Bürgerbeteiligung ist mehr als eine Website

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Bürgerbeteiligung ist mehr als eine Website
DEUTSCHLAND
PARTIZIPATION
Bürgerbeteiligung ist mehr als eine
Website
Das Kanzleramt und die SPD fragen Internetnutzer nach ihren
Ideen. Doch sind solche Angebote oft kaum mehr als PRInszenierungen. Ein Gastbeitrag von F. Beck und L. Novy
VON Frederik
Beck;Leonard Novy | 29. Februar 2012 - 12:52 Uhr
© Spencer Platt/Getty Images
Occupy-Wall-Street-Proteste in New York
Die Frage ist eine große und eine drängende zugleich: Wie soll in Deutschland künftig
Politik gemacht werden? Wie sollen Bürger an Entscheidungen teilhaben können,
wie sollen ihre Ideen in den politischen Prozess aufgenommen werden? Seitdem so
unterschiedliche gesellschaftliche Strömungen wie die Gegner von Stuttgart 21 oder die
Occupy-Bewegung diese Frage aufgeworfen haben, wird darüber vermehrt debattiert.
Der Partizipationsforscher Dieter Rucht spricht von dem Bedürfnis nach "substantiellen
Veränderungen des Repräsentativsystems", das viele dieser Bewegungen verbinde.
Inzwischen haben auch die politischen Akteure darauf reagiert. Vor wenigen Wochen
startete die SPD-Bundestagsfraktion das Projekt Zukunftsdialog online , ein OnlineTool, über das interessierte Bürgerinnen und Bürger politische Initiativen der Fraktion
diskutieren können. Auch das Wahlprogramm der SPD soll im engen Dialog mit den
Bürgern entwickelt werden.
Das Bundeskanzleramt wiederum lässt auf dialog-ueber-deutschland.de Bürger zentrale
Zukunftsfragen wie "Wie wollen wir morgen zusammenleben?" und "Wie wollen wir
lernen?" diskutieren. Die Antworten sollen 120 Experten vorgelegt werden, mit denen sich
das Kanzleramt seit Frühjahr 2011 berät. Am heutigen Mittwoch findet dazu in Erfurt ein
Bürgerdialog mit Bundeskanzlerin Angela Merkel statt.
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DIE AUTOREN
Frederik Beck arbeitet für den Berliner Think-Tank
Das Progressive Zentrum und ist Redakteur der
Debattenplattform fortschrittsforum.de.
Leonard Novy ist Forschungsdirektor am Institut für
die Wissenschaften vom Menschen in Wien. Er lebt
in Wien und Berlin, wo er sich am Institut für Medienund Kommunikationspolitik und als Koherausgeber des
Mehrautorenblogs carta engagiert.
Beide Autoren sind Mitglieder des Fortschrittsforums.
Keine Frage: Die Einladung zur Diskussion und Partizipation trifft einen gesellschaftlichen
Nerv. Und im Idealfall können solche Prozesse helfen, Politik transparenter,
wissensbasierter und im Ergebnis besser zu machen. Häufig aber bleiben die Angebote weit
hinter den Möglichkeiten zurück. Beim Kanzlerinnen-Dialog beispielsweise können die
Nutzer Kommentare anderer Teilnehmer weder filtern noch aufeinander verweisen oder
Diskussionsstränge als erledigt markieren. Kein Wunder, dass viele Diskussionen rasch
versanden, viele Ideen unkommentiert bleiben. Zudem mag viele Bürger abschrecken, dass
Islamkritik und Cannabis-Legalisierung die populärsten Themen auf dem Portal sind.
Partizipationsangebote in der Glaubwürdigkeitsfalle
Warum haben die Gestalter des Projekts auf moderne Instrumente der
Diskussionsunterstützung verzichtet? Es ist ja davon auszugehen, dass sie sich andere
Formate und Angebote genau angesehen haben. Zurecht vermutet der Dialogexperte Hans
Hagedorn , dass eine Qualifizierung der Diskussion nicht das Ziel des Kanzleramts war.
Vielmehr ging es wohl um den PR-Effekt.
Je mehr sich das Internet zum alltäglichen Medium sozialer Interaktion entwickelt, desto
stärker werden sich Anschlussfähigkeit und Erfolg politischer Organisationen daran
bemessen, wie ernst ihre Partizipationsangebote gemeint sind. Nur wenn aus Partizipation
Politik wird, online entwickelte Vorschläge und Ideen tatsächlich in den politischen Prozess
einfließen und hier sichtbare Effekte erzielen, sind solche Angebote glaubwürdig.
Noch wichtiger ist: Angebote zur Online-Beteiligung schaffen nicht automatisch einen
umfassenderen, inklusiveren Diskurs. Schließlich erfordert jede Form der politischen
Beteiligung Zugang, Fähigkeiten und Motivation. Voraussetzungen, die zu häufig nur
von gut ausgebildeten und wohlhabenden Bevölkerungsschichten erfüllt werden. Soziale
Ungleichheiten werden im Netz eben nicht automatisch ausgeglichen, sondern existieren
in der Regel fort. Der Schritt zu mehr Beteiligung und Demokratie ist noch lange nicht
vollzogen, nur weil die Technik das Potenzial dafür liefert. Es geht also nicht nur um die
richtigen Instrumente und die Organisation von Prozessen, sondern auch um sozialen
Zusammenhalt und, ja, das Ideal der Gleichheit.
Genau hier muss ein umfassend ausgestaltetes Partizipationsversprechen ansetzen.
Zunächst müsste es individuelle Fähigkeiten als Voraussetzung für politische
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Beteiligung durch Bildungsangebote gerechter verteilen. Weiterhin geht es darum, mehr
direktdemokratische Elemente und dialog- und deliberationsorientierte Formen der
Bürgerbeteiligung einzuführen, um die Demokratie responsiver, erfahrbarer und legitimer
zu gestalten – lokal wie national, online wie offline.
Die Revitalisierung der repräsentativen Demokratie
Die schiere Zahl, aber auch die Qualität von Beteiligungsverfahren hat in den vergangenen
Jahren rasant zugenommen. Zu den bewährten Beispielen zählen methodisch innovative
Weiterentwicklungen der klassischen neuenglischen Town Hall Meetings , bei denen die
Bürger einer Kommune oder Region zusammenkommen, um über gemeinsame Belange
zu diskutieren. Ebenso Bürgerhaushalte und -panels, Konsenskonferenzen oder LiquidDemocracy -Tools wie das von den Piraten angewandte Liquid Feedback.
Auch die ursprünglich von Stanford-Professor James S. Fishkin entwickelte Methode des
deliberative polling , die seit den 1990er Jahren in den USA, seit Kurzem auch in Europa
eingesetzt wird, könnte als Beispiel dienen: Eine repräsentative Bevölkerungsgruppe
kommt für mehrere Tage zusammen, um unter der Anleitung von Moderatoren und
Experten ein gesellschaftlich strittiges Thema zu diskutieren. Es entsteht also ein Raum,
in dem sich die Beteiligten eine informierte und ausgewogene Meinung zu einem Thema
bilden können. Der Austausch von Argumenten, der demokratische Streit, wird wieder
gelernt und öffentlich zugänglich gemacht.
Aus diesen Möglichkeiten ein starkes und ehrliches Versprechen auf Beteiligung, Teilhabe
und Kollaboration zu formen, ist die Herausforderung an die politischen Akteure. Der
Versuch, Partizipation jenseits des schlichten Ja oder Nein von Bürgerentscheiden
weiterzuentwickeln, darf sich also nicht in PR-Inszenierungen erschöpfen. Es geht um nicht
weniger als um eine Revitalisierung der repräsentativen Demokratie – verstanden nicht als
Mechanismus zur Delegation von Macht, sondern als gesellschaftliche Lebensform.
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ZEIT ONLINE
ADRESSE: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2012-02/partizipation-demokratie
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