bwv 175 - J.S. Bach

Transcription

bwv 175 - J.S. Bach
 ER RU
FET SEINE
N SCHAF
EN MIT N
AMEN
bwv 175
«er rufet seinen schafen mit namen»
ausführende
Kantate BWV 175 zum 3. Pfingsttag
Für Sopran (Vokalensemble), Alt, Tenor und Bass
Flauto dolce I–III, Tromba I+II, Violoncello piccolo,
Streicher und Basso continuo
solisten
Alt
Tenor
Bass
Sopran
Marianne Beate Kielland
Georg Poplutz
Dominik Wörner
Mirjam Berli (Choral)
Reflexion über den Kantatentext: Rüdiger Safranski
orchester der j.s. bach-stiftung
Violine
Renate Steinmann, Monika Baer
Viola
Susanna Hefti
Violoncello und
Violoncello piccolo Martin Zeller
Violone
Iris Finkbeiner
Flauto dolce
Annina Stahlberger, Teresa Hackel,
Claudia Heinisch
Tromba
Patrick Henrichs, Peter Hasel
Fagott Susann Landert
Orgel
Nicola Cumer
leitung & cembalo
Rudolf Lutz
musikalisch-theologische werkeinführung
zum kantatentext
Den Text zu dieser Kantate hatte Christiane Mariane von Ziegler, die
Tochter des früheren Leipziger Bürgermeisters Romanus, im Jahr
1728 in ihrer Sammlung «Versuch in Gebundener Schreib-Art» publiziert. Er muss aber Bach schon drei Jahre früher zur Komposition vorgelegen haben. Wie bei mehreren anderen Vorlagen dieser Dichterin
hatte Bach auch an diesem Text kleinere und grössere Änderungen
vorgenommen. Zudem bearbeitete der Komponist Sätze aus seinen
früheren Kantaten BWV 173a und 59. Die Kantate knüpft bei der Lesung des Tages, Johannes 10, 1–11 an, der Rede vom guten Hirten,
welcher seine Schafe kennt. Den für eine Kantate zum dritten Tag
einer Festzeit (Pfingsten) typischen Verzicht auf einen grossen eröffnenden Ensemblesatz hat Bach durch eine besonders farbige Instrumentierung kompensiert.
bwv 175:
«er rufet seinen schafen mit namen»
textdichter nr. 1: johannes 10,3
nr. 2– 6: christiane mariane von ziegler
nr. 7: johann rist 1651
erstmalige aufführung: 3. pfingsttag, 22. mai 1725
1. rezitativ (tenor)
Er rufet seinen Schafen mit Namen
und führet sie hinaus.
2. arie (alt)
Komm, leite mich,
es sehnet sich
mein Geist auf grüner Weide!
Mein Herze schmacht’,
ächzt Tag und Nacht,
mein Hirte, meine Freude.
3. rezitativ (tenor)
Wo find’ ich dich?
Ach, wo bist du verborgen?
O! Zeige dich mir bald!
Ich sehne mich.
Brich an, erwünschter Morgen!
4. arie (tenor)
Es dünket mich, ich seh dich kommen,
du gehst zur rechten Türe ein.
Du wirst im Glauben aufgenommen
und mußt der wahre Hirte sein.
Ich kenne deine holde Stimme,
die voller Lieb und Sanftmut ist,
daß ich im Geist darob ergrimme,
wer zweifelt, daß du Heiland seist.
5. rezitativ (alt, bass)
alt
Sie vernahmen aber nicht, was es war,
das er zu ihnen gesaget hatte.
bass
Ach ja! Wir Menschen sind oftmals
den Tauben zu vergleichen:
wenn die verblendete Vernunft nicht weiß,
was er gesaget hatte.
O! Törin, merke doch, wenn Jesus mit dir spricht,
daß es zu deinem Heil geschicht.
6. arie (bass)
Öffnet euch, ihr beiden Ohren,
Jesus hat euch zugeschworen,
daß er Teufel, Tod erlegt.
Gnade, Gnüge, volles Leben
will er allen Christen geben,
wer ihm folgt, sein Kreuz nachträgt.
7. choral
Nun, werter Geist, ich folge dir;
hilf, daß ich suche für und für
nach deinem Wort ein ander Leben,
das du mir willt aus Gnaden geben.
Dein Wort ist ja der Morgenstern,
der herrlich leuchtet nah und fern.
Drum will ich, die mich anders lehren,
in Ewigkeit, mein Gott, nicht hören.
Alleluja, Alleluja!
theologisch-musikalische anmerkungen
1. rezitativ
Eröffnet wird die Kantate mit einem Zitat aus dem Evangelium vom
guten Hirten, der seine Schafe mit Namen ruft und auf die Weide
führt.
2. arie
In der Bitte um Leitung durch den guten Hirten klingen Worte aus
Hohelied 3, 1–2 und den Psalmen 23, 1 und 43, 4 an. Wie im eröffnenden Rezitativ sorgen drei Blockflöten für ein von der Hirtenthematik inspiriertes pastorales Kolorit, das durch die verschattete e-MollTonalität einen melancholischen Zug erhält. Das sanfte Wiegen des
die Altstimme umhüllenden 12/8 -Takt gibt im Mittelteil auch redenden Seufzern und sehnsüchtigem «Ächzen» Raum.
3. rezitativ
Auch das Suchmotiv in diesem Rezitativ ist aus dem Hohelied (2,14)
geschöpft.
4. arie
Im Evangelium heisst es, dass der gute Hirt durch die Türe zu den
Schafen hineingeht. Wer anderswie einsteigt, ist ein Dieb. Die Schafe
kennen seine Stimme nicht und werden ihm nicht nachfolgen, sondern vor ihm fliehen. Bei dieser Arie hat Bach stark in den Text von
Christiane Mariane von Ziegler eingegriffen. Von Zeile drei an heisst
es im Original: «Ich werd im Glauben aufgenommen. / Du wirst der
wahre Hirte sein. / Wer wollte nicht die Stimme kennen, / die voller
Huld und Sanftmut ist / und nicht sogleich vor Sehnsucht brennen,
/ weil du der treuste Hirte bist.» Bachs Änderungen erinnern an die
Osterberichte des Johannesevangeliums vom Auferstandenen, der
durch die geschlossene Tür eintritt, von den einen erkannt und im
Glauben angenommen wird, während andere zweifeln. Mit der hochliegenden Obligatstimme des mit einer zusätzlichen e-Saite ausgestatteten (und möglicherweise auf der Schulter gespielten) Violoncello piccolo hat Bach dieser freudigen Erwartung eine Klangfarbe
verliehen, die sich gegenüber der von Fagott und Cello bestrittenen
Köthener Parodievorlage durch sonore Eindringlichkeit und Wärme
auszeichnet.
5. rezitativ
Das Zitat aus dem Evangelium (Joh. 10, 6), wonach die Jünger Jesus
nicht verstanden hätten, bezieht sich auf die Bildrede von der Türe.
Jesus erklärt: «Ich bin die Türe zu den Schafen.» Aber «die verblendete Vernunft» verstehe das eben nicht. Christiane Mariane von Ziegler
sprach mit der Anrede «Ihr Toren» die Zuhörer an. Bach formte um
und richtete sich mit dem Ruf «O Törin » an die Vernunft. Wie Bach
den dem Sänger zugewiesenen Streichersatz bei der Erwähnung des
Namens Jesu beschleunigt und belebt, ist von grosser textdeutender
Meisterschaft.
6. arie
Der zweite Teil dieser Arie lautet bei Christiane Mariane von Ziegler:
«Gnade, Gnüge, volles Leben / will er allen denen geben, / wer mit
ihm sein Creutze trägt.» Bach fügte den Gedanken der Nachfolge an
und schuf damit einen nahtlosen Übergang zum Schlusschoral. Die
Besetzung mit Bass solo und zwei obligaten Trompeten ist in Bachs
Werk singulär und verbindet auf erstaunliche Weise die heraldische
Attitüde des himmlischen Siegesfürsten mit der eleganten Kantabilität der tröstenden pfingstlichen Zusage.
7. choral
Es handelt sich um die Strophe 9 des Liedes «O Gottes Geist, mein
Trost und Rat» von Johann Rist. Das Bildwort vom Morgenstern
stammt aus dem 2. Petrusbrief 1, 19. Bach hat dafür den bereits mit
drei obligaten Instrumentalstimmen versehenen Schlusschoral der
Pfingstkantate BWV 59 von 1723/24 wiederverwendet, diesen eigenständigen Streichersatz nun jedoch drei Blockflöten übertragen und
damit die Kantate auch besetzungsmässig schlüssig gerahmt.
reflexion
Rüdiger Safranski wurde am 1. Januar 1945 in Rottweil geboren. Er
studierte ab 1965 Philosophie, Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte in Frankfurt am Main und in Berlin. 1970 gehörte er zu
den Gründungsmitgliedern der maoistisch orientierten Kommunistischen Partei Deutschlands. 1976 promovierte er mit einer Studie über
die Arbeiterliteratur in der Bundesrepublik. Anschliessend arbeitete
er als Mitherausgeber der «Berliner Hefte». 1987 liess er sich als freier
Schriftsteller in Berlin nieder. Bekannt machten ihn vor allem seine
Monographien zu Schiller, E. T. A. Hoffmann, Schopenhauer, Nietzsche, Goethe und Heidegger. Von 2002 bis 2012 moderierte Rüdiger
Safranski zusammen mit Peter Sloterdijk das «Philosophische Quartett» im ZDF. Seit Sommer 2012 nimmt Rüdiger Safranski regelmässig an der Sendung «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens teil.
2014 erhielt er den Literaturpreis der Konrad Adenauer Stiftung und
den Thomas Mann Preis. Zuletzt erschien von ihm im Hanser Verlag
«Goethe und Schiller. Geschichte einer Freundschaft» (2009) sowie
«Goethe. Kunstwerk des Lebens. Biografie» (2013). Rüdiger Safranski
ist mit der früheren Pressesprecherin des Bertelsmann-Verlages
Gisela Nicklaus verheiratet und lebt in Badenweiler.
Texte (Booklet).................................................... Anselm Hartinger, Karl Graf
Aufnahmeort............................Evangelische Kirche Trogen AR (Schweiz)
Aufnahmedatum..............................................................................22. Mai 2015
Tonmeister............................................................................ Stefan Ritzenthaler
Regie................................................................................................... Meinrad Keel
Produktion.............................................................................GALLUS MEDIA AG
copyright
© 2016, J. S. Bach-Stiftung St.Gallen (Schweiz), www.bachstiftung.ch
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DVD B299
aufnahme und bearbeitung

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