erst
1999 folgten Richtlinien, welche sich explizit auf die Steri-
Der Sozialdarwinismus war in der Gesellschaft breit abgestützt
lisation bei Menschen mit einer geistigen Behinderung6
bezogen und die Thematik weit differenzierter darstellten.
Vor allem wurde dort erstmals erwähnt, dass auch sogenannt urteilsunfähige, unter vormundschaft­l ichen Massnahmen stehende Menschen im Hinblick auf ihre Sexualität urteilsfähig sein können und ihre Urteilsfähigkeit in
dieser Sache auch aktiv durch sexualpädagogische Aufklärung gefördert werden soll.
Das 2005 in der Schweiz neu in Kraft getretene Sterilisa­
tionsgesetz7 gibt zwar gesetzliche Grundlagen vor, welche
in der Praxis hilfreich sind, ist aber nicht über alle Zweifel
erhaben. Klar formuliert ist, dass Sterilisationen ohne
­Einwilligung der betroffenen Person im Grundsatz gesetzlich verboten sind. Bei urteilsunfähigen Personen sind sie
aber ausnahmsweise zulässig, wenn tatsächlich mit der
Zeugung oder Geburt eines Kindes zu rechnen ist und
wenn diese nicht mit andern geeigneten Verhütungsmethoden verhindert werden kann. Angesichts des grossen
Angebotes an Verhütungsmethoden, insbesondere für
Frauen, sollte dadurch kaum noch auf Sterilisationen zurückgegriffen werden müssen. Tritt aber der Fall ein, dass
eine Frau hormonelle Verhütungsmittel nicht verträgt,
wird die Sache bereits sehr kompliziert. Da laut dem Gesetz
die Durchführung einer Sterilisation bei Urteilsunfähigen
nur mit Zustimmung der Erwachsenenschutzbehörde
möglich ist, kann es im Einzelfall gut möglich sein, dass
eine grössere Anzahl aussenstehender Fachpersonen, welche die betroffene Person überhaupt nicht kennen, über
einen höchst intimen Entscheid mitreden, was an sich bereits als eine Verletzung der Menschenwürde angesehen
werden kann. Weiter verlangt das Gesetz auch bei Per­
sonen, welche volljährig und urteilsfähig sind, aber unter
einer umfassenden Beistandschaft stehen, die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters. Auch hier wird dem
Selbstbestimmungsrecht nicht genügend Folge geleistet,
immer noch entscheiden zu viele aussenstehende Personen mit über ein höchst persönliches Recht.
Heutige Praxis
Das konkrete Vorgehen bei den eingangs erwähnten Fallbeispielen, welche sich vor fast 20 Jahren abgespielt haben,
ist auch heute nicht einfacher. Um den involvierten Menschen gerecht zu werden, braucht es heute wie damals
eine klare Kommunikation mit ausführlichen rechtlichen
und medizinischen Informationen für die betroffenen
Menschen mit Behinderung – falls nötig in einfacher Sprache –, eine warmherzige, von Offenheit geprägte Atmosphäre, ein vollständiges Mitbestimmungsrecht sowie genügend Bedenkzeit, um keine überstürzten Handlungen
auszulösen, welche zu unnötigen Belastungen führen.
Es ist eine Errungenschaft der jüngsten Vergangenheit,
dass die sexuellen Rechte von Menschen mit einer Behinderung thematisiert werden und dass neben einer umfassenden Aufklärung auch Themen wie Kinderwunsch, Verhütung und Sterilisation offen besprochen werden. Je klarer und unmissverständlicher die Sexualität eines Menschen mit einer kognitiven Einschränkung begleitet wird,
umso leichter fällt es der Person, ihre Bedürfnisse und
Grenzen selber zu formulieren und mitzubestimmen. Erst
wenn wir erreicht haben, dass die Sexualität selbstverständlicher Bestandteil des Alltags von allen ist, wird es
auch selbstverständlich sein, dass das Recht auf Selbstbestimmung auch im Bereich der Verhütung von allen wahrgenommen werden kann. Fussnoten
1 S AMW. Medizinisch-ethische Richtlinien zur Sterilisation. Bern: 1981
(als pdf abrufbar unter: www.samw.ch/dms/de/Ethik/RL/Archiv /d_
Sterilisation_1981.pdf).
2 In: Müller, Bertold. Rechtliche und gesellschaftliche Stellung von
­M enschen mit einer «geistigen Behinderung». Zürich: Schulthess,
2001. S. 299.
3 E benda, S. 300.
4 E iermann, Nicole. Häussler, Monika. Helfferich, Cornelia. LIVE – Leben
und Interessen Vertreten – Frauen mit Behinderung. Stuttgart: Kohlhammer, 1999. S. 24 ff.
5 Z emp, Aiha. Pircher, Erika. Weil das alles weh tut mit Gewalt. Wien:
Bundesministerium für Frauenangelegenheiten, 1996.
6 S AMW. Medizinisch-ethische Richtlinien zur Sterilisation geistig be­
hinderter Menschen. Bern: 1999 (als pdf abrufbar unter: www.saez.ch/
docs/saez/archiv/de/2000/2000–08/2000–08–173.pdf).
7 S chweizerische Eidgenossenschaft. Bundesgesetz über Vorausset­
zungen und Verfahren bei Sterilisationen (Sterilisationsgesetz).
ZGB 211.111.1. Bern: 2005.
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