Odyssee: Penelope1 Jetzo ging aus der Kammer - gottfried
Transcription
Odyssee: Penelope1 Jetzo ging aus der Kammer - gottfried
Odyssee: Penelope1 Jetzo ging aus der Kammer die kluge Penelopeia | Artemis gleich an Gestalt und der goldenen Aphrodite | Neben das Feuer setzte sie ihren gewöhnlichen Sessel | Welcher, mit Elfenbein und Silber umzogen, ein Kunstwerk | Von Ikmalios war; der Schemel unter den Füßen | Hing daran, und ein zottlichtes Fell bedeckte den Sessel | Allda setzte sich nun die kluge Penelopeia (…) [Penelopes Gespräch mit dem als Bettler verkleideten Odysseus] Ihm antwortete drauf die klugePenelopeia | Fremdling, die Tugend des Geistes und meine Schönheit und Bildung | Raubten die Himmlischen mir am Tage, da die Argeier | Schifften gen Troja, mit ihnen mein trauter Gemahl Odysseus | Kehrete jener von dannen und lebt’ in meiner Gesellschaft | Ja, dann möchte mein Ruhm wohl größer werden und schöner | Aber jetzo traur ich; denn Leiden beschied mir ein Dämon | Alle Fürsten, so viel’ in diesen Inseln gebieten | Same, Dulichion und der waldbewachsnen Zakynthos | Und so viele hier in der sonnigen Ithaka wohnen | Alle werben um mich mit Gewalt und zehren das Gut auf2 | Darum kümmern mich Fremdling’ und Hilfeflehende wenig | Selbst die Herolde nicht, des Volks geheiligte Diener | Sondern ich härmemich ab um meinen trauten Odysseus! Jene treiben die Hochzeit, und ich ersinne Verzögrung | Erst gab diesen Gedanken ein Himmlischer mir in die Seele | Trüglich zettelt ich mir in meiner Kammer ein feines | Übergroßes Geweb und sprach zu der Freier Versammlung | Jünglinge, die ihr mich liebt, nach dem Todedes edlen Odysseus | Dringt auf meine Vermählung nicht eher, bis ich den Mantel | Fertig gewirkt (damit nicht umsonst das Garn mir verderbe!) | Welcher demHelden Laërtes zum Leichengewande bestimmt ist | Wann ihn die finstere Stunde mit Todesschlummer umschattet | Dass nicht irgend im Lande mich eine Achäerin tadle | Läg er uneingekleidet, der einst so vieles beherrschte | Also sprach ich mit List und bewegte die Herzen der Edlen | Und nun webt ich des Tages an meinem großen Gewande | Aber des Nachts, dann trennt ich es auf beim Scheine der Fackeln (…) [Odysseus erzählt die Geschichte seiner Irrfahrt aus der Perspektive eines Dritten] Also täuscht’ er die Gattin mit wahrheitsgleicher Erdichtung | Aber die horchende Gattin zerfloss in Tränen der Wehmut | Wie der Schnee,den der West auf hohen Bergen gehäuft hat | Vor dem schmelzenden Hauche des Morgenwindes herabfließt | Dass von geschmolzenem Schnee die Ströme den Ufern entschwellen | Alsoflossen ihr Tränen die schönen Wangen herunter | Da sie den nahen Gemahl beweinete. Aber Odysseus | Fühlt’ im innersten Herzen den Gram der weinenden Gattin | Dennoch standen die Augen wie Horn ihm oder wie Eisen| Unbewegt in den Wimpern; denn klüglich hemmt’ er die Träne (…) [Erkennungsszene: das Ehebett]3 Ihm antwortete drauf die kluge Penelopeia | Wunderlicher, mich hält so wenig Stolz wie Verachtung | Oder Befremden zurück; ich weiß recht gut, wie 1 Odyssee, XIX, 53 ff. Homer: Odyssee. Vollständige Ausgabe in der Übertragung von Heinrich Voß. München 1980 2 vgl. das Bild „Betthupferl für meine Jungs!“ das wie eine postmodern-ironische Paraphrase dieser Textstelle wirkt: Internet | http://data5.blog.de/media/886/2709886_597a4e2a0b_m.jpeg 3 Odyssee, XXIII, 173 ff. du aussahst | Als du von Ithaka fuhrst im langberuderten Schiffe | Aber wohlan! Bereite sein Lager ihm, Eurykleia | Außerhalb des schönen Gemachs, das er selber gebauet | Setzt das zierliche Bette hinaus und leget zum Ruhen | Wollichte Felle hinein und prächtige Decken und Mäntel | Also sprach sie zum Schein, den Gemahl zu versuchen. Doch zürnend | Wandte sich jetzt Odysseus zu seiner edlen Gemahlin | Wahrlich, o Frau, dies Wort hat meine Seele verwundet | Wer hat mein Bette denn anders gesetzt? Das könnte ja schwerlich | Selbst der erfahrenste Mann, wo nicht der Unsterblichen einer | Durch sein allmächtiges Wort esleicht von der Stelle versetzte | Doch kein sterblicher Mensch, und strotzt’ er in Kräften der Jugend | Könnt’ es hinwegarbeiten! Ein wunderbares Geheimnis | War an dem künstlichen Bett; und ich selber baut’ es, kein andrer | Innerhalb des Gehegs war ein weitumschattender Ölbaum | (…) Schnitzt ihn zum Fuße des Bettes und bohrt ihn rings mit dem Bohrer | Fügete Bohlen daran und baute das zierliche Bette | Welches mit Gold und Silber und Elfenbeine geschmückt war | Und durchzog es mit Riemen von purpurfarbener Stierhaut | Dies Wahrzeichen sag ich dir also. Aber ich weiß nicht | Frau, ob es noch so ist wie vormals, oder ob jemand | Schon den Fuß von der Wurzel gehaun und das Bette versetzt hat | Also sprach er. Der Fürstin erzitterten Herz und Kniee | Als sie die Zeichen erkannte, die ihr Odysseus verkündet | Weinend lief sie hinzu, und fiel mit offenen Armen | Ihrem Gemahl um den Hals, und küsste sein Antlitz (…) Hesiod: Von der Schwierigkeit, die richtige Frau zu wählen4 Zutraun hat schon genauso wie Misstraun Männer vernichtet | Lass nicht ein Weib deinen Sinn, das den Steiß dreht, listig betören | Gleisnerisch süß dich beschwatzens, den Blick auf den Vorrat im Hause | Wer einem Weibe vertraut, der Mann hat Vertrauen zu Gaunern. Und im richtigen Alter ein Weib ins Haus dir geleiten: | Lass an dem dreißigsten Jahr nicht allzuviele dir fehlen | Noch gib viele dazu; dann passt das Alter zur Hochzeit | Aber das Weib sei vier Jahre mannbar, freie im fünften.5 | Nimm eine Jungfrau zum Weib, sie richtigen Wandel zu lehren | Und eine solche am besten, die nah bei dir selber zuhause | Doch schau in allem dich um, sonst schaffst du den Nachbarn Vergnügen | Denn es erlost sich ein Mann nichts Besseres als eine Gattin | Die etwas taugt, doch nichts so Grausliches als eine schlechte | Gierig auf Fraß; und die ihren Mann, so kräftig er sein mag | Absengt ohn eine Fackel und vor der Zeit ihn zum Greis macht.6 Antike Grabinschrift auf eine gute Ehefrau7 “Die spätestens 9 v. Chr. Verstorbene war 41 Jahre vermählt; sie ist, obschon jünger, vor ihrem Gemahl verstorben. Sein an sie gerichteter Nachruf hat sich ungefähr zur Hälfte 4 Erga kai Hemerai, V. 372 ff.; 695 ff. Hesiod: Sämtliche Gedichte – Theogonie. Erga. Frauenkataloge. Übersetzt und erläutert von Walter Marg. Darmstadt ²1984 (Zürich –München 1970), S. 323; S.339 5 Also: der Mann soll bei der Heirat (fast) doppelt so alt wie die Frau sein, nämlich um die Dreißig, die Frau noch ein Mädchen von fünfzehn bis sechzehn Jahren. 6 Erga kai Hemerai, V. 695 ff. 7 Bernhard Kytzler: Frauen der Antike. Von Aspasia bis Zenobia. Zürich 1994, S. 167 f. erhalten, doch lassen sich die meisten Ergänzungen mit hoher Sicherheit erschließen. Es entsteht das Bild einer außergewöhnlichen Römerin: Sie ist noch als Verlobte durch die Ermordung ihrer Eltern Waise geworden, wusste aber selbst die Bestrafung der Täter zu erwirken. Auch einen juristischen Angriff auf ihre Erbschaft vermochte sie selbständig abzuwehren. Sie wartete auf ihren Gatten, der am Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius auf der unterliegenden Seite teilgenommen hatte und hernach vom Sieger begnadigt wurde. Ihres Eheglückes sich zu erfreuen war ihnen nicht lange vergönnt: Das Zweite Triumvirat proskribierte den Mann, seiner Frau gelang es, ihn versteckt zu halten und seine Begnadigung seitens Oktavians, des späteren Augustus, zu erwirken. Doch musste sie die Verwirklichung der Rehabilitierung durch den zu Rom kommandierenden Lepidus unter entwürdigenden Umständen, Schlägen und Stößen erflehen. Der Ehe blieben Kinder versagt. Die Frau sah sich selbst als ursächlich und ‘schuldig’ an; sie schlug – nach vergeblichen Kuren – die Scheidung vor, so dass der Mann in neuer Ehe Nachkommen haben könnte und sie ihm wie eine Schwester oder Schwiegermutter zur Seite stehen werde. Er lehnte den Vorschlag energisch ab. Als besondere Tugend der Gestorbenen rühmt die Rede ihre Großzügigkeit, libertas (…). Daneben preist ihr Gatte ihre Züchtigkeit, Nachgiebigkeit, Freundlichkeit, Umgänglichkeit, ihr Interesse an Handarbeit mit Wolle, ihre unauffällige Kleidung und bescheidene Lebensführung sowie ihre Hingabe an den Glauben, ohne dem Aberglauben zu verfallen.” Das Gegenteil einer guten Hausfrau – Sallust (86 – 35 v.u.Z.) über Sempronia, einen Ausbund an weiblicher Freiheitsliebe, Eigensinn und Selbständigkeit Sempronia stammt aus vornehmer Familie, ist gut verheiratet (mit Decimus Iunius Brutus, Konsul des Jahres 77 v.Chr.) und hat Kinder (unter diesen Decimus Brutus Albinus, später einer von Caesars Legaten und Mördern). Darüber hinaus sieht sie gut aus, ist geistvoll und kennt sich in der griechischen wie lateinischen Literatur bestens aus. Allerdings versteht sie auch zu singen und zu tanzen, besser,als es ihrem Rufe guttut und einer wohlanständigen Dame ansteht. Mit dem Geld nimmt sie es nicht so genau, wartet auch nicht, bis Sex ihr angeboten wird, sondern sucht selbst danach.8 Die Stellung der Frau in der Antike “Es ist eine allgemeine Einrichtung des Altertums, des Orients wie der griechisch-römischen Welt, dass die Frau am politischen Leben keinen Anteil hatte. Wie sie keinen Kriegsdienst leistete, so hatte sie auch keinen Zugang zur Magistratur und zum Rat. Das fast überall auch heute noch9 geltende mulier taceat in ecclesia10 hatte sein Vorspiel in einer Zeit, als Ekklesia noch die politische Gemeinde bedeutete. Auch in Familie und Ehe musste sich die griechische Frau des klassischen Zeitalters mit einer untergeordneten Stellung abfinden. Die feierliche Form der Eheschließung kannte die Frau gar nicht als handelnde Person; die daneben vorkommende unförmliche Ehe, die auf beiderseits freiwilligem Zusammenwohnen 8 Sallust: Die Catilinarische Verschwörung, 25; 40,5 – zit. nach Bernhard Kytzler: Frauen der Antike, S. 151 Der Aufsatz erschien erstmals 1960. 10 “Die Frau schweige in der Kirche”: Paulus über die Rolle der Frau in der christlichen Gemeinde. 9 beruhte, war selten und gewann kaum einen Einfluss auf die gesellschaftliche Geltung der Frau. In den meisten Staaten stand sie ein Leben lang unter Vormundschaft, ob diese nun der Vater, der nächste männliche Verwandte oder der Gatte innehatte. Der Vater bestimmte den Bräutigam für seine Tochter, persönliche Neigung spielte dabei so gut wie keine Rolle, wohl aber die Standesgemäßheit und die Höhe der Mitgift; war die Tochter das einzige Kind, so konnte der nächste Erbberechtigte des Vaters ihre Hand verlangen. Monogamie war die Regel, ebenso war man sich darin einig, dass die Ehe lediglich der Erzeugung rechtmäßiger Kinder und der Gewinnung einer verlässlichen Hausverwalterin diente. Die Führung der Hauswirtschaft, die Aufsicht über die sklavischen Hilfskräfte, die Sorge für die kleinen Kinder – dies alles gehörte zur unbestrittenen Domäne der Frau, doch diese Domäne war streng abgeschlossen. Wir hören jedenfalls von der athenischen Frauenwohnung, dass kein fremder Mann Zutritt hatte, dass Frauen als Besucherinnen ungern gesehen wurden und dass die Herrin, wenn sie ausging, sich nicht ohne Begleitung auf der Straße bewegen durfte, es sei denn, dass ein religiöses Fest die Bande lockerte. An der Berufsarbeit und geistigen Welt des Mannes hatte die Frau kaum einen Anteil, selbst die Erziehung der Kinder wurde ihr in den entscheidenden Jahren der Entwicklung entzogen, bei deren Verheiratung hatte sie nicht mitzureden; sie wurde auch nicht gefragt, wenn der Vater die Aussetzung eines Neugeborenen entschied. Diese Unterdrückung menschlicher Regungen musste sie hinnehmen, stand doch im Falle des Konfliktes die Scheidung von seiten des Mannes (αποπομπή) drohend über ihr. Sie selbst aber konnte nur unter großer Förmlichkeit beim Magistrat die Trennung beantragen, besonders in dem Fall, dass der Mann im Rechtssinne Ehebruch begangen, d.h. die Gattin eines freien Mannes zu seinem Weibe gemacht und damit fremdes Eigentumsrecht verletzt hatte.”11 Eine Menage à trois – in Hellas und in Al-Andalus “Unter den Reden des Demosthenes findet sich aus den Jahren vor 339 v. Chr. als Nr. 59 ein 50 Seiten umfassendes Plädoyer […, dessen delikate Details der Darstellung] durchaus von Interesse [sind]. Es geht um Neaira, die als junges Mädchen mit sechs anderen von Nikarete in Korinth angekauft, aufgezogen und als Hetäre ausgebildet worden war. Nikarete verdiente gut an ihnen; zu den Kunden der Neaira zählten der Dichter Xenokleides und der Schauspieler Hipparchos. Phrynion half ihr beim Freikauf und brachte sie nach Athen, von wo sie nach zwei Jahren nach Megara floh. Stephanos brachte sie zurück; sielebte als Hetäre und unterstützte ihn; er hingegen erkannte ihre Kinder als seine eigenen, also als freigeborene Bürger an und suchte auch Neairas Status zu dem einer freien Person zu machen. Erst nach langen heftigen Auseinandersetzungen einigten sich Stephanos und Phrynion, dass sie abwechselnd zu gleich langen Zeiten auf Neaira Anspruch haben sollten.”12 11 Joseph Vogt: Von der Gleichwertigkeit der Geschlechter in der bürgerlichen Gesellschaft der Griechen (1960). In: Andreas Karsten Siems (Hg.): Sexualität und Erotik in der Antike. Darmstadt 1994, S. 120 ff. 12 Bernhard Kytzler: Frauen der Antike, S. 118 f.; siehe dazu auch Debra Hamel: Der Fall Neaira. Die wahre Geschichte einer Hetäre im antiken Griechenland. Darmstadt 2004 Die eigensinnigste, ja spektakulärste Vita einer muslimischen Frau des Mittelalters hat sicherlich Hafsa bint al-Hadjdj ar-Rakuniya aufzuweisen. Geboren 1135 in Granada, hat sie ihr ereignisreiches Leben 1191 in Marrakesch beendet. Dazwischen lagen Jahre des Ruhms und der Freizügigkeit. Der moderne Literaturhistoriker liefert dazu folgende Charakteristik. Hafsa bint al-Hadjdj ist „eine der berühmtesten Dichterinnen Andalusiens, die sich in der Literaturgeschichte vor allem durch ihre tragische Liäson mit dem Dichter Abu Dja’far ibn Sa’id einen Namen gemacht hat.“13 Hafsa genießt eine ausgezeichnete Erziehung: dass sie hoch gebildet ist, kann man ihrem literarischen Nachlass – ihren dichterischen und pädagogischen Schriften – entnehmen. „Schon bald hatte sie sich dank ihrer Schönheit und ihrer intellektuellen Fähigkeiten eine bedeutende Position bei Hofe erworben, und damals war es auch, dass sie Abu Dja’far ibn Sa’id kennen lernte, eine der brillantesten Persönlichkeiten der Stadt – zu dem sie alsbald eine leidenschaftliche Beziehung aufnahm. Ihre Biographen (Ibn al-Khatib, al-Maqqari, Ibn Sa’id) haben die poetische Zwiesprache, worin eines der berühmtesten Paare der spanisch-arabischen Literaturgeschichte einander huldigte, überliefert.“14 Tragisch wird die Beziehung in dem Moment, wo sich auch der Almohaden-Gouverneur Abu Sa’id, Sohn des Kalifen ‘Abd al-Mu’min, in Hafsa verliebt. „Hafsa versuchte die Situation durch eine Dreiecksbeziehung zu retten, mit dem Effekt, dass sich Abu Dja’far, einst ein guter Freund des Abu Sa’id, aus Eifersucht gegen diesen wandte und sich einer Rebellion gegen die Almohaden anschloss. In Málaga festgenommen, wurde er auf Befehl Abu Sa’ids eingekerkert und im Jahr 1163 hingerichtet.“15 Diese Tragödie führt zum vorübergehenden Rückzug Hafsas aus der höfischen Politik. Erst Jahre später, nachdem sie schon begonnen hat, sich als Erzieherin einen Namen zu machen, nimmt sie wieder eine offizielle Berufung an und geht als Prinzenerzieherin an den Hof des Kalifen Ya’qub alMansur nach Marrakesch. In dieser Stadt lebt sie von 1184 bis zu ihrem Tode. Ihr Oeuvre besteht vorzugsweise aus Liebeslyrik, aber auch satirische Schriften stammen von ihr, beides an ihren Geliebten gerichtet. An den Gouverneur Abu Sa’id richten sich einige Elogen Preislieder, die man natürlich im Zusammenhang mit Hafsas Liäson mit diesem Politiker lesen muss, so wie sie andrerseits Elegien über ihres ersten Geliebten, Abu Dja’fars Gefangennahme und tragischen Tod verfasst hat. „Ihre Dichtung zeichnet sich vor allem durch Sensibilität und Spontaneität aus, zwei Eigenschaften, die an sich in der spanischarabischen Poesie eher selten sind – dabei in formaler Hinsicht ohne Fehl und Tadel, ein Beweis ihrer hervorragenden literarischen Bildung.“16 Die Stellung der Frau im vorislamischen Arabien ‘Urwa Ibn az-Zubair berichtet, ‘Â’isha, die Frau des Propheten (S), habe erzählt: In vorislamischer Zeit gab es vier verschiedene Formen der Heirat und Ehe. Eine von ihnen entspricht der heutigen Heirat. Ein Mann hält bei einem anderen Mann um dessen Tochter oder Schutzbefohlene an. Das Brautgeld wird festgelegt, und dann heiratet er sie. Eine andere Art der Ehe war folgende: Der Mann sagte zu seiner Frau, wenn ihre Menstruation vorüber war: „Halte dich an den Soundso und geh eine Beziehung mit ihm ein!“ In der Folgezeit blieb der Ehemann ihr fern und rührte sie nicht an, bis sie von jenem anderen 13 José Ortega / Celia del Moral: Diccionario de Escritores Granadinos, Siglos VIII – XX. Granada 1991, S. 94 f. José Ortega / Celia del Moral: Diccionario, S. 95 15 José Ortega / Celia del Moral: Diccionario, S. 95 16 José Ortega / Celia del Moral: Diccionario, S. 95 14 Mann ein Kind erwartete. Wenn Sicherheit über ihre Schwangerschaft bestand, konnte er ihr wieder beiwohnen. Dieser Art der Ehe lag der Wunsch nach einem Kind von besonders edlem und vornehmen Blute zugrunde. Bei der dritten Kategorie von Ehe hatte eine Gruppe von nicht mehr als zehn Männern sexuelle Beziehungen zu einer Frau. Oft wurde sie schwanger und brachte ein Kind zur Welt. Einige Tage nach der Entbindung rief sie ihre Liebhaber zusammen, und keiner von ihnen hatte das Recht, dieser Zusammenkunft fernzubleiben. Sobald alle versammelt waren, sagte sie: „Ihr wisst, warum ihr hier seid! Ich habe ein Kind geboren, und es ist dein Kind, o Soundso!“ Dabei nannte sie nach Belieben den Nmen eines der Männer. Das Kind war damit diesem Mann zugewiesen, und er hatte nicht sie Möglichkeit, die Vaterschaft zurückzuweisen. Bei der vierten Art von Ehe verkehrten viele Männer mit einer Frau. Diese Frauen waren Prostituierte, sie verweigerten sich keinem. Über den Türen ihrer Häuser befestigten sie Fahnen als Zeichen für die Männer, und wer mit ihnen schlafen wollte, begab sich zu ihnen. Wenn eine solche Frau ein Kind zur Welt brachte, wurden alle ihre Liebhaber zusammengerufen und die Physiognomen eingeladen. Diese Gelehrten ordneten das Kind jenem Mann zu, den sie als den Vater erkannten. Ihm wurde das Kind zugesprochen, und es galt als sein Kind, ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte. Als Muhammad (S) gesandt wurde, um die göttliche Wahrheit zu verkünden, schaffte er diese Bräuche aus vorislamischer Zeit ab. Es blieb nur die Art von Heirat und Ehe, die heute üblich ist.17 Arbeitende Frauen im Mittelalter – die Kölner Handwerkerinnen18 „Die hohe Rechtsfähigkeit der Frauen bot eine Voraussetzung dafür, dass sie in den Zünften zu Meisterwürden aufsteigen konnten. Es gab kaum Wirtschaftszweige, in denen sie nicht zu finden waren. Nur Schneider, Harnischmacher und Tuchscherer legten Frauen Arbeitsbeschränkungen auf und auch das nur zeit- bzw. teilweise. Die Frauen dominierten als Garnmacherinnen, Goldspinnerinnen und im Seidengewerbe.19 ‚Coelsch garn, fil de Cologne‘ war ein Kölner Markenartikel, ein leinener, meist blau gefärbter Zwirn, beliebt wegen seiner Appretur und Farbenechtheit. Die Appretur des von den Garnzwirnern gezwirnten Leinengarns wurde in Köln von den Garnmacherinnen besorgt, die eine wohl schon vor 1397 bestehende Zunft bildeten. (…) Der 1397 bestätigte Amtsbrief setzt die Lehrzeit auf vier Jahre fest, die Lehrfrau durfte einmal gewechselt werden, jede neue ‚leirmeit‘ [Lehrmädchen] musste innerhalb von acht Tagen dem Garnamt gemeldet und in das Lehrtöchterbuch eingetragen werden. Hatte die Lehrtochter ausgelernt, [… konnte sie] gegen Zahlung einer Gebühr von 2 Gulden sich zu Hause eine eigene Werkstätte einrichten.“20 17 Sahîh al-Bukhârî: Nachrichten von Taten und Aussprüchen des Propheten Muhammad. Edition: Dieter Ferchel. Stuttgart 1991, S. 342 f. 18 Edith Ennen: Frauen im Mittelalter. München 1994, S. 159 ff.; vgl. auch M. Wensky: Die Stellung der Frau in der stadtkölnischen Wirtschaft im Spätmittelalter. Köln – Wien 1980 19 Vgl. damit die ähnlich bedeutende Stellung der Frau im spanisch-arabischen Granada des Spätmittelalters , ebenfalls als Produzentin im Seidengewerbe, und deren auffallend gute rechtliche Position – Gottfried Liedl: Dokumente der Araber in Spanien. Wien 1993, S. 253 ff. 20 Edith Ennen: Frauen im Mittelalter, S. 159 „Die Gewerbeaufsicht übten vom Rat betraute ‚Herren zu den Garnmacherinnen‘ aus. Mit den Garnzwirnern, die umLohn das Garn auf Rädern,d.h.auf Zwirnmühlen zwirnten, gerieten die Garnmacherinnen wiederholt in Tarifauseinandersetzungen (..). Unter den zunächst acht Kölnern, die insgesamt 12 Räder in Pacht hatten, war auch eine Frau. Unter 14 namentlich bekannten Garnradpächtern der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts waren fünf Frauen. (…) Wie bei anderen Kölner Textilgewerben betrieben die Ehemänner oft den Absatz, den Garnhandel; die im Garngewerbe tätigen Frauen waren nämlich vielfach Ehefrauen, keine alleinstehenden Frauen. An der städtischen Anleihe von 1418 beteiligte sich eine Garnmacherin mit 50 Gulden. Größere Vermögen waren in diesem Gewerbe im allgemeinen nicht zu gewinnen.“21 „Ausschließlich Frauenarbeit war zunächst die Seidenstickerei. (…) Eheliche Geburt war keine Voraussetzung der Aufnahme in die Zunft. Die Hauptseidenmacherin, die ‚heuftvrauwe‘, hatte ihre Werkstatt im eigenen Haus, wo sie eigene Töchter und fremde junge Mädchen ausbildete; auch die fremden Lehrtöchter wohnten bei ihr und waren bei ihr in Kost. (…) Die Hauptseidmacherinnen wählten jährlich zwei Frauen zu Zunftmeisterinnen und zwei Männer zu Zunftmeistern. Eheleute durften nicht gleichzeitig Zunftmeister sein. Voraussetzung für die Wählbarkeit war eheliche Geburt.“22 „Fygen Lutzenkirchen wurde 1474 Hauptseidmacherin und nahm bis 1497 insgesamt 25 Lehrtöchter auf. Ihr Ehemann Peter Lutzenkirchen war ein bedeutender Kölner Kaufmann (…) Er bezog über die Ravensburger Seide aus Valencia, als Gegengut lieferte er Kölner Goldgespinste, die für Genua und Venedig bestimmt waren. Er saß mehrmals im Rat. Fyge war öfters im Vorstand des Amtes. Mit einigen Unterbrechungen saß das Ehepaar abwechselnd 18 Jahre lang imZunftvorstand. Peter Lutzenkirchen besuchte die Brabanter Messen in Bergen op Zoom, in Antwerpen und die Frankfurter Messe. Seine Frau scheint sich an den Handelsgeschäften ihres Mannes beteiligt zu haben. Sie hat sich auch im Weingeschäft betätigt. Mit dem Tod ihres Mannes hat sie anscheinend ihren Betrieb eingestellt, vielleicht hat sie die Seidenweberei ihrer Tochter Lysbeth überlassen, die 1496 als Hauptseidmacherin zugelassen wurde. Das Ehepaar Fygen und Peter Lutzenkirchen muss sehr vermögend gewesen sein; sie besaßen mehrere Häuser.“23 „Es gab auch bedeutende Kölner Kauffrauen, auch sie meist Ehefrauen, die auf eigenverantwortlicher Gewinn- und Verlustbasis tätig waren. Der Anteil der Frauen am Kölner Gewürzimport lag 1460/68, je nach Gewürz verschieden, zwischen 1,2 und 19,6 Prozent. Auch im Handel mit Metallen und Metallwaren fällt der Frauenanteil ins Gewicht. Unter den Messinghändlern machten fünf Frauen 14 Prozent der Importeure aus und bestritten 19,2 Prozent der Messingeinfuhren (…). Für den Zeitraum von 1452 bis 1459 beträgt der Frauenanteil 30,3 Prozent. Der Stahlimport der Cathringen Broelmann (149721 Edith Ennen: Frauen im Mittelalter, S. 160 Edith Ennen: Frauen im Mittelalter, S. 160 f. 23 Edith Ennen: Frauen im Mittelalter, S. 161, 163 22 1501, 1506-1509) stand mit einem Marktanteil von 19,8 Prozent nur geringfügig dem des größten Stahlimporteurs, Gerhard Betgin mit 22 Prozent nach. Hohen Anteil an den Importen der Metalle und Metallwaren haben oft Handwerkerfrauen, die für ihre Ehemänner die Rohstoffe besorgten.“24 „Beträchtlich war der Anteil der Frauen am Gewandschnitt. Unter den sieben Frauen, die für mehr als 100 Tuche Akzise zahlten, sind fünf Nachfolgerinnen ihrer Ehemänner; Stin van Waveren hat über 20 Jahre lang den Tuchhandel ihres Mannes Wilhem auf voller Höhe unterhalten; ihr durchschnittlicher Anteil amKölner Gewandschnitt lag bei 19,2 Prozent im Jahr; sie war auch im Weinhandel tätig. Doppelberufe sind – wie im Mittelalter allgemein – oft festzustellen. Die Weinhändlerinnen waren zu einem großen Prozentsatz – bis zu 40 Prozent – Mitglieder von Ratsfamilien. Ein Überblick über die Organisationsformen der weiblichen Handelstätigkeit belegt häufig Beteiligungen an Handelsgesellschaften, Handelsreisen – allerdings mit engerem Reisehorizont als dem der Männer – und eine der männlichen ebenbürtige Führung von Rechnungs- und Haushaltungsbüchern. Grietgen van der Burg, Kauffrau in den verschiedensten Handelssparten, besaß um 1487/92 im guten Viertel St. Alban 13 Häuser.“25 „Ein Gegenstück zu Köln ist Paris. Schon Etienne de Boileau schildert in seinem undatierten Livre des métiers, das nach 1252 und vor 1271 entstand, die dominierende Bedeutung der Frauen im Seidengewerbe. Höppner konnte für Paris sechs reine Frauenzünfte nachweisen,alle im Seidengewerbe: die Seidenspinnerinnen mit großen, die Seidenspinnerinnen mit kleinen Spindeln, die Seidenwirkerinnen, die Wirkerinnen von seidenen Hauben und Mützen für Damen, die Hutmacherinnen, die Seidenhüte mit Goldstickereien für Damen anfertigten, die Börsenmacherinnen, die seidene Geldbeutelchen für Damen herstellten. Bei den Seidenspinnerinnen fungierten zwei Männer,wohl Ehemänner von Meisterinnen, als Geschworene; sie übten die Gewerbeaufsicht aus, aber ohne richterliche Kompetenz. Jede Meisterin konnte zwei bis drei weibliche Lehrlinge halten, die Lehrzeit dauerte sieben Jahre. Einige kapitalkräftige Spinnerinnen verarbeiteten eigene Rohseide zu Seidengarn, das sie selbst in den Handel brachten. Viele arbeiteten für Verleger; in Paris waren das – anders als in Köln – die Kurzwarenhändler (merciers). Sie lieferten die Rohseide und nahmen die fertig gezwirnte Seide ab. (…) Die übrigen Frauenzünfte des Seidengewerbes galten ausgesprochenen Modeberufen. In der Zunft der Wirkerinnen von kleinen Mützen und Hauben wurden die Ämter der drei Geschworenen nur mit Meisterfrauen besetzt.“26 „In vielen anderen Zünften waren Frauen vollberechtigte Genossinnen, so in den Zünften der Bortenmacher, Bändermacher, Sticker und Kurzwarenhändler. (…) Auch im Leder-, Metall24 Edith Ennen: Frauen im Mittelalter, S. 163 Edith Ennen: Frauen im Mittelalter, S. 163 f. 26 Edith Ennen: Frauen im Mittelalter, S. 164 f.; vgl. M. Höppner: Die Frauenarbeit in Paris im Mittelalter. Diss. Göttingen 1922 25 und Nahrungsmittelgewerbe standen ihnen manche Berufe offen; verboten waren ihnen die Schlächterei und die Getreidemesserei. Als Chirurgen, Barbiere und Bader waren sie vollberechtigt, als Arzneihändler beschränkt berechtigt. Nicht erwähnt werden Frauen bei den Gerbern, Schustern, Sattlern, Tischlern, Zimmerleuten, Dachdeckern, Goldschmieden und –schlägern, Bildhauern, Müllern, Getreidehändlern, Fischern und Schmieden. Höppner betont, dass unter den gewerblich tätigen Frauen verheiratete im gleichen Ausmaß beteiligt waren wie ledige.“27 „Interessant ist aber nun, dass die Frauen sich nicht nur als Hilfskräfte in einem vom Mann geleiteten Betrieb finden lassen, sondern häufig ihre eigenen Werkstätten haben. (…) Hier wird die wichtige Frage der wirtschaftlichen Position vor allem der mittleren Schichten angesprochen. Dass alleinstehende Frauen oft nur als Hökerin, Wäscherin, Magd usw. der blanken Not entgehen, das Existenzminimum bestenfalls gewinnen konnten, also der Unterschicht zuzurechnen sind, dürfte feststehen. (…) In Köln hat sich die Berufstätigkeit der Ehefrau offensichtlich nicht auf Unterschicht und untere Mittelschicht beschränkt. Die Kölner Verhältnisse legen vielmehr die Vermutung nahe, dass die selbständig als Handwerksmeisterin und Kauffrau tätige Ehefrau Familien der Mittelschicht insgesamt einen mehr oder minder großen Anteil am hohen Lebensstandard des Spätmittelalters gewährte. (…) Ermöglichte die weibliche Berufstätigkeit, das Doppelverdienertum vielleicht in manchen Fällen nicht auch dem Ehemann die jetzt breiteren Kreisen zugängliche politische Karriere? Die Ratsämter waren Ehrenämter, das machte es z.B. einem Handwerker so schwer, in den Rat zu gehen, auch wenn es in seiner Stadt möglich war. (…) Trifft unsere Vermutung zu, so entspräche das durchaus unseren modernen Verhältnissen, wo viele männliche Laufbahnen erst durch die Berufstätigkeit der Ehefrauen finanziert werden ebenso wie der hohe Lebensstandard breiter Schichten.“28 Eine Alleinerzieherin als Vormund ihres Sohnes29 Im Namen Allahs, des Mildtätigen und Barmherzigen! Gott segne Muhammad und Muhammads Familie. Gelobt sei Er, der die Menschen aus Lehm erschuf. Er hieß sie zu den Quellen des Lebens hinabsteigen und erschuf die Ehe. Er lud sie ein, diesen Stand zu wählen und verkündete dessen Vorzüge. Und in Seinem Buch – dessen Herrlichkeit gepriesen sei – erteilte Er ihnen diesen Auftrag: „Verheiratet euch, je nach eurer Neigung, mit ein, zwei, drei oder vier Frauen!“30 Beten wir für den Frieden Seines Propheten Muhammad und dessen Familie, seiner Verwandten, Freunde und Gefährten und aller, die ihm treu ergeben sind. Nun verheiratet Ali ibn Musa ibn Ibrahim ibn Ubayd Allah al-Lakhmi seine jungfräuliche Tochter Fatima – die zwar bereits verlobt ist, aber immer noch unter seiner dadurch in keiner Weise eingeschränkten väterlichen Gewalt steht – mit dem jungen Scheich Abu Ishaq 27 Edith Ennen: Frauen im Mittelalter, S. 165 Edith Ennen: Frauen im Mittelalter, S. 165 f. 29 Granadinischer Ehevertrag, datiert mit 11.11.1438 – siehe Gottfried Liedl: Dokumente der Araber in Spanien. Wien 1993, S. 253 ff. (Dokument Nr. 43) 30 Koran, Sure 4, Vers 4 28 Ibrahim ibn Ahmad, genannt „al-Hakim“31, wobei der Brautpreis sechshundert Silberdinare beträgt.32 Davon erhält der Vater der Braut [sofort] 375 Dinare in bar, wofür dem Bräutigam, Ibrahim, eine Quittung ausgestellt wird. Für den Rest des vereinbarten Betrages, der sich auf 225 Dinare beläuft, akzeptiert er einen Zahlungsaufschub von zwei Jahren, gerechnet vom Tag der Abfassung dieses Dokuments. Aisha bint Abd Allah ibn Muffaddal, Mutter und gesetzlicher Vormund des Bräutigams, stimmt diesem Ehekontrakt zu und gibt ihrer Hoffnung Ausdruck, dass er den Vertragspartnern zu Erfolg und Wohlergehen gereichen möge und dass sie mit ihrer Unterschrift den Grundstein zu allgemeiner Zufriedenheit lege.33 Als Morgengabe, nihla, übergibt der Bräutigam seiner zukünftigen Ehefrau einen in der Almunia [von Baza] gelegenen Garten, der im Süden an den Besitz der Schwester des Kontrahenten, im Norden an das Grundstück des Abu-l-Hasan, im Osten an das des Erben des Abu-l-Hasan al-Murid und im Westen an den Besitz des Abd Allah ibn Musharrif und seines Sohnes grenzt. Die nihla ist mit dem Ehekontrakt rechtlich garantiert. Die unterzeichneten Vertragszeugen geben eine jederzeit geltend zu machende Bestätigung ab: einesteils für den gesetzlichen Vertreter und Vater der Braut, Ali, und zwar bezüglich der Rechtmäßigkeit und Rechtswirksamkeit seiner vormundschaftlichen Gewalt –, andrerseits für den Bräutigam Ibrahim und seine Mutter, [nämlich] bezüglich der Vormundschaft, welche sie über ihn hat und die sie in dieser Ehevertragsangelegenheit auf rechtmäßige und rechtswirksame Weise ausübt. Was den Kontrakt als solchen betrifft, [so legen die Unterzeichneten Zeugnis darüber ab], dass sowohl der Kontrahent [der Vater der Braut] als auch die Berechtigte [die Mutter des Bräutigams] den Vertrag vollinhaltlich akzeptieren. Am Samstag, dem 18. Djumada (II) 842 [Unterschriften unleserlich]. Literatur zum Thema „Männer und Frauen der Renaissance“ Gasparino fand, dass die Aussage der Amme mit jener des Boten übereinstimmte, und zweifelte nach so vielen Beweisen nicht länger an der Wahrheit des Gehörten, und da er wohl Grund hatte, sich der Behandlung des jungen Menschen zu schämen, beschloss er, um Scacciato zu entschädigen, ihm seine schöne elfjährige Tochter mit einer großen Mitgift zur Frau zu geben. Nachdem die Verlobung mit vieler Feierlichkeit vollzogen war, bestieg er mit den jungen Brautleuten, der Amme, dem Boten ein wohlbewaffnetes Fahrzeug und sie 31 Arzt, Gelehrter, Philosoph Nach heutiger Kaufkraft rund 30.000 Euro 33 Der im Dokument gebrauchte einfache Terminus hadjr ( ), „Beschränkung“, ist bemerkenswert, deutet er doch auf einen dahinter liegenden undifferenzierten Personenbegriff, der die im islamischen (Ehe- und Erbschafts-) Recht üblicher Weise hochkomplexe Kasuistik (je nachdem, ob die Vormundschaft Mann oder Frau, Sohn oder Tochter, Ehe-, Pflegschafts- oder Vermögensverhältnisse betrifft) „geschlechtsneutral“ ersetzt. Man wird hier einen gewissen Einfluss des Römischen Rechts auf die Sharia annehmen dürfen. Besonders gravierend erscheint dieser Umstand vor dem Hintergrund der Tatsache, dass im vorliegenden Ehevertrag auch die „Vermögensvormundschaft“ (wilayat al-mal), die normaler Weise nur vom Vater, Großvater oder einem anderen männlichen Verwandten des Kindes, bei Abwesenheit eines solchen von einem (männlichen) Organ der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, der Mutter zusteht. 32 segelten nach Lerici, wo sie alle von Currado mit vielen Ehren empfangen wurden (…). Alle vereinten sich nun mit dem jungen Brautpaar und setzten sich mit frohem Sinn zur Hochzeitstafel, aber auch die nächsten Tage wurden mit Festen gefeiert, an welchen nebst Currado viele Freunde teilnahmen.34 Nur sehr schwer, meine holden Damen, sind wir im Stande, zu erkennen, was uns am besten frommt. (…) Da nun wir Männer oft in unsern Wünschen sündigen, und auch ihr, meine lieben Frauen, in euren Wünschen oft viel zu weit geht und euch allzu große Schönheit wünscht, nicht mit der zufrieden, mit der euch die Mutter Natur doch so reichlich ausgestattet hat, so will ich euch die Abenteuer einer jungen Sarazenin erzählen, die ihrer großen Schönheit wegen in der Zeit von vier Jahren neun Mal ihren Herrn wechseln musste. (…) [Nachdem die Sultanstochter nach vielen Irrungen und Wirren endlich wieder bei ihrem Vater angekommen war, wollte dieser] nun die geplante Vermählung zu Stande bringen, schrieb dem König von Algarbien, was geschehen sei, und verlangte zu wissen, ob er noch gesonnen sei, sich mit Alatiel zu vermählen. Diesen erfreute die Nachricht gar sehr und er ließ sie mit allen Ehren abholen. Sie aber, die von acht Männern vielleicht tausende Male umarmt und geliebt worden war, gab sich ihm als Jungfrau hin, indem sie ihn glauben machte, sie sei es wirklich, und lebte mit dem König lange und glücklich. Darum sagt das Sprichwort: „Geküsster Mund wird nicht wund, und wird wie der Neumond gleich wieder frisch und gesund.“ Die Damen waren sehr bewegt, während sie die Abenteuer der schönen Alatiel anhörten. Nachdem diese Erzählung zu Ende und auch viel belacht worden war, wandte sich die Königin an Elisa und bat diese, mit einer Erzählung fortzufahren.35 Ein Urteil über die Frauen von Al-Andalus (Islamisch Spanien) „Wie uns zahlreiche Quellen übereinstimmend versichern, war es in den Wohnvierteln des einfachen Volkes von Al-Andalus durchaus üblich, daß Männer und Frauen einander in der Öffentlichkeit trafen, und zwar nicht nur zum Gebet in der Moschee oder anläßlich von Hochzeitsfeierlichkeiten; eine Tendenz, die bereits auf die Almoravidenzeit zurückgeht.“ 36 Über die sprichwörtliche „Sittenlosigkeit“ islamischer Mädchen und Frauen in Spanien In Al-Andalus sind die Männer von einer Freizügigkeit, die es der Gattin erlaubt, sich in Gegenwart Fremder zu entschleiern.37 34 Il Decamerone, Zweiter Tag, Sechste Erzählung: Die Leiden einer Mutter. Giovanni Boccaccio: Decameron. Aus dem Italienischen übertragen und zeitgemäß bearbeitet von Nora Urban. Klagenfurt 2005, S. 74 f. 35 Il Decamerone, Zweiter Tag, Siebente Erzählung: Irr- und Umwege der schönen Sultanstochter auf ihrer Brautfahrt. Giovanni Boccaccio: Decameron, S. 75 f.; S. 88 36 Rachel Arié: L’Espagne musulmane au temps des Nasrides (1232-1492). Paris 1973, S. 366 37 Aus dem Memorandum eines Muhtasib, eines Polizeioffiziers – vgl. Ibn ‘Abd ar-Ra’ûf: Hisba. Edition: Évariste Lévi-Provençal (Hg.): Documents arabes inédits sur la vie sociale et économiques en Occident musulman au Moyen Age, 1e série, Trois traités hispaniques de hisba (texte arabe). Kairo 1955, S .87; frz. Übers.: Rachel Arié, in: Hespéris-Tamuda (Rabat 1960 ff.), vol.I., fasc.1, S. 32 (S. 5-38) Die Bäder suchen sie [die Frauen] aus einem von zwei Gründen auf: um sich zu prostituieren oder um Ehebruch zu begehen.38 Sie ging nur rasch ins Bad und kam nach sieben Tagen wieder.39 Küsse sie und zwick sie ruhig in den Po – den Ort, der ihrem Ehemann gehört, den lass in Ruh.40 Vertraue deiner Frau und du bist gehörnt. Obwohl ich den Schlüssel in der Tasche habe, sind fremde Männer in meinem Haus.41 Wenn ein alter Mann ein junges Mädchen heiratet, freuen sich alle jungen Burschen des Dorfes.42 Der Ärger mit jungen Mädchen endet erst im Grab.43 „In biographischen Quellen lesen wir sehr häufig, dass viele Frauen jungfräulich verstorben sind, da sie niemals verheiratet waren. Dass ein fehlendes Eheleben die Garantie für die Jungfräulichkeit war, muss hier entschieden angezweifelt werden.“44 Ibn al-Khatib (1313-1375) über die Frauen seiner Heimat Granada (Al-Andalus | Islamisch Spanien) Sie mischten sich unverschleiert unter die Männer und gemeinsam drängten sie sich durch die Pforte zum königlichen Palast. (...) Man konnte sich kaum entscheiden, was man mehr bewundern sollte: das Blitzen der königlichen Waffen oder das Funkeln der Mädchenaugen, das Rot der Standarten oder das Rouge auf den Wangen der Damen.45 38 Ibn ‘Abdûn: Hisba. Edition: Évariste Lévi-Provençal: Seville musulmane au début du XIIe siècle. Paris 1947, S. 110 39 Sprichwort über voreheliche Praktiken junger Mädchen in Al-Andalus – vgl. Nadia Lachiri: Andalusi Proverbs on Women, in: Manuela Marín / Randi Deguilhem (Hg.): Writing the Feminine. Women in Arab Sources. London – New York 2002, S. 44 40 Spanisch-arabisches Sprichwort über Petting mit verheirateten Frauen – Nadia Lachiri: Andalusi Proverbs, S. 44 41 Nadia Lachiri: Andalusi Proverbs, S. 45 42 Nadia Lachiri: Andalusi Proverbs, S. 45 43 Arabisches Sprichwort über die Freiheiten unverheirateter junger Mädchen in Al-Andalus – vgl. Nadia Lachiri: Andalusi Proverbs, S. 43 44 Nadia Lachiri: La vida cotidiana de las mujeres en al-Andalus y su reflejo en las fuentes literarias, in: Celia del Moral (Hg.): Árabes, Judías y Cristianas. Mujeres en la Europa Medieval 103-121, Universidad de Grananda 1993, S. 120 45 Über ein persönliches Erlebnis des Dichter-Wesirs anlässlich der Festivitäten beim Besuch des Sultans Yusuf I. in Guadix. Ibn al-Khatib: Khatrat at-tayf fî rihlat ash-shitâ‘ wa-s-sayf. Edition: A. M. al-‘Abbâdî, S. 50 Die Frauen von Al-Andalus stellen ihre reizvoll-üppigen Formen und das prächtige lange Haar gern offen zur Schau, ihre Konversation ist lebhaft, ihre Ausdrucksweise gepflegt – nur schade, dass großgewachsene Frauen unter ihnen eher selten sind.46 In unserer Zeit sind sie [die Damen von Granada] an einem Punkt angelangt, wo sie ihre zum Äußersten gesteigerte Kunstfertigkeit, sich zu schmücken, wohl kaum mehr wesentlich steigern können. Allein die Art und Weise, wie sie ihre Garderobe aus farblich auf einander abgestimmten Einzelteilen harmonisch zusammenstellen und im Gebrauch golddurchwirkter Seiden und Brokate wetteifern. Unübertrefflich auch die Geschmackssicherheit, mit der sie ihren Schmuck auszuwählen verstehen.47 Dialog zwischen Mann und Frau (1): 48 Hier kommt mir der Gedanke, die Geschichte des berühmten Satirikers Abu Bakr alMakhzumi zu erzählen, von dem Ibn al-Khatib in der Ihâta sagt, er sei blind und von heftigen Hustenanfällen geplagt gewesen, bösartig, ein Meister der Satire, von dem der gute Ruf seiner Mitmenschen abhing, ein schlagfertiger, scharfsinniger und kluger Wortfechter, ein Sieger auf dem Felde der Satire, der aber, wenn er sich als Panegyriker [Verfasser von Lobgedichten] versuchte, meist versagt haben soll. Als er eines Tages mit seiner Schülerin Nazhûn beim Gouverneur von Granada, Abu Bakr ibn Sa’id, eingeladen war, und der Duft von Ambra, Aloe und Blüten ihn erregte, sprach er folgende Verse: „Ist dies Sa’ids Palast oder das Paradies? Wonach das Herz Verlangen spürt, das Herz genießt’s! Die Gläser füllt mit Ambrawein ein Wolkenbruch, vom Instrumenten-Donnerschlag heraufgeführt ...“ So wäre das wohl endlos weiter gegangen, wenn den Blinden nicht plötzlich ein fürchterlicher Hustenanfall geschüttelt hätte. „Auf baldiges Ersticken!“ ließ sich sein ehemaliges Sängermädchen, die jetzige Geliebte des Gouverneurs, fröhlich vernehmen. „Wer ist diese Dirne?“ keuchte der Blinde. „Deine mütterliche Matrone“. „Freunde, hört ihr, wie frech dieses Mädchen lügt? Wenn das die Stimme einer Matrone ist, bin ich König Salomon. Nein, nein! Ich vernehme den Ton einer dreisten Dirne, deren ‚Blumenstrauß‘ meilenweit zu riechen ist!“ „Aber Meister,“ schaltete sich der Wezir, Nazhûns Geliebter, ein. „Wie kannst du so etwas sagen. Du sprichst mit der gebildeten Dichterin Nazhûn.“ – „Mashallah! Hab‘ schon von ihr gehört. Das ist doch die, von der es heißt, sie singe am liebsten das Lied von der durchgerittenen Bettstatt.“ Darauf die Dichterin: „So ein dummer alter Scheich. Freunde! Wo doch jeder weiß, dass es für ein Mädchen nichts Besseres gibt als eine weiche Bettstatt mit was Hartem drauf.“ Und dann setzte sie noch eins drauf: „Dem Flegel sag‘ ich nun ein Wort, das bis zum Jüngsten Tag lebt fort: Dein Lied kommt aus ‘nem Kuhdorf her, der reinste Mist, nur stinkt es mehr. So geht’s, wenn Tölpelei sich regt und stolz den runden Steiss bewegt. An dein Lied häng ich meines an. Nun sage, wer es besser kann. Dem Leib nach bin ich zwar ein Weib, beim Dichten aber wie ein Mann!“49 46 Ibn al-Khatib: Al-Lamha al-badriyya fî d-dawla an-nasriyya, Edition: Kairo 1347 H., S. 29 Ibn al-Khatib: Al-Lamha al-badriyya, S. 29; Ibn al-Khatib: Al-Ihâta, Teil-Edition: Kairo 1375 H. / 1955, S. 146 48 Der Bericht aus dem 15. Jahrhundert bezieht sich auf ein Ereignis im 12. Jahrhundert. Al-Maqqari: Nafh attib min ghusn, I, S. 117-119, nach Wilhelm Hoenerbach: Islamische Geschichte Islamische Geschichte Spaniens. Übersetzung der A’mâl al-a’lâm und ergänzender Texte. Zürich - Stuttgart 1970, S. 496 ff 49 Nachdichtung Gottfried Liedl: Mediterraner Islam (2 Halbbände). Wien 2007, Halbband 2, S. 124 ff. 47 Dialog zwischen Mann und Frau (2): 50 Also, meine noblen Kameraden, Gefährten und Freunde – die Sache ist die ... Neulich, ich hatte eben mein Haus betreten, um wie gewöhnlich dort mein Mahl einzunehmen – was glaubt ihr, bekomme ich von der Hausfrau, der Hüterin des heimischen Herdes zu hören? „Du hast vielleicht Nerven, hierher zu kommen! Was willst du überhaupt noch bei mir?“ – „Ich komme,“ erwidere ich, „wegen diesem und jenem – zum Beispiel: Was gibt’s zu essen?“ – „Gar nichts. Nicht für dich! ... Wenn ich da an den Mann der Nachbarin denke …“ – „Der Mann unserer Nachbarin?“ – „Ja. Der hat an das Fest51 gedacht. Wie sie es feiern werden.“ Ich: „Wie recht du hast! Die Wahrheit selbst redet aus deinem Munde. Gleich mach’ ich mich auf den Weg und auf die Suche nach dem Gewünschten! ... Dein Wunsch ist mir Befehl, ohne Fleiß kein Preis, wie man so sagt.52 Soll sich vielleicht das Weib um den Einkauf des Bratens kümmern und der Mann sitzt zu Hause am Spinnrad?“ Darauf sie: „Worte drechseln, das kannst du. Und mit irgendwelchen Windbeuteln zusammenhocken ... Man sieht dich ja nur mehr in Begleitung von Vagabunden. Wenn dir schon deine Ehefrau egal ist, könntst du wenigstens an deine Familie denken ...“ So in der Art eben. Ihr kennt das ja: das Weib keift wie der Teufel. Bis mir der Kragen platzt: „Hervorragend. Hast du‘s wieder geschafft – ich hab’ die Nase voll von dir und deinem Gemecker.“ Darauf sie: „Dass du’s nur weißt: Sollte ich je wieder so dumm sein, dich in mein Bett zu lassen, will ich zur Strafe ein Jahr lang fasten.“ Aber da war ich schon glücklich auf der Straße, während sie hinter mir weiter Grimassen schnitt. Honoré de Balzac über Katharina von Medicis „Harem“, den diese ihrem Gemahl, dem König von Frankreich eingerichtet hatte: [Zu diesen Nymphen gehörte die] Crème de la Crème [des westeuropäischen Adels:] Miss Flemming […], eine Verwandte ihres Oheims, des Herzogs von Albany, die schönste Person, die man sich vorstellen kann, blond und weiß, dann eine ihrer Verwandten, Clarissa Strozzi, eine wundervolle Italienerin mit herrlichen schwarzen Haaren und Händen von seltener Schönheit, dann Fräulein Lewiston, Maria Stuarts Ehrendame, Maria Stuart selber, Madame Elisabeth von Frankreich, die nachmals unglückliche Spanienkönigin, und Madame Claudia. Elisabeth war neun, Claudia acht, Maria Stuart elf Jahre alt. Der König widerstand nicht.53 Blick auf die großen Frauen der Renaissance aus der Perspektive eines modernen Kulturhistorikers (1): 50 Ibn al-Murâbi’ al-Azdî: “Maqâma des Festes”, Edition: Fernando de la Granja: Maqâmas y Risâlas andaluzas. Madrid 1976, S. 187 ff. 51 ‘Îd al-adhhâ, das islamische Opferfest. 52 wörtl.: „Ernsthaftigkeit ist nicht in der Posse (zu finden)“. 53 Honoré de Balzac: Geschichte der Katharina von Medici, zit. nach Wilhelm Rüdiger: Die Welt der Renaissance. München 1977, S. 199 Die Aragonesen von Neapel waren die Bastardlinie des Hauses (…), der große Federigo von Urbino war vielleicht überhaupt kein Montefeltro. [Über die] acht Bastarde vom Haus Este [lässt sich berichten, dass einer von ihnen] der regierende Herzog Borso [war, wozu noch] zwei uneheliche Söhne seines ebenfalls unehelichen Bruders und Vorgängers Leonello [kamen]. Letzterer hatte außerdem eine rechtmäßige Gemahlin gehabt, und zwar eine uneheliche Tochter Alfons’ I. von Neapel, von einer Afrikanerin.54 Dieses Geschlecht Sforza gewährt überhaupt das Interesse, dass man die Vorbereitung auf das Fürstentum von Anfang an glaubt durchschimmern zu sehen. (…) Francescos bereits hochberühmter Vater Jacopo hatte zwanzig Geschwister, alle rau erzogen in Contignola bei Faenza … Die ganze Wohnung war lauter Arsenal und Wachstube, auch Mutter und Töchter völlig kriegerisch. (…) Jacopo, als er in verschiedenen Diensten allmählich emporkam, zog auch seine Angehörigen nach sich und genoss durch dieselben die nämlichen Vorteile, die einem Fürsten eine zahlreiche Dynastie verleiht. Diese Verwandten sind es, welche die Armee beisammenhalten, während er im Castel nuovo zu Neapel liegt; seine Schwester nimmt eigenhändig die königlichen Unterhändler gefangen und rettet ihn durch dieses Pfand vom Tode.55 Blick auf die großen Frauen der Renaissance aus der Perspektive eines modernen Kulturhistorikers (2): Die modernen Männer von damals wünschten sich Frauen – wenn auch nicht die eigenen – von anderem Zuschnitt, sie hielten nicht mehr so viel vom heiligmäßigen Lebenswandel und schielten eher nach Vorbildern, die, am Moralkodex gemessen, gar nicht vorbildlich gewesen waren: die Gefährtinnen großer Männer des Altertums, die Hetären waren das Wunschbild der Renaissanceherren. (…) [Imperia, die Mätresse des Papstes, war] zu allen sonstigen Vorzügen obendrein eine hochgebildete Person, die griechisch und lateinisch las, Sonette dichtete und Musik machen konnte. (…) „Bildung“ gehörte wie Schönheit und Juwelen zur Ausstattung einer Edelkurtisane: Aretino berichtet von einer „Buhlerin“, die den ganzen Petrarca und Boccaccio auswendig kannte und Verse aus Vergil, Ovid und Horaz zu zitieren wusste. 56 Briefe aus der Toskana über Mädchen, Konkubinen und Ehefrauen „Margheritas Briefe lassen auf eine starke und unkomplizierte Persönlichkeit schließen. Dem weiblichen Idealtyp der Zeit entspricht sie jedoch in keiner Weise: Sie war keine Beatrice und sie war keine Griselda. Sie war ein junges Mädchen, das mit sechzehn an einen Mann verheiratet wurde, den das Leben bereits ausgelaugt und aller Illusionen beraubt hatte, und der von ihr vor allem anderen das erwartete, was sie ihm nicht geben konnte: ein Haus voller Kinder. (…) Dem lebhaften und temperamentvollen Mädchen, das sie trotz allem geblieben 54 Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. [Neudruck der Ausgabe von 1860, hgg. von Konrad Hoffmann]. Stuttgart 1985, S. 13 f. 55 Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien, S. 16 56 Wilhelm Rüdiger: Die Welt der Renaissance, S. 184 war, ging natürlich das ewige Nörgeln und Jammern ihres Mannes über geschäftliche Sorgen auf die Nerven, und sie ärgerte sich gründlich darüber. Und doch suchte sie, als allem immer das Beste zu machen. (…) Und als sie jede Hoffnung aufgegeben hatte, selbst Kinder zu bekommen, willigte sie zu guter Letzt sogar ein, das uneheliche Kind ihres Mannes zu adoptieren und aufzuziehen, obwohl seine Mutter nur eine Sklavin war.“ 57 Ich glaube Dir kein Wort von dem,was Du schreibst. Ich würde schwören, dass Du mir über alle anderen Dinge niemals Lügen auftischt, aber darüber, dass Du Dir eine Hure hältst [hier ist die Seite zerrissen! Anm. Iris Origo], über dieses Thema könnte ich schwören, hast Du mir noch nie die Wahrheit gesagt … Dass Du mit mir Frieden schließen möchtest, freut mich; ich hatte nie Krieg mit Dir. Ich weiß nicht, was Du für ein Geschenk mitbringen wirst. Wenn ich es habe, werde ich mich bedanken. Es ist ja sonst nicht gerade Deine Gewohnheit, mir zu viele Geschenke mitzubringen, wenn Du heimkommst.58 Was Dein Fernbleiben bis Donnerstag angeht, so tue, was Du für richtig hältst, denn Du bist ja der Herr im Haus, was ein schönes Amt ist, das aber mit Maß und Ziel ausgeübt werden will. Ich bin durchaus bereit, mit Dir zusammenzuleben, solange es Gott gefällt. Mehr sage ich dazu nicht, denn ich bin im Recht. Das kannst Du mir auch dadurch nicht nehmen, dass Du schreist und schimpfst.59 Schicke morgen früh durch Nanni da Santa Chiara den Rebzweig mit den Weinbeeren und das Brot. Und schicke das Fass Essig … und denk daran, dem Maultier die Beine bis zu den Hufen hinunter mit heißem Wasser abzuwaschen, und lass es gut versorgen. Sorge dafür, dass mir Strumpfhosen gemacht werden und lass sie von Meo besohlen. Und gib der alten Mähre etwas von der Hirse, die Du noch hast, und sorge dafür, dass sie gut zerquetscht wird für sie. Und mach, dass Du schnellstens die zwei Fässer Wein verkaufst, die in Bettinos Haus stehen, und lass alle übrigen großen Fässer im Gewölbe mit dem schon angebrochenen weißen Wein nachfüllen.60 Du erzählst von Guido, dass seine Frau ihm noch nie Verdruss bereitet habe. Ich glaube ja, dass er die Wahrheit sagt; aber ich glaube, er hat ihr noch weniger Verdruss bereitet, als sie ihm. Und Guido kann nicht nur eine Frau regieren, er regiert ja eine ganze Stadt. Ich habe mich recht genau bei Ser Lapo und bei seiner Schwiegertochter erkundigt, die hier war, wie 57 Iris Origo: „Im Namen Gottes und des Geschäfts“. Lebensbild eines toskanischen Kaufmanns der Frührenaissance. München 1986, S. 145 58 Monna Margherita an ihren Ehemann Francesco di Marco Datini, zit. nach Iris Origo: „Im Namen Gottes und des Geschäfts“, S. 148 59 Monna Margherita an ihren Ehemann Francesco, zit. nach Iris Origo: „Im Namen Gottes und des Geschäfts“, S. 149 60 Briefliche Anweisungen Francesco Datinis an seine Ehefrau Margherita, zit. nach Iris Origo: „Im Namen Gottes und des Geschäfts“, S. 154 Guido zu Hause so ist. Guido kann man nicht mit anderen Männern vergleichen; er behandelt sein Weib wie eine Herrin und nicht wie eine Gastwirtsfrau.61 Man sagt, es zieme sich nicht für einen Mann, seine eigene Frau zu preisen. Das stimmt schon, falls der Mann sich mit seiner Frau brüstet. Aber bei passender Gelegenheit finde ich es nur gut und aufrichtig, von ihren Tugenden zu sprechen – natürlich nicht in ihrer Gegenwart. Du rühmst Margherita, dass sie Dir gegenüber ehrerbietig und gehorsam ist (…). Meiner Treu, dasselbe kann ich von Francesca sagen. Sie ist eine wirkliche Ehefrau, und da ich von Anfang an die Zügel immer fest in der Hand hatte, musste ich nie mit der Trense nachhelfen. Sie ist mein Weib, ich liebe sie als mein Weib, und das ist ihr und mir genug. (…) Wenn Margherita einen unserer Söhne zu sich nehmen wollte, so wäre Francesca damit einverstanden, aber nur, wenn sie ihn wieder zurückgibt, sobald sie selbst einem Kind das Leben schenkt. Francesca hat ja drei und ist mit einem vierten schwanger.62 Ratschlag eines Priesters, wie eine Tochter zu erziehen sei: Wie du sie fütterst, spielt keine Rolle, solange sie nur am Leben bleibt. Halte sie nicht zu fett. (…) Bringt ihr alles bei, was sie zur Führung eines Haushalts können muss: wie man Brot backt, einen Kapaun zubereitet, Mehl siebt, Kochen und Waschen, Bettenmachen und Spinnen, auch wie man französische Beutel webt, Seide bestickt, Linnen und Wollstoff zuschneidet, Strümpfe mit Filz oder Stoff besohlt und dergleichen mehr. Kein Mann, dem Ihr sie zur Frau gebt, soll einmal sagen können: „Sie kommt aus den Wäldern.“ (…) Habt Ihr Weiber im Hause, haltet sie in Furcht und Zittern.63 Bei seiner Tochter Ginevra (der Tochter einer Sklavin, Margherita sebst blieb kinderlos) verfuhr Francesco freilich nicht nach den Ratschlägen des Priesters: “Kurz nach ihrer Ankunft machte Francesco in seinem privaten Ausgabenbuch einen Eintrag über 2 lire 10 soldi für den Kauf eines Tambourins für Ginevra. (…) Auch wurde ihr ganz sicher das Lesen beigebracht, denn im Jahr 1401, als sie neun Jahre alt war, trug Francesco in sein Buch ein: ‘Für Ginevra ein Goldgulden, frisch geschlagen, den sie ihrer Lehrerin geben soll, die sie dasLesen lehrt.’ (…) Zweifellos hätte er es gern gesehen, wenn sie eine gute Partie in Florenz gemacht hätte, aber immerhin war ihre Mutter nur eine Sklavin, und es galt allgemein als unklug, ein Mädchen zu hoch über ihrem Stand zu verheiraten. ‚Von einer Frau, die nach einem höheren Stand trachtet als dem ihren oder nach einem Ehemann, der sie nur wegen ihres Geldes nimmt, kann man sagen,‘ heißt es bei Frau Giovanni Dominici, ‚dass sie sich zu 61 Monna Margherita an ihren Ehemann Francesco, zit. nach Iris Origo: „Im Namen Gottes und des Geschäfts“, S. 156 62 Niccolò dell‘ Ammanato an Francesco di Marco Datini, Brief vom 28. Februar 1381, zit. nach Iris Origo: „Im Namen Gottes und des Geschäfts“, S. 165 63 Fra Giovanni Dominici über die Erziehung junger Mädchen, zit. nach Iris Origo: „Im Namen Gottes und des Geschäfts“, S. 165 f. dem ihr von Natur bestimmten Joch noch ein weiteres auflädt. Deshalb sagt Euren Söhnen und Töchtern: ambula cum tuis.‘“64 Sei so gut und kaufe mir dort drüben eine kleine Sklavin. Sie soll jung und von derbem Schlag sein, so zwischen acht und zehn Jahre alt, kräftig gebaut und so stark, dass sie viel schwere Arbeit aushält, außerdem von gesunder und gutartiger Natur, so dass ich sie mir nach meinem Geschmack erziehen kann. Sie soll hier nur Geschirr spülen, Holz und Brot zum Backofen tragen und dergleichen Arbeiten mehr verrichten … denn ich habe schon eine Sklavin da, die gut im Brotbacken, im Kochen und Servieren ist. (…) Die Schiffe aus der Türkei und Rumänien müssen doch um diese Zeit jetzt eingelaufen sein; die bringen oft gute Ware.“65 Aus Rumänien ist bis jetzt noch kein Schiff gekommen, das welche [nämlich Sklvinnen] an Bord hatte; aber jetzt kann es nicht mehr lange dauern, bis sie eintreffen, so dass ich Euch und Margherita wunschgemäß beliefern kann. Die Sklavinnen, die hier jetzt zum Verkauf stehen, sind nicht empfehlenswert, denn sie sind Gebrauchtware.66 Denk daran, beizeiten zu Bett zu gehen und früh aufzustehen, und sorge ja dafür, dass die Tür des Hauses nicht geöffnet wird, bevor Du auf bist. Und kümmere Dich um alles. Lass deine Leute nicht müßig umhergehen. Du weißt, wie Bartholomea [eine Sklavin oder Dienerin] ist – immer sagt sie, dass sie da und da hin geht, und dann geht sie ganz woanders hin. Die Ghirigora hat auch nicht eben viel Verstand; du musst ständig hinter ihr her sein. Gerade wenn ich nicht da bin, musst Du noch viel wachsamer sein als sonst … Also verhalte Dich so, dass ich nicht zürnen muss (…) Nun bemühe Dich, kein Kind mehr zu sein, sondern eine erwachsene Frau zu werden. Schließlich gehst du ja schon bald in dein 25. Jahr.67 Ich sehe in ihr [einer jungen Frau, die er zum Weiterverkauf erworben hatte] nur eine Ware wie jede andere, mit der man beim Wiederverkauf manchmal Verlust, manchmal Gewinn macht. Darüber brauchen wir also kein Wort mehr zu verlieren.68 64 Iris Origo: „Im Namen Gottes und des Geschäfts“, S. 170 Francesco Datini an seinen Geschäftsfreund Andrea di Bonanno in Genua, zit. nach Iris Origo: „Im Namen Gottes und des Geschäfts“, S. 175 66 Andrea di Bonanno an Francesco Datini, zit. nach Iris Origo: „Im Namen Gottes und des Geschäfts“, S. 175 67 Francesco Datini an seine Frau Margherita, Brief vom 23. Februar 1394, zit. nach Iris Origo: „Im Namen Gottes und des Geschäfts“, S. 176 68 Francesco Datini an einen Geschäftsfreund in Pistoia, zit. nach Iris Origo: „Im Namen Gottes und des Geschäfts“, S. 177 65 Paparos Frau [Paparo aus Pistoia war der „Endabnehmer“ der „Ware“] beklagt sich bitter über Euch, und mehr noch über Monna Margherita [also über Francescos Frau!], dass sie es überhaupt zulassen konnte, dass Ihr ihm eine so junge und hübsche Sklavin schicktet. Sie sagt, sie selbst würde ihr so etwas nie angetan haben, und dass Frauen sich davor hüten sollten, sich so etwas gegenseitig anzutun.69 Die (von Francesco vermittelte?) Sklavin eines Kunden hat ein Kind geboren: Und da nun der Vater nicht ausfindig gemacht werden konnte, nahm ich es an und gab es zu einer Amme fort. Aber meine Monna Lucia wurde von Eifersucht gepackt und behauptete, das Kind sei von mir. Und obwohl ich ihr beteuerte, dass es nicht mehr von mir ist, als ein Kalb von einem Mann ist, dem eine Kuh gehört, sie will mir einfach nicht glauben, ob ich es nun hoch und heilig gelobe oder ihr gut zurede … Und sie hat sich schließlich durchgesetzt, denn die Sklavin wurde hinausgeworfen, und jetzt haben wir ein altes Weib, das mehr wie eine Hexe aussieht als wie ein weibliches Wesen. So ein Leben führe ich also jetzt.70 „Zu all ihren anderen Pflichten im Haushalt übertrug Francesco Margherita schließlich noch eine schwierige Aufgabe: sie sollte für etliche Florentiner Säuglinge Ammen (balie) aus Prato auswählen und überwachen. Es war allgemein Brauch, die Säuglinge zum Stillen an Ammen zu geben, die meist Mädchen vom Land mit einem unehelichen Kind waren, oder auch Bauersfrauen, die genug Milch für zwei Kinder hatten. Und anscheinend hatte Prato den Ruf, gute Ammen hervorzubringen (…). Tatsächlich haben so viele seiner Briefe an Margherita zum Inhalt, sie solle gute Ammen ausfindig machen, dass man fast im Zweifel sein könnte, ob diese Aufträge lediglich als Freundschaftsdienst ausgeführt wurden oder ob es sich dabei nicht vielmehr um eine weitere Sparte seiner vielfältigen geschäftlichen Aktivitäten handelte.“71 Die Amme könnte nicht besser sein, weil sie nie vor 28 oder mehr Monaten wieder schwanger wird und jetzt erst seit zwei Monaten stillt, so dass sie leicht ein Kind reichlich säugen kann.72 Sie [die guten Ammen] scheinen vom Erdboden verschwunden, denn ich habe keine einzige auftreiben können. Und die eine, die ich an der Hand hatte, weil ihr eigenes Kind zu dem 69 Stefano Guazzalotti an Francesco Datini, Schreiben vom 2. Oktober / 13. Dezember 1392, zit. nach Iris Origo: „Im Namen Gottes und des Geschäfts“, S. 177 70 Schreiben eines Geschäftsfreundes an Francesco Datini, zit. nach Iris Origo: „Im Namen Gottes und des Geschäfts“, S. 180 71 Iris Origo: „Im Namen Gottes und des Geschäfts“, S. 181 72 Margherita an ihren Ehemann Francesco Datini, zit. nach Iris Origo: „Im Namen Gottes und des Geschäfts“, S. 182 Zeitpunkt gerade im Sterben lag, deren Kind ist wieder gesund geworden. (…) Ich habe auf der Piazza delle Pieve eine gefunden, die seit zwei Monaten stillt, deren Kind aber todkrank ist und wahrscheinlich heute Nacht sterben wird. Die hat mir fest zugesagt, dass sie sofort kommt, sobald sie es begraben hat.73 Die Entdeckung des Mutterrechts: Johann Jakob Bachofen74 „Das Mutterrecht ist eine vollständige Revolution“ (Friedrich Engels) Aus dem Vorwort von Hans-Jürgen Heinrichs: „Das Mutterrecht ist (…) das Prinzip des gynaikokratischen (frauenherrschaftlichen) Zeit- und Weltalters, wie dies Bachofen in kosmischer Erweiterung sagt. (…) Geschichtlichkeit und Wesensbestimmtheit des Mutterrechts – das ist für Bachofen Basis und Ausgangspunkt für die Rekonstruktion der Vorwelt; Zusammenhalt gibt die Strukturalistische Perspektive: ‚überall System‘. – ‚Wenn es irgendwo Gesetze gibt, muss es überall welche geben‘. (…) Mutterrecht ist einmal eine ethnologisch-ethnographisch beschreibbare Größe. Sie lässt noch keineswegs auf Gynaikokratie schließen, aber in der Gynaikokratie wirkt sich das Mutterrecht politisch und dessen Wesen gesamtgesellschaftlich aus. Dies ist die Auswirkung des Muttertums als eines Prinzips, dessen Erscheinungsformen (Liebe, Frieden, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Humanität, Allgemeinheit u.a.) das Leben nicht entarteter gynaikokratischer Völker bestimmt haben sollen. Mutterrecht wird also auch auf eine ihm eigene Gesinnung hin untersucht. Das wichtigste Merkmal, das von dieser Gesinnung in der Gynaikokratie zum Tragen gekommen sei, ist für Bachofen der ‚Religionscharakter des Weibes‘ und die ‚religiöse Weihe des Muttertums‘. (…) Das wahre religiöse Muttertum sei in der ‚ehelichen Gynaikokratie‘ zur vollen Blüte gekommen. Die Menschheit wächst (…) zur ‚Gesittung‘, zu einem ‚geregelten Dasein‘ empor, und diese Stufenleiter der ‚notwendigen Erziehungsperiode der Menschheit‘ stellt sich in der Abfolge von der hetärischen zur ehelichen Gynaikokratie dar – nach dem Vorbild des Übergangs vom Sumpfleben zum Ackerbau.“75 „Der damaligen akademischen Welt erschien Bachofen insgesamt als ‚bedauernswertes Opfer der symbolischen Verwirrungen‘, man spottete über seine ‚Symbolwut‘ oder über seinen ‚höheren Blödsinn‘. (…) Die Wissenschaft, von der Bachofen einmal sagte, dass man sie nicht wähle,sondern von ihr auserkoren würde, stand ihm also nicht gerade bei. (…) 73 Margherita an ihren Ehemann Francesco Datini, zit. nach Iris Origo: „Im Namen Gottes und des Geschäfts“, S. 182 74 Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur. Eine Auswahl herausgegeben von Hans-Jürgen Heinrichs. Frankfurt am Main 1980 (Stuttgart 1861) 75 Vorwort von Hans-Jürgen Heinrichs. Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht, S. XII ff. Der Reiz des Religiösen, die organischen Naturkräfte, die Erdmütter und Sumpfvegetationen (= ‚natürlicher Prototyp der Regellosigkeit hetärischer Zeugung‘) (…) sind einige der Klippen, die man zu überspringen hat, will man sich vom heutigen Erkenntnisinteresse her wieder dieser so überreichen Materialsammlung und aus den Mythen und Künsten, Papyri und Grabinschriften schöpfenden Geistes- und Naturgeschichte nähern. Und andre, wie Engels, Kelles-Krauz oder Bloch, Morgan, Benjamin, Fromm oder Reich, haben dies ja auch vorgemacht.“76 „Ist Bachofens Forschung aktuell bzw. begründet zu aktualisieren? Trotz des Rückgangs auf altes Recht und Wesen der Frauen und Mütter deckt der eingeschlagene Weg der Betrachtung und Reetablierung bei ihm so gar nicht den Kampf der unterdrückten Frauen. Bachofen schwankt zwischen der Anerkennung der weiblichen aktiven Rolle sowie großer fraulicher Fähigkeiten, wie sie manche Autoren den Frauen zuschreiben (…), und dem Pathos für das männliche geistige Prinzip, für die Loslösung vom stofflichen weiblichen Prinzip. (…) Einerseits stellt Bachofen positiv die aktive Rolle der Frau heraus (sie wählt ihren Mann, ja ihre Männer, denn sie sei nicht da, ‚um in den Armen eines Einzelnen zu verwelken‘), andererseits möchte er ihren Wirkungsbereich so eng wie möglich eingegrenzt wissen: an einer ‚Philosophie physischer Grundlage‘ könne sie sich beteiligen, obwohl sie eigentlich der Philosophie nicht würdig sei und zum’Ausschwatzen‘ neige; ‚vor des Mannes höherer Kraft‘ beuge sie sich ‚gerne‘.“77 „Ziel ist die ‚erotische Geisteskultur‘, die veredelte, verfeinerte ‚erotische Glut der Seele‘. Deren Theorie und Praxis werden (…) ausgeführt. (…) Angezogen und abgestoßen von der Lust entwickelt Bachofen Theorie und Praxis der ‚religiösen Natur dieser Erregung‘, des ‚heiligen Eros‘, der ‚Überschreitung‘, des ‚Festes‘, der ‚Organisation der Lust‘; ‚die Ausschweifung ist das Gegenteil der Zügellosigkeit‘, ‚die Religion fordert ihrem Wesen nach die Überschreitung der Verbote‘. (…) Nach außen hin verhält sich Bachofen wie einer, der ständig die Hände nach verbotenen Früchten ausstreckt und sich gleich darauf selbst auf die Finger schlägt. (…) ‚An das Weib knüpft sich (zwar) … der Genuss jedes höheren Gutes an‘, aber die Zuneigung zu Apollo, der sich ‚vollständig von jeder Verbindung mit dem Weibe‘ befreite und zu Dionysos, dem ‚Väterlichen‘ ist unverkennbar. Erst das Geistige erhebe den Vater über die ihm im Mutterrecht bloß zukommende Funktion des ‚Besamers‘, des ‚Sämanns, der, wenn er den Samen in die Furche gestreut, wieder verschwindet‘. (…) Und dieserart würde letztlich, wie im ‚Schlussakt der Tragödie‘, das Weib ihrer eigentlichen Bestimmung (‚Liebe und Befruchtung‘) wieder zugeführt – ‚müde ihrer amazonischen Heldengröße‘.“78 76 Vorwort von Hans-Jürgen Heinrichs. Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht, S. XVI f. Vorwort von Hans-Jürgen Heinrichs. Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht, S. XVII f. 78 Vorwort von Hans-Jürgen Heinrichs. Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht, S. XX f. 77 Spuren des Matriarchats (1): Die Antike79 „Ich muss befürchten, dass selbst die Leser, denen es gelang, sich den Weg durch das klassifikatorische Verwandtschaftssystem zu bahnen, an den Folgen dieser genealogien zu tragen haben. Das ist bedauerlich, aber nicht zu ändern. Wollen wir begreifen, wie wir zu dem geworden sind, was wir heute sind, müssen wir uns daran gewöhnen, die Dinge vom Standpunkt unserer weit zurückliegenden Vorfahren zu betrachten, die, da ihr Leben in erster Instanz von der Verwandtschaft bestimmt war, eben überall Verwandtschaft erblickten. (…) Der Erholung halber soll das vorliegende Kapitel80 durch eine Untersuchung beschlossen werden, ob in einem Teil von Hellas (…) das Mutterrecht hinreichend lange bestanden hat, um ins Licht der Geschichte einzutreten. Lokroi Epizephyrioi war eine griechische Kolonie an der Stiefelspitze Italiens. Sie wurde zu Anfang des siebenten Jahrhunderts v. d. Z. von Lokris aus gegründet, einer Stadt in Mittelgriechenland, deren erste Einwohner von Aristoteles als Leleger bezeichnet werden. Polybios sagt von der Kolonie, wie sie sich ihm im zweiten Jahrhundert v. d. Z. darbot, folgendes: ‚Alle ihre angestammten Ehren werden durch die Frauen weitergereicht, wie z.B. die hohe Stellung, deren sich die Nachkommen der Hundert Familien erfreuen.‘ Aus anderen Quellen erfahren wir, dass die Leute von Lokroi wie die Lyder und Etrusker die voreheliche Promiskuität pflegten.81 Ihre Stadt soll ferner der erste griechische Staat gewesen sein, in dem Gesetze aufgezeichnet wurden. Dadurch wird erklärlich, dass sie durch die formale Verfestigung ihrer Institutionen, die zu einem ungewöhnlich frühen Zeitpunkt erfolgte, auch die matrilineare Erbfolge beibehalten konnten. Die Hundert Familien waren die Nachkommen des aus dem Mutterland stammenden Adels. Als Ursache der Auswanderung und Koloniegründung wird ein Skandal bezeichnet, den diese hochgeborenen Damen durch ihren ungebundenen Verkehr mit Sklaven hervorgerufen hätten. Zu ihrer Verteidigung kann man anführen, sie seien nicht schlechter als Omphale oder Tanaquil oder die Königinnen der Bantu in Afrika gewesen.“82 „Lokroi Epizephyrioi mag eine Ausnahme dargestellt haben,was den schlechten Auftakt anbelangt. In dieser Gegend gab es aber noch andere Kolonien, die im gleichen Zeitraum gegründet wurden und deren Bedingungen in ökonomischer Hinsicht, wenn nicht sogar in moralischer, durchaus ähnlich waren. Taras (Tarentum), das am Stiefelabsatz Italiens liegt, war noch älter als Lokroi. Es wurde von einigen Männern aus Sparta gegründet, die Partheniai, ‚Mädchensöhne‘, genannt wurden. Als die Spartaner mit der Eroberung von Messenien (…) beschäftigt waren, trösteten sich ihre Frauen (…) und diese ‚Mädchensöhne‘ waren das Ergebnis. Ihre Väter werden als daheimgebliebene Spartaner bezeichnet. (…) Wenn die Übeltäter freigeborene Spartaner waren, dann taten sie etwas, was (…) kein Vergehen darstellte.83 (…) Darüber hinaus kann der Grund, dass sie ‚Mädchensöhne‘ genannt wurden, nur der sein, dass ihre Mütter unverheiratet waren. In Wahrheit scheinen ihre Väter 79 Georges Thomson: Frühgeschichte Griechenlands und der Ägäis. Berlin 1960 (London 1949) „Die matriarchalischen Völker der Ägäis“: Georges Thomson: Frühgeschichte Griechenlands, S. 113 ff. 81 Das erinnert an gewisse sexuelle Freiheiten, wie sie Berbermädchen und –frauen in gewissen Regionen Nordafrikas bis in die jüngste Gegenwart von der Gesellschaft zugestanden wurden. 82 Georges Thomson: Frühgeschichte Griechenlands, S.155 f. 83 In Sparta gab es bis in die Spätzeit eine Art staatlich gelenkter Promiskuität der Geschlechter 80 seit ehedem Leibeigene gewesen zu sein – Leibeigene mit einer privilegierten Stellung, wie sie die innehatten, die sich der Gunst der lokrischen Damen erfreuten. Bisher hatten die Sprösslinge solcher Vereinigungen ein Anrecht auf das mütterliche Vermögen besessen. Jetzt aber, da die reiche Ebene Messeniens zur Besitzergreifung einlud,wurde das bisherige Verfahren aufgegeben. Somit wurden diejenigen, die nur auf mütterlicher Seite Spartaner waren, gezwungen, ‚stolz ihr Geburtsrecht auf dem Rücken tragend‘ ihr Glück jenseits des Meeres zu suchen. Die Gründung von Taras wie auch die von Lokroi war nur eine Episode in dem Konflikt, der im Mutterlande wegen des Erbrechts an Grund und Boden andauerte – dem Kampf um das Land.“84 Spuren des Matriarchats (2): Die Berberinnen Nordafrikas85 „Laqqût […] wurde besiegt und von den Männern des Abû Bakr getötet. Seine Frau, Zaynab an-Nafzâwiyya, die vorher schon die Konkubine des Yûsuf ibn ‘Alî gewesen war, […] wurde jetzt die Frau des Abû Bakr und sollte künftig eine wichtige Rolle im Leben jener Männer spielen, welche die Expansion der Almoravidenmacht so tatkräftig vorantrieben. […Denn] nachdem er […Abû Bakr] einige Monate mit Zaynab zusammengelebt hatte, zog es ihn wieder in die Wüste. Und so entließ er seine Gattin, damit sie sich nach der vom islamischen Gesetz vorgesehenen Frist wieder verheiraten könne, und zwar mit seinem Vetter Yûsuf ibn Tâshufîn, dem er für die Zeit seiner Abwesenheit den Befehl über einen Teil seiner Truppen und die Herrschaft über ganz Marokko überlassen hatte. […] Die schöne Zaynab, die zuerst Gattin des Laqqût, dann des Abû Bakr gewesen war, entfaltete nun [in der Reorganisation und Verwaltung der neu eroberten Gebiete] ihr Geschick als Ratgeberin ihres neuen Mannes, auf den sie einen starken Einfluss hatte. […Nach seiner Rückkehr] wollte Abû Bakr Zaynab neuerlich heiraten um sich auch jenes Teils des Heeres, den er Yûsuf ibn Tâshufîn anvertraut hatte, zu versichern. […] Zaynab jedoch blieb ihrem jetzigen Gefährten eine gute Ratgeberin und spielte ihre Karten geschickt aus, um ihm zu helfen. […Sie erreichte von Abû Bakr, dass er seinem Vetter] die ganze Macht überließ und selbst für immer in die Wüste zurückkehrte […].“86 Bis heute haben sich die Berberinnen eine Unabhängigkeit vom – islamischen – Moralkodex bewahrt, welche die erstaunlichsten Blüten treibt, zum Beispiel die ‘azriya: [Die ‘azriya] sind Frauen, die einmal verheiratet gewesen waren, dann aber ihren Mann verloren oder sich von ihm getrennt hatten [und jetzt] entweder bei ihren Eltern oder allein [leben]. Bevor sie sich wiederverheiraten, also in der Zeit zwischen zwei Ehen, genießen sie häufig einen Sonderstatus. Sie werden hofiert und mit Aufmerksamkeiten überschüttet, und wenn sie in dem elterlichen Haus leben, werden ihnen die angenehmsten Aufgaben 84 Georges Thomson: Frühgeschichte Griechenlands, S.156 f. Allgemein zur Lage der Frau im Maghreb Camille Lacoste-Dujardin: Mütter gegen Frauen. Mutterherrschaft im Maghreb. Zürich 1990; siehe auch Isabella Grünbeck: Die islamische Frau im Mittelalter unter besonderer Berücksichtigung ihrer Sonderrolle im Herrschaftsharem, im Maghreb und in al-Andalus. Wien 2009 (Diplomarbeit) 86 Jacinto Bosch Vilá: Historia de Marruecos. Los Almorávides. Tetuán 1956, S. 90 ff., vgl. Ibn Khaldun: Histoire des Berbères, 3 Bde. Hgg. von M. G. de Slane. Paris 1925-56 (Algier 1852-56), Bd. 2, S. 71 f., Bd. 3, S.272 f. 85 zugeteilt. Es gibt kaum ein Fest in der Nachbarschaft, zu dem sie nicht eingeladen werden, um an den Gesängen und Tänzen teilzunehmen. Besonders gefragt ist ihre Anwesenheit bei den Erntefesten und anderen ländlichen Geselligkeiten. Da sie über eine große Bewegungsfreiheit verfügen, können sie sich auch über die Barrieren der sexuellen Segregation hinwegsetzen. Man kann sie sogar in den Cafés mit den Männern Karten spielen sehen. Sie besitzen das „Auftreten großer Damen“ und gleichen eher „Kurtisanen, die von ihrer Umgebung hofiert werden, als gemeinen Dirnen“.87 Die Kinder aus außerehelichen Verbindungen werden gleichberechtigt in die mütterliche Sippe integriert. Und ihre Töchter haben dieselben Chancen auf dem Heiratsmarkt wie alle anderen. [In diesem Zusammenhang sollte man] auch die zeitweilige Freiheit erwähnen, die den nayalat und den hamzaiât des Djebel Amour im Süden Algeriens eingeräumt wird. Die jungen Mädchen dieser Region machen ihre ersten sexuellen Erfahrungen schon während der Zeit, in der sie ihre Mitgift zusammentragen, die sie später einmal als ordentliche Ehefrauen benötigen. Es handelt sich dabei schon fast um Prostitution, da sie aus ihrer sexuellen Freiheit finanzielle Vorteile ziehen; sie beschränkt sich jedoch auf die Zeit vor der Hochzeit. […] Die Frauen des Aurès, die wieder frei sein wollen, um von dem Status einer ‘azriya zu profitieren, provozieren häufig eine Verstoßung, damit sie nicht mehr die Bevormundung durch ihren Ehemann ertragen müssen.88 Friedrich Nietzsche über Platons Bild der griechischen Frau89 Wie Plato den innersten Zweck des Staates aus allen seinen Verhüllungen und Trübungen an's Licht zog, so begriff er auch den tiefsten Grund der Stellung des hellenischen Weibes zum Staate: in beiden Fällen erblickte er in dem um ihn Vorhandenen das Abbild der ihm offenbar gewordenen Ideen, vor denen freilich das Wirkliche nur Nebelbild und Schattenspiel war. Wer, nach allgemeiner Gewöhnung, die Stellung des hellenischen Weibes überhaupt für unwürdig und der Humanität widerstrebend hält, muss sich mit diesem Vorwurf auch gegen die platonische Auffassung dieser Stellung kehren: denn in ihr ist das Vorhandene gleichsam nur logisch präcisirt. Hier wiederholt sich also unsre Frage: sollte nicht das Wesen und die Stellung des hellenischen Weibes einen notwendigen Bezug zu den Zielpunkten des hellenischen Willens haben? Freilich giebt es eine Seite in der platonischen Auffassung des Weibes, die in schroffem Gegensatze zur hellenischen Sitte stand: Plato giebt dem Weibe völlige Theilnahme an den Rechten, Kenntnissen und Pflichten der Männer und betrachtet das Weib nur als das schwächere Geschlecht, das es in allem nicht gerade weit bringen werde: ohne ihm doch deshalb das Anrecht auf jenes alles streitig zu machen. Dieser fremdartigen Anschauung haben wir nicht mehr Werth beizulegen als der Vertreibung des Künstlers aus dem Idealstaate: es sind dies kühn verzeichnete Nebenlinien, gleichsam Abirrungen der sonst so sichren Hand und des so ruhig betrachtenden Auges, das sich mitunter einmal, im Hinblick auf den verstorbenen Meister, unmuthsvoll trübt: in dieser Stimmung übertreibt er die 87 M. Gaudry: La femme chaouia de l’Aurès. Paris 1929, S. 123 Camille Lacoste-Dujardin: Mütter gegen Frauen, S. 165; 167 f. 89 Friedrich Nietzsche: Nachträge aus einer erweiterten Form der Geburt der Tragödie (1871). § 13. Das griechische Weib. Musarion-Ausgabe der Gesammelten Werke Nietzsches, III. Berlin 1922, S. 295 ff. 88 Paradoxieen desselben und thut sich ein Genüge, seine Lehren recht excentrisch, bis zur Tollkühnheit, im Uebermaass seiner Liebe, zu steigern. Das Innerste aber, was Plato als Grieche über die Stellung des Weibes zum Staate sagen konnte, war die so anstössige Forderung, dass im vollkommnen Staate die Familie aufhören müsse. Sehen wir jetzt davon ab, wie er, um diese Forderung rein durchzuführen, selbst die Ehe aufhob und an deren Stelle feierliche von Staatswegen angeordnete Vermählungen zwischen den tapfersten Männern und den edelsten Frauen setzte, zur Erzielung eines schönen Nachwuchses. In jenem Hauptsatze aber hat er eine wichtige Vorbereitungsmaassregel des hellenischen Willens zur Erzeugung des Genius auf das deutlichste – ja zu deutlich, beleidigend deutlich – bezeichnet. (…) Das Weib bedeutet demnach für den Staat, was der Schlaf für den Menschen. In seinem Wesen liegt die heilende Kraft, die das Verbrauchte wieder ersetzt, die wohlthätige Ruhe, in der sich alles Maasslose begrenzt, das ewig Gleiche, an dem sich das Ausschreitende, Ueberschüssige regulirt. (…) Wer daraus sofort die Stellung des Weibes bei den Griechen als unwürdig und allzuhart zu erschliessen sich gedrungen fühlt, der soll nur ja nicht die Gebildetheit des modernen Weibes und deren Ansprüche zur Richtschnur nehmen, gegen welche es einmal genügt, auf die olympischen Frauen sammt Penelope Antigone Elektra hinzuweisen. Freilich sind dies Idealgestalten, aber wer möchte aus der jetzigen Welt solche Ideale erschaffen können? - Sodann ist doch zu erwägen, was für Söhne diese Weiber geboren haben und was für Weiber es gewesen sein müssen, um solche Söhne zu gebären! Sigmund Freud zur weiblichen Sexualität90 Wenn wir die ersten psychischen Gestaltungen des Sexuallebens beim Kinde untersuchten, nahmen wir regelmäßig das männliche Kind, den kleinen Knaben, zum Objekt. Beim kleinen Mädchen, meinten wir, müsse es ähnlich zugehen, aber doch in irgendeiner Weise anders. An welcher Stelle des Entwicklungsganges diese Verschiedenheit zu finden ist, das wollte sich nicht klar ergeben. Die Situation des Ödipus-Komplexes ist die erste Station, die wir beim Knaben mit Sicherheit erkennen. Sie ist uns leicht verständlich, weil in ihr das Kind an demselben Objekt festhält, das es bereits in der vorhergehenden Säuglings- und Pflegeperiode mit seiner noch nicht genitalen Libido besetzt hatte. Auch dass es dabei den Vater als störenden Rivalen empfindet, den es beseitigen und ersetzen möchte, leitet sich glatt aus den realen Verhältnissen ab. (…)91 Der Ödipus-Komplex des kleinen Mädchens birgt ein Problem mehr als der des Knaben. Die Mutter war anfänglich beiden das erste Objekt, wir haben uns nicht zu verwundern, wenn der Knabe es für den Ödipus-Komplex beibehält. Aber wie kommt das Mädchen dazu, es aufzugeben und dafür den Vater zum Objekt zu nehmen? In der Verfolgung dieser Frage 90 Sigmund Freud: Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschieds (1925). Werkausgabe in zwei Bänden. Herausgegeben und mit Kommentaren versehen von Anna Freud du Ilse Grubrich-Simitis. Frankfurt am Main 1978, Band 1, S. 340 ff. 91 Sigmund Freud: Einige psychische Folgen, S. 341 f. habe ich einige Feststellungen machen können, die gerade auf die Vorgeschichte der ÖdipusRelation beim Mädchen Licht werfen können. Jeder Analytiker hat die Frauen kennengelernt, die mit besonderer Intensität und Zähigkeit an ihrer Vaterbindung festhalten und an dem Wunsch, vom Vater ein Kind zu bekommen, in dem diese gipfelt. Man hat guten Grund anzunehmen, (…) hier vor einer elementaren, nicht weiter auflösbaren Tatsache des kindlichen Sexuallebens zu stehen. Eingehende Analyse gerade dieser Fälle zeigt aber etwas anderes, nämlich dass der Ödipus-Komplex hier eine lange Vorgeschichte hat und eine gewissermaßen sekundäre Bildung ist. [… Diese erinnert nämlich an] eine folgenschwere Entdeckung,die dem kleinen Mädchen beschieden ist. Es bemerkt den auffällig sichtbaren, groß angelegten Penis eines Bruders oder Gespielen, erkennt ihn sofort als überlegenes Gegenstück seines eigenen, kleinen und versteckten Organs und ist von da an dem Penisneid verfallen. [… Das kleine Mädchen] ist im Nu fertig mit ihrem Urteil und ihrem Entschluss. Sie hat es gesehen, weiß, dass sie es nicht hat, und will es haben.92 (…) Nun aber gleitet die Libido des Mädchens – man kann nur sagen: längs der vorgezeichneten symbolischen Gleichung Penis = Kind – in eine neue Position. Es gibt den Wunsch nach dem Penis auf, um den Wunsch nach einem Kinde an die Stelle zu setzen, und nimmt in dieser Absicht den Vater zum Liebesobjekt. Die Mutter wird zum Objekt der Eifersucht, aus dem Mädchen ist ein kleines Weib geworden.93 Klassikerinnen des Feminismus (1): Die erste Generation – Simone de Beauvoir94 Aus weiblicher Sicht – zum Beispiel Psychoanalyse: Weil der Phallus etwas getrennt Wahrnehmbares ist, kann der Mann das über hn hinausreichende Leben seiner Individualität integrieren. (…) So findet sich konstant der Phallus als fleischliche Verkörperung des Übersichhinausgelangens, wie es auch konstant ist, dass das Kind vom Vater sich übertroffen, d.h. um seine Transzendenz gebracht fühlt, worin man die Freudsche Idee des „Kastrationskomplexes“ wiedererkennt. Da es dies alter ego nicht hat, entfremdet sich das kleine Mädchen nicht in einem greifbaren Objekt und gelangt nicht zu sich selbst zurück: dadurch kommt es, dass es sich völlig zum Objekt macht, sich als das Andere setzt; die Frage, ob es sich dabei mit den Knaben vergleicht, ist von sekundärer Bedeutung (…). Doch sind diese von uns festgestellten Konstanten an sich noch nicht schicksalsbestimmend: der Phallus bekommt einen so großen Wert, weil er zum Symbol einer Überlegenheit wird, die sich auf anderen Gebieten verwirklicht. Wenn es der Frau gelänge, sich als Subjekt zu behaupten, so würde sie Gegenwerte für den Phallus erfinden95 (…). Es gibt mutterrechtliche Gemeinschaften, in denen die Frauen die Masken in Verwahrung halten, in denen die Gemeinschaft ihren Fremdausdruck sucht; der Penis 92 Sigmund Freud: Einige psychische Folgen, S. 342 f. Sigmund Freud: Einige psychische Folgen, S. 346 94 Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau (Le Deuxième Sexe). Reinbek bei Hamburg 1968 (Paris 1949) 95 z.B. die weibliche Brust – vgl. die Darstellungen der mutterrechtlichen Minoischen Kultur (Kretas Schlangen tragende, barbusige Mädchen); neuerdings das Entblößen der Brüste als politisches Statement (dem das ‚Obenohne-Baden‘ als Zeichen der Sexuellen Revolution in den 60-er Jahren des 20. Jhs. voran gegangen war), etc. 93 verliert unter solchen Verhältnissen viel von seinem Ansehen. Nur in der in ihrer Gesamtheit erfassten Situation begründet das anatomische Privileg auch ein menschliches. Die Psychoanalyse könnte dessen Bestätigung nur im geschichtlichen Zusammenhang finden.96 Aus weiblicher Sicht – zum Beispiel die Ehe: In vielen Kreisen haben die Frauen heute teilweise ihre sexuelle Freiheit erobert. Es ist aber für sie noch ein schwieries Problem, ihr Eheleben mit ihrer erotischen Befriedigung in Einklang zu bringen. Da die Ehe im allgemeinen die körperliche Liebe nicht mit einschließt, schene es vernünftig, de beiden rein voneinander zu trennen. Es wird zugegeben, dass der Mann ein ausgezeichneter Gatte und doch flatterhaft sein kann. Seine sexuellen Launen hindern ihn tatsächlich nicht daran, mit seiner Frau in aller Freundschaft ein gemeinsames Leben zu führen. Diese Freundschaft wird um so reiner, weniger zweideutig sein, wenn sie keine Fessel darstellt. Man könnte zulassen, dass für die Gattin dasselbe gelte. (…) Die Kompromisse von Berechnung und Verstellung machen den Ehebruch entwürdigend. Ein freies und aufrichtiges Übereinkommen würde einen der Makel der Ehe beseitigen. Es muss indessen zugegeben werden, dass heute die irritierende Formel einen gewissen Wahrheitskern behält (…): „Bei der Frau ist es etwas anderes.“ Der Unterschied hat nichts Natürliches an sich. Es wird behauptet, die Frau brauche die sexuelle Betätigung weniger als der Mann. Nichts ist unsicherer. Verdrängte Frauen werden zu bösen Ehefrauen, sadistischen Müttern, zu manischen Hausfrauen, unglücklichen und gefährlichen Geschöpfen. (…) Der Unterschied rührt von der Gesamtheit der erotischen Situation von Mann und Weib her, wie sie die Tradition und die gegenwärtige Gesellschaft bestimmen. Man betrachtet immer noch bei der Frau den Liebesakt als einen Dienst, den sie dem Mann erweist, der ihn infolgedessen als ihren Herrn erscheinen lässt.97 Aus weiblicher Sicht – zum Beispiel die Prostitution:98 [Die Prostituierte:] Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen, ist ihre Situation ein Pendant zu der der verheirateten Frau. „Der einzige Unterschied zwischen denen, die sich durch die Prostitution, und denen, die sich durch die Ehe verkaufen, liegt im Preis und in der Dauer des Vertrags,“ sagt Marro. Für alle beide ist der sexuelle Akt eine Dienstleistung. Die Zweite wird auf Lebensdauer von einem einzigen Mann verpflichtet, die Erste hat mehrere Kunden, die sie stückweise bezahlen. Jene wird von einem Mann gegen alle andern, diese von allen gegen die ausschließliche Tyrannei jedes einzelnen verteidigt. Jedenfalls werden die Gewinne, die sie aus der Hingabe ihres Körpers ziehen, durch die Konkurrenz beschnitten. Der Gatte weiß, dass er sich eine andere Frau hätte sichern können. Die Erfüllung der „ehelichen Pflichten“ ist kein Gnadengeschenk, sie ist die Erfüllung eines Kontrakts. In der Prostitution kann die männliche Begierde, da sie nicht auf das Einzelne, sondern auf die Art ausgeht, sich an jedem beliebigen Körper befriedigen. Gattin oder 96 Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht, S. 59 Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht, S. 531 f. 98 Zweites Buch, zweiter Teil, Kapitel VIII: Dirnen- und Hetärentum. Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht, S. 533 ff. 97 Hetäre vermögen [daher] den Mann nur auszubeuten, wenn sie einen persönlichen Einfluss auf ihn ausüben.99 Von der gemeinen Straßendirne bis zur großen Hetäre gibt es alle möglichen Übergänge. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass die erste sich als Dirne schlechtweg zu Markte trägt, so dass die Konkurrenz sie auf einem elenden Lebensniveau hält, während die zweite gerade um die Anerkennung ihrer Besonderheit bemüht ist: Wenn ihr dies gelingt, kann sie ein bedeutendes Schicksal beanspruchen. Hierbei sind Schönheit, Charme oder Sex-Appeal notwendig, aber nicht hinreichend: Die Frau muss sich durch ihren Ruf auszeichnen. Oft wird ihr Wert durch das Begehren eines Mannes entdeckt. Aber „lanciert“ ist sie erst, wenn der Mann ihren Wert in der Welt publik gemacht hat. (…) Die letzte Verkörperung der Hetäre ist der Star. (…) Er liefert den Träumen der Männer die Frau an sich. Sie schenken ihm dafür Reichtum und Ruhm.100 Zwischen der Prostitution und der Kunst hat immer eine Art Querverbindung bestanden, weil auf etwas zweideutige Weise Schönheit und Wollust miteinander verknüpft wurden. In Wirklichkeit hat Schönheit mit Begehren nichts zu tun.101 (…) Die Prostituierte, die ihren Eigen-Wert erlangen will, beschränkt sich nicht mehr darauf, passiv ihren Körper zu zeigen. Sie bemüht sich um persönliche Talente. Die griechischen ‚Flötenspielerinnen‘ entzücken die Männer mit ihrer Musik und ihren Tänzen. (…) Alle Berufe, bei denen die Frau exhibiert, können galanten Zwecken dienen. Gewiss gibt es Girls, Taxi-Girls, Nackttänzerinnen, Amüsierdamen, Pin-ups, Vorführdamen, Sängerinnen, Schauspielerinnen, die ihrem erotischen Leben keinen Eingriff in ihr Berufsleben gestatten. Je mehr ihr Beruf an Technik, an Erfindung erfordert, um so mehr kann er zum Selbstzweck werden. Aber oft gerät die Frau, die sich öffentlich ‚produziert‘, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, in Versuchung, aus ihren Reizen ein intimes Handelsobjekt zu machen. (…) Ich verstehe hierbei unter Hetären alle Frauen, die nicht allein ihren Körper, sondern ihre gesamte Person als arbeitendes Kapital behandeln. (…) Dadurch, dass sie [die Hetäre |der Star] sich dem Urteil ihrer Bewunderer darbietet, verleugnet sie jene weibliche Passivität nicht, die sie dem Manne bestimmt.102 Von ihr bezieht sie eine magische Macht, vermöge deren sie die Männer mit ihrer Gegenwart einfängt und von ihnen lebt.103 Klassikerinnen des Feminismus (2): Die zweite Generation – Luce Irigaray Streng genommen gibt es in Speculum104 keinen Anfang und kein Ende, die Architektonik des Textes, der Texte bringt jene Linearität eines Vorhabens, jene Teleologie des Diskurses, in 99 Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht, S. 534 Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht, S. 543 f. 101 Jedoch sehr viel mit Werbung, wie Simone de Beauvoir im folgenden am Beispiel der Prostituierten zeigt. 102 Das Marilyn-Monroe-Syndrom 103 Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht, S. 544 f. 104 Luce Irigaray: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts (Speculum de l’autre femme). Frankfurt am Main 1980 (Paris 1974) 100 welchem es für das „Weibliche“ keinen möglichen Ort gibt, es sei denn den traditionellen des Verdrängten, des Zensurierten, aus der Fassung. Übrigens, mit Freud „anfangen“ und mit Plato „aufhören“, das heißt schon, die Geschichte „umdrehen“. Im „Innern“ einer solchen Umkehrung aber kann die Frauenfrage sich noch nicht artikulieren, so dass man sich mit ihr nicht einfach zufrieden geben kann.105 Deshalb diese Gliederung, die bewirkt, dass in den in der „Mitte“ stehenden Texten – die wiederum mit Speculum überschrieben sind – offensichtlich die Umkehrung keinen Platz mehr hat. Das Entscheidende dabei ist, die Montage der Repräsentation gemäß ausschließlich „männlichen“ Parametern aus der Fassung zu bringen. Das heißt, gemäß einer zwangsläufig phallokratischen Ordnung, die es nicht umzukehren – das würde letztlich auf das Selbe hinauslaufen –, sondern, ausgehend von einem teilweise ihrem Gesetz entzogenen „Außen“ zu stören und zu untergraben gilt.106 „Luce Irigaray verfolgt ihre Intention, die ‚Linearität‘ und die damit verbundenen Strukturen des Diskurses aufzusprengen, bis in die Syntax der Sprache:107 sie durchbricht sie, bringt sie durcheinander und versucht auf diese Weise, Bedeutungskontexte sichtbar zu machen, die von eben dieser ‚Linearität‘ verdeckt werden. (…) Ein ähnliches Problem stellt sich für die Übertragung der Metaphorik, deren theoretischer Stellenwert in der strukturalistischen Sprachtheorie begründet ist (…).108 Die Metaphorik ist keine bloße Illustration theoretischer Zusammenhänge, sondern ein Teil der begrifflichen Anstrengung selbst. Genauer, die begriffliche Anstrengung setzt sich auf der Ebene der Bildsprache fort109 und eröffnet damit neue Erkenntnisdimensionen im wissenschaftlichen Diskurs.“110 „(…) Ein wesentliches Merkmal des Irigarayschen Textes (…) ist die Vielschichtigkeit der Diskursebenen. So werden etwa im Zusammenhang der Frage nach dem Funktionieren der ‚sexuellen Differenz‘ und nach dem ‚Ort‘ des Weiblichen im philosophischen Diskurs verschiedene Theorien gleichzeitig dargestellt111 und miteinander verwoben, wobei die Bedingungen der Möglichkeit ihrer ‚Systematizität‘ und also ihrer Kohärenz im Vordergrund der Aufmerksamkeit stehen. Bedingungen der Möglichkeit sind, wie Irigaray sagt, etwa ‚die Materie, von der das sprechende Subjekt sich nährt, um sich zu produzieren und zu reproduzieren, aber auch die Szenographie, die die Repräsentation so, wie sie sich in der Philosophie definiert, ermöglicht, also die Architektonik ihres Theaters, ihre raum-zeitliche Rahmung, ihre geometrische Ökonomie, ihre Kulissen, ihre Akteure, sowie deren Stellung zueinander, deren Dialoge, ja sogar deren tragische Beziehungen, nicht zu vergessen den 105 Hier kritisiert Luce Irigaray implizit natürlich Simone de Beauvoir, die vom Platonisch-Freudianischen Frauenbild ausgehend (bzw. dieses niemals konsequent hinter sich lassend), innerhalb des patriarchalischen Settings um so etwas wie die „Würde der Frau“ gekämpft habe. 106 Luce Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin 1979, S. 70 107 Der sogenannte Linguistic turn in der Genderfrage 108 z.B. bei Jakobson und Lacan 109 Deshalb gehören Mythen, Kunstwerke und Bilder als „Quellen“ höherer Ordnung – als „metaphorisches“ Quellenmaterial sozusagen – in jede synoptische Darstellung der historischen Linearität (= Ereignisabfolge auf der Zeitreihe), um, ganz im Sinne des Irigaray’schen „Umdrehens“ und „Untergrabens“ der Syntax, auch die herkömmliche Syntax historischen Erzählens aus ihrer (Patri-)Linearität zu lösen und somit „aufzusprengen“. 110 Xenia Rajewsky / Gabriele Ricke / Gerburg Treusch-Dieter / Regine Othmer: Nachwort der Übersetzerinnen – Arbeitsauskunft. Luce Irigaray: Speculum, S. 467 f. 111 eklektisch, synkretistisch Spiegel, der, zumeist versteckt, dem Logos, dem Subjekt112 erlaubt, sich zu verdoppeln, sich zu reflektieren. Das alles sind Eingriffe in die Szene, die, solange sie nicht interpretiert worden sind, ihre Kohärenz113 sichern‘.114 Unter diesem Anspruch thematisiert Luce Irigaray zum Beispiel (…) nicht nur die Freudsche Theorie zur weiblichen Sexualität, sondern ebenso und gleichzeitig die szenische Anordnung der psychoanalytischen Situation sowie, als quasi fortgeschrittenste Form ‚dieses alten Traums vom Selben‘, die Lacansche Interpretation. Die weibliche Sexualität erscheint nicht mehr nur als Lücke oder ergänzungsbedürftiger Teil der Theorie, sondern ihre Funktion und ihr Funktionieren in und für die Theorie selbst werden sichtbar.115 (…) So wird etwa die Thematik des Blicks als Ausdruck eines Herrschaftsverhältnisses im Rahmen der Platonischen Philosophie ausgeführt und inszeniert, aber sie wird auch in der psychoanalytischen Theorie reflektiert und bis in die psychoanalytische Anordnung hinein verfolgt.“116 „(…) Bei dem Versuch, in die philosophischen Systeme einzudringen, ihre Kohärenz zu zersetzen und das Funktionieren ihrer Ökonomie als eines kenntlich zu machen, das sich der geleugneten sexuellen Differenz verdankt, beschreitet Luce Irigaray den, wie sie selbst sagt, ‚einzigen Weg, der dem Weiblichen historisch zugewiesen ist‘: Mimesis. ‚Mimesis zu spielen bedeutet (…) für eine Frau den Versuch, den Ort ihrer Ausbeutung durch den Diskurs wiederzufinden, ohne sich darauf einfach reduzieren zu lassen. Es bedeutet (…) sich wieder den Ideen (…) zu unterwerfen, so wie sie in | von einer männlichen Logik ausgearbeitet wurden; aber, um durch einen Effekt spielerischer Wiederholung das erscheinen zu lassen, was verborgen bleiben musste: die Verschüttung einer möglichen Operation des Weiblichen in der Sprache.‘117 (…) Man sollte sich nichts vormachen, das von Irigaray versuchte mimetische Verfahren ist Arbeit, eine spezifische Arbeit, die, wie sie sagt, den einzig möglichen Zugang des Weiblichen zum philosophischen Diskurs eröffnet. Entgegen dem Vorwurf der Substantialisierung des Weiblichen wird es von ihr immer als besondere Produktionsweise118 und damit stets historisch gedacht. Es geht ihr nicht um die Setzung eines ‚weiblichen‘ Gegensystems oder die Bestimmung eines weiblichen ‚Wesens an sich‘. (…) Das mimetische Wiederholen, das Nachplappern verzerrt, vexiert, karikiert den pietätvollen Ernst wissenschaftlicher Theorie. In der ständigen Wiederkehr des Gleichen, dem ’alten Traum vom Selben‘, deckt sie geschichtslose Momente der Theorie auf (…). Die ‚Geschichtslosigkeit der Frau‘ bekundet sich als unhistorisches Moment und als Bedingung der männlichen (Theorie-) Geschichte selbst.“119 112 lies: der patriarchalischen Denkungsart lies: ihre Unhinterfragbarkeit 114 Luce Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist, S. 77 115 Sozusagen der Tribut, den das Weibliche dem Männlichen = Logischen Denken entrichten muss, womit es diesem „Denken“ die Lebensgrundlage ermöglicht. 116 Xenia Rajewsky / Gabriele Ricke / Gerburg Treusch-Dieter / Regine Othmer: Nachwort, S. 469 f. 117 Luce Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist, S. 78 118 Im handgreiflichen Sinn findet sich dieses Phänomen untersucht bei Claude Meillassoux: „Die wilden Früchte der Frau“. Über häusliche Produktion und kapitalistische Wirtschaft. Frankfurt am Main 1976 119 Xenia Rajewsky / Gabriele Ricke / Gerburg Treusch-Dieter / Regine Othmer: Nachwort, S. 471 f. 113 Jean-François Lyotard: Économie libidinale120 Eigenheiten der Lyotard‘schen Methode – Aus dem Vorwort der Übersetzer:121 „Die Leidenschaft und das Denken, die Ökonomie des Kapitals und der Lust als Metamorphosen des Triebes zu beschreiben, verlangt eine andere Geschichte der Macht und des Begehrens, die Freud und Marx (…) – mit Hilfe Nietzsches – in eine plastische Genealogie des Werdens aktiver wie auch reaktiver Kräfte überführt. Die Arbeiten von J.-F. Lyotard sind ein Beispiel für eine solche Transformation im politisch-philosophischen Diskurs, die sich aus dem Ereignis von 1968 ergibt und den Bruch markiert, in welchem ein experimentelles Denken von politischer Bewegung auftaucht – jenseits der vertröstenden Hoffnung auf einen garantierten, höheren Sinn der Geschichte. Oberflächlich betrachtet, ist hiermit das Thema der Économie libidinale (…) umrissen: Lyotard will zeigen, dass im Kapital, in der Sprache und in der Wissenschaft ebenso wie in Kunst und Erotik lustvolle Intensitäten am Werke sind. Der Trieb ist ein einflächiges Patchwork libidinöser Energien, die nicht sprechen, sondern arbeiten. Die techné, das heißt die Kunst des Hervorbringens, die die Ökonomie des Wunsches ausmacht, ist nur als paradoxe Geschichte ihrer Niederlagen zu entdecken, da die metaphysische und christliche Tradition den Wunsch nur als Begehren in Form von Mangel und Verfehlen, das heißt als Theater des Leidens und des unerreichbaren Genusses zu denken erlaubt.122 Ist diese Theatralik aber nicht selbst eine bestimmte Gestalt des Trieblebens?123 Wie unser Leiden funktioniert und wie es den religiösen Abstand zu einem abgehobenen Gott124 oder den ausschließenden Begriff einer abwesenden Wahrheit erzeugt und daran Genuss findet, wird ebenso zur Frage des Triebes wie die Lust am stellvertretenden Zeichen,125 das für etwas Anderes (Unerreichbares) steht und sich zum Träger der unüberwindbaren Differenz der Geschlechter artikuliert. […Das] Verwischen von scheinbar klar definierten Bedeutungen und ein Zusammenhang von Libido und Ökonomie ergibt sich in der französischen Sprache leichter als im Deutschen. So hat zum Beispiel ‘investissement’ die psychoanalytische Bedeutung von ‘Besetzung’ und die ökonomische von ‘Investition’; ‘interêt’ hat den Doppelsinn von ‘Interesse’ und ‘Zins’ oder ‘Profit’, und ‘crédit’ bedeutet ‘Glaube’ und ‘Kredit’. Andererseits kann zum Beispiel das Wort ‘désir’ je nachdem, in welchem theoretischen Kontext es verwendet wird, mit ‘Wunsch’, ‘Begehren’ oder ‘Begierde’ übersetzt werden.” 120 Jean-François Lyotard: Ökonomie des Wunsches – Économie libidinale. Bremen 1984 (Paris 1974) Jean-François Lyotard: Ökonomie des Wunsches, S. 5 ff. 122 Insofern wäre de Sade immer noch ein „christlicher“, zumindest „metaphysischer“ Denker der Lust – ein Verdikt, das denn auch von Feministinnen – zuletzt von Irigaray – immer wieder gegen den Göttlichen Marquis geltend gemacht worden ist. 123 „Corpus“ in der Lyotard’schen Begrifflichkeit 124 „Caput“ 125 an der Metapher, am Bild 121 Anwendung der Lyotard’schen Methode auf ein historisches Phänomen. Das Beispiel der Adeligen als Stammhalterin | Mätresse. Widerspruch von CAPUT | Denken und CORPUS | Sinnlichkeit im patriarchalischen System: „Frauen innerhalb des französischen Feudalsystems […] vertraten […] das Familienoberhaupt in dessen Abwesenheit; sie konnten Titel und Lehen erben und ihre Ländereien selbst verwalten. Ein Beispiel ist Anna von Bretagne, die erst Karl VIII. und dann Ludwig XII. heiratete, mithin zweimal Königin von Frankreich war, doch niemals aufhörte, der Verwaltung des Herzogtums, das sie der französischen Krone als Mitgift eingebracht hatte, persönlich vorzustehen.“126 In der alten, „feudalen“ Wertschätzung waren Männer und Frauen insofern einander ebenbürtig, als beide Geschlechter gleichermaßen die Sippe und deren familiale Macht | genealogische Potenz verkörperten. In dieser – nennen wir sie „kollektivistischen“ Anerkennung der Frau wird an ihr das Naturmoment „Körper“ gewürdigt, als unverzichtbar für die vertraglichen Qualitäten, die körperliche Eigenschaften zu verbürgen pflegen, etwa dadurch, dass sie die genealogische Kontinuität, das Weiterleben der Sippe garantieren. Daraus folgt: Individualität einer Frau, ihre Schönheit, ihre Intelligenz stehen immer nur „für etwas“ – niemals für sich selbst. Weibliche Klugheit macht sich nur indirekt bemerkbar, im Status und Statuserhalt ihrer Familie, ihrer Sippe. Und wenn die Frau Macht ausübt, als Herrin des Hauses oder des feudalen Besitztums – das Beispiel Annas von Bretagne –, wird sogar ihr Intellekt körperlich. Annas Klugheit verschmilzt mit Annas Erscheinung als „guter, tüchtiger“ Herrin. Anders gesagt, Anna von Bretagne ist auch als Königin von Frankreich nichts ohne ihren feudallehensrechtlichen Status, der sie als die hervorragende Erscheinung eines … Stammbaums erweist: Anna ist CORPUS. Umgekehrt wäre Anna bei Hofe, selbst wenn sie dort „nur“ Mätresse des Königs wäre, in ihrer Intellektualität, Gebildetheit, Klugheit oder Raffinesse (Eigenschaften, die sich durchaus in der Maske der „Schönheit“ präsentieren können) als sie selbst anerkannt. Sie stünde nicht „für etwas“ sondern für sich selbst. Sie wäre beispielsweise genau für die Rolle als Mätresse – das heißt Geliebte des Königs, nicht seine Ehefrau – nur als sie selbst geeignet; um vom König persönlich ausgewählt, ihm nicht bloß zugewiesen zu werden, könnte sich Anna von Bretagne nicht auf ihren Status als Feudalherrin verlassen, vielmehr hätte sie sich individuell, von keiner Genealogie dazu ausersehen, für den Mätressenberuf zu qualifizieren, nur so dürfte sie hoffen, für den König unersetzbar zu werden (wir sprechen vom Idealfall). Sieht man, wie „die Frau“ grammatikalisch in die Kategorie der Einzahl aufrückt? Wie sich ihr Status entwickelt – von der Beispielhaftigkeit zur Einzigartigkeit? Offenbar hat man genau die falsche Wortwahl getroffen, wenn man von „der Frau“ spricht (so wie man etwa von „der Gottesmutter“ spricht). Die Frau, wie sie bei Hofe anerkannt wird, ist durchaus CAPUT, nicht CORPUS. Daraus folgt: die Schönheit der Mätresse ist zwar „körperlich“, aber auch dieser „Körper“ dient nur sich selbst, beispielsweise der eigenen Lust (auch Lust an der Macht). Denn sein Atout ist der Intellekt, der sich als unverzichtbar weil unverwechselbar, und als unverwechselbar weil einzigartig weiß. Als weibliches Individuum ist die Frau weiterhin „reizend“. Aber sie ist es sozusagen aus eigener Machtvollkommenheit. Die Schönheit der Mätressen ist selbstreferenziell. Merke: die Mätressen der Könige sind gerade nicht 126 Benedetta Craveri: Königinnen und Mätressen. Die Macht der Frauen – von Katharina de‘ Medici bis Marie Antoinette. München 2008 (Mailand 2005), S.9 f. Lustobjekte; sie sind LustSUBJEKTE (um es so zu sagen). Sie sind – in „körperbetonter Verkleidung“ – weibliche Intellektuelle. Wird die Mätressenwirtschaft, mit Lyotard zu sprechen, die „Trennung zwischen der Einschreibung und ihrem Ort“ aufheben? Vielleicht hat sie ja das Phantasma der postmodernen Libidoökonomen bereits „erfüllt“ – drei-, vierhundert Jahre, bevor dieses Phantasma erstmals „wissenschaftlich“ formuliert wurde: “Sehen Sie nun, unnachsichtige Dame mit den grauen Augen, was wir Libidoökonomen durchbrechen wollen: wir sprechen nicht mehr (es sei denn aus Versehen, darauf können Sie sich verlassen) von Einschreibflächen, von Besetzungsgebieten und dergleichen Dingen mehr. Wir misstrauen der angenommenen Trennung zwischen der Einschreibung und ihrem Ort. Wir müssen unser Begriffsvermögen anstrengen, damit wir schließlich die Idee einer Intensität entwickeln, die, weit davon entfernt, sich einem produzierenden Körper gegenüber durchzusetzen, ihn determiniert.”127 127 Jean-François Lyotard: Ökonomie des Wunsches, S. 34