Gebaute Bilder oder: Was unterscheidet die

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Gebaute Bilder oder: Was unterscheidet die
Sabine Bock
Gebaute Bilder oder: Was unterscheidet die Wartburg vom Braunschweiger
Schloss?
aus: "E pur si muove!" Denkmalpflege findet dennoch statt. Schriften der Bauhaus-Universität Weimar. Weimar 2006, S. 61–68
In der Berichterstattung über aktuelle Architekturvorhaben und -wandlungen spielen der
Wiederaufbau, die Rekonstruktion oder die Kopie historischer Gebäude eine erstaunlich
große Rolle; beim Wiederaufbau der Dresdener Frauenkirche, der hier nicht eingehend
thematisiert werden soll, schufen Architekten und Denkmalpfleger mit dem Begriff Archäologische Rekonstruktion eine im Grunde nicht neue Kategorie der baudenkmalpflegerischen Vorgehensweise.
Spätestens seit den 1990er-Jahren, als ein privater Verein mit einem Gerüst, das mit fotorealistisch bedruckten Bahnen bespannt war – einer sogenannten Baumaske – die Vision
des wiedererstandenen Berliner Stadtschlosses in das hauptstädtische Bewusstsein stellte,
entbrannte eine öffentliche Diskussion um derartige Vorhaben. Seit dem am 13. November
2003 mit nur zwei Gegenstimmen erfolgten Bundestagsbeschluss zum Wiederaufbau des
Stadtschlosses muss die Idee als staatlich sanktioniert gelten. Es soll nun auch die Schinkelsche Bauakademie wieder entstehen; der Förderverein für die Schinkelsche Bauakademie e. V. sowie die Arbeitsgemeinschaft Nutzung und Finanzierung/Neue Bauakademie
schlugen jüngst vor, den Wiederaufbau unter der Prämisse einer "originalgetreuen Rekonstruktion der historischen Fassade und einem sich an der Nutzung orientierenden Innenausbau bei Beachtung der Proportionen und Raster" anzustreben.1 Die "provisorische Bauakademie" soll zunächst zwei Jahre stehen bleiben und in dieser Zeit Teil der Werbung für
den "originalgetreuen Wiederaufbau" sein, für den man nationale und internationale Investoren gewinnen will.2 Für die Erstellung der Baumaske für die Bauakademie hatten sich
bereits 2004 potente Sponsoren gefunden.
Wiederaufbau und Rekonstruktion sind keine neuen Phänomene, immer wieder gehören sie
– mit wechselnder Dominanz – zum Alltag des Baugeschehens. Hier soll nun hinterfragt
werden, wie es dazu kam und ob die aktuellen Wiederaufbaubestrebungen auf den gleichen
Ideen wie denen des 19. Jahrhunderts basieren, als eine erste große Welle derartiger Aktivitäten die deutschen Länder überrollte.
Seit dem späten 18., spätestens seit dem 19. Jahrhundert entfalteten sich mit dem entstehenden Nationalbewusstsein auch ein neues Geschichtsbewusstsein und die Denkmalpflege.
Angesichts bedeutender Zeugnisse deutscher Baukunst entbrannte die Frage nach dem
deutschen Nationalstaat; bedeutende nationale Ereignisse fanden an markanten Stätten
deutscher Baukunst statt. Die Wartburg kann für beides als Beleg herangezogen werden: So
findet sich in einem der Stammbücher der Burg unter dem Datum vom 15. November 1815
der Eintrag: "Man schaut ins Großherzogtum Weimar, Herzogtum Gotha, Meiningen, Hessen
– man sieht den Himmel sich über Sachsen, Preußen, Bayern, Württemberg und Österreich
wölben – doch wo ist Deutschland?"3 Und die deutschen Burschenschaften organisierten
1817 das Wartburgfest auch als Demonstration für einen deutschen Nationalstaat. Aber
nicht nur auf der Wartburg wurde der Wunsch laut, historische Bauten zu sehen, die es
nicht mehr gab; dieses Phänomen lässt sich seit dem späten 18. Jahrhundert in ganz Europa nachweisen. Mit dem französischen Carcassonne, der thüringischen Wartburg und der
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ostpreußischen Marienburg sollen drei repräsentative Beispiele kurz angesprochen und Vorstellungen der dahinter stehenden Ideen vermittelt werden.
Die Oberstadt von Carcassonne ist vor allem als befestigte Stadt des Mittelalters bekannt,
doch war der felsige Gebirgsvorsprung schon seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. besiedelt: zunächst als gallische, später als römische Siedlung, die seit dem 3./4. Jahrhundert n. Chr.
eine Stadtmauer hatte. An die westliche Seite dieser ursprünglichen Befestigungsanlage
lehnt sich die Burg, die im 12. Jahrhundert erbaut wurde. Die Befestigungsarbeiten wurden
während des ganzen 13. Jahrhunderts fortgesetzt; in dieser Zeit entstand die äußere Ringmauer und erfolgte die Modernisierung der inneren Befestigungsanlage, wodurch die Oberstadt zu einer uneinnehmbaren Festung wurde. Erst nach der Unterzeichnung des Pyrenäenvertrags im Jahre 1659 verlor Carcassonne seine strategische Bedeutung. Ab 1793 diente
die Oberstadt als Steinbruch und wurde 1850 gänzlich zum Abbruch freigegeben. Seit 1852
führte man dann unter der Leitung von Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc (1814–1879), dem
"Vater" der französischen Denkmalpflege, in großem Stil Wiederaufbauarbeiten durch, die
erst 1910 weitgehend abgeschlossen waren.4 Nahezu alle Türme und Torbauten der beiden
Mauerringe erhielten neue obere Abschlüsse, und auch die Zinnenkränze der fast drei Kilometer langen Ummauerung sind in jener Zeit entstanden. Die restaurierten Befestigungsanlagen von Carcassonne wurden zu einem französischen Denkmal der Kriegsbaukunst; dass
auch Viollet-le-Duc als Freiwilliger der Hilfslegion der Nationalgarde am DeutschFranzösischen Krieg von 1870/71 teilnahm und ihn die Niederlage Frankreichs tief traf,5 ist
als selbstverständlich anzusehen.
Über die Geschichte der Wiederherstellung der Wartburg gibt es eine Vielzahl von Veröffentlichungen, auf die hier verwiesen werden kann; anlässlich der hier publizierten Tagung
hat Ernst Badstübner die "Restauration" der Wartburg thematisiert. Und im hier interessierenden Zusammenhang ist bemerkenswert, dass man die Wartburg bzw. das, was bis dahin von ihr erhalten war, bereits 1756 als ein "Denkmal des Alterthums" erkannt hatte6 und
dass die Großfürstin Maria Pawlowna 1838 anlässlich eines Besuches auf der Burg zu ihrem
Sohn Carl Alexander, dem Erbgroßherzog von Sachsen-Weimar und Eisenach, gesagt haben soll, dass er "einmal daran denken [möchte], dies alles wiederherzustellen."7 Tatsächlich wurde in jenem Jahr der Eisenacher Baurat Johann Wilhelm Sältzer, der sich schon länger mit der Burg befasst hatte, mit der Herstellung von Plänen für die Erneuerung der
Wartburg beauftragt. Neben ihm erhielten Carl Alexander Simon, Ferdinand von Quast und
Hugo von Ritgen Aufträge, entsprechende Planungen vorzulegen; letzterer ist dann 1849
mit den Arbeiten beauftragt worden. Bis 1890 erhielt die inzwischen allgemein als Nationaldenkmal anerkannte Wartburg ihr heutiges Erscheinungsbild, das allerdings im Inneren
durch die nach 1952 durchgeführten Arbeiten teilweise wieder verloren ging.8
Von der ostpreußischen Marienburg, der im 13. Jahrhundert an der Nogat, einem Mündungsarm der Weichsel, begründeten Ordensburg der Brüder vom Deutschen Haus St. Marien, der bedeutendsten Burganlage der Deutschordensritter und seit 1309 deren Haupthaus, hatten sich ebenfalls nur Teile bis ins 19. Jahrhundert erhalten. In der Mitte des
15. Jahrhunderts war die Burg an den polnischen König gefallen, der daraufhin zeitweilig
auch dort residierte. Im 16. Jahrhundert nutzten die Schweden die Anlage mehrfach als
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Festung, die dann durch die erste Teilung Polens 1772 an Preußen fiel. Unter König Friedrich II. nutzte man die dafür teilweise umgebaute mittelalterliche Burganlage nicht nur als
Infanteriekaserne und Lagerhaus; manche Bereiche dienten auch als Steinbruch.9 Mit dem
erwachenden Nationalbewusstsein regte sich zunehmend Widerstand gegen den rücksichtslosen Umgang mit der Marienburg, dem "Monument altdeutscher Baukunst", wie Karl Friedrich Schinkel sie später in einem Bericht an den Staatskanzler von Hardenberg nannte.10
Im Jahre 1804 wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Marienburg als ein deutsches Nationaldenkmal unter Schutz stellte und dem weiteren Verfall und vorsätzlichen Beschädigungen ein Ende setzten sollte. Zunächst begann man mit der Sicherung vorhandener Teile,
stellte dann zwischen 1817 und 1842 unter der Leitung von Schinkel den Hochmeisterpalast wieder her und begann ab 1882 mit der umfassenden Rekonstruktion der Gesamtanlage.11
Wie in Carcassonne schuf man sich sowohl auf der Wartburg als auch auf der Marienburg
das Bild der mittelalterlichen Anlage aus einer Mischung von Bestand, historischer Überlieferung und freier, teilweise phantasievoller Rekonstruktion.
Spätestens mit der unter Denkmalpflegern schon legendären Diskussion um den Wiederaufbau des am Ende des 17. Jahrhunderts durch französische Truppen zerstörten Heidelberger
Schlosses verlor die Rekonstruktion von partiell verlorenen Denkmalen erstmals gleichsam
ihre Unschuld. Die Ruine wurde spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von
deutschen Patrioten als "Sinnbild deutscher Niederlage" angesehen, und die badische Regierung beabsichtigte durch den Wiederaufbau die "Tilgung der Schande". An dieser Ruine, die
im Gegensatz zu den eben angeführten Beispielen aus verschiedenen Gründen nicht wieder
aufgebaut wurde, kulminierte die von Georg Dehio formulierte Grundsatzfrage der Denkmalpflege: "Konservieren oder restaurieren?12 Auf der einen Seite stand die bisher gepflegte
Praxis des Wiederaufbaus, der Rekonstruktion und der stilistischen Bereinigung von Denkmalen, die in jeder Beziehung vollendete Bauten oder zumindest Bauten, die als Idealbilder
der Geschichte gelten konnten, zum Ergebnis oder Ziel hatten. Auf der anderen Seite stand
nun die moderne Denkmalpflege: authentisch, wissenschaftlich fundiert, aber nicht unbedingt Sehnsüchte nach Abbildern einer großen Vergangenheit stillend.
In diesem Konflikt liegen wohl auch einige der Ursachen dafür, dass die Halbwertszeiten von
Wiederaufbauten bzw. Rekonstruktionen immer kürzer wurden. So stellte man auf der Veste
Coburg sehr bald die Ergebnisse der Arbeiten aus dem 19. Jahrhundert in Frage: Durch Karl
Alexander Heideloff und Wilhelm Streib war ab 1838 begonnen worden, die landschaftsbestimmende Anlage im Süden Thüringens wiederherzustellen. Der Architekt Georg Rothbart,
der die Arbeiten ab 1852 fortsetzte, tendierte wie seine beiden Vorgänger zu einer romantischen Neugotik. Doch unter Bodo Ebhardt, der zwischen 1898 und 1929 die Arbeiten an der
Veste leitete, wurden bereits wesentliche Teile der neugotischen Rekonstruktion zugunsten
einer versachlichten Form wieder beseitigt.13
War der um 1900 stattgefundene Sinneswandel in der Denkmalpflege primär eine intellektuelle Zäsur mit materiellen Folgen, so brachte der Zweite Weltkrieg mit seinen Zerstörungen eine materielle Zäsur mit intellektuellen Folgen. Vielfach waren – und sind – die noch in
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den letzten Kriegstagen stattgefundenen Verluste wie in Dresden, Heilbronn, Würzburg und
Nürnberg kaum fassbar. Die unmittelbar folgenden Reaktionen waren zwiegespalten: Einerseits kam es vielfach zum schnellen Wiederaufbau. Man versuchte, wie zum Beispiel in
Frankfurt am Main mit dem Goethehaus und in Nürnberg mit dem Dürerhaus, möglichst
schnell Identifikationspunkte eines positiven Geschichtsbildes, die der zunehmend bewusst
werdenden Schuld gegenübergestellt werden konnten, zu schaffen, und stellte damit
zugleich auch vertraute Bilder wieder her. Denkmale waren in dieser Zeit in einem Maße wie
wohl selten vor- oder nachher Gradmesser für die Art des politischen Umgangs mit der Vergangenheit. Denn wie die Wiederaufbauten gleichermaßen als Ergebnis eines – unbewussten? – Verdrängens oder vorsätzlichen Anknüpfens an positiv gewertete Phasen und Ereignisse der eignen, nationalen Vergangenheit anzusehen sind, nutzte man andererseits die
durch den Krieg begonnenen Zerstörungen auch, um in einer Art von Bilderstürmerei bauliche Zeugnisse der Vergangenheit vollständig zu beseitigen. So kann der 1950 erfolgte Abriss des Berliner Stadtschlosses ebenso wie die Beseitigungen der Potsdamer Denkmale aus
preußischer Zeit nur als Vernichtung von gebauten Bildern des von den Kommunisten verhassten Preußen gedeutet werden.
Schon bald nach dem Ende des Krieges war in Braunschweig eine hitzige Debatte entbrannt,
was mit dem im Zweiten Weltkrieg ruinierten Schloss geschehen solle. Im Jahre 1955 übereignete das neu geschaffene Land Niedersachsen als Rechtsnachfolger des Landes Braunschweig das Schloss mit der Auflage an die Stadt, das Gebäude binnen fünf Jahren entweder instandsetzen oder abreißen zu lassen. Eine überwältigende Mehrheit der Braunschweiger Bevölkerung war für den Wiederaufbau. Es gab bereits Pläne, das Schloss zu einer
Stadthalle mit Kinos und Restaurants umzubauen, doch 1960 sorgte die mit absoluter
Mehrheit regierende SPD dafür, dass im Stadtrat ein knapper Beschluss gefasst wurde, das
Schloss abzureißen. Es war nicht nur ein ungeliebtes Symbol monarchistischer Herrschaft,
das man hier zu tilgen versuchte, für die Sozialdemokraten war es vor allem der Umstand,
dass das Schloss seit 1934 als SS-Junkerschule genutzt worden war, der zum Abrissbeschluss führte.14
Wie nach einer Schamfrist oder einer Trauerzeit fanden sich schon in den 1960er-Jahren in
der alten Bundesrepublik auch wieder politische Mehrheiten, um die in der Bevölkerung wohl
nie erloschene Sehnsucht nach den alten Bildern zu stillen. Zu den markanten Beispielen
dieses Phänomens gehört das 1529 errichtete Knochenhaueramtshaus in Hildesheim, das im
März 1945 durch alliierte Luftangriffe zerstört worden war. Zunächst errichtete man von
1962 bis 1964 an seinem Standort ein siebengeschossiges Gebäude – das Hotel Rose –
nach einem preisgekrönten Wettbewerbsbeitrag von Dieter Oesterlen (1911–1994). Im Jahre 1975 wurde dann die Gesellschaft für den Wiederaufbau des Knochenhauer-Amtshauses
gegründet,15 deren Wirken in den 1980er-Jahren von Erfolg gekrönt war: 1986 brach man
den Hotelbau ab, begann mit der 1990 vollendeten Kopie des Knochenhaueramtshauses,
und heute wirbt die Region damit, dass es "komplett aus Holz erbaut" ist und "selbst die
Nägel und Verbindungsstücke ... aus Holz" sind.16 Dass das bei der Rekonstruktion historischer Fachwerkhäuser keine Selbstverständlichkeit ist, mag ein zweites einschlägiges Beispiel belegen. Als in den 1980er-Jahren der bis dahin frei gehaltene Standort der kriegszerSeite 4
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störten Löwenapotheke in Aschaffenburg, einem um 1500 errichteten Fachwerkhaus, bebaut
werden sollte, erzwang die Öffentlichkeit, dass nicht der preisgekrönte Entwurf eines Wettbewerbes verwirklicht, sondern das Fachwerkhaus rekonstruiert wurde. Der 1995 fertig gestellte Bau fiel zwar zur absoluten Zufriedenheit der Öffentlichkeit aus: "Löwenapotheke –
Eine Fachwerk-Rekonstruktion, die begeistert! Das Engagement einer Bürgerinitiative und
eines zu diesem Zweck gegründeten Vereins machte den Wiederaufbau dieses historischen
Bauwerks aus dem 16. Jahrhundert möglich. Von 1991 bis 1995 entstand das Kleinod am
Stiftsplatz in alter Schönheit."17 Doch in Wahrheit entstand nur ein Bild, das mit der historischen Situation nicht mehr sehr viel zu tun hat: Nur der Kopfbau entstand als Kopie des
verlorenen Fachwerkhauses, etwa die Hälfte der gesamten Kubatur wird durch einen "konventionellen Stahlbeton- und Mauerwerksbau" gebildet, in dem sich auch das notwendige
Fluchttreppenhaus befindet. Aus Gründen der Statik kamen im Fachwerkbau "794 Kilogramm" V2A-Stahl und mehr als 200 Kilogramm verzinkter Stahl zum Einsatz.18
Es geht hier nur um das äußere Erscheinungsbild, um die Verpackung, mit der man gegebenenfalls einen nicht erwünschten Inhalt wie in einem Trojanischen Pferd an einem sonst
unerreichbaren Standort platzieren kann. Die inzwischen schon in Verwirklichung befindlichen Planungen für das Braunschweiger Einkaufscenter der ECE-Gruppe, die sogenannten
Schloss-Arkaden, die es mit der rekonstruierten Außenhaut des 1960 abgerissenen Schlosses im Paket gibt, ist dafür der beste Beweis: "... Oh Wunder, oh Wunder. / Das ECEKonsumkonsortium erbot sich, der verarmten Stadt Braunschweig unter die Arme zu greifen und jene Wünsche zu befriedigen, die man durch die ECE-eigene Politik so dezent zu
wecken gewußt hatte. / Marketing-Strategen nennen das 'Nachfrage generieren'. / Der
Stadt Braunschweig wurde der Wiederaufbau des Schlosses versprochen. / Für die Winzigkeit der Überlassung des restlichen Schloßparks zum Zwecke der Überbauung mit einem
Einkaufszentrum, gehobene Klasse natürlich. So mit Glas drumrum und Parkdecks oben
drauf. Zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, das konnten sich die tapferen Schneiderlein im Rathaus unmöglich entgehen lassen und entschieden (mit einer [1] Stimme Mehrheit), das Schloß im Gesamtpaket der ECE-Projekt-Gruppe haben zu wollen."19 Man hat
zwar auch im 19. Jahrhundert bei den Wiederaufbauten gelegentlich den Bestand vorsätzlich geschönt, so auf der Wartburg am Südgiebel des Vogteigebäudes einen eigens dafür
erworbenen gotischen Erker, im Inneren das aus dem Imhoffschen Haus in Nürnberg erworbene Pirckheimer-Stübchen und das Schweizerzimmer einbauen lassen,20 doch in
Braunschweig wird das Abbild des Schlosses zum Feigenblatt vor einem architektonischen
Krebsgeschwür. Eine intellektuelle Idee lässt sich hinter dem Wiederaufbau nicht erkennen, eine Idee, wie sie zum Beispiel bei der Wartburg hundert Jahre nach der "Restauration" und unter völlig anderen gesellschaftlichen Vorzeichen noch erkennbar war. Hatte Erbgroßherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach geäußert: "Meine Idee ist nämlich nach und nach die Wartburg zu einem Museum für die Geschichte unseres Hauses,
unseres Landes, ja von ganz Deutschland zu gestalten",21 so meinte Johannes R. Becher,
Dichter und Kulturminister der DDR, in seiner Rede zur Wiedereröffnung der Wartburg am
22. Mai 1954: "Wir überblicken aber auch von der Wartburg aus, wie von keiner anderen
Warte unseres deutschen Vaterlands, ein weites Reich deutscher Geschichte."22
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Solche Worte hörte man bald nicht mehr. Und wenn Bundeskanzler Gerhard Schröder feststellte: "Der Palast der Republik ist so monströs, dass ich da lieber ein Schloss hätte, einfach weil es schön ist..."23 , und der Deutsche Bundestag in seinem Beschluss vom 13. November 2003 begrüßte, "dass der Abschlussbericht der Arbeitsgruppe 'Schlossareal' an der
Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses unter Berücksichtigung der historischen Fassaden und an der Nutzungsvariante des Humboldt-Forums festhält",24 ist eine gewisse Irritation nicht zu leugnen, und man fragt sich, ob sich die Arbeitsgruppe oder die Abgeordneten den Bau des Berliner Stadtschlosses auch ohne Berücksichtigung der historischen Fassaden hätten vorstellen können und was dabei wohl herausgekommen wäre. Und bei allem
Respekt vor Hermann Wirth, als "Sühne eines Kulturverbrechens", wie er es in der Diskussion nach diesem Vortrag am 27. Juni 2005 formulierte, sieht wohl keiner der Bundestagsabgeordneten den beschlossenen Wiederaufbau; er wird wohl eher als Mittel zur Kaschierung architektonischer und städtebaulicher Defizite der Gegenwart anzusprechen sein. Und
der Wiederaufbau des Braunschweiger Schlosses stellt einen Missbrauch der Geschichte
zur Verkaufsförderung dar.
1
www.schinkelsche.bauakademie.de, Exposé vom 14. Juni 2005.
Internetpräsentation der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, www.stadtentwicklung.berlin.de/ bauen/grosse_projekte/de/bauakademie, Sommer 2005.
3
Zitiert nach: Noth, Werner, Die Wartburg, Leipzig 1967, S. 105.
4
Daten nach: Dovetto, Joseph, Carcassonne. Besichtigung mit Führung der Altstadt, Albi 1986.
5
Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band XXII, Nordhausen 2003, Spalten 1427? ff., Autor des
Stichwortes Viollet-le-Duc: Andreas Baumerich.
6
Aus den Regierungsakten Herzogs Ernst August Constantin wiedergegeben bei Gabelentz, Die Wartburg, München
1931, S. 103, hier zitiert nach: Noth, Werner, Die Wartburg und ihre Sammlungen, Leipzig 1972, S. 16.
7
Zitiert nach: Badstübner, Ernst, Die "Restauration" der Wartburg – Aspekte des Historismus und der Denkmalpflege, in: Burgen und Schlösser. Zeitschrift für Burgenforschung und Denkmalpflege, 1/2004, S. 19.
8
Ernst Badstübner, wie Anm. 7, S. 19 f.; Dehio, Georg, Handbuch ... Thüringen, München/Berlin 1998, S. 254 f.
9
Dehio, Georg, Handbuch ... Ost- und Westpreußen, München/Berlin 1993, S. 384.
10
Zitiert nach Huse, Norbert, Denkmalpflege. Deutsche Texte aus drei Jahrhunderten, München 1984, S. 49.
11
Dehio, Georg, Handbuch ... Ost- und Westpreußen, München/Berlin 1993, S. 384 f.
12
Vgl. dazu Wohlleben, Marion, Konservieren oder restaurieren? Zur Diskussion über Aufgaben, Ziele und
Probleme der Denkmalpflege um die Jahrhundertwende, Zürich 1989, hier besonders S. 74 f.
13
Vgl. Dehio. Georg, Handbuch .... Bayern I: Franken, München/Berlin 1999, S. 260 f.
14
Wikipedia-Lexikon, Stichwort Braunschweiger Schloß.
15
Vgl. Rump, Gerd, "Ein immerhin merkwürdiges Haus". Eine Dokumentation zum 25jährigen Bestehen der
Gesellschaft für den Wiederaufbau des Knochenhauer-Amtshauses, Hildesheim 1995 (Quellen und Dokumentationen zur Stadtgeschichte Hildesheims, 7).
16
www.netzgrabbler.de/tourismus/gebaeude.htm.
17
www.info-aschaffenburg.de.
18
Vgl, Kaupp, Joachim, Reizvolle Herausforderung, in: Peter Körner (Hrsg.), Die Löwenapotheke zu Aschaffenburg:
Geschichte – Zerstörung – Rekonstruktion, Aschaffenburg 1996, S. 120–133.
19
newsclick.de / Internetausgabe der Braunschweiger Zeitung, 10. Februar 2004.
20
Noth, Werner, Die Wartburg und ihre Sammlungen, Leipzig 1972, S. 20 f.
21
Aus einer Niederschrift Carl Alexanders vom 12. Februar 1841, wiedergegeben bei Baumgärtel, Max, Die
Wartburg, Berlin 1907, S. 294, hier zitiert nach Noth, Werner, Die Wartburg und ihre Sammlungen, Leipzig
1972, S. 17.
22
Becher, Johannes R., Ein Deutschland ist, soll sein und bleiben! Berlin 1954, S. 7.
23
www.stadtschloss-berlin.de, Internetpräsentation der Stadtschloss Berlin Initiative e.V., ohne Datierung des
Zitats.
24
Zitiert nach: www.berliner-schloss.de
2
Veröffentlichung des geringfügig überarbeiteten Manuskripts mit freundlicher Genehmigung der Autorin
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