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Rudi Gaul Metamorphosen des Augen-Blicks Zu Michael Ballhaus’ Bildkompositionen in Francis Ford Coppolas BRAM STOKER’S DRACULA Erstveröffentlichung in: Liptay, Fabienne (Hg.): Michael Ballhaus. (Film-Konzepte, Heft 30) München 2013, S. 50 – 57. Bevor der Film – in Gestalt der titelgebenden Hauptfigur Dracula1 – die beiden Verlobten trennt, zeigt uns Ballhaus’ Kamera in einer klassischen Halbnahen den vorerst letzten Kuss zwischen Mina (Winona Ryder) und Jonathan (Keanu Reeves) unter einer Gartenlaube im heimischen London – das Bild eines bürgerlichen Liebesrituals, das sich mittels eines einfachen Überblendungseffekts in ein Bild der lustvollen Gefahr und der gefährlichen Lust verwandelt. Das verbindende Element zwischen beiden Bildern ist der Augen-Blick selbst: Pfauenfedern fächern sich vor dem Profil der Küssenden auf, verdecken es bildfüllend, bevor schließlich das Kreisrund eines Pfauenauges durch Doppelbelichtung in die Öffnung eines Eisenbahntunnels überblendet wird, durch den die Kamera nun rast. Fläche wird zu Tiefe, Statik zu Dynamik, London zu Transsylvanien. Das Licht am Ende dieses Tunnels ist blutrot: optischer Vorbote von Draculas fremder, wilder, unheilvoller Welt, deren Röte dank der metamorphischen Qualität der Montage aus dem kühlen Blau des viktorianischen Gartens, mithin aus einem Bild domestizierter Natur vom Ende des 19. Jahrhunderts, langsam und bedrohlich erwächst; so wie später Minas heimliches sexuelles Begehren nach dem blutsaugenden Vampir ihr zivilisatorisches Korsett aus jungfräulicher Unschuld und bürgerlichem Anstand zu sprengen droht. Die von Ballhaus kunstvoll komponierten Bildübergänge lassen nicht nur die Bedrohung der Zivilisation durch das Begehren des dämonischen Anderen visuell erfahrbar werden, vollziehen also nicht nur optisch die Bewegung des Unheimlichen nach, das in die Domäne des Heimlich-Heimischen eindringt wie der fremde Graf auf der Suche nach seiner verlorenen Elisabeta in Minas englische Heimat,2 sondern sie schreiben darüber hinaus das vampirische Drama dem Filmmaterial selbst ein: das Drama der Verschmelzung zweier Körper, das 1 BRAM STOKER’S DRACULA (1992). In der Tat erscheint Graf Dracula in Coppolas Romanadaption für Mina als das Phänomen des Unheimlichen par excellence, wie es Sigmund Freud (in Das Unheimliche, 1919) dargestellt hat: Er ist das fremde Vertraute, das Mina zugleich abstößt und anzieht; so wie Mina umgekehrt für Dracula die vertraute Fremde verkörpert: Glaubt er doch, in ihr die Reinkarnation seiner Geliebten Elisabeta erkannt zu haben, von deren tragischem Suizid ein paar Jahrhunderte zuvor der Prolog des Films erzählt: Elisabeta wird hier von Winona Ryder dargestellt, derselben Schauspielerin, die auch Mina verkörpert. In einer späteren Szene des Films, in welcher der Graf, nun in verjüngter Gestalt, Mina mithilfe von Absinth gefügig zu machen versucht, phantasiert Mina von der transsilvanischen Heimat des Grafen, als sei sie schon einmal dort gewesen; sie erinnert sich sozusagen an ihr früheres Leben als Elisabeta, die somit als jene vertraute Doppelgängerin Minas erscheint, die verdrängt worden ist und nun, wie von Freud postuliert, als unheimliche Vorbotin des Todes aus der Verdrängung wiederkehrt. 2 1 gewaltvolle Eindringen des Vampirs in sein menschliches Opfer, aus dem eine lustvolle Metamorphose beider Körper resultiert, wenn auch um den Preis ewiger Verdammnis. Denn die zahlreichen Spiegelungen, Doppelbelichtungen und Überblendungen, mit denen Ballhaus arbeitet und unterschiedliche Einstellungen miteinander verbindet, ineinander schiebt, verschmilzt, sind größtenteils kein Resultat digitaler Postproduktion, sondern, wie Ballhaus selbst betont, beim Drehen „in der Kamera“ mechanisch hergestellt.3 Das ästhetische Konzept erscheint so als bewusste Hommage an die Frühzeit des Kinos, an die Filme von Georges Méliès oder den Brüdern Lumière,4 als mechanisch-physische Arbeit des Kameramanns mit Bildern, die der Inszenierung von Blicken einen besonderen Stellenwert einräumt: Denn wie nebenbei verwandelt Ballhaus mittels der oben beschriebenen Doppelbelichtung den passiv beobachtenden Blick auf die küssenden Verlobten in einen aktiv begehrenden Blick, der in einer Phantomperspektive des Zugs durch den Tunnel rast, sich gewaltvoll ins Bild einschreibt wie das allsehende, omnipotente Auge Draculas in der darauffolgenden Szene: Wir sehen Jonathan Harker im Zugabteil sitzend und den Brief Draculas lesend (darin beordert ihn der Graf unter dem Vorwand, eine Londoner Immobilie erwerben zu wollen, auf sein transsilvanisches Schloss), während das Zugfenster in der rechten Bildhälfte den Blick freigibt auf die dunkle Silhouette der massiven Bergkette der Karpaten unter dem blutroten Abendhimmel. Abermals ist es der Effekt der Doppelbelichtung, der über diesem Blutrot die überlebensgroße Augenpartie des Grafen aufscheinen lässt – als schwebe Draculas Blick über dem ahnungslosen Harker, mehr noch aber über dem Porträtfoto, das Harker als Pfand der Erinnerung an Mina mit sich trägt. Später, wenn Harker nach seiner Ankunft im Schloss Dracula (Gary Oldman) das erste Mal gegenübersteht, suggeriert eine weitere Doppelbelichtung auf die Detailaufnahme von Minas Porträtbild, ihr Imago schwebe in der Bildmitte über den beiden Männern; und kurz danach, wenn Dracula den Immobilienvertrag unterzeichnet, fokussiert die Kamera eben dieses Porträtfoto, das neben dem Vertrag liegt – als ob es darum ginge, wer von beiden zuerst Zugriff auf ihr Bild erhalte. Wieder erzählt Ballhaus’ Kamera in einem visuellen Subtext, was auf der Handlungsebene des Films (noch) nicht ausagiert wird – denn in der Tat ist der eigentliche Vertragsgegenstand weniger das Londoner Anwesen als das Bild der (Jung-)Frau: Für Dracula verspricht ihr Imago in quasireligiöser Aufladung Errettung aus der ewigen Verdammnis – um diese Errettung zu 3 Michael Ballhaus, Das fliegende Auge. Im Gespräch mit Tom Tykwer, Berlin 2002, S. 173 f. Natürlich hat auch die Montage Anteil an diesem visuellen Konzept der kombinierten Einstellungen. Da aber die Szenenauflösung von Coppola und Ballhaus streng durchgeplant und in einem Storyboard vorweggenommen war, erfolgte die Belichtung der einzelnen Bildelemente durch Ballhaus alleine zum Zweck der hier dargestellten Überblendungstechniken. Insofern kann von einer originären Leistung der Bildgestaltung gesprochen werden. 4 Vgl. Ballhaus, Das fliegende Auge (s. Anm. 4), S. 174 f. Diese dem bildkompositorischen Konzept eingeschriebene Hommage an die Stummfilmzeit wird an anderer Stelle sogar auf die Handlungsebene überführt, wenn Mina und der Graf in London den „Kinematographen“ besuchen und dort unter anderem ein Film der Brüder Lumière gezeigt wird. 2 gewähren aber muss Mina selbst verdammt werden: Wie ihr Blut so muss auch ihr Bild von Dracula kontaminiert werden; lange bevor die beiden sich tatsächlich körperlich vereinigen, dringt sein Blick gewissermaßen in ihren Bildraum ein. Und es ist diese Verschmelzung der Bildräume, die Ballhaus als visuelles Leitmotiv – analog zur musikdramatischen Konzeption der Ouvertüre – bereits im Prolog des Films exponiert, wenn Fürst Vlad nach siegreichem Kampf noch auf dem Schlachtfeld (in einer Nahaufnahme seines Profils) den Blick ahnungsvoll in die Ferne richtet: dorthin, wo Elisabeta auf ihn wartet. Wieder wird das Bild doppelbelichtet, und Elisabetas Profil erscheint in der rechten oberen Bildhälfte. Sie, die irrtümlich von seinem Tod ausgeht, erwidert seinen Blick jedoch nicht, senkt den Kopf, während sie mehr und mehr zu einer verblassenden Erinnerung am blutrot gefärbten Schlachtenhimmel wird. Vergeblich flüstert Vlad den Namen seiner Geliebten, die dem Wortsinne nach aus dem Bild verschwindet. Sein Blick verfehlt sie, und von nun an wird dieser Blick auf der Suche nach Wiedervereinigung sein: mit Mina, Elisabetas Wiedergängerin. Diese rein visuelle, bildkompositorische und bildkombinatorische Exposition der gewaltsamen Trennung der Liebenden bei gleichzeitiger (!) Verschmelzung ihrer (getrennt voneinander aufgenommenen) Gesichter zu einem Bild nimmt die spätere Vereinigungsszene als dramaturgisches Ziel bereits vorweg. Die Überblendungstechnik stellt also einen metaphorischen Bezug der Figuren zueinander her, indem die schicksalhafte Bestimmung ihrer Liebe über Raum und Zeit hinweg betont wird, ihr wohnt aber auch ganz konkret eine metonymische, um nicht zu sagen: erotische Verschmelzungsqualität inne, die auf vampirisches Begehren verweist: auf das Eindringen des einen Bildes in das andere Bild.5 Doch noch einmal zurück zu Jonathan Harker in den Zug: Während Draculas Augen am Firmament über ihm wachen, schreibt Harker seiner Verlobten, hält in seinem Tagebuch schriftlich den Fortgang der Reise fest, nimmt Dracula beim geschriebenen Wort, indem er seinen Blick auf die Unterschrift des Grafen in dessen Brief heftet: „D.“ So bleibt Harker, im Gegensatz zu Elisabeta/Mina und Dracula, ganz dem Bereich des Symbolischen verhaftet. Deswegen verlässt er sich auf seinen Vertrag mit Mina und ist nicht in der Lage, die imaginäre Verschmelzungsqualität zu erkennen, die in Draculas Blick liegt: ein Blick, der Mina über jede räumliche Distanz und symbolische Verpflichtung hinweg erreicht. Die Verbindung zwischen ihr und Dracula wird über das Bild, die Sphäre des Imaginären hergestellt, über ein Sehen, das in das Bild des anderen einzudringen vermag. Insofern erscheint es nur konsequent, wenn später die erste physische Annäherung zwischen beiden ausgerechnet an einem Ort inszeniert wird, der das begehrende Sehen institutionalisiert: im 5 Vgl. zur metaphorischen bzw. metonymischen Funktion der Überblendung: Christian Metz, Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino, Münster 2000, S. 211 ff. 3 Kino. Während für Harker Minas Porträtbild nur ein Pfand ist, ein Symbol ihrer wechselseitigen Verpflichtung, ist es für den Grafen eine imaginäre Erscheinung, ein visuelles Versprechen, auf das der Vampir sein jahrhundertealtes Begehren projiziert – und Ballhaus’ Kamera übernimmt dieses begehrende Sehen, das, im Gegensatz zu den leblosen Standfotografien, die Mina und Jonathan jeweils von sich aufbewahren, ein bewegtes und dynamisches Sehen ist, das ins Innerste des anderen eindringt und ihn unmittelbar affektiert: „See me“, flüstert der Graf, als er Mina in London auflauert; und tatsächlich spürt sie plötzlich seinen begehrenden Blick auf sich – und erwidert ihn. Dracula wird mehrfach in diesem Film – etwa wenn die Kamera in einer schwindelerregenden Pendelbewegung knapp über dem Boden die steinernen Treppen zum Gemach von Minas Freundin Lucy emporfliegt – zum reinen Blick: zu einem (Kamera-)Blick, der Raum und Zeit überwindet, in Minas Gedanken, mehr noch, in das Bild, das sie sich von der Welt und der Liebe macht, eindringt wie in das Pfauenauge, das zum Tunnel wird. Auch in Ballhaus’ Kameraarbeit zu Martin Scorseses THE AGE OF INNOCENCE (ZEIT DER UNSCHULD, 1993), der von den Ritualen und Konventionen einer das eigene Begehren verleugnenden Gesellschaft erzählt, werden die heimlichen Leidenschaften der Figuren alleine über die metamorphischen Qualitäten des Kamerablicks sichtbar – und damit die Kluft zwischen den Sphären des Symbolischen und des Imaginären erst sinnlich erfahrbar: Wenn es in der ersten Szene des Films in der Oper nur ums Sehen und Gesehenwerden geht, während die Figuren sowohl im Zuschauerraum als auch auf der Bühne vollkommen statisch agieren, im Bild selbst also beinahe Bewegungsstarre vorherrscht, bewegt Ballhaus’ Kamera das Bild selbst, übersetzt die begehrenden Blicke der einzelnen Figuren, die in dieser streng ritualisierten Welt nicht in entsprechende Handlungen übersetzt werden dürfen, in ausladende Kamerabewegungen; ganz so, als folge er Erwin Panofskys Diktum, wonach Film die Dynamisierung von Raum und Zeit bedeutet.6 Erst über dieses Spannungsverhältnis zwischen Statik und Dynamik – es sei an den Übergang des Kusses in die Zugfahrt aus DRACULA erinnert – wird die Kraft eines (womöglich unterdrückten) Begehrens deutlich, das (zuerst über den Blick!) die geschützte Privatsphäre des begehrten Objektes verletzt: Doch dieses brutale Eindringen Draculas in Lucys Schlafgemach oder in Minas Gedankenwelt, das final seine genretypische Bestimmung im Vampirbiss findet, produziert auf Seiten des Opfers ein sexuelles Begehren nach dem Angreifer, das sämtliche zivilisatorischen Barrieren sprengt: Mina verfällt dem Monster und ist bereit, dafür ihre Verlobung mit Jonathan zu lösen. Dass dieses wechselseitige Verhältnis von Gewalt und Erotik seinen Ausgang im (Kamera-)Blick selbst nimmt, macht Ballhaus 6 Erwin Panofsky, Stil und Medium im Film. In: ders.: Stil und Medium im Film & Die ideologischen Vorläufer des RollsRoyce-Kühlers, Frankfurt am Main1999, S. 21–54, hier S. 25 ff. 4 mittels einer weiteren Überblendung zweier Detailaufnahmen deutlich, die über die Doppelbelichtung abermals metamorphisch zueinander in Bezug gesetzt werden: Die Bisswunden, die Draculas Zähne in Lucys Hals hinterlassen, verwandeln sich in die Augen des Wolfes, der durch das Kino streunt, das Dracula und Mina besuchen. Es ist kein Zufall, dass Ballhaus auch in der Opernszene aus THE AGE OF INNOCENCE das nämliche Doppelbelichtungsverfahren einsetzt, um die einzelnen Bilder der getrennt voneinander sitzenden Theaterzuschauer ineinander zu schieben und damit auf der visuellen Ebene eine Verschmelzung zu provozieren, die den Figuren auf der Handlungsebene versagt bleibt. Anders in DRACULA: Die Metamorphosen des Vampirs sind dem Mythos nach explizit physischer Natur, weshalb auch Coppolas Film nicht ohne trick- und maskentechnische Versuche auskommt, um die Verwandlungen des alten Grafen in einen jungen Prinzen, in einen reißenden Werwolf oder in wabernde Nebelschwaden auf der Handlungsebene zu explizieren; genauso, wie der blutige Akt der Vereinigung zwischen Mina und Dracula schließlich körperlich ausagiert werden muss. Umso erstaunlicher mutet an, dass Ballhaus’ choreografierter Bilderrausch diese szenischen Dramatisierungen visuell vorwegnimmt, sie in die Struktur der Bildkomposition wie in die Textur des Filmmaterials selbst verlagert. Denn die Technik der Doppelbelichtung reproduziert jene metamorphische Qualität, die auch Draculas Wesen bestimmt: Einerseits verleibt er sich das Blut der Lebenden (das heißt auch: über den begehrenden Blick die Bilder der anderen) ein, um den Prozess steter Verwandlung aufrechtzuerhalten. Andererseits treibt ihn das Verlangen an, sich mit Mina (als Inkarnation Elisabetas) nicht nur ganz konkret physisch, sondern auch über die Grenzen von Zeit und Raum hinweg zu vereinigen – und aus dieser Vereinigung als neuer Mensch in einem sehr spirituellen Sinne hervorzugehen. Der platonisch-telepathische wie auch der sexuellphysische Akt der Vereinigung wird so nicht nur als lustvoller, sondern auch gewaltvoller Prozess verstanden, der letztlich eine schmerzhafte Verwandlung von den Beteiligten verlangt. Diese Verwandlung, die gewissermaßen als drittes Element aus der Vereinigung der Liebenden (und ihrer Bilder) hervorgeht, wird von Ballhaus visualisiert, wenn er das im Prolog exponierte visuelle Leitmotiv der ineinander geblendeten Profilbilder erneut aufgreift; und zwar in jener Szene, in der Dracula versucht, Mina mithilfe von Absinth gefügig zu machen – und Mina Draculas Heimat beschreibt, als sei sie schon einmal dort gewesen. Ballhaus vermeidet in dieser Szene die Auflösung des Dialogs beim Dinner durch das konventionelle Schuss-Gegenschuss-Verfahren; stattdessen nimmt er Mina und Dracula jeweils nah im Halbprofil auf und blendet dann – scheinbar – beide Einstellungen ineinander über. Der so erzeugte Doppelbelichtungseffekt generiert ein Bild, das einerseits die 5 schicksalsschwere räumliche Trennung zwischen Dracula/Vlad und Elisabeta im Prolog aufgreift und andererseits durch die Verschmelzung beider Bilder Intimität und Nähe suggeriert. Hintergrund und Umgebung werden völlig von Dunkelheit verschluckt, so dass beide Figuren aus Zeit und Raum herausgelöst, nur aufeinander bezogen erscheinen. Allerdings ist das Verhältnis von Vorder- und Hintergrund gegenüber dem entsprechenden Prologbild ins Gegenteil verkehrt: Nun ist es Minas/Elisabetas Profil, das in der rechten Bildhälfte in der Schärfe des Vordergrunds erscheint, während das Gesicht des Grafen links im Bild beinahe ebenso in der Unschärfe verblasst wie noch im Prolog die eingeblendete Elisabeta. Diese Verkehrung erscheint nur konsequent, wird doch nun Mina von einer ebenso verdrängten wie verwirrenden romantischen Erinnerung an jenen Prinzen heimgesucht, dem sie zwar tatsächlich gegenübersitzt, den sie aber bislang für einen Fremden hielt. Die verblüffende Auflösung führt zu der plötzlichen Erkenntnis des Zuschauers, dass die sich scheinbar überlagernden Bilder aus gar keinem kameratechnisch produzierten Effekt resultieren, sondern dass Dracula und Mina sich tatsächlich organisch im selben Bild, in derselben Kadrage befinden, wie eine plötzliche Schärfenverlagerung von Mina auf den Grafen deutlich macht. Der täuschende Eindruck, es handele sich abermals um eine Doppelbelichtung, wird erstens durch Minas Blick hervorgerufen, der von rechts nach links außen zeigt, dorthin also, wo der Zuschauer ihrer Blickrichtung folgend den im gleichen Raum anwesenden Grafen annehmen muss; und zweitens durch den Überblendungseffekt unmittelbar vor dieser Einstellung, als während Minas Erinnerung an des Grafen Heimat für einen kurzen Moment jene Erscheinung des Fürsten aufblendet, wie wir sie in Kostüm und Maske aus dem Prolog kennen. Mit eben diesem Effekt bereits vertraut, schließt der Zuschauer beim nun folgenden Bild, das den Grafen in seiner gegenwärtigen Erscheinung in Minas Bild integriert, auf die bereits etablierte Doppelbelichtungswirkung – und wird eines Besseren belehrt: Dieses Mal ist Dracula tatsächlich leibhaftig in Minas Blickraum eingedrungen. Das Auge ist ganz Körper geworden – und ein neues Bild von der Wiederkehr des verlorenen Geliebten ist aus dieser Metamorphose des Blicks geboren. 6