Bizarre Schönheiten
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Bizarre Schönheiten
baz | 25. Juli 2008 | Seite 7 Intimes Treffen mit den Gebrüdern Stimm Die Neville Brothers eröffnen die MarktplatzKonzerte des «Stimmen»-Festivals STEFAN STRITTMATTER » Auf dem Marktplatz Lörrach begeisterten die Neville Brothers am Mittwoch mit funkigen Soundwänden und filigranen Schmachtballaden. Einfallsreiche Natur. Falter-Ei auf einer Ranke der Passionspflanze. Foto Martin Oeggerli Bizarre Schönheiten Die Mikroskopbilder des Biologen Martin Oeggerli PETER STÄUBER » In der Ausstellung «Life Science Schicht aus Goldstaub besprüht), und vor Art» zeigt Martin Oeggerli die wunder- allem muss es vor jeglichen Erschütterunsamen Strukturen des Mikrokosmos in gen geschützt werden. Für die Mikroskopie reist Oeggerli farbenprächtigen Bildern. Jemand, der von der Schönheit der Natur schwelgt, bezieht sich nur selten auf Pollenkörner, Bakterien oder Motten. Das ist auch nicht verwunderlich, denn ohne Hilfsmittel entgehen einem natürlich die ästhetischen Qualitäten dieser Winzlinge. Mehrere Hundert Mal vergrössert, eröffnen sich jedoch dem Betrachter die ungewöhnlichsten Bildwelten – faszinierend, surreal und oft von bizarrer Schönheit. Der 34-jährige Solothurner Martin Oeggerli, der in Basel Biologie studiert hat, präsentiert diese verborgene Welt, wie wir sie noch nie gesehen haben: Gestochen scharf und nachkoloriert zeigen seine Bilder den Mikrokosmos an der Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst. Für seine zeitaufwendigen Bilder nimmt Martin Oeggerli ausschliesslich seine Freizeit in Anspruch, sonst arbeitet er am Pathologischen Institut des Universitätsspitals Basel. Das Hobby zahlt sich jedoch aus, schon mehrmals wurden seine Bilder mit Preisen ausgezeichnet. Im März dieses Jahres wurde seine Abbildung von Rostpilzsporen vom renommierten Wissenschaftsmagazin der European Molecular Biology Organization (EMBO) zum «Best Scientific Image 2008» gekürt. nach Altdorf, wo er an einem besonders leistungsfähigen Rasterelektronenmikroskop arbeiten kann. Wenn ein Rohbild entstanden ist, geht es erst richtig los. Das Bild muss in penibler Feinarbeit nachkoloriert werden, Pixel um Pixel. In das bisher grösste Bild hat «der Micronaut», wie Oeggerli sich nennt, an die 100 Arbeitsstunden investiert. Der Aufwand lohnt sich, denn die grossformatigen Bilder erhalten erst durch die farbliche Aufarbeitung ihre Ausdrucksstärke. Oeggerli erfindet jedoch keine Fantasiefarben, er bleibt so nah wie möglich an der Natur. Das Facettenauge einer lebenden Zuckmücke schimmert tatsächlich so himmelblau wie in seinem Bild. PASSIONSFALTER. Die Ausstellung im Foy- er der Finanzberater PricewaterhouseCoopers zeigt eine breite Auswahl aus Oeggerlis Werk. Besonders faszinierend sind die Schmetterlingseier, die in allen Farben und Formen zu bewundern sind. Zum Beispiel das Ei des südamerikanischen Passionsfalters: Damit die Eier nicht verloren gehen, werden sie einzeln oder zu zweit auf einer Ranke der parasitären Passionspflanze befestigt und beim Emporwachsen auf ihrer Spitze balanciert. Die Ranken sind extrem zäh und können deshalb nicht so leicht abreissen wie die Blätter; somit stellt der Passionsfalter sicher, dass sein Nachwuchs nicht irgendwo am Urwaldboden schlüpft, sondern hoch oben, wo genügend Nahrung vorhanden ist. FEINARBEIT. Jedes Kunstwerk beginnt mit der Auswahl eines geeigneten Sujets – zum Beispiel ein Schmetterlingsflügel oder eine Kopflaus. Für eine erfolgreiche Mikroskopie muss das Objekt sorgfältig präpariert werden: Es darf weder zu trocken noch zu feucht sein, es sollte seine > Bis 15. 8. PricewaterhouseCoopers, Basel, ursprüngliche Form nicht verlieren (aus St. Jakobs-Strasse 25. Mo–Fr, 9–17 Uhr. www.micronaut.ch diesem Grund wird es mit einer dünnen Die Band, die dieses Jahr den Auftakt gibt zu den abschliessenden Grosskonzerten, habe er schon seit 15 Jahren auf seinem Wunschzettel, verkündet Helmut Bürgel vor locker gefülltem Marktplatz. Eine Einleitung, die der «Stimmen»-Chef gerne verwendet, wenn er einen grossen Namen ansagen darf. Ob Floskel oder nicht: Im Falle der Neville Brothers hat sich das lange Warten auf jeden Fall gelohnt. Schon die ersten Takte von «Fiyo On The Bayou» machen deutlich, dass hier keine abgekämpfte Altherren-Truppe auf der Bühne steht, sondern ein jung klingendes Power-Ensemble. Die vierköpfige Backing-Band musiziert offensiv und mit leichtem Hang zu FusionSpielereien, der Sound ist erstaunlich laut, das BassFundament (nicht selten ein vom Keyboard in tiefsten Lagen gedoppelter E-Bass) massiv. Umso erstaunlicher, dass sich die Gebrüder Neville nicht von den um Jahrzehnte jüngeren Musikern wegdrücken lassen. FALSETT. Art Neville, mit 70 Jahren der älteste der vier Brüder, trägt mit seiner vollen, heiseren Stimme die souligen Nummern. In den stets perfekt intonierten Harmoniegesängen übernimmt er an der Hammond sitzend die tiefsten Lagen. Ganz anders ist die Stimme seines drei Jahre jüngeren Bruders Aaron. Der stoisch dreinblickende Mann mit dem tätowierten Oberkörper eines Bodybuilders verblüfft im lasziven «Fever» mit seinem feinen Falsett. Der Marktplatz tobt, und Aaron doppelt mit «Ain’t No Sunshine» nach. Neben seiner Detail-besessenen Stimmkontrolle, bei der jedes Vibrato, jeder Umkipper in die mehlige Kopfstimme kontrolliert klingt, beweist der 67-Jährige ein Gespür für die Konzertdramaturgie, diktiert der Band mehrfach spontane Abweichungen von der Setliste. Überhaupt ist der Spannungsbogen des eineinhalbstündigen Konzerts sehr stimmig: Aarons Schmachtballaden lösen sich ab mit kraftvollenGroovenummern wie etwa Steve Millers «Fly Like An Eagle». In diesen, den lauten, Stücken kommt mit Cyril Nevill das 60 Jahre junge Nesthäckchen zum Einsatz. Der drahtige Mann mit dem Indianer-Kopfschmuck treibt seine schneidende Stimme gerne in hohe Register, wobei er dank den Chören seiner Brüder nie die Erdung verliert. MARDI GRAS. In Songs wie «Big Chief» legen die Neville Brothers ihre Wurzeln in New Orleans offen, indem sie sich in bester «Mardi Gras»-Manier dem Zydeco und den treibenden Rhythmen der Marching Bands hingeben. Wer kein Instrument bedienen muss, hält spätestens jetzt eine Cowbell in Händen. Doch was vordergründig als rhythmisches Jekami anmutet, ist ein streng durcharrangiertes Gefüge, das ebenso überzeugt wie die solistischen Perkussionseinlagen von Cyrill Neville. Einziger Schwachpunkt des Konzertes sind die beiden Saxofon-Instrumentals (das blutleere «Besame Mucho» und das wacklige «It Don’t Mean A Thing») des freudig umhertänzelnden Charles Neville. Eher Geschmackssache dürften die beiden missionarisch anmutenden Zugaben «Amazing Grace» und «One Love/People Get Ready» sein. Dennoch: Die «kleine intime Fan-Gemeinde», wie Helmut Bürgel die rund 1000 Zuschauer anfangs bezeichnet, applaudiert noch lange nach Konzertende frenetisch weiter. Zu Recht.