Der Mythos von den zwei Gehirnen
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Der Mythos von den zwei Gehirnen
NOCH FRAG EN? Jemand sagte mir einmal, ich würde rein »linkshirnig« denken, weil ich Probleme analytisch angehe. Aber stimmt es überhaupt, dass die linke Hirnhälfte für die Ratio und die rechte für Emotionen zuständig ist? Uwe Paals, Leverkusen Der Mythos von den zwei Gehirnen In der Tat ist die Vorstellung weit verbreitet, die linke Gehirnhälfte arbeite logisch-rational, die rechte dagegen kreativemotional. Der Gedanke wurzelt in frühen Beobachtungen an Patienten, die nach einem Unfall oder durch eine Hirnerkrankung ihre Sprache verloren hatten. So bemerkte der französische Neurologe Pierre Broca bereits 1863, dass ein solcher Ausfall nur bei einer bestimmten Schädigung in der linken Hemisphäre auftrat – folglich sei Letztere für die Sprachproduktion verantwortlich. Später bestätigte der Medizin-Nobelpreisträger Roger Sperry die »sprachliche Überlegenheit« der linken Hirnhälfte. Er testete Split-Brain-Patienten, bei denen man die beiden Hemisphären aus therapeutischen Gründen durchtrennt hatte. Nach der Operation konnten die Versuchspersonen Gegenstände in ihrem linken Gesichtsfeld – dessen Bildinformation wegen der Überkreuzung der Sehbahnen von der rechten Hirnhälfte verarbeitet wird – zwar erkennen, aber partout nicht mehr benennen. Dazu müsste die Information nämlich von der rechten in die sprachproduzierende linke Hemisphäre transportiert werden. Da die Sprache als höchste kognitive Errungenschaft des Menschen links im Kopf angesiedelt ist, entwickelten Forscher daraus das Konzept der »dominanten« linken Gehirnhälfte – die rechte sah man bis in die In dieser Rubrik beantworten wir Ihre Fragen rund um Gehirn und Geist. Mailen Sie uns: [email protected] 72 1960er Jahre als »minderwertig« an. Dann aber offenbarte die rechte Hemisphäre ungeahntes Talent bei verschiedenen visuellräumlichen Aufgaben: So konnten SplitBrain-Patienten ein Puzzle viel schneller zusammensetzen, wenn es links vor ihnen lag (sich also das »rechte Gehirn« damit beschäftigen musste). Auch wurde bald klar, dass die rechte Hemisphäre ein besonderes Faible für Emotionen hat: So führen rechtsseitige Hirnverletzungen mitunter dazu, dass die Betroffenen Schwierigkeiten haben, Gefühle im Gesicht ihres Gegenübers wahrzunehmen. Damit galt das Dominanzkonzept als widerlegt und wurde abgelöst durch eine neue Idee: Links- beziehungsweise rechtsseitige Aktivität gehe mit bestimmten Denkstilen einher – analytisch, logisch, rational versus kreativ, ganzheitlich, emotional. Der amerikanische Neurophysiologe Joseph Bogen (1926 – 2005), einer der Pioniere der Split-Brain-Operation, sowie der Psychologe Robert Ornstein von der kalifornischen Stanford University trieben das Ganze auf die Spitze: Demnach trainiert der »westliche Mensch« mit seinem Fokus auf Sprechen, Schreiben, Rechnen vor allem den Denkstil des linken Gehirns, während er jenen des rechten sträflich vernachlässigt. Auf diesem Konzept basieren verschiedenste Lehr- und Lernmethoden, mit dem Ziel, die kreativen Kräfte der rechten Hirnhälfte freizusetzen. Allerdings stehen sie auf wackligem Fundament, denn: Zweifellos existieren die beschriebenen funktionellen Asymmetrien im Gehirn – wer aber daraus unterschiedliche Denk- oder gar Persönlich- keitsstile ableitet, der verallgemeinert die wissenschaftlichen Einzelbefunde in unzulässiger Weise, um sie auf eine höhere Ebene zu übertragen. Für eine kreative, emotionale Denkart der rechten Hemisphäre sowie eine rationale, logische der linken gibt es schlicht keinerlei Beweise. Vielmehr zeichnet sich ab, dass sich an vielen komplexen Fähigkeiten beide Hemisphären beteiligen. Widerlegt ist beispielsweise die Annahme, dass Sprache eine rein linkshirnige Angelegenheit ist. So wird etwa die Satzmelodie stärker von der rechten Hirnhälfte verarbeitet. Auch verweigern einige Forscher der rechten Hemisphäre inzwischen das Monopol auf Emotionen. Scheinbar ist unser Gefühlsleben doch zu kompliziert, als dass es von einer Hirnhälfte allein bewältigt werden könnte. Ulrike Rimmele ist Neuro- und Verhaltenswissenschaftlerin an der Universität Zürich. Literaturtipps Meyer, M., Alter, K., Friederici, A. D. et al.: FMRI Reveals Brain Regions Mediating Slow Prosodic Modulations in Spoken Sentences. In: Human Brain Mapping 17(2), 2002, S. 73 – 88. Wager, T. D., Phan, K. L., Liberzon, I. et al.: Valence, Gender, and Lateralization of Functional Brain Anatomy in Emotion: a Meta-Analysis of Findings from Neuroimaging. In: Neuroimage 19(3), 2003, S. 513 – 531. GEHIRN&GEIST GEHIRN&GEIST 6/2006 5/2003