1. Thassos

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1. Thassos
1. Thassos – Sprache
"Jedes Schreiben ist eine Sünde gegen die Sprachlosigkeit." (Samuel Beckett)
Am Morgen nachdem die Mutter in der Elterngruppe mir von ihrer Isolation berichtet
hatte, kochte ich mir einen Tee, sobald John in den Bus zum Kindergarten gestiegen war,
setzte mich mit dem Laptop aufs Sofa und begann meine Recherche nach einem Reiseziel.
Ich stieß auf einen günstigen Flug von Berlin nach Thessaloniki und ging in die
Stadtbibliothek, um mir Bücher über Griechenland auszuleihen. Mir gefiel ein Reiseführer
über die Insel Thassos, die anscheinend von Thessaloniki über eine dreistündige Busfahrt
nach Kavála zu erreichen war, von dort fuhr eine Fähre auf die Insel. Ein abgeschiedenes
und dennoch einigermaßen gut erreichbares Ziel.
John stand jeden Morgen sehr früh auf und musste den ganzen Tag unterhalten
werden, weil er sich nicht selbst beschäftigen konnte. Thassos schien dafür groß genug zu
sein. Wir würden eine ruhige Unterkunft brauchen, also suchte ich im Internet nach
Zimmern und fand eine Pension, die von einer Deutschen und ihrem griechischen
Ehemann geleitet wurde. Viel schneller als ich es mir selbst vorgestellt hatte, buchte ich den
Flug und die Unterkunft für die kommenden Osterferien. Wir würden zur Eingewöhnung
zwei Nächte in einem Hotel in Thessaloniki bleiben, dann mit Bus und Fähre für zehn
Tage nach Thassos reisen, und auf dem Rückweg vor dem frühen Rückflug noch einmal in
Thessaloniki übernachten. Zwei Wochen Urlaub insgesamt.
Ich wollte mit John alleine reisen. Wir hatten so viel Trubel erlebt, zuerst in den
Krankenhäusern mit der Epilepsie, dann mit der Autismusdiagnose. Ständig Termine,
Experten über Experten der verschiedensten Richtungen, die meisten waren zwar sehr nett
und alle versuchten zu helfen, aber es führte doch unweigerlich auch dazu, dass wir fast nie
alleine waren, nicht zur Ruhe kamen. Erst als ich die Reise plante, fiel mir das so richtig
auf, und auch, wie sehr ich mich darauf freute, endlich Zeit alleine mit John zu verbringen.
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In Bezug auf die Epilepsie war die Lage trotz verschiedener Therapien und Medikamente
letztlich dennoch recht übersichtlich gewesen: Bestimmte Medikamente waren für
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bestimme Erscheinungsformen von Krampfanfällen vorgesehen, wenn eines nicht half,
schlich man es wieder aus und dosierte langsam das nächste auf. Der Prozess war klar und
vergleichsweise unumstritten.
Beim Autismus schien alles undurchsichtiger. Die Ursache der Beeinträchtigung
war trotz intensiver wissenschaftlicher Bemühungen noch unbekannt. Klar schien nur, dass
Autismus genetisch bedingt sein musste. Einer der ersten aussagekräftigen Belege für diese
Erkenntnis war 1977 eine Zwillingsstudie von Michael Rutter und Susan Folstein gewesen.
Von 21 Zwillingspaaren waren 90% der eineiigen Zwillinge beide Autisten, während bei
den zweieiigen Zwillingspaaren nur 10% beide mit Autismus diagnostiziert wurden.
Neuere Studien waren allerdings zu weniger offensichtlichen Ergebnissen
gekommen. Und nur ein Bruchteil der Gene, die an der Entstehung von Autismus beteiligt
sein könnten, war bisher identifiziert worden. Die Wissenschaft befand sich noch in der
Grundlagenforschung. Die unklare Lage begünstigte Spekulationen. In den Medien wurde
fast wöchentlich über neue Theorien zu Ursachen des Autismus berichtet. Fast noch
beunruhigender als diese Ursachentheorien war die Vielfalt an teils auch völlig
entgegengesetzten Therapien. Für jemanden, der eine evidenzbasierte Behandlung schätzte,
schienen viele dieser Ansätze zudem quacksalberhaft.
Das Thema Autismus war in vielerlei Hinsicht widersprüchlich. Ich würde mich
intensiv damit auseinandersetzen müssen, das ahnte ich, aber zuerst sehnte ich mich
danach, von diesen äußeren Einflüssen wegzukommen. Eine tiefgreifende
Entwicklungsstörung schien mir vor allem eine eigene Gewöhnung an die Besonderheiten
zu erfordern, und die beste Art, wie ich mir das vorstellen konnte, war schlicht und einfach,
ungeteilte Zeit miteinander zu verbringen.
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John war dreieinhalb Jahre alt. Er sprach nicht und wir waren nicht sicher, wie viel er
verstehen konnte. Vieles schien er eher zu erraten. Wenn wir sagten: "Setz Dich bitte hin",
dann konnte es sein, dass er sich setzte. Aber wenn wir zum Beispiel sagten: "Nimm bitte
den Teller", dann setzte er sich vielleicht auch auf den nächstgelegenen Stuhl oder er legte
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etwas weg, das er in der Hand hielt. Er verstand offensichtlich, dass man ihn um etwas
gebeten hatte, und in seinem berührenden Versuch, der Aufforderung nachzukommen,
probierte er verschiedene Dinge aus.
Auch wenn John nicht sprach, war er uns und den Menschen, die oft um ihn
waren, sehr nahe. Er saß lieber auf meinem Schoß als eigenständig neben mir. Er kuschelte
gerne und verlangte viel Aufmerksamkeit. Bestimmte gängige Bilder über Autismus trafen
auf ihn überhaupt nicht zu. John hing an uns, das merkten wir deutlich.
Die größte Herausforderung war die Kommunikation. Ich war voll von Sprache
und John schien für Sprache nicht empfänglich. In diesem Sinne hatten John und ich
gewissermaßen unterschiedliche Bezugsrahmen. Und wenn einen die Sprache erst einmal
durchdrungen hat, kann man nicht mehr hinter sie zurücktreten. Sie ist immer da, sie
schwebt über allem. Man kann keinen Besen sehen, ohne direkt zu denken: "Besen". Wie
konnte ich die Nonverbalität verstehen lernen?
Andererseits ist der Mensch natürlich sowieso und immer viel mehr als nur verbale
Sprache. Zwischen allen Menschen ist vieles, was sich nicht verbal klären oder erklären
lässt. Der Unterschied in unserer unterschiedlichen Wahrnehmung musste also doch
irgendwie durchlässig sein.
Griechenland reizte mich auch deshalb als Reiseziel, weil ich noch nie dort gewesen
war, kein Wort griechisch verstand und noch nicht einmal die kyrillischen Buchstaben lesen
konnte. Vielleicht könnte es helfen, an einem Ort zu sein, an dem wir beide sprachlich
verloren waren?
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Ich suchte ein Hotel in Thessaloniki, druckte die Busfahrzeiten zwischen Thessaloniki und
Kavála aus und besorgte in der Bibliothek Landkarten, ein Wörterbuch und ein
einführendes Sprachbuch. Abends sah ich mir mit John die Bilder in den Reiseführern an
und versuchte, ihn auf die Reise vorzubereiten. Manchmal schien er an den Fotos milde
interessiert, aber ich war mir nicht sicher, wie viel er verstand, wenn überhaupt etwas.
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Am 31. März 2004 nahmen wir die U-Bahn zum Tempelhofer Flughafen. John war
noch nie in dem Gebäude gewesen und nachdem wir unser Gepäck eingecheckt hatten,
rannte er aufgeregt durch die große Halle, er konnte gar nicht genug davon kriegen. John
war schon mehrfach zwischen den USA und Deutschland geflogen, er kannte also das
Fliegen. Der Abflug und die Landung schienen ihm immer zu gefallen, zwischendrin aber
war er wegen der Enge und des Sitzenmüssens oft gelangweilt und unruhig – wie wohl die
meisten nichtbehinderten Kinder auch. In manchen Dingen ging es uns gar nicht so viel
anders als anderen Familien. Nur konnte man mit John eben nicht verhandeln.
In Thessaloniki nahmen wir ein Taxi zum Hotel, ich merkte, dass es John nach
Bewegung drängte, also stellte ich das Gepäck nur kurz im Zimmer ab, wir gingen sofort
spazieren und suchten einen Spielplatz. John verausgabte sich beim Laufen, Schaukeln und
Klettern, dann aßen wir im Ladadiká-Viertel zu Abend und John blieb, wie in einer neuen
Umgebung erwartet, lange wach.
Am nächsten Tag erkundeten wir Thessaloniki. John liebte es, in seinem RehaBuggy herumgeschoben zu werden, er machte dabei seine typischen, fröhlich glucksenden
Geräusche und guckte in alle Richtungen. Es war schwer, ihn in Innenräumen zu bändigen.
Viel Zeit hatten wir deshalb so schon verbracht, immer unterwegs, immer draußen.
Unser Hotel lag in der Nähe von der Kirche Ágios Dimítrios mit Mosaiken aus
dem siebten Jahrhundert. Auf unserem Spaziergang kamen wir an unzähligen Kirchen,
Moscheen und Türkischen Bädern vorbei. Während wir so liefen, entfalteten sich in der
Architektur die Schichten der Stadtgeschichte vor unseren Augen. Wir gingen zum
Modiano-Markt und sahen uns den Galerus-Bogen an. Ich schob den Buggy bergauf in die
Altstadt und wir genossen den Blick hinunter auf die Stadt und das Meer. Auf dem
Rückweg zum Hotel lagen an einem Friedhof eine ganze Reihe zerbrochener Grabsteine an
der Seite eines Friedhofs. In meinem Reiseführer las ich, dass die Gräber in Griechenland
oft schon nach wenigen Jahren ausgehoben werden. Anscheinend wurden die Grabsteine
dann einfach an die Seite gelegt.
Im Bus nach Kavála hatte ich am nächsten Tag das erste Mal auf unserer Reise
Schwierigkeiten. Das hatte ich nicht erwartet, denn normalerweise gefiel es John in jeder
Form, bewegt zu werden, ob im Buggy, im Auto oder im Bus. Doch die drei Stunden in
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einem gut gefüllten Bus waren John zu lang. Ich versuchte ihn abzulenken, kitzelte ihn,
sang ihm Lieder vor, aber es half alles wenig. Erst auf der Fähre ging es John besser. Er
beobachtete fasziniert, wie das Wasser gegen den Bug schlug. Von der Hafenstadt Skala
Prinou nahmen wir den öffentlichen Bus ins Dorf Potós zu unserer Pension. Auch diese
Busfahrt von nur 45 Minuten gefiel John nicht. Mein Plan, die Insel mit den öffentlichen
Bussen zu erkunden, würde vielleicht angepasst werden müssen.
Die Besitzerin der Pension begrüßte uns warmherzig. Unser Zimmer hatte einen
Balkon und auf dem Flur befand sich eine gemeinschaftlich genutzte kleine Küche. Wir
waren die einzigen Gäste. Im Dorf wurde überall gebaut, Straßen waren aufgerissen,
Gebäude wurden gestrichen. Die Pensionsbesitzerin erzählte mir, dass noch fast keine
Touristen auf der Insel seien, da Ostern in diesem Jahr so früh lag. Umso besser für uns,
John war sowieso kein Fan von großen Menschenmengen.
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Etwa zehn Kilometer von Potós entfernt befand sich das kleine Bergdorf Theologos, der
alte Hauptort der Insel. Dort sollte es eine alte Steinbrücke und eine sehenswerte Kirche
geben, St. Demetrios. Außerdem betrieb ein deutsches Ehepaar außerhalb von Theologos
einen Pferdehof und sie boten auch therapeutisches Reiten an, wie ich im Internet gesehen
hatte. Am ersten Morgen auf der Insel war ich voller Energie und freute mich auf unsere
erste Erkundungstour. Den Buggy wollte ich nur für Notfälle mitnehmen, ich dachte, John
könne die meiste Zeit selbst laufen. Er lief und rannte viel, das Problem war nur, dass er
keinem geraden Weg folgte, vielleicht etwa vergleichbar zu einem kleineren Kind, das
gerade laufen gelernt hat.
Schon kurz hinter dem Ortsausgang von Potós streikte John und wollte in den
Buggy. Ich gab nach und schob ihn eine Weile, holte ihn dann wieder heraus. Sobald aber
der Weg bergauf führte, wurde Johns Widerstand größer, er wollte zurück in den Buggy.
Ich entschied, den schöneren, aber unwegsamen Pfad neben der Straße zu verlassen und
John stattdessen auf dem gepflasterten Weg zu schieben.
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Wir kamen an vielen kleinen Schreinen vorbei, die sich anscheinend überall in
Griechenland am Wegesrand finden, die mir aber ganz neu waren. Dann sahen wir eine
freilaufende Ziege. Uns kam ein alter Kleinlaster entgegen und ich signalisierte dem Fahrer
anzuhalten. Ich zeigte auf die Ziege und fragte auf Englisch, ob sie vielleicht jemandem
entkommen sei? Der Bauer verstand mich nicht, ich hantierte etwas mit dem Wörterbuch
herum und als er endlich verstand, was ich wollte, lachte er herzlich und ich verstand, dass
er etwas sagte wie: "Das ist okay, das ist normal."
Im Lauf des Spaziergangs begegneten uns dann noch viele freie Tiere: Schafe,
Ziegen, Esel und Hunde. Ich merkte: Natürlich war das ganz normal hier. Kein Wunder,
dass der Bauer so herzlich gelacht hatte. Schon zwei Stunden später kam es mir
vollkommen lächerlich vor, dass ich ihn angehalten hatte. Zum ersten Mal an einem ganz
fremden Ort hat man keine Idee von dessen Konzept der Normalität, aber ebenso schnell
verliert man diese Perspektive wieder, wenn man sich eingewöhnt hat. So viel zur Stabilität
und Verlässlichkeit der Vorstellung vom Normalen, dachte ich.
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Ich schob John aufwärts, hier und da hielten wir an und John lief herum. Er interessierte
sich besonders für die knorrigen Olivenbäume, vielleicht fiel es ihm wirklich auf, dass sie so
anders aussahen als die Bäume bei uns Zuhause? Das Wetter war schön und John schien es
hier zu gefallen, ich war erleichtert. So hatte ich es mir erhofft: eine abgelegene Gegend, in
der John gefahrlos herumrennen und erkunden konnte.
Wir erreichten Theologos, fanden ein kleines Geschäft, in dem wir etwas zu essen
kauften und aßen auf einem verlassenen Spielplatz am Dorfrand. Wir erkundeten das Dorf,
es hatte durch die verfallen wirkenden Häuser einen morbiden Charme. Auf dem Rückweg
fanden wir den Pferdehof, auf dem tatsächlich therapeutisches Reiten angeboten wurde.
Ein Pferd auf dem Hof hatte viele Jahre in einer Einrichtung für Menschen mit
Behinderung in der Nähe von Heidelberg gelebt und genoss hier nun seinen Ruhestand.
Ich machte einen Termin für die kommenden Tage und schob John zurück nach Potós.
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Er genoss es offensichtlich, so viel im Buggy sitzen zu dürfen, aber ich hatte mich
dazu entschlossen, darüber keine Auseinandersetzung zu führen. Wir waren schließlich im
Urlaub und nicht in der Verhaltenstherapie. Als wir nach Potós zurückkehrten, wurde es
schon Abend. Von morgens an waren wir den ganzen Tag unterwegs gewesen. Auf dem
Weg zur Pension hielten wir beim Lebensmittelladen und kauften für das Abendessen ein.
In fremden Ländern ist das Einkaufen immer interessant, das schien auch John so zu
gehen, denn er sah sich aufmerksam im Geschäft um.
An der Kasse fragte mich die Kassiererin auf Englisch: "Oh, sind Sie die Frau, die
heute das Kind im Buggy den ganzen Weg nach Theologos hinaufgeschoben hat?" Sie
schüttelte den Kopf, halb ungläubig, halb amüsiert. Einen Tag da und wir waren schon
Dorfgespräch.
Ich kochte in der Gemeinschaftsküche der Pension und danach gingen wir zum
Sonnenuntergang noch für eine Weile an den Strand. Schon immer hat John das Wasser
geliebt: Baden, in Pfützen springen, dem Regen zuhören. Manchmal wurde er durch
Wasser aktiv, manchmal beruhigte es ihn. Hier lief er den Strand auf und ab, während ich
erschöpft war. Ich war 20 km mit Höhenunterschied und Buggy gelaufen, es war schon ein
bisschen viel gewesen. Rückwirkend freute ich mich aber, es nach Theologos und zurück
geschafft zu haben. Es wurde für mich zu einer Art Symbol. Wenn eine Situation zu
überwältigend schien, dachte ich in Zukunft gerne an Theologos.
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Weil ich es am zweiten Tag etwas kürzer halten und nur in den etwa drei Kilometer
entfernten Nachbarort Limenaria gehen wollte, malte ich mir zunächst gute Chancen für
unseren nächsten Ausflug aus. Aber John wollte wieder nicht laufen, ich musste eine
andere Lösung finden. An der Fähre hatte ich eine Autovermietung gesehen. Die
Pensionsbesitzerin half mir bei der Buchung am Telefon, John und ich fuhren mit dem Bus
nach Skala Prinou und holten das Auto ab. Ich stellte das Radio an und John freute sich
hinten im Auto über die griechische Musik. Immer wenn er Musik mochte, tanzte er seinen
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typischen rudernden Sitztanz, bei dem sich die Arme und der Oberkörper bewegten, als
rudere er ein Boot. Keine Frage, John war glücklich mit dem Auto.
Am nächsten Morgen hatten wir unseren Termin mit dem Heidelbergpferd, doch
John wollte gar nicht erst in dessen Nähe gehen. Die Pferdebesitzerin hatte eine Idee: Sie
hatte auch noch einen Esel, den sie ausgesetzt in den Bergen gefunden hatte. Anscheinend
war es bei den Bauern durchaus üblich, Esel zum Sterben auszusetzen, wenn sie zu alt für
ihre Aufgaben geworden waren. Die Frau hatte schon mehrere solcher Tiere gerettet. Der
Esel erwies sich als sehr geduldig und John hatte auch nicht solche Angst vor ihm,
vielleicht, weil er viel kleiner war als das Pferd. Am Anfang ließ John sich zögerlich auf den
Esel heben, aber wir merkten, wie schnell er sich gewöhnte. Wir würden in zwei Tagen
wiederkommen.
Mit dem Auto war es leicht, die ganze Insel zu erkunden. Wir fuhren zur Halbinsel
Alikí, auf der es unter anderem Ruinen aus dem siebten Jahrhundert v. Chr. gab. John
interessierte sich besonders für einen großen Sarkophag. Er lief um ihn herum und guckte
an verschiedenen Stellen in den Graben, der den großen Steinblock umgab. In Alikí befand
sich außerdem ein antiker Marmorsteinbruch. John bewegte seine Hände über die Steine
und befühlte sie genau. Wie aufmerksam er war! Wenn man ihn wild herumrennen sah,
konnte man leicht den Eindruck gewinnen, dass er gar nicht wirklich etwas um sich herum
wahrnahm. Aber dieser Schein trügte. Wenn man genau hinsah, schien es, als seien seine
Bewegungen gezielt, als verfolgten sie eine Absicht, auch wenn ich diese nicht richtig
verstehen konnte.
Wir waren ganz allein auf der Halbinsel und hatten Zeit. Ich ließ John herumlaufen,
blieb wegen des gefährlichen Terrains aber immer an seiner Seite. Ich folgte einfach nur
Johns Rhythmus. Zum Mittagessen hatte ich ein Picknick mitgebracht. Der Himmel war so
blau wie in den Reiseführern. Uns fehlte es an nichts. In der Pension gab es keinen
Fernseher und kein Internet, der Lebensmittelladen des Dorfes führte nur Zeitungen auf
Griechisch. Ich hatte keine Ahnung, was in der Welt passierte. Es war schön, kein Ziel zu
haben, keine Termine, keine Verpflichtungen.
In den folgenden Tagen wurde es zu unserer Routine, morgens früh aufzustehen,
Brote mitzunehmen und bis zum Abend auf der Insel umher zu streifen, wir ließen uns
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einfach nur treiben. Auf dem Rückweg kauften wir im Lebensmittelladen ein, ich kochte in
der Gemeinschaftsküche und abends gingen wir an den Strand.
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Überall auf der Insel entdeckte John Brunnen und Wasserquellen, als ob er einen sechsten
Sinn dafür hatte. Es überraschte mich nicht so sehr, denn Wasser hatte ihn ja schon immer
angezogen, aber wie er die Quellen von weit weg ortete, war dennoch bemerkenswert.
Im Ort Megálo Kazavíti stießen wir auf eine große, ausgehöhlte Platane. Das Loch
in der Mitte war so groß, dass es den Baum in zwei Teile teilte. John interessierte sich
sofort dafür und kletterte in die Ausbuchtung. Er untersuchte das Innere des Baums,
befühlte es mit den Händen, steckte seine Nase ganz dicht ans Holz, schnüffelte und
tastete und schien glücklich versunken in seine Erkundung. Irgendwann kam er wieder
heraus, lief um den Baum herum, befühlte dabei die Rinde und kletterte dann wieder in die
Aushöhlung hinein. Es machte den Eindruck, als ob er die Oberflächen von Außen und
Innen verglich. Ich fragte mich: Wie verarbeitete er all diese Eindrücke? War das eine rein
körperliche Erfahrung? Ein pures In-der-Welt-Sein, unmittelbar, situationsbezogen und
vergänglich?
Das konnte eigentlich nicht sein. Ich hatte schon oft bemerkt, dass John ein gutes
Gedächtnis für Orte hatte. Als er knapp zwei Jahre alt gewesen war, hatten wir meine
Großmutter in Nordwestdeutschland besucht. John hatte sich im Verlauf des Besuchs für
die Gänse im Nachbarsgarten interessiert. Als wir mehrere Monate später wieder zu seiner
Urgroßmutter fuhren, war John aus dem Auto gesprungen, hatte sich noch nicht einmal
zur Orientierung umgesehen und war sofort zielgerichtet zum Nachbarsgarten gelaufen. Er
war daraufhin sehr unglücklich gewesen und ich war mir sicher, es kam daher, dass dort
keine Gänse mehr waren. An vielen Kleinigkeiten konnte man bemerken, dass John ein
gutes Gedächtnis und einen hervorragenden Orientierungssinn hatte. Aber wie erinnert
man ohne Sprache?
In ihrem Buch Denken in Bildern beschreibt die Autistin Temple Grandin, dass sie
visuell anstatt verbal denkt. Dies schien auf viele Autisten zuzutreffen. Wir hatten auch für
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John begonnen, Kommunikation zu visualisieren: Wir benutzten laminierte Bilder, um ihm
zu zeigen, was wir unternehmen oder wohin wir gehen wollten. Auch seine
Frühfördergruppe arbeitete mit dem System PECS, einem Bildkartensystem, das in den
achtziger Jahren in den USA von der Logopädin Lori Frost und Dr. Andy Bondy
entwickelt worden war.
Als ich Johns Interaktion mit der beeindruckenden Platane beobachtete, fragte ich
mich wieder, wie diese Art von nonverbaler Erfahrung funktionierte. Sie schien so
körperlich intensiv. Ich musste an Hugo von Hofmannsthal's Reisebericht Augenblicke in
Griechenland denken, in dem es so passend zu Johns Erfahrung hieß: "Unter diesem Licht ist
ja wirklich das Geistige leiblicher und das Leibliche geistiger als irgend sonst auf der Welt."
Bei Säuglingen und Kleinkindern denken wir an eine vorsprachliche Phase, also
dass sie noch keine Sprache beherrschen. Darin ist folglich immer schon mitgedacht, dass
danach eine Phase kommt, in der sie so werden, wie wir sind. John war dreieinhalb Jahre alt
und es gab keine Anzeichen, dass er auf dem Weg einer solchen Entwicklung war. Seine
ganze Wahrnehmung und Verarbeitung schienen anders zu funktionieren. Das war nicht
wirklich vorsprachlich, es schien eher außersprachlich.
Ludwig Wittgenstein hat gesagt: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die
Grenzen meiner Welt." Das hatte sich für mich immer richtig angehört, aber in
Betrachtung von John schien das nicht mehr zuzutreffen. Doch Wittgenstein hatte
zumindest insoweit Recht, als ich Johns Erfahrung nicht verstehen konnte, weil sie jenseits
der Sprache lag und ich durch die Grenzen der Sprache gebunden war.
Meine Gedanken kehrten zurück zu den Augenblicken in Griechenland, mit denen ich
mich im Studium befasst hatte. Hofmannsthal überhaupt, immer wieder der Kampf mit der
Sprache. Im Brief des Lord Chandos an Francis Bacon zerfielen Chandos die Worte im
Mund wie modrige Pilze: "Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile und nichts
mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen." Im Verlust der Sprache berichtete Chandos
von unerklärlichen Zuständen eines rätselhaften, wortlosen, schrankenlosen Entzückens.
Wie sehr seine Schilderungen doch auf Johns Erfahrungen mit der Platane passten.
Unser Blick auf den Autismus hat etwas Dialektisches, fast Widersprüchliches. Wir
verbinden Autismus sehr stark mit Introvertiertheit. Wir denken an das Für-Sich-Sein des
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Autisten, Autismus wird zumeist ins Innere gedeutet. Viele bekannte Klischees haben darin
ihren Ursprung, zum Beispiel die verbreitete Vorstellung, Autisten seien in sich gefangen.
Dabei ist der Autismus ein Syndrom, das sich auch klar nach Außen zeigt und von außen
wahrnehmen lässt, wie das wortlose Entzücken, das ich bei John beobachtet hatte.
Es ist einerseits verständlich, dass der öffentliche Blick sich auf die innerlichen
Aspekte des Autismus konzentriert. Sie sind in ihrer großen Bandbreite faszinierend: von
bewundernswerten Inselbegabungen bis hin zur Tragödie eines abgekapselten Ich. Die
äußerlichen und körperlichen Aspekte sind demgegenüber nicht so unmittelbar
ansprechend. Wir verstehen nicht, was es soll, wenn Autisten mit den Händen flattern, an
einer Baumrinde riechen oder laute, unverständliche Laute von sich geben.
Wenn wir uns aber derart aussuchen, welchen Aspekten wir Aufmerksamkeit
schenken, versagen wir uns von Anfang an die Möglichkeit, ein ganzes Bild zu sehen. Die
allgemeine Tendenz, sich übermäßig mit den inneren und allzu wenig mit den äußeren
Aspekten des Autismus zu beschäftigen, konnte Autisten nicht gerecht werden. Das war
mir auf Thassos zumindest schon einmal klar geworden.
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Wir kehrten noch ein paar Mal zum Pferdehof zurück und John schaffte mit der Zeit den
Umstieg vom Esel auf das Pferd. Zuerst saß ich gemeinsam mit ihm auf dem Pferd, am
Ende saß er ganz alleine darauf, ohne Sattel, sich eine halbe Stunde lang im Trott perfekt
balancierend. Eine erstaunliche Leistung, die wir zum großen Teil auch der geduldigen
Pferdehofbesitzerin verdankten.
Früher war John nicht gerne gelobt worden. Es war ihm irgendwie zu viel gewesen.
Ich hatte auch beobachtet, dass er motorische Handlungen wie das Einschenken von
Wasser in ein Glas besser machte, wenn er alleine war. Alleine die Präsenz einer anderen
Person schien ihn so abzulenken, dass es seine Dyspraxie verstärkte.
Diese Art von Befangenheit lockerte sich langsam. Auf dem Pferd reitend konnte
er es gut aushalten, beobachtet zu werden (was alleine nötig war um aufzupassen, dass er
nicht herunterfiel). Und als ich ihn am Ende lobte: "Das hast Du sehr gut gemacht!",
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lächelte John sogar. Er schien fast ein bisschen stolz und es war ebenso berührend wie
ermutigend zu sehen, dass er mehr zu interagieren begann und sich dabei sogar wohl zu
fühlen schien.
Nach zehn Tagen verabschiedeten wir uns von den netten Menschen, die wir
kennen gelernt hatten, gaben den Mietwagen zurück, reisten mit der Fähre und dem Bus
zurück nach Thessaloniki, schliefen eine Nacht im selben Hotel wie bei der Ankunft und
flogen zurück nach Berlin. Alles ohne Probleme.
Unser erster richtiger Urlaub war ein Erfolg. Ich war nur Johns Hinweisen gefolgt,
was ihm zu gefallen oder nicht zu gefallen schien. Ohne Sprache war das zwar nicht immer
ganz einfach herauszufinden, aber alle Eltern mit Kindern, die noch nicht sprechen,
kennen dieses Problem, dieses Herumraten: Hunger? Durst? Müdigkeit? Windelwechsel?
Bei uns war es so ähnlich, nur vielfältiger und dauerhaft.
Man kann grundsätzlich fragen, wie gut sich zwei Menschen wirklich verstehen
können, aber üblicherweise gibt es eine gemeinsame Basis, sobald man die gleiche Sprache
spricht – Philosophie hin oder her. Unsere Sprachgewohnheiten basieren letztlich auf der
impliziten Annahme, dass wir uns verstehen, oder zumindest der permanenten
Möglichkeit, sich zu verstehen. Mit John fehlte uns dieses inhärente Fundament.
Wir mussten Kommunikation anders aufbauen, dabei war aber eines klar: John
kommunizierte. Auf unserer Reise waren mir Dinge aufgefallen, die ich im beschäftigten
Alltag nicht beachtet hatte. Vor allem hatte mich die Intensität von Johns Erfahrungen
beeindruckt. Es war ganz klar, dass sein Verhalten seine Sprache war. Er kommunizierte
mit dem ganzen Körper und in ständiger Bewegung.
Seine Selbstwahrnehmung und die Wahrnehmung der Welt funktionierten jenseits
von verbaler Sprache. Dass ich das nicht richtig nachvollziehen konnte, war eine Tatsache,
die ich erkannte hatte und akzeptierte.
Eine der schönsten Entdeckungen auf Thassos war das Nichtstun. Uns durch den
Tag treiben zu lassen und zufällige Entdeckungen zu machen, das könnten wir noch oft
und an vielen schönen Orten in Europa tun.
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