JF 39 Hellhund Samples

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JF 39 Hellhund Samples
Herbert Hellhund, Hannover/Deutschland
EINE ALTE KUNST IN NEUEM LICHT – MILES DAVIS UND DIE
PARAPHRASEN-IMPROVISATION, DOKUMENTIERT DURCH DIE
QUINTETTAUFNAHMEN 1955/56
Miles Davis hatte sich Anfang 1954 nach wiederholten Versuchen von seiner Heroinabhängigkeit befreit. Sie hatte in den vier Jahren davor sein Leben nahe an den Abgrund
gebracht und ihn, nach seinem kometenhaften Aufstieg in der zweiten Hälfte der vierziger
Jahre, zu einer Randerscheinung des Jazz Life degradiert.
Nun, am Beginn seiner zweiten Karriere, fand er sich in einer veränderten Umgebung
wieder. Der Bebop hatte an Strahlkraft verloren – weniger, weil seine künstlerischen Mittel
ausgereizt waren, sondern eher, weil zu viele Vertreter seiner ersten Generation aus ganz
ähnlichen Gründen wie Davis zu einer konstanten Präsenz auf der Szene nicht mehr
imstande waren.
Eine neue und blutjunge, unverbrauchte Generation afro-amerikanischer Musiker schickte sich an, ins Rampenlicht zu treten. In ihrer frühen Jugend vom Feuer des Bebop erfaßt,
zugleich aber vertraut mit schwarzer Popularmusik, durch Lehrjahre in Big Bands auf ein professionelles Niveau gebracht, begannen sie, das Virtuosenidiom des Bebop durch Elemente aus
Blues, Rhythm and Blues und Gospelgesang zu erweitern. Rasch zeigte sich, daß diese Melange ein weitaus größeres Publikum erreichte als der elitäre Bebop es vermocht hatte.
Unübersehbar war auch der Erfolg, den einige expressiv gemäßigte Dialekte des Modernen Jazz – denen rasch die Stiletiketten Cool Jazz oder West Coast Jazz angeheftet wurden –
beim bürgerlichen und damit überwiegend weißen Publikum hatten. Der dezente Gestus in
der Musik des Modern Jazz Quartetts, George Shearings, des Tristano-Kreises, des Gerry
Mulligan- und des Dave Brubeck-Quartetts entsprach auch dem europäischen Geschmack.
Darum verwundert es nicht, daß Mitte der 50er Jahre Lee Konitz in Europa, auch unter
jungen Musikern, im Ansehen eines wegweisenden Stilisten sogar Charlie Parker übertraf.
Die Gleichzeitigkeit von stilistisch Ungleichzeitigem, das Nebeneinander von Älterem
und Neuerem, das seit der Aufsplittung des Jazz in ganz verschiedene Stilrichtungen mit dem
Ende der Swing-Ära eingetreten war, brachte nun, seit Beginn der 50er Jahre, eine Entpolarisierung. Es entstanden vielfältige Alt-Neu-Mixturen, für die der Sammelbegriff Mainstream of Jazz sich einbürgern sollte und in deren breitem Spektrum auch der Gesang wieder
einen Stellenwert erhielt, der ihm im artifiziell zu kompromißlosen Modern Jazz nicht gewährt worden war.
Über all dies war Miles Davis sich im klaren und darüber, daß er Position zu beziehen
hatte. Die Aktivitäten von Frühjahr 1954 bis Frühjahr 1955 dokumentieren in mehrfacher
Hinsicht einen Selbstfindungsprozeß, der ihn binnen eines Jahres zu einem Musiker mit
einer neuen, zugleich aber völlig ausgereiften Konzeption machte und ihn ins Zentrum des
Jazzgeschehens zurückführte; sein erster Platz in der Sparte Trompete beim Down Beat Poll
1955, einer jährlich stattfindenden Leserumfrage, war der krönende Abschluß seiner triumphalen Rückkehr ins Bewußtsein der Jazzöffentlichkeit.
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Bei dieser Neupositionierung sind mehrere miteinander eng vernetzte Ebenen erkennbar:
1. Begünstigt durch eine relative Konstanz in seinem professionellen Umfeld, und zwar
sowohl hinsichtlich seiner Mitmusiker wie auf der Produktionsseite, entwickelt er sich
zu dem visionären und inspirierenden Bandleader, der er für kleinere Besetzungen
zeitlebens bleiben wird. Die meisten Aufnahmen des Jahres 1954 spielt er mit Horace
Silver (p), Percy Heath (b) und Art Blakey oder Kenny Clarke (dr) ein, und zwar für das
kleine, aber mit Bob Weinstock von einem äußerst jazzverständigen Inhaber betreute
Label Prestige.
2. Er optimiert sein Trompetenspiel: Verzicht auf alle Ornamentik, soweit es sich nicht
um unmittelbare expressive Elemente seiner Phrasen handelt, und Verzicht auf jegliche Technik um ihrer selbst willen tragen dazu bei, zu einer puristischen und zugleich
hochexpressiven Klangwelt von einem außerordentlichen Farben- und Facettenreichtum vorzustoßen. Das offene Instrument und der Gebrauch von zunächst zwei verschiedenen Dämpfern, des Cup Mute und des Harmon, den Davis aber rasch dem
stumpfer klingenden Cup vorzieht, nutzt er zur Erzeugung eines von keinem anderen
Blechbläser des Jazz auch nur annähernd erreichten Spektrums von Klangfarben und
Stimmungen.
Und parallel zur Subtilität der Klänge, ja in wechselseitiger Abhängigkeit hiermit
findet er in der Behandlung der Rhythmik zu einem bemerkenswerten Nuancenreichtum auf der elastischen Basis eines leichten, aber hochpräzisen Swingfeelings.
3. Das Repertoire festigt sich zu einer Mischung ganz im Sinne des Zeitgeists, aber in völlig
unverwechselbarer Aufbereitung. Bei allen Aufnahmesitzungen seiner Gruppe, ebenso
bei Konzerten, erklingen Stücke auf der Grundlage des eher elementaren Bluesschemas,
einige Modern Jazz-Originals, die oftmals einem einfachen, aber wirkungsvollen Head
Arrangement unterzogen werden; rund die Hälfte der Stücke sind jedoch Standards,
inklusive der Präsentation ihres – im Bebop eher gemiedenen – thematischen Materials.
Das Interesse, das Davis, auch inspiriert von so unterschiedlichen Musikern wie Frank
Sinatra oder Ahmad Jamal, bei seinem Neustart an der Verwendung populären Songbook-Materials entwickelt, ist so stark, daß er hier seinen Repertoire-Schwerpunkt bildet. Und nachdem er 1955 mit John Coltrane (Tenorsaxophon), Red Garland (Klavier),
Paul Chambers (Baß) und »Philly« Joe Jones (Schlagzeug) eine Besetzung gefunden hat,
die für rund zwei Jahre konstant zusammenarbeiten wird, entsteht ein Konzept der
Standardinterpretation, das Generationen von Jazzmusikern inspirieren und dennoch
völlig unverwechselbar bleiben wird.
Die Persönlichkeiten seiner vier Mitstreiter sind für die Einzigartigkeit der musikalischen Ausdruckswelt dieses Quintetts von essentieller Bedeutung.
Mit dem gerade 20jährigen Paul Chambers verfügt er über einen Bassisten, der mit
wuchtigem Sound einen unbeirrbar groovenden Walking Bass spielt – verbunden mit
harmonisch und melodisch so ausgereiften Linien, daß diese Stimme sowohl als harmonisches wie als rhythmisches Fundament ausreicht und darüber hinaus oftmals kontrapunktische Qualität erreicht. Hierdurch ergeben sich Freiräume für Klavier und
Schlagzeug – die konsequenterweise mitunter sogar aussetzen, während der Baß alleine
begleitet.
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Notenbeispiel 2
MY FUNNY VALENTINE
A1)
 
  
 


 
  
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3
3
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

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
3
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
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A-7(b5)
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3
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[G7(b9)]



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3
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Abmaj7
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
 

F7
C_7
3
 
   

 
G7(b9)
Ab7
C_

  
   
D7(b9) G_7 C7(b9)
 


F_7
Bb7sus4Bb7(b9)



      



3
Auch mit Thelonious Monks zum Standard gewordener Komposition Round Midnight hat
Miles Davis sich jahrelang beschäftigt. Die auf der gleichnamigen LP 1956 veröffentlichte
Aufnahme dieses Stücks wird auch von Kerschbaumer untersucht und in Transkription der
Original-Melodie und einer weiteren Version des Jahres 1956 gegenübergestellt.3 Ein Stichwort aus Kerschbaumers Analyse der Themenvariation oder Paraphrase ist hier: Abstraktion. Dieses Stichwort sei für die folgende Betrachtung der Version von der gleichnamigen,
für Columbia aufgenommenen Platte aufgegriffen.
Wie Notenbeispiel 3 zeigt, interpoliert Davis permanent Thementeile mit eigenen melodischen Gedanken; letzteren haftet, infolge ihrer Reduktion auf nur ganz wenige Töne, die
besagte »Abstraktheit« an. Zugleich aber entfaltet sich eine solche Bandbreite klanglicher
und, parallel zur Tonhöhenentwicklung, dynamischer Mittel, daß diese melodische Reduk-
3 Ebd., S. 77 und 193ff.
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