Rationale Spiritualität

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Rationale Spiritualität
Texte: 1. Korinther 4,20
Autor: Hartmut Burghoff
Predigt
Drei Wege, wie Menschen Gott erleben, haben wir bereits erkundet. Heute kommt ein
weiterer dazu: Rationale Spiritualität – Gottes Wesen verstehen! (der `intellektuelle
Stil/Typ`). Es geht dabei um die Fähigkeit, etwas geistig, also mit dem Verstand zu erfassen.
`Ratio` ist lateinisch und heisst: Verstand, Vernunft.
Ich habe einige Portraits von grossen Denkern der Moderne und Postmoderne mitgebracht:
Immanuel Kant, Sigmund Freud, Albert Einstein, Jean-Paul Sartre und auch der letzte Papst
Benedikt XVI., geb. Joseph Ratzinger. Sie haben das Denken unserer Zeit stark geprägt.
Denker-Typen (Philosophen) äussern sich zu allen Themen; auch zu Religiösen. Manchmal
ausgewogen, dann aber auch polarisierend. Hier ein Beispiel:
„Der Name Gott sollte nicht länger über die Lippen des Menschen
kommen. Dieses seit Langem durch den Gebrauch entwürdigte Wort
bedeutet nichts mehr... Das Wort Gott zu verwenden, ist eine Absage
an das Denken…“ (Arthur Adamov, französischer Schriftsteller mit
russischen Wurzeln, 1908-1970)
Für Adamov war klar: Wer an Gott glaubt, will nicht mehr denken.
Gott war für ihn einer, der das Denken behinderte, oder sogar verhinderte.
Manche Christen werden genau das Gegenteil behaupten. Das führt uns zu der Frage:
Was ist wichtiger, Glauben oder Denken?
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Für die meisten Christen ist es gar keine Frage, wo die Priorität liegen sollte. Die Lehre des
AT und NT über die zentrale Bedeutung des Glaubens ist eindeutig. Aber wir dürfen als
Christen diese beiden Dimensionen (Glauben und Denken) nicht gegeneinander ausspielen.
Wir können nicht glauben, ohne zu denken!
Darum sind für Christen mit einem rationalen Stil Glaube und Denken keine Gegensätze.
Ein erheblicher Teil des Glaubens vollzieht sich nun einmal im Akt des Denkens. Bei intellektuellen Christen ist dieser „Denk-Anteil“ einfach viel grösser als bei anderen.
Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um die Intelligenz eines Menschen. Äusserst intelligente
Menschen müssen nicht rationale Christen sein; umgekehrt braucht man keinen überdurchschnittlichen IQ, um Gott „mit ganzem Verstand“ zu lieben.
Das Kernmerkmal rationaler Christen ist dieses: Wenn sie etwas wirklich verstanden haben, fühlen sie sich Gott nah. Nachdenken über Gott ist gut; nur sollen wir nicht beim
Nachdenken stehen bleiben und uns damit zufrieden geben. Es ist wichtig, Gott zu begegnen; ihn kennenzulernen. Darum geht es bei der rationalen Spiritualität.
Das Wissen über Gott darf nicht an die Stelle der Begegnung mit Gott treten.
Klar: Wissen ist kostbar und ein nicht zu unterschätzender Schatz. Aber es darf nicht die
Begegnung mit Gott ersetzen. Sonst wird der Glaube hohl, leer, tot.
Das ist die einzigartige Chance und Möglichkeit dieses Stils: Durch das Nachdenken über
Gott ins Staunen kommen und Gott erleben.
Wieso wir denken…
Das Denken haben wir Menschen nicht selber erfunden. Gott hat uns die Rationalität, den
Verstand, als Gabe geschenkt. Du kannst diese gute Gabe nutzen, um Gott zu erleben! Erst
recht, wenn du merkst: „Ich bin so veranlagt!“
Im 5. Mose lesen wir folgenden Satz aus 5. Mose 6,5: „Und du sollst den
HERRN, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit
all deiner Kraft.“ (Luther)
Wenn wir diesen Satz lesen, müssen wir uns über die Bedeutung des Begriffs „Herz“ im
Klaren sein. Nach hebräischem Verständnis denkt der Mensch nicht mit dem Hirn, sondern
mit dem Herzen. Dort „sitzen“ zwar auch die Gefühle/Emotionen, aber sehr häufig ist das
Verstehen gemeint, die Ratio. Von daher meint der Ausdruck „Gott mit dem Herzen lieben“
nicht zuerst, ihn mit unseren Gefühlen zu lieben, sondern ihn mit unserem Verstand zu lieben.
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Intellektuelle bzw. rationale Personen in der Bibel
Eine biblische Persönlichkeit will ich hier erwähnen, bei der ich den `rationalen Stil` deutlich
sehe: König Salomo: Ganz am Anfang von seiner Karriere erschien ihm Gott im Traum und
forderte ihn auf: „Bitte, was ich dir geben soll!“ Salomo sagte: 1 Könige 3, 5,9-12 „Gib mir
ein Herz, das auf dich hört, damit ich gerechte Urteile fällen und zwischen Recht und Unrecht unterscheiden kann. Denn wie könnte ich sonst ein so riesiges Volk richtig führen?" 10 Es gefiel dem Herrn, dass Salomo gerade eine solche Bitte ausgesprochen hatte. 11 Darum antwortete Gott: "Ich freue mich, dass du dir nicht ein langes Leben gewünscht hast, auch nicht Reichtum oder den Tod deiner Feinde. Du hast mich um Weisheit
gebeten, weil du ein guter Richter sein willst. 12 Du sollst bekommen, was du dir wünschst!
Ich will dich so weise und einsichtsvoll machen, wie es vor dir noch niemand war und auch
nach dir niemand mehr sein wird.“
Von Salomos sprichwörtlicher Weisheit und seinem brillanten Verstand lesen wir in den
Sprüchen Salomos, im Buch der Prediger, im Hohelied.
Von Jesus lesen wir, dass er schon als Kind einen scharfen Verstand hatte (vgl. Lk 2,52) und
sogar im Tempel mit den führenden jüdischen Lehrern diskutierte (Lk 2,46-47).
Und Paulus: Er war ein studierter Mann mit einem scharfen Verstand. Seine theologische
Ausbildung bekam er von dem hoch angesehenen jüdischen Lehrer Gamaliel (vgl. Apg 5,34;
22,3).
Auf seiner zweiten Missionsreise ging Paulus in Athen an den Treffpunkt der griechischen
Philosophen. Dort führte er Streitgespräche mit diesen Intellektuellen. Auf dem Areopag
erklärte er ihnen dann in der „Sprache“, die sie sprachen, das Evangelium (vgl. Apg 17). An
Paulus sehen wir, dass sich Glauben und Denken keineswegs „beissen“.
Rationale Spiritualität anhand von Sprüche 3,19
Dass Gott ein denkender/rationaler Gott ist, sehen wir auch in Sprüche 3,19:
„Durch Weisheit hat der HERR die Erde gegründet; durch Einsicht/Verstand
hat er den Himmel geschaffen.“
Gott hat nachgedacht, als er Himmel und Erde geschaffen hat.
Also sollst auch du von der Gabe, die Gott die gegeben hat, Gebrauch machen: Denken –
nachdenken – prüfen – überlegen! Das entspricht Gottes Absicht mit dir. Christen, die einen
rationalen Zugang zu Gott haben, lieben dieses Nachdenken.
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Beispiel: Ein Kollege erzählte einmal, welche Momente für ihn zu den wertvollsten gehören,
in seiner Beziehung zu Gott. Er sagte: „Wenn ich in der Bibliothek sitze und eine Exegese 1
schreibe, dann begegne ich Gott.“ Viele andere empfinden eine Exegese als äusserst trockene Materie. Er nicht. Er sagt: „Hier begegne ich Gott. Ich bin fasziniert von dem, was ich
entdecke. Es führt mich zur Anbetung. Ja, Exegese ist für mich Anbetung.“
Ist theologisch-wissenschaftliche Arbeit – Anbetung?? Ja, für ihn ist es so!
Das ist nicht für jeden Menschen so.
Beispiel: Mir ist das manchmal aufgefallen, wenn wir vor Jahren in unserem Hauskreis über
die zurückliegende Predigt gesprochen haben. Da fielen Bemerkungen wie: „Also ich fand
es schwierig am Sonntag. Ich konnte nichts mitnehmen. Es war alles so theoretisch; trocken. Ich weiss nicht, was ich damit anfangen soll.“
Und nach einem anderen Gottesdienst meinte jemand in meinem Hauskreis: „Das war ein
emotionales Feuerwerk! Engagiert. Aber mir fehlte der rote Faden. Ich verstehe nicht, was
er sagen wollte. Er hätte das Ganze in 2-3 Sätzen sagen können ohne so ein Theater zu machen.“
Es gibt Unterschiede, wie wir Gott begegnen! Andere empfinden anders. Wo der eine Gottes Nähe förmlich spürt, erlebt der andere nichts.
Stärken rationaler Christen
Sie zeichnen sich aus durch ihr Ringen um theologische Klarheit, ihr Suchen
nach Begründungen. Sie sind misstrauisch gegenüber einfachen Antworten. Sie nehmen
nicht einfach alles gutgläubig hin, nach dem Motto: „So ist das nun einmal.“ Blosses „Fürwahrhalten“ von mirakulösen Dingen wäre für einen rationalen Christen nicht Glaube, sondern Aberglaube. Er will es erforschen. Deshalb hat er ein ziemlich unbefangenes Verhältnis
zur Naturwissenschaft. Er baut die Wissenschaft sogar in die Gottesbeziehung mit ein. Sein
Glaube soll keine Illusion sein.
Gefährdungen
• Sie lassen nur noch das als „authentische Gotteserfahrung“ zu, was es durch den Filter des eigenen Verstandes geschafft hat. Das bedeutet in letzter Konsequenz: „Wir
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Was ist eine Exegese? Es ist die „technische“ Vorbereitung einer Predigt: Man greift auf den griechischen Urtext zurück, analysiert die Form des Textes, recherchiert das Vorkommen bestimmter Worte in der Bibel, ackert sich durch die historischen Hintergründe usw.
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schreiben Gott vor, wie er zu wirken hat. Sollte er sich entscheiden, in einer Weise zu
handeln, die unsere Rationalität übersteigt, dann ist von vornherein sicher, dass dies
ungültige Gotteserfahrungen sind.“ (Zitat Christian Schwarz) So ist die übernatürliche
Dimension per Definition ausgeschlossen. Übernatürliche Gotteserfahrungen/Wunder sind dann reine Gefühlsduselei oder sogar Schlimmeres.
• Den Streit zu sehr lieben: Argumente gewinnen – Menschen verlieren?!
• Intellektuellen Stolz: Man bekommt den Eindruck, dass ihr Selbstwertgefühl daran
hängt, ständig die eigene intellektuelle Überlegenheit beweisen zu können. Deshalb
müssen sie unbedingt darauf achten, dass sie nicht nur ihren Kopf gebrauchen, sondern auch ihr Herz.
• Das Wissen ersetzt das Handeln nicht.
• Im Wissen verrennen: Ich hatte in der Bibelschule einen Kollegen, der im Studium
unglaublich viel gelesen hat. Er hatte ein fotographisches Gedächtnis. Er konnte alles
erklären und wusste alles. Die intensive Suche nach Erklärungen hat letztendlich dazu
geführt, dass er in eine Glaubenskrise geriet. Gott hat ihn wieder auf festen Grund
geführt. Sein Beispiel zeigt, dass man auch zu weit gehen kann.
Zum Schluss
Wieder habe ich versucht, einen Glaubensstil zu beschreiben; den Stil jener Christen, bei
denen das Denken in der Gottesbegegnung einen zentralen Platz einnimmt.
Wenn Du Deine persönliche Gottesbeziehung anders beschreiben würdest und Deine Hingabe an Jesus anders aussieht, brauchst du jetzt nicht alles anders zu machen. Bleib bei
Deinen Stärken und wachse darin. Es könnte jedoch wertvoll sein, dem Verstand etwas
mehr Gewicht zu geben, dadurch Gott vollständiger, noch tiefer zu erfahren und in Glaubenskrisen standfester zu sein. Darum geht es letztlich bei jedem Christen, unabhängig vom
Glaubensstil: Der eigene Glaube soll an Kraft und Tiefe gewinnen.
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Gebet
Lieber Vater, du grosser, ewiger Gott
Du kennst unser Herz, unsere Sinne und all unsere Gedanken. Du weisst, dass das Leben
uns manchmal Fragen stellt, auf die uns die Antwort fehlt. Du mutest uns zu, zu erfahren,
dass unserem Verstand Grenzen gesetzt sind. Danke, dass dir, deinem Verstand, deiner
Liebe und deiner Kraft keine Grenzen gesetzt sind – solange wir dir unser Herz öffnen. Lass
uns darum dich mehr lieben als unseren Verstand, mehr lieben als unsere Fragen und unsere Antworten. Aber hilf uns, in unseren Fragen, in unseren Nöten dich zu erleben. Lass
uns erfahren, dass deine Kraft uns hält, auch da wo wir an unsere Grenzen kommen. Du
sagst: Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der HERR über die, die ihn
fürchten. Psalm 103,13
So lass uns dich suchen, dich fürchten – und lass uns deine Fürsorge und Hilfe in der nächsten Woche erfahren. Amen.
Eine Auswahl an ergänzenden Bibeltexten zum selber nachlesen:
Psalm 111,10; Sprüche 1,5-7; 2,3-11; 16,21; 1. Könige 3,16-28; 5,9-14; bibl. Weisheitsliteratur
Einige Fragen, z.B. für den Hauskreis:
• Kannst Du nachvollziehen, dass bei rationalen Christen die Erkenntnis und der Verstand für die
• Gottesbeziehung eine wichtige Rolle spielen? Warum ja, warum nein? Welche Rolle
spielen sie in
• Deiner Gottesbeziehung?
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Drei Aussagen, die zum intellektuellen Glaubenstyp passen. Passen sie auch zu Dir?
☼ Ich fühle mich Gott nahe, wenn ich mehrere Stunden ununterbrochen sein Wort oder ein
gutes christliches Buch studieren und hinterher in einer Kleingruppe davon erzählen (oder
darüber diskutieren) kann.
☼ Es frustriert mich, wenn sich die Kirche zu sehr auf Gefühle und geistliche Erfahrungen
konzentriert. Es ist viel wichtiger, dass man den christlichen Glauben versteht und Glaubensinhalte vermittelt werden.
☼ Ich hätte Freude an einem Buch über Dogmatik.
Erfahrungsbericht zum `rationalen Stil` von Christian Haslebacher:
http://chrischona.ch/fileadmin/user_upload/mp3/glt-2014/gemeindeleitungstag-chrischon
a-ch-2014-spiritualitaet-im-alltag2.mp3
Zeit: 29.35 – 36.16
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