Marius Schönegge, Freiwilliger in Marokko, berichtet über

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Marius Schönegge, Freiwilliger in Marokko, berichtet über
Hallo aus Marokko!
Ich bin jetzt seit über 4 Monaten hier und nehme Marokko kaum noch als Ausland war. Ich
bin gut integriert in meinem Projekt, habe feste Aufgaben und allmählich das Gefühl nützlich
zu sein.
Aber wahrscheinlich ist es am besten ich fasse die ersten 4 Monate erstmal kurz zusammen,
damit jeder weiß, wo ich bin und was ich mache.
Mitte Juli habe ich für einen Monat mit den 6 anderen Marokko-Freiwilligen in einer WG in
Rabat gewohnt, um dort Darija-Unterricht zu bekommen. Das ist der marokkanische Dialekt
des Arabischen. Anschließend bin ich mit Helga, einer 73-jährigen Freiwilligen, nach Fes
gefahren, und habe dort in einer traumhaften, sehr marokkanischen Wohnung gelebt und in
dem Frauenhaus „IPDF“ gearbeitet. Die Frauen, die dort leben, beschäftigen sich nicht sehr
sinnvoll und wenig spielerisch mit ihren Kindern. So kommt es vor, dass ein 12-jähriger ein
4+ Puzzel aufgibt, da es zu schwer ist. Ich hab dort 3 bis 5 Kinder im Alter von 5 bis 8 Jahren
betreut, mit ihnen Fußball gespielt, leichte Rechenaufgaben geübt, gepuzzelt und rumgetollt.
Nach ca. 2 Monaten bin ich dann endlich in meine Association „DARNA“ nach Tanger
gefahren. Die Zeit in Fes war als Überbrückung gedacht, weil „DARNA“ auf Grund der
Schulferien noch in der Sommerpause war. „DARNA“ bedeutet „unser Haus“ und besteht aus
mehreren Abteilungen, der Refuge, dem MCJ, dem Frauenhaus und der pädagogischen Farm.
Ich wohne auf der pädagogischen Farm und habe hier ein kleines Zimmer, kein fließend
Wasser, dusche mit Eimer und Schöpfkelle, eine Heizung gibt es nicht. Hmm, es ist schön zu
wissen, was man alles nicht braucht um glücklich zu sein. Morgens, nach dem Aufstehen,
höre ich „Luwalida“ (das heißt Mutter auf Darija, ihr eigentlicher Name ist Habiba, aber sie
ist gewissermaßen die Mutter der Farm) „Maaaaarrriusss“ rufen, „Mesjenn?“ („Geht’s dir
gut?“) und Youssef grüßt mich mit „Sbah lixir“ (Guten morgen), manchmal gibt’s auch
Backenküsschen. Morgens esse ich immer Müsli mit Früchten, was für die Farmbewohner
sehr bizarr ist. Selbst jetzt, nach ca. 3 Monaten auf der Farm, seh’ ich sie hin und wieder ihre
Nase reinstecken und einzelne Teile probieren.
Danach geht’s an die Arbeit. Hier arbeiten zwei Betreuer, drei Männer, die für die
Landwirtschaft und die Tiere zuständig sind, eine Köchin und die Direktorin der Farm. Das
Ziel der Beschäftigung mit den rund 30 Kindern ist, die Hilfe bei den Hausaufgaben, die
umweltbezogene Erziehung, spielerische und bastlerische Betreuung, sowie Sport. Zudem soll
das geerntete Gemüse und Obst und die Tiere „Darna“ irgendwann zum Selbstversorger
machen. Davon sind wir leider noch sehr weit entfernt.
Weil ich vormittags nicht bei der Hausaufgabenbetreuung gebraucht werde, dafür kann ich
noch zu wenig Arabisch, arbeite ich mit Rachid, Bennacaire, und Youssef auf den Feldern
und helfe bei Reparaturen. Die Arbeit gestaltet sich hier jedoch anders. Alle 15 Minuten höre
ich: „Marius, bschuja bschuja“ (Langsam, langsam) oder „Rtah schuja“ (Ruh dich ein wenig
aus). Dann wird ein bisschen geschwätzt und eine Ladung Schnupftabak gezogen. Ja die
Arbeitsweise ist mit Beppo dem Straßenfeger aus Momo zu vergleichen: „Manchmal hat man
eine sehr lange Straße vor sich, man denkt, die ist so schrecklich lang, das kann man niemals
schaffen, denkt man und dann fängt man an sich zu eilen, und man eilt sich immer mehr,
jedes Mal, wenn man aufblickt sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem
liegt und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst und zum Schluss ist man
ganz aus der Puste und kann nicht mehr und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf
man es nicht machen! […] Man darf nie an die ganze Straße denken, verstehst du, man muss
nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich,
und immer wieder nur an den nächsten. Dann macht es Freude. Das ist wichtig. […] Auf
einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gekehrt hat.“
Die Arbeitsweise mag angenehmer sein, aber wie Beppo nie an die ganze Straße denkt, so
denken die Farmarbeiter nicht daran, was man aus der Farm machen könnte, wenn man sich
mehr anstrengt.
Auf dem Bild ist ein Projekt der Farm zu sehen, ein Riesenmusikinstrument, im Moment
besteht es noch nur aus Xylophonen, die Rasenfläche außenherum wird in Ermangelung eines
Rasenmähers mit der Heckenschere geschnitten. Würden wir nicht zu dritt daran arbeiten,
könnte man vermutlich, nachdem man einmal rundherum geschnitten hat, wieder von vorne
anfangen. Das Faszinierende ist, dass auch diese Arbeit mit sehr viel Geduld und guter Laune
gemacht wird. Und dies in dem Bewusstsein, es mit einem Rasenmäher in einem Vormittag
alleine erledigen zu können und wir zu dritt schon 4 Tage daran arbeiten.
Ebenso ist auch zu erklären, dass sich die Farm noch weit unter ihrem Potential befindet. Es
fehlt Geld für Investitionen in Tiere und Zeit, bzw. Arbeitskraft für das Bestellen der Beete
und das Einrichten neuer Beete. Ich habe nun in einem von den vielen nichtgenutzten
Gebäuden einen Kaninchenstall eingerichtet, dessen Insassen später auf dem Markt oder dem
Teller landen. Die Kaninchen habe ich von meinem Geld gekauft, was ich durch den Verkauf
zurückgewinnen will. Die Kaninchen bleiben am Ende meines Jahres hier auf der Farm. So
bin ich unabhängig und alleinverantwortlich für das Projekt, was sehr angenehm ist. Nächste
Woche werde ich auf dieselbe Weise einen Hühnerstall einrichten.
Nachmittags mache ich mit den Kids Bastelaktivitäten und Gruppenspiele.
Mittwochs und donnerstags bin ich in dem MaisonCentreJeunes (MCJ). Dort fahre ich mit
dem Taxi Kbir (dem großen Taxi) hin. So groß ist es gar nicht, es handelt sich um alte
Mercedese, meistens weiß, normale 5-Sitzer, nur, dass 7 Leute drinsitzen. Auf dem Land sind
es bist zu 10. Und als ich mit Stephi in die Saharagebiete gereist bin, waren am Ende 16 Leute
in diesem Jeep. (3 vorne, 4 in der Mitte, 5 im Kofferraum und 4 Leute und 2 Ziegen auf dem
Dach), siehe Foto.
Zurück zum MCJ. Hier können die Kinder Ausbildungen zum Schneider, Schreiner, Konditor,
Schweißer machen und Musikworkshops besuchen. Eine Hausaufgabenbetreuung gibt es
auch. Hier arbeite ich nachmittags mit zwei Kids der Schneiderei und möchte mit ihnen
Portmonaies für „Darna’s“ Boutique anfertigen. In der nächsten Mail schicke ich dann ein
paar Bilder der Portmonaies mit. Für den Vormittag habe ich noch keine feste Aufgabe hier,
im Moment lerne ich die Nähmaschine zu benutzen. Aber eigentlich möchte ich einen
Informatikkurs anbieten, leider gibt es dafür keine funktionsfähigen Rechner. Es existiert ein
Informatiksaal und gute Bildschirme, aber von den 6 Rechnern funktioniert nur einer und der
läuft noch mit Windows 98.
So weit zu meiner Arbeit.
Jetzt ein wenig zur Kultur und Politik. Es ist klar, dass ich hier etwas pauschalisieren muss.
In Marokko gibt es eine hohe Arbeitslosigkeit. Man sieht Leute die versuchen ihren
Lebensunterhalt auf der Straße mit einem Obstkarren oder Ähnlichem zu verdienen oder mit
Gelegenheitsjobs. Regelmäßig sicheres Einkommen ist ein Privileg. Viele Männer sitzen im
Café, trinken einen Tee, bleiben für Stunden, spielen Karten, rauchen Kif, schauen den
vorbeilaufenden Mädels nach. Studenten gehen auf die Straße, weil sie trotz eines guten
Abschlusses keinen Job finden. Die Proteste im Rahmen des Arabischen Frühlings haben zu
Gesetzesänderungen und Reformen des Parlaments geführt, doch die oberste Gewalt liegt
immer noch beim König, die Reform ist also mehr Schein als Sein. Die Presse ist weitgehend
frei, doch es gibt Tabuthemen, wie z.B. Kritik am König, Westsaharakonflikt und
Hinterfragung der Religion. Überall sieht man Bilder vom König, in der Öffentlichkeit sollte
man ihm Respekt zollen und nicht schlecht über ihn reden. Natürlich wird im stillen
Kämmerchen Kritik geäußert, aber im Vergleich zu seinem Vater hat er viel zum Positiven
gewendet und wird dafür von vielen verehrt. In den Zeitungen und Beiträgen wird von ihm als
modernem König berichtet.
Viele Marokkaner können sich nicht mit Afrika identifizieren. So wird von afrikanischer
Musik gesprochen, wenn die Musik weiter aus dem Süden kommt. Ein Mädchen sagte mir,
sie möchte nach der Schule einen Freiwilligendienst in Afrika machen. Als ich daraufhin
fragte, ob dies im Ausland ist, guckte sie mich verdutzt an. Afrika, das sei da, wo man
schwarz und arm ist.
Der Glauben ist überall wiederzufinden, 5 Gebete pro Tag sind eigentlich vorgeschrieben,
Kopftücher sind sehr weit verbreitet und es gibt sogar manchmal die Ganzkörperverschleierung, religiöse Symbole und Aufkleber, die Musik aus dem Radio, der Muezzin,
den man durch die ganze Stadt hört. Auf manchen Bergen sind Schriftzüge zu sehen: Gott, der
König und das Vaterland, Leute mit Gebetsketten in der Hand und viele religiöse
Redewendungen, sowie: Lay aoun (Gott helfe dir), Hamdullilah (Gott sei Dank), Lla yschafik (Gott möge dich heilen), Lla y-bark fik (Gott möge dich belohnen), in Schalla (wenn
Gott will). Letzteres wird oft genutzt, um sich nicht festlegen zu müssen: „Arbeitest du heute
mit mir?“, „In Schalla“!
Es bleibt ein Hintertürchen offen und lässt Raum für Unvorhergesehenes, Zusagen ohne
„Inschalla“ gibt’s selten. Daran muss man sich erstmal gewöhnen. Als ich am Anfang des
Aufenthalts hier fragte, ob das Linientaxi, in dem ich saß, auch wirklich bei der Farm hält und
ich nur ein „In Schalla“ zu hören bekam, da wurde mir mulmig. Jetzt weiß ich, dass ich „In
schalla“ auch manchmal als „Wenn Gott nichts dagegen hat“ interpretieren muss, es bleibt
Deutungsspielraum. Mittlerweile weiß auch ich, wie man den Ausdruck nutzt und bin
manchmal heilfroh, dass es ihn gibt, denn man kann sich damit sehr leicht und sehr höflich
aus der Affäre ziehen. „Wir können auch mal einen Kaffee trinken gehen“, „In Schalla“!
Doch auf der anderen Seite ist ein großer Teil der Jugend sehr offen und modern. Sie
hinterfragen die religiösen Werte und Traditionen, was selten bedeutet, dass sie nicht gläubig
sind. Einige male habe ich den Wunsch gehört, dass der gesellschaftliche Druck in Beziehung
auf Religion nachlassen soll. Es ist beispielsweise mit vielen Problemen verbunden sich als
Nichtgläubiger oder gar Atheist zu bekennen. Es wird häufig versucht die Nichtgläubigen zu
konvertieren, was bei marokkanischen Nichtgläubigen noch stärker ist als bei Ausländern.
Diese haben eh eine gesonderte Position und genießen deswegen auch mehr Toleranz.
In Bezug auf das Tragen vom Kopftuch ist die Gesellschaft tolerant. Es ist keineswegs ein
Muss ein Kopftuch zu tragen.
Die Meinung von Deutschland hier ist sehr positiv. Zwar sieht man noch ab und zu den
Hitlergruß, wenn man sagt, man komme aus Deutschland. Ja, es ist immer noch nicht in
überall angekommen, dass nur äußerst wenige Deutsche stolz auf das 3. Reich zurückblicken.
Aber abgesehen davon, wird über Deutschland in den höchsten Tönen gesprochen, vor allem
über die Maschinen, die Autos, die der Krise trotzende, florierende Wirtschaft und über die
beste Kanzlerin Merkel. Auch in Werbungen wird mal mehr, mal weniger auffällig die
deutsche Flagge verwendet. So ist z.B. auf Windeln recht groß eine deutsche Fahne zu sehen.
Darunter steht auf Französisch „In Deutschland dermatologisch getestet“. „MADE IN
GERMANY“ ist hier meist doppelt so teuer wie der Rest, und selbst „TESTED IN
GERMANY“ scheint zu beeindrucken.
So, ich hoffe, ihr habt den kleinen Ausflug genossen und seid alle wohlauf und munter.
Vielen Dank noch mal für die Spenden! Falls sich jemand noch mehr engagieren will, kann er
mir das gerne mitteilen. Hier wird Geld für die Einrichtung meines Hühnerstalls und Geld für
Maschinen zur Bearbeitung der Felder benötigt. Die Kinder essen mittags oft nur Weißbrot
mit „Vache qui rit“, das ist das billigste – kein Obst, kein Gemüse, kein Fleisch. Die Farm
könnte das, mit genügend Mitteln, günstig ändern. Freue mich über Antworten und Fragen,
die kann ich dann ja im nächsten Brief beantworten.
Beste Grüße aus Tanger
Marius