Dossier Speer - chronologisch - thule

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Dossier Speer - chronologisch - thule
Kautschuk aus Löwenzahn – 23.03.1981
Neues von Albert Speer: Seine Manager versuchten im Zweiten Weltkrieg, Tausende von Juden vor
dem Tod zu bewahren - um sie als Zwangsarbeiter für Hitlers Rüstung zu sichern.
Hitlers Rüstungsminister Albert Speer war sichtlich empört, als er Ende März 1943 das
Konzentrationslager Mauthausen besuchte. Er sah "aufwendige granitene Stützmauern, auf denen
Baracken, ebenfalls in Naturstein, errichtet waren. Alles war sauber und ordentlich. Das Niveau
etwa einer durchschnittlichen Flakbaracke".
Sogleich schrieb Speer dem SS-Chef Heinrich Himmler einen Beschwerdebrief: "... mußte ich sehen,
daß die SS Planungen durchführt, die mir unter den heutigen Verhältnissen mehr als großzügig
erscheinen."
Speer wurde dann deutlich: "Wir müssen für den Ausbau von Konzentrationslagern eine neue
Planung unter dem Gesichtspunkt des höchsten Wirkungsgrades bei Einsatz geringster Mittel zur
Erzielung des größten Erfolges für die augenblicklichen Rüstungsforderungen durchführen, das heißt,
daß wir sofort zur Primitivbauweise übergehen müssen."
Diese Forderung erschreckte sogar SS-Funktionäre, denen ein Menschenleben wenig galt. Der Chef
des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes, SS-Obergruppenführer Oswald Pohl, erregte sich über
den Speer-Brief: Der sei doch "eigentlich ein recht starkes Stück".
Pohl schrieb an Himmler: Es sei "völlig abwegig, in den Konzentrationslagern sofort zur
Primitivbauweise überzugehen. Reichsminister Speer scheint es nicht zu wissen, daß wir zur Zeit über
160 000 Häftlinge haben. Der Rückgang zur Primitivbauweise würde wahrscheinlich eine bisher
ungeahnte Sterblichkeit in den Lagern verursachen".
Speer, dem heute die ganze Aufregung über die Häftlingsbaracken unverständlich ist, erklärt jetzt,
warum ihn Schuld nicht trifft: "In Wirklichkeit bezog ich mich auf einen von mir herausgegebenen
Erlaß, wonach alle Bauausführungen während des Krieges in einfachster Form zu erfolgen haben."
Pohl habe offensichtlich diese Order nicht gekannt - als ob die Kenntnis eines bürokratischregulären Bauerlasses die Todesrate in den KZ vermindert hätte.
Die Baracken-Story erzählt Speer in seinem jüngsten Buch "Der Sklavenstaat", das in den nächsten
Wochen in der Bundesrepublik erscheinen wird. Nach seinen "Erinnerungen" (1969) und seinen
"Spandauer Tagebüchern" (1975) hat der erfolggewohnte Bestseller-Autor noch einmal ein Thema
gefunden, mit dem er sein Publikum fesseln will: "Meine Auseinandersetzungen mit der SS" - so der
Untertitel des neuen Buches.
Tatsächlich kann Speer anhand zahlreicher Aktenstücke aus dem Koblenzer Bundesarchiv
nachweisen, daß er sich wiederholt mit Himmlers Totenkopf-Orden angelegt hat. Oft gelang es ihm
dabei, die Zumutungen und Intrigen seiner Gegenspieler aus der SS abzuwehren - dank der
besonderen Beziehungen, die ihn mit Hitler verbanden.
Der Konflikt zwischen Rüstungsminister und Reichsführer-SS war programmiert, denn die SS drang
immer mehr in ein Gebiet ein, das Speer seit seiner Ernennung zum Reichsminister für Bewaffnung
und Munition im Februar 1942 für seine ureigene Domäne hielt: die Wirtschaft.
Schon bei Beginn des Zweiten Weltkrieges verfügte die SS über ein kleines Wirtschaftsimperium, zu
dem 14 Granit-, Ziegel- und Klinkerwerke gehörten, ferner Brotfabriken und Schwertschmieden, holzund eisenverarbeitende Betriebe, Fischzuchtanstalten, Güter und Forstbetriebe. 75 Prozent des
Mineralwassermarktes Deutschlands wurden von der SS kontrolliert, die gesamte Möbelindustrie im
deutschbesetzten Böhmen und Mähren war Besitz des Schwarzen Ordens.
Und je weiter Hitlers Armeen nach dem Osten vorstießen, desto ungenierter griffen die
Wirtschaftsbosse der SS nach herrenlosen Firmen und Fabriken.
Ob es um die Beteiligung an der Schieferölgewinnung im deutschbesetzten Osten ging oder um
Betriebe mit neuen Buchbindeverfahren, um landwirtschaftliche Güter in Rußland oder
Konservenfabriken in Polen - die SS war immer dabei.
Hinter all ihren (meist getarnten) Operationen standen nicht nur die Erwerbs- und Beutegier
führender SS-Männer, sondern auch jene antikapitalistisch-sozialromantische Wirtschaftsideologie,
die Hitler bis 1933 vertreten und die sich in den Köpfen einiger SS-Führer erhalten hatte. Ihnen
schwebte vor, die Privatwirtschaft allmählich in eigene Regie zu nehmen und sie aus der "Hörigkeit
von Kapital und Maschine" zu befreien.
Ihr Wortführer war der Alt-Nazi und Intellektuelle Otto Ohlendorf, einer der maßgeblichen Männer
des gefürchteten Sicherheitsdienstes der SS, der ein Programm für die allmähliche Eroberung aller
wirtschaftlichen Ministerien durch die SS entworfen hatte.
Ohlendorfs Plan: Erst sollten SS-Führer die Schlüsselposten des von dem schwachen Walther Funk
geleiteten Reichswirtschaftsministeriums besetzen, dann die Zusammenlegung des Wirtschafts-,
Landwirtschafts- und Rüstungsministeriums zu einem Superministerium erzwingen, dessen Leitung
man zunächst noch dem Hitler-Günstling Speer überlassen wollte, dem als Stellvertreter und
potentieller Nachfolger jedoch ein SS-Führer beigegeben werden sollte.
Entsprechend handelte Himmler. Im August 1943 setzte er durch, daß der SS-Brigadeführer Franz
Hayler zum Staatssekretär im Wirtschaftsministerium und Ohlendorf zu dessen Stellvertreter ernannt
wurden. "Schon damals", erinnert sich Speer, "schien mir Ohlendorf derjenige zu sein, dem Himmler
die Übernahme des Reichswirtschaftsministeriums zugedacht hatte."
Der mißtrauische Speer legte sofort Gegenminen. Er machte Hitler mobil, von dem er wußte, daß
auch ihm eine allzu mächtige SS zuwider war, und bewog den Diktator, dem Rüstungsminister und
dessen privatkapitalistischer "Manager-Revolution der deutschen Industrie" (Speer) das Vertrauen
auszusprechen.
Als gar im Herbst 1944 das Gerücht umging, Ohlendorf solle ins Rüstungsministerium eintreten, hatte
sich Speer schon "eine erfolgversprechende Aktion gegen alle Pläne Ohlendorfs ausgedacht".
Speer brachte den Parteikanzlei-Chef Martin Bormann ins Spiel und holte sich mit dessen Hilfe einen
nicht der SS angehörigen Parteifunktionär ins Ministerium - anstelle Ohlendorfs.
Weit gefährlicher als Ohlendorfs Intrigen aber mußte für Speer sein, daß Teile der Rüstungsindustrie
zusehends in den Einflußbereich der SS gerieten. SS-Wirtschaftschef Pohl hatte eine Taktik
ausgetüftelt, mit der er erreichen wollte, daß die Rüstungsindustrie ihre Betriebe in
Konzentrationslager verlegte und damit der SS zum Aufbau einer eigenen Wehrwirtschaft verhalf.
Pohl machte sich zunutze, daß ihm auch die 20 Konzentrations- und 165 Arbeitslager der SS mit ihren
Hunderttausenden von Häftlingen unterstanden. Da der privaten Rüstungsindustrie immer mehr
Arbeitskräfte fehlten, bot der SS-Mann ihr seine Sklaven an - unter einer Bedingung: Die Wirtschaft
sollte nach Möglichkeit ihre Betriebe dorthin verlegen, wo die Häftlinge lebten, in die KZ.
Nur allzu viele Privatfirmen gingen auf Pohls zynische Offerte ein. Speer aber witterte Gefahr: Sein
Ministerium würde zusehends abhängig werden von der Sklavenarmee des Oswald Pohl. Schon
1944 arbeiteten 170 000 KZ-Häftlinge für Unternehmen, die dem Speer-Ministerium unmittelbar
unterstanden.
Schlimmer noch: Die Kooperation zwischen Wirtschaft und SS verhedderte Speers Funktionäre und
Manager in das Sklavensystem des Himmler-Ordens, machte sie zu unfreiwilligen Zeugen und
Mitwissern des Massenmords an Juden. Denn auch diese gefährdetsten Opfer nazistischen
Rassenwahns bot Pohl der Rüstungsindustrie als Arbeitskräfte an.
Pohl hatte sogar Himmler bewogen, den organisierten Judenmord zu verlangsamen und die Lage
der jüdischen Häftlinge zu verbessern. Die Arbeitslager im Generalgouvernement, in denen 1943
noch 700 000 Juden vegetierten, waren von Pohls Leuten übernommen worden, und im März
hatten Pohl-Manager die Betriebsgesellschaft "Ostindustrie GmbH" (Osti) gegründet, zu der fortan
alle jüdischen Arbeitskräfte und Getto-Werkstätten im deutschbesetzten Polen gehörten.
Tausende von Juden erhielten so eine winzige Chance, dem Massenmord zu entkommen. Nur
wenige jedoch konnten die Chance nutzen, zumal SSinterne Konkurrenten Pohls, auf die totale
Vernichtung aller Juden fixiert, immer wieder intervenierten und jüdische Arbeitskolonnen in die
Gaskammern trieben.
Wie Speer und seine Männer damit fertig wurden, was sie taten oder unterließen, um ihren
jüdischen Arbeitern zu helfen, hat Speer mit überraschenden und bisher unbekannten Details in
seinem neuen Buch beschrieben, aus dem der SPIEGEL vom nächsten Heft an Auszüge abdruckt.
Doch der Autor macht sich nichts vor: "Nur vorsichtig versuchte mein Ministerium, die Lage der
Juden zu verbessern, und sicherlich geschah das häufig tatsächlich nur, um ihre Arbeitsleistung zu
erhalten."
Speer ist denn auch zu intelligent, um sich als Kreuzritter gegen den SS-Staat aufzuspielen. Nur
einmal verläßt den Autor die Wachsamkeit, mit der er seit Jahren die Erörterung der peinlichsten
Stellen seiner NS-Karriere zu verhindern weiß.
Er erzählt seinen Lesern, daß Himmler im Februar 1944 versucht habe, die Auseinandersetzungen mit
ihm, Speer, auf probate Weise zu beenden: "Himmler muß die Bedrohung seiner Stellung durch
mich jedenfalls so ernst genommen haben, daß er vor einem Mordversuch am eigenen
Rüstungsminister, der noch dazu fast gelungen wäre, nicht zurückschreckte."
Die Affäre trug sich zu, als Speer mit einem Knieschaden das SS-Lazarett Hohenlychen aufsuchte.
Obwohl im Dauerclinch mit der SS, will er nicht gewußt haben, daß es sich um eine SS-Anstalt
handelte. Auch sei ihm unbekannt gewesen, daß der Chefarzt Professor Karl Gebhardt SSGruppenführer und ein Jugendfreund Himmlers war.
Unter des Orthopäden Gebhardt Knie-Behandlung zog sich Speer einen lebensgefährlichen
Lungeninfarkt und eine Rippenfellentzündung zu, die ihn wochenlang ans Bett fesselten. Gebhardts
Fehlbehandlung dieser Leiden (er diagnostizierte Rheumatismus) habe ihn, Speer, schon damals in
der Überzeugung bestärkt, "einem akuten Anschlag auf mein Leben gerade noch entronnen zu
sein".
Dazu will jedoch nicht passen, daß Speer nach seiner Entlassung aus Hohenlychen den
vermeintlichen Mordhelfer Gebhardt einlud, ihn zur Nachkur in Meran zu begleiten, und er sich
auch danach keine Gelegenheit entgehen ließ, die ärztlichen Fähigkeiten eben dieses SSProfessors zu loben.
Als Gebhardt 1944 mit dem Ritterkreuz zum Kriegsverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, freute sich
auch der ehemalige Patient Speer darüber. "Ich habe mich ja selbst", schrieb er an Gebhardt am 6.
Juni, "von Ihrer großen Kunst überzeugen können." Und er grüßte ihn in "kameradschaftlicher
Verbundenheit".
Angesichts so enger Verfilzung zieht es der Autor vor, sich auf die Beispiele zu beschränken, mit
denen er nachweisen kann, wie sehr Himmlers Sonderpolitik immer wieder seine
Rüstungsmaßnahmen konterkarierte.
Das geschah scheinbar wahllos und ohne System, wie es der "systemimmanenten Unordnung in
jenem Reich" (Speer) entsprach. "Ein verbindendes Element", so der Autor, "bleibt allein die skurrile
Art Himmlers, mit der er versuchte, sich auf Gebieten einzuschalten, von denen er überhaupt nichts
verstand."
Speer nutzt gern die Gelegenheit, Himmler und seine SS-Männer wie die Marx-Brothers vorzuführen.
Genüßlich belegt er mit zahlreichen Döntjes, welchen aberwitzigen Ideen der SS-Chef nachstieg.
So hatte Himmler im Januar 1945 gehört, die Japaner stellten ihr Flugbenzin aus Tannenwurzeln her.
Sofort schaltete er seinen Stab ein, um über den japanischen Botschafter Oshima hinter das
Geheimnis zu kommen. Dazu kommandierte er einen SS-Obersturmführer namens Lipinsky von der
Front ab und erteilte ihm einen "Sonderauftrag der Benzingewinnung aus Wurzeln".
Pohl, schon an die abstrusen Vorstellungen seines Chefs gewöhnt, versuchte dessen Hektik zu
dämpfen. In einem Brief legte er ihm dar, daß "die japanischen Tannen sehr viel ölhaltiger sind als
unsere deutschen". Auch sei mit einer schnellen Lösung des Problems nicht zu rechnen, da die
Tannenwurzeln, ehe sie Benzin abgeben, "mehrere Jahre in der Erde altern sollen".
Doch Himmler ließ sich nicht bremsen. Als schließlich das Projekt scheiterte, war er nicht sonderlich
entmutigt - er hatte schon ungezählte derartige Fehlschläge unbeirrt überstanden.
Im Mai 1942 vertraute er beispielsweise Pohl allen Ernstes an, es gebe da eine Erfindung, "durch die
Abgase aus den Kaminen der Bäckereien eingefangen" werden könnten, um aus ihnen Alkohol zu
machen. Bäckereien wie unsere Bäckerei in Dachau müßten täglich 100 bis 120 Liter Alkohol auf
diese Art liefern".
Ein SS-Hauptsturmführer Niemann mußte sich der Sache annehmen. Doch er gelangte nach
aufwendigen Recherchen zu der Erkenntnis, daß sich nur 0,6 Prozent der Alkoholproduktion aus den
gesammelten deutschen Backschwaden gewinnen ließen.
Das verdroß Himmler. Er befahl Pohl: "Setzen Sie für diese Versuche einen anderen SS-Führer ein. Der
SS-Hauptsturmführer Niemann scheint mir zu der ganzen Frage absolut negativ eingestellt zu sein."
Aber auch der neue Mann konnte den Chef nicht zufriedenstellen.
Gelegentlich kamen die absurden Vorschläge auch von Hitler, und dann hatte der SS-Chef für
Aberwitziges erst recht ein offenes Ohr. So reagierte er sofort, als ihm Hitler den Anbau eines
Löwenzahngewächses zur Gewinnung von Naturkautschuk vorschlug.
Pohl wurde hochgeschreckt durch den Befehl, Saatgut zu beschaffen und riesige Felder in den
besetzten Ostgebieten zu bepflanzen. Himmler wußte noch mehr: "In diesem Zusammenhang
möchte ich auch auf eine andere in unseren Wäldern vorkommende Pflanze, nämlich die
Wolfsmilch, hinweisen, die meines Erachtens in ihrem Saft eine noch stärkere Klebrigkeit hat wie der
Löwenzahn in seiner Milch."
Speer belustigte sich: "Auf diese Weise die Klebrigkeit abschätzend, diskutierten der Diktator und
sein Polizeichef den Gehalt von Kautschuk im Löwenzahn."
Damals freilich brachte Speer kaum die Heiterkeit auf, mit der er heute die Aktivitäten der SSKonkurrenz beschreibt. Zum Amüsement war wenig Anlaß: Auf allen Tätigkeitsfeldern des
Rüstungsministeriums bedrängte ihn die SS.
In einer Domäne des Speer-Ministeriums gelang Himmler im August 1943 ein Einbruch: Speer verlor
die Zuständigkeit für die Entwicklung und Produktion der neuen V-2-Rakete (Kodename: A 4).
Himmler redete Hitler ein, man könne die Sorge, daß die Wunderwaffe A 4 verraten werde, auf ein
Minimum verringern, wenn zu diesem Projekt KZ-Häftlinge herangezogen würden unter Kontrolle der
SS. Der Vorschlag behagte dem nach Wunderwaffen lechzenden Hitler.
Fortan durfte Himmler als "Bevollmächtigter für die A 4-Fertigung" agieren. Vor dem unterlegenen
Speer brüstete er sich: "Es handelt sich um die größte und wichtigste Rüstungsaufgabe, die der
Führer vergeben konnte. Wir werden sie durchsetzen."
Himmler war "der entscheidende Schlag gegen meine bis dahin unangefochtene Autorität"
geglückt, urteilt Speer. Aber bald ergab sich das für den Rüstungsminister "gewohnte Bild": "Den
Erklärungen der ersten Stunde folgte eine Verzögerung nach der anderen."
Ergebnis: "Im Januar 1944 wurden statt der vorgesehenen 650 Raketen nur 50 abgeliefert."
Gleichwohl häufte Himmler von nun an Ämter über Ämter unter seiner Regie. Am Ende verdrängte
er Speer aus der gesamten Luftrüstung. Ein Himmler-Adlatus, der rührige SS-Gruppenführer Hans
Kammler, wurde schließlich noch "Generalkommissar für alle wichtigen Waffen der Endphase".
Speer gibt zu: "Himmlers Ziel war erreicht", um dann maliziös nachzuhaken: "Aber es gab keine
Rüstung mehr."
Doch merkwürdig: Trotz der Rivalität zwischen Rüstungsministerium und SS entstand keine
Feindschaft zwischen Himmler und Speer - im Gegenteil. Je länger der Krieg dauerte, desto näher
kamen sie sich.
Mitte März 1945 erschien Himmler sogar in Speers Arbeitszimmer am Pariser Platz in Berlin. Zwar
konnte Speer "bis heute nicht" herausfinden, was Himmler eigentlich von ihm gewollt habe, außer
daß er "in verbindlichen Worten Kontakt suchte". Da aber Himmler damals der einzige Mann im NSRegime mit realer Macht war, versuchte Speer, ihn für einen Plan zu gewinnen.
Er erklärte Himmler, Bormann müsse "aus dem Verkehr gezogen" werden, weil er mit seiner
Radikalität jede Mäßigung der fanatischen Zerstörungsbefehle Hitlers verhindere. Himmler selber,
schlug Speer vor, müsse Bormann ersetzen. Doch der SS-Chef zuckte zurück. Einen solchen Auftrag,
beschied er Speer, könne er nur vom Führer selber entgegennehmen.
Daß Himmler aber nicht einmal aufbrauste oder gar drohte, Hitler von diesem Gespräch zu
unterrichten, berührte Speer schon damals eigenartig. Heute weiß er: "Wir waren also trotz allem in
irgendeiner Form zu Komplizen geworden."
Hitler: "Bestellen Sie ihm, ich hab' ihn lieb!" - 07.09.1981
SPIEGEL-Redakteur Heinz Höhne zum Tod von Albert Speer
Er hat ein Meisterwerk publizistischer Wirksamkeit hinterlassen, das die Zunft der
Vergangenheitsbewältiger noch lange irritieren wird. Denn keiner verstand sich so gut auf die Kunst
des Hakenschlagens, auf das Bekennen und Wegdisputieren eigener Verantwortung wie er: Albert
Speer, der Künstler-Freund und Rüstungsminister Hitlers, bis zur vergangenen Woche der letzte
Überlebende aus dem innersten Kreis des Führers.
Schon früh hatte Speer begonnen, sein Leben zu stilisieren und in die Rolle des "feinsinnigen
Schuldig-Unschuldigen", wie der Psychologe Alexander Mitscherlich spottete, zu schlüpfen. Er war
gut darauf vorbereitet.
Im vorletzten Kriegsjahr hatte Speer damit angefangen, obwohl es ihm damals noch gar nicht
bewußt war. Das war die Zeit, als sich der Rüstungsminister Speer einer Phalanx beutegieriger
Gauleiter, NS-Ideologen und SS-Führer zu erwehren hatte, die ihm die Kontrolle über seinen Apparat
streitig machen wollten. Da schickte er einen dringenden Hilferuf an den Chef und Freund.
"Mein Führer", schrieb Speer am 20. September 1944, "die Aufgabe, die ich zu erfüllen habe, ist eine
unpolitische. Ich habe mich so lange in meiner Arbeit sehr wohl gefühlt, als meine Person und auch
meine Arbeit nur nach der fachlichen Leistung gewertet wurde. Ich fühle mich nicht stark genug,
meine und meiner Mitarbeiter zu leistende fachliche Arbeit ungehindert und erfolgversprechend
durchzuführen, wenn sie mit parteipolitischen Maßstäben gewertet werden."
An dieses Schreiben erinnerte sich Speer zwei Jahre später, als er auf der Anklagebank des
Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunals saß, beschuldigt der Vorbereitung von Angriffskriegen und
der unmenschlichen Behandlung ausländischer Zwangsarbeiter.
Er wußte, daß es sinnlos war, sich durch dumme Ausreden der Anklage entziehen zu wollen; er,
Albert Speer, mußte sich zu seinen Taten bekennen, aber auch zu einer "Gesamtverantwortung",
die allerdings die spezielle, individuelle Verantwortung für Verbrechen des Hitler-Regimes ausschloß.
Da kam ihm das Dokument des 20. September 1944 gerade recht. Ja, so war er doch gewesen: ein
unpolitischer Spezialist, nur an Leistung und Effizienz interessiert, der sich dem Ruf seines Führers nicht
hatte entziehen wollen und dadurch ungewollt in die Verbrechen des ihm fremden Regimes
verstrickt worden war.
Noch ehe am 1. Oktober 1946 das Urteil gegen Speer erging (20 Jahre Gefängnis wegen
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit), hatte er bereits in seiner Zelle erste
"Erinnerungsfetzen an die zwölf Jahre mit Hitler" notiert, in denen Speers Saga Konturen erhielt.
Speer schwebte ein vierteiliger Rechenschaftsbericht über seine Tätigkeit als Minister, Architekt und
Freund Hitlers vor - "offen und ehrlich", wie er sich vornahm.
Im Spandauer Gefängnis schrieb Speer weiter, auf Hunderten und Aberhunderten von Kassibern,
die er einem langjährigen Freund und Ex-Mitarbeiter, dem Architekten Rudolf Wolters, zuspielte, der
daraus ein Buch machen sollte. Wolters hatte dafür schon einen Verlag gefunden, doch es kam
anders.
Speers Tochter Hildegard, Germanistik-Studentin in West-Berlin, kontaktierte den Propyläen-Verlag,
der sofort einen Vorvertrag für die Memoiren des Ex-Ministers bot. Geschäftsführer Wolf Jobst Siedler
wollte das Buch in Angriff nehmen, sobald Speer die Mauern von Spandau hinter sich gelassen
hatte.
Siedler engagierte dazu einen brillanten Publizisten, der schon genau wußte, was für ein Mann
dieser Speer sei. Joachim C. Fest hatte in seinem 1963 erschienenen Buch "Das Gesicht des Dritten
Reiches" ein Speer-Porträt entworfen, das die Nürnberger Erklärungen des Hitler-Freundes kritisch
weiterführte und vertiefte.
Fest sah (und sieht noch heute) Speer als Prototyp des "spezialistisch verengten Menschen", der
jedem politischen System dient und sich auf seine partielle, ausschließlich fachlich orientierte
Funktion in Staat und Gesellschaft beschränkt. Einziger Orientierungspunkt für den Fachmann ist die
Technik, politische Orientierungslosigkeit, ja "technizistische Unmoral" die Folge.
Fest und Siedler standen zur Formulierungshilfe bereit, als Speer im Herbst 1966 Spandau verließ. Er
holte sich bei Wolters die inzwischen auf 2000 Kassiber angewachsenen Aufzeichnungen ab, doch
mit dem Schreiben wollte es nicht so recht klappen. Erst zu dritt ging die Arbeit am Buch flotter
voran, Absatz für Absatz wurde umgeschrieben, gekürzt, erweitert.
Nicht ohne Verwunderung beobachtete Speer, wie unter den Händen der beiden Gehilfen das
Porträt des apolitischen Spezialisten immer deutlicher, seine Einsichten in den verbrecherischen
Charakter des Regimes zusehends schärfer wurden. Ein bißchen unheimlich war ihm allerdings
dabei. Zu Siedler: "Vor 20 Jahren war ich doch ein ganz anderer."
Doch der riesige Erfolg von Speers "Erinnerungen", 1969 erschienen, gab dem Verlagsleiter Siedler
recht. Das Buch, dem sich 1975 noch die "Spandauer Tagebücher" hinzugesellten, faszinierte die
Deutschen wie kaum ein anderes Buch eines hohen Ex-Nazis: Hier sprach ein Wissender der NSFührung und gab Einblick in die intimsten Bereiche des Regimes, nüchtern, intelligent, freimütig und
scheinbar ohne Schonung der eigenen Person.
Albert Speer hatte eine neue Karriere begonnen, die des Tatzeugen der Hitler-Ära, und die Historiker
sahen es nicht ungern, allen voran Fest, der in seiner Führer-Biographie häufig auf die Erinnerungen
Speers zurückgriff -ein hübscher Fall von geschichtsschreiberischem Feedback.
Nur die ehemaligen Freunde, Mitarbeiter und Gegenspieler Speers stimmten in die Begeisterung
nicht ein. Das war nicht der Speer, den sie gekannt hatten. Nach der Lektüre der "Erinnerungen"
maulte der ausmanövrierte Wolters: "Ein Kriminalroman könnte nicht spannender erfunden werden."
Wolters wußte nur zu gut, daß es den "unpolitischen" Rüstungsminister Speer nie gegeben hatte.
Über Speers "Mischung aus politischer Arglosigkeit und fachmännischer Beschränktheit", über seine
"Unfähigkeit, sich in der Politik zurechtzufinden", die ihm erst jetzt wieder Fests "FAZ" bescheinigte,
kann Wolters nur lächeln.
In der Tat: Wenn es je einen Intellektuellen (ausgenommen Goebbels) gegeben hatte, der im
Ämter- und Kompetenzdschungel des Dritten Reiches seine Interessen derb zu wahren verstand,
dann war es Albert Speer gewesen, der Künstler, der sich als "zweiter Mann im Staat" sah und sich
allen Ernstes eine Chance ausrechnete, eines Tages die Nachfolge Hitlers anzutreten.
Er überließ nichts dem Zufall, er plante gern voraus. Zahlen und Kalkulationen hatten ihn von
Jugend an fasziniert; der Architekten-Sohn, am 19. März 1905 in Mannheim geboren, wollte
Mathematiker werden, doch der auf die Familientradition versessene Vater verhinderte das und
ließ ihn werden, was auch der Großvater schon gewesen war: Architekt.
Es waren keine sonderlich schönen Erinnerungen, die Speer an das eher lieblose Elternhaus mit den
14 Zimmern, den vielen Wagen, Kindermädchen und Dienern verband. Die Mutter war dem
ältesten Sohn zugetan, der Vater dem jüngsten -- für den mittleren, Albert, war kein Platz in dem
kargen Seelenhaushalt der Speers.
Albert zog sich verbittert in seine eigene Welt, die Welt der Zahlen und Statistiken, zurück. Scheu,
gehemmt, stets auf Distanz zu den Menschen, schloß er sich von seiner Umwelt ab - bis Margarete
kam, die Tochter des Schreiners Weber. An sie klammerte sich der liebebedürftige Oberrealschüler
bald so heftig, daß er mehr in der Wohnung der Webers weilte als im eigenen Elternhaus.
Prompt fuhr Vater Speer dazwischen, dem die ganze Liaison mit der Handwerkerstochter nicht
paßte. Margarete mußte in ein Mädchenpensionat, Albert wurde zum Architekturstudium an die
Technische Hochschule in Karlsruhe abgeschoben. Die beiden ließen dennoch nicht voneinander;
1928 heirateten sie ohne Anwesenheit der Eltern Speer. Unter dem wohltätigen Einfluß seiner Frau
versöhnte sich Speer nun auch mit dem ungeliebten Architekturstudium, ja er erwärmte sich jetzt
sogar für das Fach, zumal er inzwischen an Berlins Technischer Universität Schüler und Assistent eines
der originellsten Interpreten deutscher Baukunst, des Professors Heinrich Tessenow, geworden war.
Speer malte sich schon eine Zukunft als privater Architekt aus, da schwappten die Wellen der
nationalsozialistischen Agitation auch in die TU über. Die Masse der Studenten stand längst im Lager
der nationalistischen Republikfeinde, einige Kommilitonen drängten Speer, doch bei der
"nationalen Erneuerung" mitzumachen.
Er ließ sich eines Tages im Herbst 1930 überreden, zu einer Kundgebung Hitlers mitzugehen. Was er
dort hörte, gefiel ihm. Auch Speer teilte, wie so viele kurzdenkende Deutsche seiner Zeit, die
Sehnsucht nach dem "ordentlichen", dem autoritären Staat, der Schluß mache mit dem
wirtschaftlichen Elend und dem Leerlauf des Parteiensystems.
Albert Speer wurde Nationalsozialist, am 1. März 1931 trat er in die Partei ein. Da er einen kleinen
Sport-BMW besaß, überwiesen ihn die Parteioberen zum "Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps"
(NSKK), für das Speer in seiner Freizeit Kurierfahrten unternahm, unter anderem zu der NSKKKreisleitung West.
Dort lernte er den Organisationsleiter Karl Hanke, einen Spezi des späteren Propagandaministers
Goebbels, kennen, dem Speer gefiel. Eines Tages hatte er einen Auftrag für den arbeitslosen
Architekten: eine Villa im Berliner Grunewald umzugestalten, die Hanke für seine Organisation
gemietet hatte.
Speer machte seine Sache so gut, daß sich auch Goebbels von dem neuen Mann bedienen lassen
wollte: Speer baute das neue Gauhaus der NSDAP in der Voßstraße um. So konnte es gar nicht
ausbleiben, daß schließlich auch der Möchtegern-Architekt Hitler von Speer erfuhr und ihm im
Herbst 1933 anbot, seine Berliner Amtswohnung neu zu gestalten und zu möblieren.
Speer ging an die Arbeit, schweigend von dem immer wieder auftauchenden Hitler beobachtet.
Auf einmal sagte er zu Speer: "Kommen Sie heute mit zum Essen?" Speer wollte zunächst nicht
mitgehen, da er sich auf dem Baugerüst seine Jacke schmutzig gemacht hatte, doch Hitler ließ das
nicht gelten. Er schickte nach einem Diener, der Speer eine Jacke Hitlers verpaßte.
Speer und Hitler verstanden sich auf Anhieb. Beiden war die Distanz zu den Menschen gemeinsam,
beide fühlten sich als Künstler, weit über die Konventionen der Gesellschaft hinausgehoben, beide
schwärmten in der Baukunst für eine pseudoklassizistische Gigantomanie.
In schier endlosen Nachtgesprächen tauschten Hitler und Speer ihre Gedanken aus, zeichneten
einander Bauskizzen und Grundrisse vor und planten bald, zunächst nur auf dem Reißbrett, den
radikalen Umbau ganzer Städte und Landstriche: Stadien für 400 000 Zuschauer, Kuppelhallen von
220 Metern Scheitelhöhe, Kolossalpaläste und Aufmarschplätze von nie geahnter Dimension
schauerliche Dokumente des Größenwahns oder, wie es der braune Ideologie-Papst Alfred
Rosenberg nannte, "steingewordene Ideen der Volksgemeinschaft".
Je fanatischer sich der Künstlerpolitiker Hitler ereiferte, desto mehr steigerte sich Speer in die
Vorstellung hinein, ein neuer Mansart zu sein: Wie einst der Pariser Architekt Jules Hardouin-Mansart
als Erster Baumeister Ludwigs XIV. die Versailler Herrschaftsarchitektur geschaffen hatte, so sah sich
Speer bereits als alleiniger Baumeister Adolf Hitlers die Einschüchterungsarchitektur des Dritten
Reiches konzipieren.
Und Hitler ließ keinen Zweifel daran, daß er Großes mit dem Auch-Künstler Speer vorhatte, dem er
sogar "Genie" attestierte. Von Stufe zu Stufe schob er ihn die Treppe nationalsozialistischer
Hierarchie hinauf: Amtsleiter der Reichspropagandaleitung, Baubeauftragter im Stab des FührerStellvertreters, Abteilungsleiter in der Deutschen Arbeitsfront, Generalbauinspektor für den Ausbau
Berlins und Nürnbergs, schließlich Preußischer Staatsrat, Professor und Träger des Goldenen
Parteiabzeichens.
Er war aus der raffinierten Massenpropaganda des Regimes nicht mehr wegzudenken, die
bombastische Selbstdarstellung Hitler-Deutschlands verband sich vor allem mit seinem Namen. Die
Massenfeiern mit ihren Lichtdomen und Fahnenwänden, die Inszenierung der Reichsparteitage, die
Herrschaftsbauten wie die neue Reichskanzlei - immer wieder gingen sie auf einen Mann zurück:
Speer.
Hemmungslos entwarf er einen Plan nach dem anderen, immer phantastischere Projekte verließen
die Zeichentische seines Büros. Er war, so der Speer-Chronist Gregor Janssen, zum "einflußreichsten
Architekten" Deutschlands geworden.
Doch wehe, wer sich den Plänen und Ideen des Führer-Architekten widersetzte! Als sich Berlins
Oberbürgermeister Julius Lippert gegen den aberwitzigen Plan wehrte, seine Stadt zur
Welthauptstadt "Germania" mit zehn Millionen Menschen umzumodeln, intrigierte Speer bei Hitler so
lange gegen ihn, bis der Diktator den "Nichtskönner, Idioten" (Hitler über Lippert) absetzte. Auch
den Architekten Hermann Giesler, einen seiner schärfsten Kritiker, wollte Speer kaltstellen, doch
daran hinderten ihn dann doch Gieslers Freunde in der Partei.
Erst der Zweite Weltkrieg machte dem Baueifer Speers ein Ende. Doch Hitler hatte neue Aufgaben
für ihn, wußte er doch, was später Speer gerne zitierte: "Ich brauche einen, der auch nach meinem
Tode mit der von mir verliehenen Autorität weitermachen kann. Den habe ich in Ihnen gesehen."
Speers große Stunde kam, als der Rüstungsminister Fritz Todt im Februar 1942 mit einem Flugzeug
tödlich verunglückte. Sofort stand für Hitler fest, den arbeitslos gewordenen Speer zum Nachfolger
Todts zu ernennen, den "einzigen Mann, der in der Lage ist, das große Erbe des Toten seinem Sinn
und seinem Programm gemäß zu verwalten", wie sich Speer-Bewunderer Goebbels notierte.
Dabei ging es gar nicht um die Verwaltung eines Erbes, Speer sollte vielmehr radikal Neues
schaffen. Bis dahin war die deutsche Rüstungsmaschine, getreu Hitlers Blitzkrieg-Strategie, auf
halben Touren gelaufen; jetzt verlangte der Diktator Höchstleistungen von seiner Kriegswirtschaft
und deren neuem Manager.
Speer schaffte, was sich der Freund von ihm erwartete, und zeigte dabei ungeahnte ManagerTalente. Er erhöhte alle Rüstungsprogramme, befahl die rücksichtslose Mobilisierung auch der
letzten Arbeitskräfte, steigerte die Waffen- und Geräteproduktion und ließ die Konzentrationslager
nach einsatzfähigen Arbeitssklaven durchkämmen.
Selbst mancher Veteran der Produktionsschlacht erschrak vor dem kalten Funktionärseifer des
neuen Ministers. Sein Staatssekretär erkannte: "Er ist kühl bis in das Herz hinein." Speer wurde nicht
müde, von jedem seiner Mitarbeiter Höchstleistungen zu fordern, und drohte Saumseligen schärfste
Strafen an.
Ende Februar 1942 ließ Speer seine Mitarbeiter wissen, daß er "in mehreren Fällen wegen
Schädigung der Kriegswirtschaft die Überführung in ein KZ anordnen mußte", und im Oktober
formulierte er noch schärfer: "SS und Polizei könnten hier ruhig hart zufassen und die Leute, die als
Bummelanten bekannt sind, in KZ-Betriebe stecken."
Er hielt sich sogar eine Art Privat-Gestapo, die "Transportbrigade Speer", mit der er dienstunwillige
Mitarbeiter oder "Gerüchtemacher" zu disziplinieren versuchte. Die Brigade nahm zuweilen
ungehorsame Beamte wie etwa den Personalreferenten des Rüstungsministeriums in
"Sicherungsverwahrung" oder überwies sie gleich, wenn von Speer befohlen, einem
Konzentrationslager.
Es gab (außer Himmler) kaum einen Minister des Dritten Reiches, der so häufig selbst engste
Mitarbeiter mit einer Einweisung ins KZ bedrohte wie Speer. Die "unerträgliche Atmosphäre in der
Führungsspitze des Rüstungsministeriums" (Janssen) sprach sich rasch im Führerhauptquartier herum,
doch sie kümmerte Hitler nicht, solange Speer Erfolge vorweisen konnte.
Und er konnte: Die Rüstungsproduktion steigerte Speer um das Dreifache, den Arbeitskolonnen in
den KZ preßten seine Beauftragten schier unvorstellbare Leistungen ab, Kenner sprachen von
einem deutschen Rüstungswunder. Solche Erfolge, weiß der Chronist Janssen, "schufen ihm ein
Leistungsprestige und ein Vertrauen, das bald grenzenlos und blind wurde".
Sein Erfolg hatte anfangs einen ganz einfachen Grund: Der nüchterne Speer beseitigte den
Schlendrian und Kompetenzwirrwarr, der das Rüstungsministerium zu einer Karikatur des angeblich
effizienten NS-Staates gemacht hatte.
Albert Speer stand auf dem Höhepunkt seiner Macht - und wollte noch mehr. Das Gerede von
einer Führer-Krise verlockte ihn im Sommer 1943, sich als Nachfolger Hitlers ins Gespräch zu bringen.
Er befragte ernsthaft seine Amtschefs, ob sie ihn für "führerfähig" hielten (Antwort: ja), und verband
sich mit Goebbels, der zumindest das Interesse hatte, gemeinsam mit Speer die Vorzimmer-Macht
Martin Bormanns zu brechen.
Doch die sich steigernden Bombenangriffe der alliierten Luftflotten auf deutsche Rüstungswerke
unterminierten auch Speers politische Position. Die Produktionsziffern sanken rapide, mit ihnen das
Zauberer-Image des Rüstungsministers.
Es war nicht ohne Ironie, daß der Zahlenfanatiker Speer anfing, die Produktionsziffern seines Hauses
zu frisieren, was freilich dem mißtrauischen Diktator nicht lange verborgen blieb. Selbst Goebbels
wurde hellhörig: "Ich glaube dem Speer kein Wort mehr. Er macht uns alle mit seinen Zahlen
besoffen."
Am Ende flüchtete sich Speer im Januar 1944 in eine Krankheit, die ihn monatelang vom Ministerium
fernhielt. Das machte seine Lage noch schlimmer: Unter der Führung des Ministerialdirektors Xaver
Dorsch brach im Rüstungsministerium eine Revolte von Speer-Gegnern aus, die mehr
Selbständigkeit verlangten und sogar das Gehör Hitlers fanden, der allmählich an seinem Minister
irre wurde.
Dorsch verbreitete das Gerücht, "daß Speer unheilbar krank sei und daher nicht wieder
zurückkäme" (Speer-Notiz vom 17. Mai 1944) - Grund genug für Hitler, die Ablösung Speers durch
den Generalfeldmarschall Erhard Milch zu planen.
Doch der Speer-Freund Milch hatte keine Lust, den Schleudersitz einzunehmen. Er schlug Hitler vor,
Dorsch mehr Selbständigkeit zu geben, Speer aber auf seinem Posten zu belassen. Hitler war
einverstanden; Milch sollte Speer die gute Nachricht überbringen.
Milch wußte jedoch, daß Speer wegen Hitlers kühler Zurückhaltung heftig verstimmt war. Er bat
daher Hitler, ihm noch eine persönliche Botschaft für den Minister mitzugeben. Erst wollte der
Diktator gar nicht, dann sagte er unwillig: "Bestellen Sie Speer, daß ich ihn lieb habe!"
Doch der Patient Speer kehrte den Beleidigten hervor, als ihm Milch das Wort Hitlers ausrichtete.
Speer raunzte: "Der Führer soll mich am Arsch lecken!" Darauf Milch: "Um dem Führer gegenüber in
solcher Form aufzutreten, bist du viel zu klein!" Erst nach ein paar Stunden gab Speer nach.
Speer kehrte ins Ministerium zurück, doch die Welt war für ihn nicht mehr in Ordnung. Ob er damals
innerlich mit Hitler gebrochen hat, wie eine Version behauptet, ist fraglich; auch die Tatsache, daß
er auf einer Liste der 20.-Juli-Männer als künftiger Minister stand, besagt nicht viel - er hat den
Anschlag auf Hitler immer abgelehnt.
Selbst als er im Februar 1945 plante, Hitler in dessen Berliner Bunker durch Giftgas umzubringen und
damit den Krieg zu beenden, konnte er sich nicht von dem einstigen Freund lösen. Er gab den Plan
auf. Und trat wenige Wochen später wieder vor ihn, um zu versichern: "Mein Führer, ich stehe
bedingungslos hinter Ihnen!"
Erst Hitlers Tod machte Speer frei. Als er am 1. Mai in Flensburg, diesmal Minister in der Regierung des
Großadmirals Dönitz, in seinem provisorischen Amtszimmer ein Bild Hitlers aufstellte, überfiel ihn ein
Weinkrampf. Wie er es später in seinen Memoiren beschrieb: "Das war das Ende meiner Beziehung
zu Hitler, jetzt erst war der Bann gelöst, seine Magie gelöscht."
So einfach, wie es sich hier liest, wird es wohl kaum gewesen sein. Speer brauchte viel Zeit, um in
den Gefängniszellen von Nürnberg und Spandau seine Vergangenheit zu ordnen und einen Plan
für die Zukunft zu fassen.
Wie Millionen Deutsche begann auch er damals, seine Vergangenheit zu verdrängen, sich besser
zu geben, als er gewesen, klüger, gütiger, menschlicher. Allerdings: Er machte es intelligenter als die
meisten seiner Landsleute.
Speer konnte nicht wegdisputieren, wohin ihn Ehrgeiz, Machtrausch und Unterwerfungstrieb
gegenüber einem vermeintlich genialen Tyrannen gebracht hatten. Aber er konnte durch Freimut
überraschen, durch Schuldbekenntnisse für sich einnehmen, deren laute Eindringlichkeit den
"letztlich apologetischen Ansatzpunkt und Anspruch" Speers (so der Historiker Karl Dietrich Bracher)
übertönte.
Er verblüffte bald die Welt mit Selbstbezichtigungen, die ihn in den Ruf brachten, der einzige reuige
Hitler-Paladin zu sein. Er halte es, so Speer, "für richtig, die Verantwortung und damit die Schuld für
alles auf mich zu nehmen, was nach meinem Eintritt in die Hitler-Regierung an Verbrechen, in
generellem Sinne, begangen wurde".
Der Nürnberger Prozeß war ihm auch noch lange nach seiner Verurteilung "ein Versuch, zu einer
besseren Welt vorzustoßen". Und er ließ nicht ab, immer wieder zu betonen, daß auch er sich an
dem ungeheuerlichsten Verbrechen Deutschlands, der Judenvernichtung, mitschuldig gemacht
habe.
Er beteuerte zwar jahrelang, von der "Endlösung" erst nach Kriegsende erfahren zu haben, aber
schließlich ließ er auch diese Vorsicht noch fallen. Speer 1977: "Meine Hauptschuld sehe ich immer
noch in der Billigung der Judenverfolgungen und der Morde an Millionen von ihnen."
Nur wenige beachteten dabei freilich, daß all seine Bekundungen immer mit einem kleinen
Vorbehalt abgegeben wurden: daß er, der apolitische Manager, schuldig-unschuldig in die Netze
der Nazi-Diktatur geraten, trotzdem mitgeholfen habe, das Schlimmste zu verhüten.
Und je sicherer er sich als die von Wissenschaft und Medien hofierte Hauptauskunftsperson in
Sachen Hitler etabliert wußte, desto deutlicher wurde seine Tendenz, möglichst viel von seiner
Vergangenheit wieder zu retten -"mit verwundertem und erschrecktem Stolz", wie Speer das
vieldeutig nannte.
1979 ließ er seine Architekturarbeiten aus der Zeit des Dritten Reiches in einem Buch veröffentlichen,
in dem Speers Selbstkritik nur noch recht schwach klang. Da stand der fatale Satz: "Ich will es
kritisieren, ich kann mich von ihm nicht distanzieren."
Als Speer sich aber gar vornahm, nun auch noch sein eigener Historiograph zu werden, und aus
Akten des Bundesarchivs die Geschichte seiner "Auseinandersetzungen mit der SS" ("Der
Sklavenstaat") schrieb, wurde es dem bayrischen Zeitgeschichtler Michael Hepp zuviel.
In einer Untersuchung, die demnächst die "Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte" veröffentlichen
werden, wies der Historiker dem Autor Speer unseriösen Umgang mit Zahlen und Fakten nach.
Hepp: "Er hat hier Akten verdreht, falsch gerechnet und ein Schreckensbild gemalt, das die
Wirklichkeit weit in den Schatten stellt."
Hepp ist nicht der einzige, der am Speer-Mythos kratzt. In Berlin schreibt soeben der junge
Zeitgeschichtler Mathias Schmidt an dem Schlußkapitel eines Buches, das "ein völlig neues SpeerBild" (Schmidt) zeichnen wird. Es soll beenden, was der Autor "die wohl raffinierteste Apologie eines
führenden Mannes des Dritten Reiches" nennt.
So hat denn doch die Saga des Albert Speer wenig Aussicht, ihren in der vergangenen Woche
gestorbenen Schöpfer zu überleben. Wie hat er doch einmal gesagt? "Ich wollte einfach die
Wahrheit nicht wissen, ich wollte der Wahrheit ausweichen."
Ein Griff ins volle Nazi-Leben – 25.01.1982
Mit Millionenaufwand und unter strenger Geheimhaltung werden in München die Memoiren des
Hitler-Vertrauten und Rüstungsministers Albert Speer verfilmt - zu einer fünfstündigen USFernsehserie, die ebenso stark wirken soll wie einst "Holocaust". Das historische Bild Speers jedoch
gerät, bei aller Mühe, schief.
Draußen, auf der Straße, prügeln sich Nazis mit Kommunisten. Drinnen, im Souterrain, läßt sich Albert
Speer aus der Hand lesen.
Die Wahrsagerin: "Sie würden für einen Auftrag alles geben, nicht wahr?" - "Alles." - "Auch Ihre
unsterbliche Seele?" - "Ja." Doch dann besinnt sich der Jungarchitekt - die Seele, das führte denn
wohl doch zu weit.
So faustisch gibt sich das Drehbuch eines Films, der noch bis Anfang Februar in der Münchner
Filmstadt Geiselgasteig gedreht wird und der, wenn es nach Regisseur Marvin J. Chomsky geht,
"ebenso eindrucksvoll wie 'Holocaust'" sein wird.
Chomsky machte aus den Memoiren des Rüstungsministers, Architekten und Führer-Günstlings
Albert Speer eine fünfstündige Fernsehserie.
Acht Millionen Dollar läßt sich der amerikanische Medienriese ABC sein "Inside the Third Reich"
kosten. Das ist der englische Titel von Speers "Erinnerungen" und läßt sich am besten mit "Hinter den
Kulissen des Dritten Reichs" übersetzen.
In den Bavaria-Hallen 1, 4 und 5 gestalteten Oscar-Preisträger ("Cabaret") Rolf Zehetbauer und
Herbert Strabel penibel Nazi-Kulissen nach - neben Hitlers Arbeitszimmer und Teilen der
Reichskanzlei etwa einen Krankenhaus-Komplex oder des Führers Feldquartier Wolfsschanze.
Als sei es Geheime Reichssache, so dicht schottete ABC das Projekt ab. Nicht einmal die
Hausherren wußten, was genau in ihren Hallen vorging, ein Bavaria-Sprecher munkelte gar von
einem "Fast-Sprechverbot für die Stars". Fernsehcrews wurden vergrault, Reportern wurde fast
routinemäßig die Entfernung vom Drehort angedroht.
In drei Monaten hetzte das Team durch mehr als hundert Dekorationen und Schauplätze - vom
Englischen Garten zum Haus der Kunst, fürs Dokumentarische nach Nürnberg und nach Miesbach,
Oberbayern, in die Idylle.
Der Holländer Rutger Hauer spielt Albert Speer, Elke Sommer die Goebbels-Ehefrau Magda. In den
Kulissen des Dritten Reiches agieren Robert Vaughn ("Solo für O.N.C.E.L.") als Generalfeldmarschall
und Speer-Freund Erich Milch, Maria Schell und Sir John Gielgud als Speer-Eltern, der Amerikaner
Mort Sahl als Kabarettist Werner Finck und Derek Jacobi als Adolf Hitler.
"Tagelang", "seit 1977 immer wieder" hat Drehbuch-Autor und Produzent E. Jack Neuman Albert
Speer auf der Terrasse von dessen Heidelberger Villa "ins Kreuzverhör" genommen. Zum letzten
geplanten Plausch kam es nicht mehr: Drei Tage vor Speers Tod in London am 1. September
vergangenen Jahres verhinderte schlechtes Wetter den Treff.
Damit die Serie, die das US-Fernsehen im Frühsommer nationwide ausstrahlen will, ähnlich schwer
einschlägt wie die Vorbilder "Roots" und "Holocaust", verpflichtete ABC mit Chomsky eben den
Regisseur, der "Roots" und "Holocaust" gedreht hat.
Aus der Fernseh-Serie will Paramount anschließend eine Filmfassung zusammenschneiden und
vertreiben, worldwide.
Es wird ein Griff ins volle Nazi-Leben, mit Kitsch, Klischees und dramatischer Aktion zuhauf.
"Inside"-Drehbuch, Einstellung 221; Hitler hat gerade wohlwollend die Vorschläge des jungen Speer
für den Nürnberger Reichsparteitag studiert. Da flippt im Vorzimmer auch schon der eifersüchtige
Rudolf Heß aus:
Heß: "Was ist Adolf Hitler" - Speer: "Eh ...?" - "Was ist er? Was ist Adolf Hitler, Speer?" - Speer: "Na ja,
Reichskanzler halt" - Heß: "Führer! Führer! Führer! Adolf Hitler ist Ihr Führer! Immer und in allem, ist das
klar?"
So schnell kommt der Kulissen-Film zur Sache, daß sich schon beim ersten Auftritt
Propagandaminister Joseph Goebbels, unter schnöder Zurücklassung Elke-Magdas auf dem Diwan,
an die nächstbeste hübsche Brünette wirft, immer mit Grandezza.
Magda wiederum, wenn sie nicht gerade mit dem schmucken Speer Tapeten aussucht, entzündet
sich in Flirts mit dem Speer-Förderer und Goebbels-Vorzimmerlöwen Karl Hanke. Und niemand
anders als der sensible Speer ist sofort zur Stelle, wenn Hitler-Geliebte Eva Braun beim Ausflug in die
Bergwelt, abseits der Picknick-Party mit dem Führer, am Alpenbach einen Hauch von Weltschmerz
spürt. Eva: "Sie wirken auch aus der Nähe wie von fern."
Oder - auch das ein süffiges Klischee zum Thema Umgangston im Dritten Reich - der Speer-Satz: "Ich
werde nicht S.149 zögern, den Reichsmarschall zu bitten, Sie erschießen zu lassen."
Nun sind historische Fehler - Speer durfte nicht für einen Reichsparteitag, sondern für eine Feier zum
1. Mai seine erste Massenveranstaltung inszenieren - in Spielfilmen und Fernsehserien zum Dritten
Reich so üblich wie etwa falsche oder gar Phantasieuniformen.
Gewiß auch zwingt die Filmdramaturgie zur historisch oftmals unzulässigen Verknappung gelegentlich sogar zum Nutzen des Publikums. So entwirft Drehbuchautor Neuman eine Szene, die
in gedrängter Form deutlich macht, wie die beutegierigen und verfeindeten Hitler-Paladine
Goebbels, Göring, Heß und Bormann ätzend wie mittlere Manager den Führerliebling Speer
gemeinsam demütigen. Goebbels: "Um den Führer gibt es einen inneren und einen äußeren Kreis.
Ihnen wird im inneren Kreis keiner Platz machen."
Was jedoch - Kitsch hin, Klischee her - die Mammut-Serie fragwürdiger noch als "Holocaust" (dessen
Hauptfiguren fiktiv waren) zu machen droht, ist dies: Spätestens, wenn Speers Taten einem
Millionenpublikum per Leinwand und Bildschirm konsumgerecht vorgeführt werden, hat der
Großarchitekt des Führers posthum erreicht, was er kühl und beharrlich ansteuerte, seit er 1966 aus
Spandau entlassen wurde: einen endgültigen Platz in der Weltgeschichte als "feinsinniger SchuldigUnschuldiger" (Alexander Mitscherlich), gekoppelt mit dem Rang der letzten und höchsten Instanz
in Sachen Moral und Drittes Reich.
Endgültig festgeschrieben ist dann Speers eigene Legende, die ihm der Historiker Joachim C. Fest
erst so recht griffig auszuformulieren ermöglichte, indem er Speer Schreibhilfe bei seinen
"Erinnerungen" gab (auf die sich Fest später in seiner Hitler-Biographie wiederum bezog).
Sei es in "Playboy"-Interviews, sei es in seinen Büchern: Wirkungsvoll wie einst die Lichtdome auf den
Reichsparteitagen inszenierte Speer die Legende vom Technokraten Albert, der nur grandiose
Bauten errichten wollte und darüber jeden Gedanken zum Charakter des Regimes versäumte.
Es war das Dilemma des Drehbuchautors E. Jack Neuman, daß er diese Sichtweise übernehmen
mußte, wollte er filmische Spannung ins Speer-Leben bringen.
Zwei amerikanische Filmgesellschaften und eine englische, sagt Neuman, hatten sich Optionen für
die Speer-Memoiren gesichert. Alle gaben auf. Neuman: "Das Buch lag auf dem Markt wie
Fallobst."
Denn der menschenscheue Zahlenfetischist Speer hatte in seinen "Erinnerungen" alle innere
Gespaltenheit, all jenes Menschlich-Allzumenschliche, alle Seelen-Dramen vermissen lassen, die
eine Personality-Story in Hollywood braucht.
Neuman behalf sich mit einem Trick: Für innere Konflikte mußte Speers Ehefrau Margarete (Blythe
Danner) herhalten. Neuman stilisiert sie zur Verkörperung dessen, was Speer nie recht zu erkennen
gab: Gewissensnöte. Margarete zu Albert, Einstellung 243: "Nein, versuch' nicht wieder, mich in die
Arme zu nehmen. Und mir zu erzählen, es wäre alles bloß Propaganda."
Oder, vor der Regieanweisung "Leise weinend" dann der Satz: "Nie mehr werden wir uns einfach
anlächeln, miteinander Musik hören, einfach nur Liebende sein können" - gesprochen nach der
Bücherverbrennung im Mai 1933: die Tyrannei des Dritten Reiches als Ehekrise.
Nur irritiert und eher unangenehm berührt läßt Neuman seinen Speer-Darsteller S.151 nach der
Reichskristallnacht 1938 sich in einer von Scherben übersäten Straße bewegen. Und geradezu zur
"Tunnelvision" (Neuman) soll Speer-Hauers Blick nach Neumans Vorstellung schrumpfen, wenn er,
Ehefrau Margarete im offenen Cabrio neben sich, an einem provisorischen Lager vorbeirauscht.
Ein naiver Nur-Technologe ist der Karrierepolitiker Speer nie gewesen. Der Berliner
Geschichtswissenschaftler Matthias Schmidt etwa weist anhand neuer Dokumente nach, daß die
Speer-Forschung bisher ein arg geschöntes Bild malte.
Das Fazit seiner demnächst erscheinenden Untersuchung: Hitlers Großbaumeister war nicht bloß
gigantomanischverblendeter Kunst-Ehrgeizling, sondern in erster Linie ein Machtpolitiker, der
bedenkenlos Intrigen zu spinnen verstand. Und zum Holocaust, so Schmidts These, herrschte beim
Rüstungsminister wesentlich mehr Klarheit, als selbst die Speer-Kritiker bislang annahmen.
Dem wahren Speer am nächsten kommt der Film in einer Szene mit Zwangsarbeitern. Der
Rüstungsminister, hier an der Baustelle für die Geheimwaffe V 2, fordert von den Lagerverwaltern
bessere Unterkunft, Nahrung und Kleidung für seine Sklaven. Auf den Satz: "Ihr Mitgefühl überrascht
mich", antwortet Albert Speer: "Kranke und Sterbende produzieren mir zuwenig, und was mein
Mitgefühl angeht, so gilt das nur meinen Produktionsziffern."
Der Zwang zum verkäuflichen Kitsch aber bewirkt, daß Autor und Produzent Neuman dann doch
immer wieder einen Weichzeichner über die Kunstfigur Speers legen muß.
Was dem "skrupellosen, opportunistischen Macher", erkannte Neuman nach langen Recherchen,
zu seiner Karriere verhalf, war Speers Fähigkeit, "in jedem Moment genau zu spüren, was andere
von ihm erwarteten - und das sagte er dann".
So legte er sich bei den Nürnberger Prozessen in die Bekennerpose, so kokettierte er später mit
Neuman auf der Terrasse seines Heidelberger Hauses - sei es als vom Schaffensdrang Besessener, als
Bekenner, manchmal als Kollege aus dem Show-Business.
Durchaus mit Erfolg. Produzent Neuman inszeniert auf dem "Bavaria"-Gelände ein Werk, das dem
Großmeister der Licht-Effekte Speer gefallen hätte.
"Revolution" oder "riesenhaftes Theater"? - 18.11.1985
SPIEGEL-Redakteur Wolfgang Malanowski über den Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozeß
1945/46.
Der letzte Akt fand in der Turnhalle statt - der Turnhalle des Nürnberger Justizpalastes, der inmitten
von Schutt und Trümmern heil geblieben war. Da standen nebeneinander drei Galgen, das
Schafott war rundherum mit schwarzen Tüchern abgedeckt.
Dreizehn hölzerne Stufen führten zur Plattform hinauf. Darüber, an einem Querbalken, ein starker
eiserner Haken, an dem der Strick baumelte: Tod durch den Strang für zwölf Hauptkriegsverbrecher
des ehedem Großdeutschen Reiches:
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Martin Bormann, Reichsleiter, Chef der Parteikanzlei der NSDAP (gegen ihn
Abwesenheit" verhandelt worden);
Hans Frank, Generalgouverneur von Polen;
Wilhelm Frick, Reichsinnenminister, später Reichsprotektor von Böhmen und
(Tschechoslowakei);
Hermann Göring, Reichsmarschall, Oberbefehlshaber der Luftwaffe (Göring hatte
Leben genommen);
Alfred Jodl, Generaloberst, Chef des Wehrmachtsführungsstabes;
Ernst Kaltenbrunner, SS-Obergruppenführer, Chef des Reichssicherheitshauptamtes;
Wilhelm Keitel, Generalfeldmarschall, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht;
Joachim von Ribbentrop, Reichsaußenminister;
Alfred Rosenberg, Reichsminister für die besetzten Ostgebiete;
Fritz Sauckel, Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz;
Arthur Seyß-Inquart, Reichsminister ohne Geschäftsbereich, Reichskommissar
besetzten Niederlande;
Julius Streicher, Ex-Gauleiter von Franken, Herausgeber des "Stürmer".
war "in
Mähren
sich das
für die
Die Turnhalle war, in der Nacht zum 16. Oktober 1946, mit Soldaten der siegreichen Alliierten und
ausländischen Journalisten gefüllt. Jede Besatzungsmacht hatte einen General entsandt. Als
einzige Deutsche waren, auf Befehl der US-Militärregierung, der bayrische Ministerpräsident Wilhelm
Hoegner und der Nürnberger Generalstaatsanwalt, Friedrich Leistner, zugegen, "als Zeugen für das
deutsche Volk".
"Es war schauerlich, diese schon von der Todesangst gepeinigten, halbbekleideten Menschen in
den engen Zellen aufsuchen zu müssen", berichtete Hoegner später. "Dabeisein zu müssen, wie sie
zum Schafott geführt wurden."
Einer nach dem anderen. Als erster, um 1.01 Uhr, von Ribbentrop. Auf der Plattform fragte ihn ein
amerikanischer Feldwebel: "Haben Sie noch etwas zu bemerken?"
Ribbentrop sagte: "Mein letzter Wunsch ist, daß Deutschland seine Einheit wiederfindet, daß eine
Verständigung von Ost und West kommt für den Frieden in der Welt." Dann waltete Henker John C.
Woods aus Texas seines Amtes.
Zwischenfälle gab es nicht, "keiner brach zusammen", meldete eine amerikanische
Nachrichtenagentur. Den Delinquenten Streicher, der nur mit einer langen Unterhose bekleidet
war, mußten allerdings US-Militärpolizisten zum Galgen schleppen. Streicher salutierte: "Heil Hitler!"
und stieß Verwünschungen aus: "Die Bolschewisten werden euch hängen."
Als letzter, um 2.45 Uhr, wurde Seyß-Inquart gehängt, sodann die Leiche Görings in die Turnhalle
geschafft. Er hatte sich, knapp drei Stunden vor den Hinrichtungen, in seiner Zelle vergiftet, mit
Zyankali.
Das war der Schlußpunkt im Prozeß vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg, der,
einmalig in der Weltgeschichte, Angriffskriege, Kriegsverbrechen, Ausrottung und Völkermord, von
den Deutschen begangen, ahnden sollte.
Der Jahrhundertprozeß sollte, so sah es Kriegsheld General Dwight D. Eisenhower, "ein Jahrhundert
gerechten Friedens einleiten"; den "Schandfleck unserer Zeit tilgen" (US-Chefankläger Robert H.
Jackson), "Gerechtigkeit nach den Regeln von Recht und Menschlichkeit herstellen" (der britische
Ankläger Sir David Maxwell Fyfe).
Aber war dieser Prozeß, wie behauptet worden ist, "Grundstein", "Markstein", "Wendepunkt", eine
"Revolution" des Rechts? Oder war er ein "utopisches Völkerrechtsprojekt", womöglich zugleich eine
"juristische Ungeheuerlichkeit" und ein "riesenhaftes Theater"? Darüber streiten sich Gelehrte, Politiker
und Publizisten nun schon 40 Jahre.
Das Strafgericht dauerte elf Monate, von der Anklageerhebung am 20. November 1945 bis zum
Urteil am 1. Oktober 1946. In 403 öffentlichen Verhandlungen wurden über 300 000 Eidesstattliche
Erklärungen und 6513 Prozeßakten vorgelegt; die Dokumente füllen 42 Lexikonbände, für Historiker
eine unvergleichliche Quelle deutscher Zeitgeschichte.
Sieger saßen über Besiegte zu Gericht, Siegerrecht brach geltendes Recht. Das alte Völkerrecht
faßte neue Tatbestände nicht: Völkermord.
Der eiserne Rechtsgrundsatz nulla poena sine lege (keine Strafe ohne ein Gesetz), die "magna
charta" für Rechtsbrecher (Franz von Liszt), wurde außer Kraft gesetzt, der Grundsatz tu quoque ("du
auch"), in diesem Fall der Hinweis auf alliierte Verstöße gegen das Kriegsrecht, beiseite geschoben.
Unrecht sollte nicht gegen Unrecht aufgerechnet werden. Aber hätte nicht Recht Recht bleiben
sollen - auch oder gerade in einem Verfahren gegen die "Totengräber des Rechtsstaates"
(Völkerrechtler Wilhelm Grewe)?
Es war nicht erlaubt, etwa auf Katyn, das sowjetische Massaker an der polnischen Elite, auf die
sowjetischen Angriffskriege gegen Polen und Finnland 1939/40, auf die alliierten Bombardements
auf deutsche Städte oder auf die Zwangsvertreibung aus Osteuropa zu verweisen, die immer noch
im Gange war.
Aber das sollte in Zukunft anders werden; nicht nur Besiegte, sondern auch Sieger sollten, wenn sie
was verbrochen haben, auf die Anklagebank. Wenn die Nürnberger Rechtsschöpfung "von Nutzen
sein soll", dann müsse man künftig, sagte Jackson, "den Angriff jeder anderen Nation verdammen,
nicht ausgenommen die, die hier zu Gericht sitzen".
Wie das? Die Völkerrechtsgemeinschaft, die souveränen Staaten also, müßten sich erst auf klar
umrissene Straftatbestände, ein Völkerstrafrecht, ein Weltgericht und eine international
vollziehende Gewalt einigen. Sonst bleibt nur Landes- oder Besatzungsrecht.
"Es ist bitter notwendig, daß die Staatsmänner dort weitermachen, wo die Nürnberger
Rechtsgelehrten aufgehört haben" (Jackson). Aber die Staatsmänner dachten nicht im Traum
daran, wie die Geschichte der jüngsten Kriege und Kriegsverbrechen lehrt; Vietnam, Afghanistan,
zum Beispiel.
Die Vereinten Nationen sind weit davon entfernt, das Nürnberger Ausnahmerecht in den Rang
allgemeinen Völkerrechts zu erheben; noch herrscht Vetorecht. 1951, es war wieder Krieg, in Korea,
legte die UN-Kommission für Internationales Recht unter ausdrücklichem Hinweis auf das Nürnberger
Urteil einen "Kodex der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit" vor.
Aber die UN-Vollversammlung winkte ab. "Die gegenwärtige Zeit mit ihren starken und zahlreichen
Spannungen ist", resignierte die UN-Rechtskommission 1957, "für die Regelung dieser Frage nicht
geeignet."
Schon lange vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatten Alliierte und Exilpolitiker aus den von
deutschen Truppen besetzten Ländern auf Bestrafung der Kriegsverbrecher und des Naziregimes
gedrungen. Das barbarische Regiment der Besatzer, Verschleppung, Verwüstung, Vernichtung,
Holocaust, forderte Rache und Vergeltung.
Den Deutschen sollte die Aburteilung ihrer obersten Kriegs- und NS-Verbrecher keineswegs
überlassen bleiben. Gerichtshoheit übten nach der totalen Kapitulation sowieso die vier
Besatzungsmächte aus. Das Vertrauen in die deutsche Justiz, selbst noch kaum entnazifiziert, war
naturgemäß gleich Null.
"Entweder müssen also die Sieger die Geschlagenen richten", erklärte Jackson, vor seiner
Nürnberger Mission Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, "oder sie müssen es
den Besiegten überlassen, selbst Recht zu sprechen."
Das aber kam überhaupt nicht in Frage. Denn, so Jackson in Übereinstimmung mit allen, die mit
deutschen Kriegsverbrechern und Kriegsverbrechen befaßt waren, "nach dem Ersten Weltkrieg
haben wir erlebt, wie müßig das letztere Verfahren ist".
1919 wollten die Alliierten "Wilhelm II. von Hohenzollern, gewesenen Kaiser von Deutschland", vor ein
internationales Gericht stellen, doch die Niederlande, wo der Ex-Monarch Unterschlupf gefunden
hatte, lehnten ab. Wilhelm II. selbst verwahrte sich mit einleuchtenden Argumenten: "Ein
Gerichtshof, vor dem Feinde gleichzeitig als Kläger und Richter auftreten, wäre kein Organ des
Rechts, sondern ein Werkzeug der politischen Willkür."
Außer Wilhelm II. standen rund 900 weitere angebliche Kriegsverbrecher auf alliierten Suchlisten,
unter ihnen zahlreiche Militärs wie Paul von Hindenburg, Erich Ludendorff, Alfred von Tirpitz,
Staatsmänner wie der frühere Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, Kronprinzen, Prinzen und der Fliegerhauptmann Hermann Göring.
Die Reichsregierung erklärte sich außerstande, die Beschuldigten auszuliefern; viele seien ins
Ausland geflüchtet, mithin nicht in Reichweite, und Verhaftungen im Inland würden unweigerlich zu
schweren Unruhen führen. Statt dessen sollten, nach Absprache mit den Alliierten, erst einmal 45
Angeklagte vor das Reichsgericht in Leipzig gestellt werden.
Es gab viele Freisprüche und einige geringe Freiheitsstrafen. Hauptmann Emil Müller, im Zivilberuf
Jurist, beispielsweise, war wegen Mißhandlungen von Kriegsgefangenen angeklagt. Das
Reichsgericht stellte fest:
"Weit davon entfernt, das Vertrauen der Gefangenen zu gewinnen, hatte er den Ruf eines
Tyrannen und Sklavenhalters."
Aber: "Schuld an seinen Ausschreitungen war der soldatische Enthusiasmus, der ihm eine
übertriebene Vorstellung davon gab, was die außerordentlichen Verhältnisse des Krieges zuließen."
Und: "Indessen muß darauf hingewiesen werden, daß der Angeklagte nicht unehrenhaft gehandelt
hat. Sein Ansehen als Bürger und Offizier ist nicht verletzt."
Urteil: sechs Monate.
Solche Scheinprozesse sollte es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder geben; dann lieber einen
Schauprozeß. England kämpfte noch ums Überleben, die USA standen noch Gewehr bei Fuß, da
proklamierte Briten-Premier Winston Churchill im Oktober 1941 die Bestrafung deutscher
Kriegsverbrecher als "eines der Hauptkriegsziele". Josef Stalin drohte: "Diese Henker sollen wissen,
daß ... sie der Vergeltung der gemarterten Völker nicht entgehen werden."
Im Londoner St.-James-Palast forderten Vertreter der von Deutschland besetzten Länder im Januar
1942 "Bestrafung der für die Verbrechen Verantwortlichen", und in der Moskauer DreimächteErklärung vom November 1943 über die "deutschen Grausamkeiten" hieß es, die
"Hauptkriegsverbrecher, deren Verbrechen nicht in einem geographisch bestimmbaren Tatort
begangen wurden", sollen auf "Grund einer gemeinsamen Entscheidung der Regierungen der
Alliierten bestraft werden".
US-Außenminister Cordell Hull, der in Moskau dabei war, befürwortete hingegen "Standgericht" und
"kurzen Prozeß" für Hitler und seine "Erzkomplicen". Zu kurzem Prozeß riet, auf der Konferenz der
Großen Drei von Teheran im November 1943, auch Sowjet-Marschall Stalin; es war freilich viel
getrunken worden, und die Stimmung war, wie sich Churchill erinnerte, "ziemlich gelöst und heiter".
In einem Trinkspruch äußerte der Marschall, wenn man bei Kriegsende "etliche 50 000 Offiziere und
Sachverständige" erschieße, wäre "Deutschlands militärische Schlagkraft für immer gebrochen".
Churchill geriet außer sich: "Lieber lasse ich mich hier an Ort und Stelle in den Garten hinausführen
und erschießen", grollte er, "als meine und meines Volkes Ehre durch eine solche Niedertracht zu
beschmutzen." Wütend verließ er den Saal. Doch da folgten Stalin und Molotow, "lachten herzlich
und erklärten eifrig, sie hätten nur gescherzt" (Churchill).
Auf der nächsten Konferenz der Großen Drei, im Februar 1945 in Jalta, kam US-Präsident Franklin D.
Roosevelt, "jetzt den Deutschen gegenüber blutrünstiger als noch vor einem Jahr", wie er selbst
sagte, auf Stalins Trinkspruch zurück. Der Marschall möge ihn doch wiederholen.
Stalin hielt sich zurück, und die Drei Großen kamen überein: "Es ist unser unbeugsamer Wille ... alle
Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen und einer schnellen Bestrafung zuzuführen."
Aber damit war die Frage, ob kurzer oder langer Prozeß, keineswegs aus der Welt. Und es waren
ausgerechnet Churchill und einige seiner Minister, die sich hartnäckig für Erschießungen einsetzten.
Den Premier wird also nur die von Stalin genannte hohe Zahl - 50 000 - geschockt haben; gegen die
Prozedur hatte er nichts einzuwenden, im Gegenteil.
Noch in Jalta hatte er vorgeschlagen, die Konferenz solle eine Liste der Hauptkriegsverbrecher
aufstellen. Wer auf dieser Liste stehe, sei zu erschießen, sobald seine Identität feststehe; die
Engländer dachten an 50 bis 100. Churchill: "Über Schlachtfeldern wächst Gras, über Galgen nie."
Erst am 18. Mai 1945 gab das britische Kabinett seinen Widerstand gegen ein Gerichtsverfahren auf
- auf Drängen der Amerikaner. "Falls wir uns ... nicht fügen", notierte ein Beamter des Londoner
Außenministeriums, "wird es uns übel ergehen."
Die amerikanischen Missionare wollten ja nicht nur die Hauptkriegsverbrecher und andere NSKriminelle aburteilen, sondern jeden Nazi zur Rechenschaft ziehen und das Volk der Deutschen
umerziehen.
Präsident Harry S. Truman, Nachfolger des im April gestorbenen Roosevelt, hatte sich, fünf Tage
nach seinem Amtsantritt, "definitiv gegen die Behandlung der Hauptkriegsverbrecher nach rein
politischen Gesichtspunkten" entschieden, womit summarische Hinrichtungen gemeint waren. "Die
barbarischen Taten der Deutschen erlegen uns die Pflicht auf", begründete er, "dem deutschen
Volk eine harte Lehre zu erteilen."
Anderntags vertraute Jackson seiner Sekretärin Elsie Douglas an: "Der Präsident bittet mich, als
Chefankläger nach Europa zu gehen und die Nazikriegsverbrecher vor Gericht zu bringen."
Ende Juni 1945 begab sich Jackson nach London, um gemeinsam mit englischen, französischen
und sowjetischen Juristen den Jahrhundertprozeß vorzubereiten. Zu seinem Stab gehörten viele
entschlossene Reserveoffiziere mit großem Elan, aber wenig Kenntnis von Völkerrecht und
Naziregime.
Jackson, ebenfalls ein Draufgänger, aber auch ein versierter Jurist, der sein Pensum nach
amerikanischer Art am liebsten im Handumdrehen erledigt hätte, überraschte die anwesenden
Vertreter der Siegermächte mit einem fertigen Entwurf für die Anklage, stieß auf Bedenken,
korrigierte und änderte, ohne seine Kollegen detailliert ins Bild zu setzen, und wunderte sich dann,
daß Franzosen und Russen nicht unverzüglich akzeptierten.
Strittige Fragen gab es genug: Wie etwa könnten Angeklagte, die keine kriminellen Straftaten
begangen hatten, dennoch verurteilt werden? "Wir müssen erklären", schrieb Jackson seinem
Präsidenten Truman, "daß sie persönlich verantwortlich sind, und ich sage frei, daß zu unserer
Unterstützung dafür das Völkerrecht, so wie es in den letzten Jahren bestanden hat, unbestimmt
und schwach ist."
Wie sollte dem zu erwartenden Einwand von Verteidigern und Angeklagten begegnet werden,
auch andere Länder hätten Angriffskriege angezettelt, die nun als Verbrechen geahndet werden
sollten?
Sollten auch Luftbombardements auf offene Städte - Coventry, Dresden - als Kriegsverbrechen
angeklagt werden? Besser nicht, meinte Jackson: "Dieses Thema wäre einer Aufforderung zur
Erhebung von Gegenbeschuldigungen gleichgekommen, die in dem Prozeß nicht nützlich
gewesen wäre."
Und könnten Politiker und Militärs der Länder, die bald zu Gericht sitzen würden, eines Tages nicht
selbst nach dem nun verkündeten neuen Recht zur Rechenschaft gezogen werden?
Generalmajor Iona T. Nikitschenko, Vizepräsident am Obersten Gericht in Moskau und später
sowjetischer Chefankläger in Nürnberg, wollte sich darüber nicht auch noch den Kopf zerbrechen.
"Wir sollten uns darauf beschränken", meinte er, "die Grundlagen für einen Prozeß gegen solche
Verbrecher zu schaffen, die internationale Verbrechen schon begangen haben - und nicht für
irgendwelche Verbrechen, die sie in Zukunft begehen könnten." Jackson konterte: "Verbrechen
sind Verbrechen, ganz gleich, wer sie begangen hat" - eine simple Wahrheit, die allerdings in
Nürnberg nicht zugelassen wurde.
Zeitweise rechnete der ungeduldige Jackson schon mit Abbruch der Verhandlungen. Er wolle sich
"in vernünftigen Grenzen um eine Einigung mit den Russen bemühen", falls das fehlschlage, sollten
die "in amerikanischem Gewahrsam befindlichen Kriegsverbrecher" von einem US-Militärgericht
abgeurteilt werden.
Mal meinte er: "Mit den Russen werden wir nur noch durch ein Ultimatum fertig." Mal wünschte er
gar ein Scheitern, denn die Vorstellung, "bei einem Prozeß mit den Russen zusammenzuarbeiten",
bereitete ihm Qualen.
Ein weiterer Umstand machte Jackson zu schaffen: Das bis dahin erbeutete Beweismaterial war
äußerst dürftig. "Bei den Beratungen haben wir unseren Prozeß immer mühelos mit kühnen Worten
gewonnen, aber das wirklich vorhandene Beweismaterial hat auf einer Karteikarte Platz", gestand
er: "Es muß ein Wunder geschehen."
Das Wunder geschah. Alliierte Kommandos fanden in deutschen Archiven und Verstecken
belastende Dokumente zuhauf. Und auch die Londoner Verhandlungen kamen plötzlich zügig
voran. Stalin, der im Juli mit Churchill und Truman zur Potsdamer Konferenz angereist war, machte
sie flott. Am 8. August wurde das "Statut für den Internationalen Militärgerichtshof" unterzeichnet im Rechtsleben, so Jackson, ohne "Beispiel und Vorbild".
Das Statut - alles in einem: materielles Strafgesetz, Verfahrensordnung und Gerichtsverfassung setzte neues Recht, Siegerrecht oder anders, positivistisch, gewendet, es verstieß in wichtigen
Vorschriften gegen allgemeine Rechtsgrundsätze, eigens und ausschließlich "zwecks gerechter und
schneller Aburteilung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse",
Deutschland und Italien.
An den Beratungen des Statuts hatten als Vertreter ihrer Regierungen neben dem Amerikaner
Jackson der britische Kronanwalt Maxwell Fyfe, der Franzose Appellationsgerichtsrat Robert Falco
sowie der Russe Nikitschenko mitgewirkt. Von diesen Gesetzgebern fanden sich bei Prozeßbeginn
Jackson und Maxwell Fyfe als Ankläger, Nikitschenko als Richter und Falco als Ersatzrichter wieder.
Das war ein Bruch mit dem Prinzip der Gewaltenteilung. "In jedem mir bekannten Rechtssystem
wäre es möglich gewesen", schrieb Otto Kranzbühler, Verteidiger des angeklagten Dönitz später,
"solche Richter wegen Befangenheit abzulehnen." Nicht so in Nürnberg. Denn Artikel 3 des Statuts
lautete: "Weder der Gerichtshof noch seine Mitglieder oder Stellvertreter können von der
Anklagebehörde oder dem Angeklagten oder seinem Verteidiger abgelehnt werden."
Verfahren wurde nach amerikanischem Prozeßrecht - ein Handikap für die Verteidiger jedenfalls
vor dem Militärtribunal. Richter waren zur Wahrheitsfindung nicht verpflichtet, Ankläger, anders als
nach kontinentalem Recht, nicht gehalten, auch entlastendes Material vorzulegen und zu
würdigen. Die Verteidigung, die kaum eigenen Zugriff auf deutsche und keinen auf ausländische
Akten hatte, war folglich weitgehend darauf beschränkt, Belastungsmaterial zu entkräften.
Berufung auf höheren Befehl sollte Strafe nicht ausschließen, allenfalls das Strafmaß mildern, eine
einleuchtende Regel, wenn sie nicht nur zu Lasten der Besiegten ausgelegt worden wäre; sie
entsprach sogar dem deutschen Militärstrafgesetz von 1940. Danach machte sich mitschuldig, wer
Befehle ausführte, die ein Vergehen oder Verbrechen bezweckten, und das auch wußte. Diese
Vorschrift kollidierte aber mit entsprechenden amerikanischen und britischen Bestimmungen; darin
war Befehlsnotstand verbrieft - bis 1944. Als die Kriegsverbrecherprozesse anstanden, wurde der
Befehlsnotstand gestrichen, als sie vorüber waren, wurde Befehlsnotstand wieder eingeführt.
Inzwischen waren alliierte Greiftrupps ausgeschwärmt, um Kriegsverbrecher zu fangen. Auf ihren
Suchlisten standen die Namen von über einer Million Deutschen; obenan 23
"Hauptkriegsverbrecher". Im britischen Unterhaus verkündete Außenminister Anthony Eden: "Die
größte Menschenjagd der Geschichte ist im Gange von Norwegen bis zu den bayrischen Alpen."
Als Eden das Treiben eröffnete, hielt Hermann Göring Hof, so gut es eben noch ging, auf
Jagdschloß Mautersdorf bei Zell am See, mit Frau und Tochter, Gästen und Gesinde - fettwanstig
(118 Kilo), eitel und morphiumsüchtig wie eh und je; täglich schluckte er an die hundert
paracodeinhaltige Tabletten.
Am 9. Mai 1945, das Reich hatte vortags bedingungslos kapituliert, stellte sich Göring den
Amerikanern, aber nicht bedingungslos. Er wollte mit General Eisenhower über den Frieden
verhandeln - "von Mann zu Mann". Auf einer Pressekonferenz fragte ein amerikanischer Journalist:
"Wissen Sie, daß Sie auf der Liste der Kriegsverbrecher stehen?" Darauf Göring: "Nein. Das überrascht
mich sehr, denn ich wüßte nicht, warum."
Nach den Hauptkriegsverbrechern Karl Dönitz - unter Hitler Großadmiral und Oberbefehlshaber der
Kriegsmarine, nach Hitler neues Staatsoberhaupt -, Albert Speer - unter Hitler Rüstungsminister, unter
Dönitz Wirtschafts- und Produktionsminister - und Generaloberst Alfred Jodl war Fahndung nicht
erforderlich. Sie amtierten unter den Augen der britischen Besatzer am Sitz der provisorischen
Reichsregierung in Flensburg. Jeden Morgen wurde die Reichskriegsflagge gehißt.
Auch der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, und der
Reichskommissar für die besetzten Niederlande, Arthur Seyß-Inquart, hatten sich in diesen Tagen in
Flensburg aufgehalten. Als Seyß-Inquart, mit einem Schnellboot, die Rückreise antreten wollte,
stoppten die Kanadier das Schiff und nahmen ihn fest.
Fritz Sauckel, Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz, mithin Herr über fünf Millionen
verschleppter Zwangsarbeiter, schnappten die Engländer ebenso wie den Blut-und-BodenPhilosophen Alfred Rosenberg, seit dem Überfall auf die Sowjet-Union 1941 Reichsminister für die
besetzten Ostgebiete, und Joachim von Ribbentrop, seit 1938 Hitlers dümmlicher
Reichsaußenminister.
Baldur von Schirach, bis 1940 Reichsjugendführer, dann von Hitler als Gauleiter nach Wien
abgeschoben ("Mein Führer, Wien ist judenfrei"), meldete sich freiwillig bei den Amerikanern.
Wilhelm Frick, zehn Jahre Reichsinnenminister, ab 1943 Reichsprotektor von Böhmen und Mähren,
wurde in der Nähe Münchens von US-Offizieren "aufgepickt", sein Vorgänger in Prag, Konstantin von
Neurath (von 1932 bis 1938 Reichsaußenminister) in der französischen Zone verhaftet. Den
Reichswirtschaftsminister Walther Funk erwischte es in Berlin, den Chef des berüchtigten
Reichssicherheitshauptamtes (Gestapo und SD), Ernst Kaltenbrunner, in Österreich.
Robert Ley, Reichsorganisationsleiter der NSDAP und Chef der Deutschen Arbeitsfront, stöberten die
Amerikaner in einer Almhütte in der Nähe von Berchtesgaden auf. Nach Einlieferung in das
Kriegsverbrechergefängnis in Nürnberg erhängte er sich an dem Wasserklosett in seiner Zelle.
Auch Julius Streicher, Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes "Der Stürmer" und, bis 1940,
Gauleiter von Franken, dessen veröffentlichte pornographische zoten schließlich selbst den Nazis
peinlich wurden, hatte sich in die Bergwelt abgesetzt. US-Major Henry Blitt kam zufällig vorbei; er
fragte, auf jiddisch: "Seid Ihr hier der Bauer?" Antwort: "Nein, ich wohne nur hier. Ich bin Künstler,
verstehen Sie, Maler."
Frage: "Was halten Sie von den Nazis?"
Antwort: "Davon verstehe ich nichts. Ich ... habe mich nie um Politik gekümmert."
"Sie sehen aber aus wie Julius Streicher", überraschte Blitt den Alten. "Woher kennen Sie mich?"
Als Streicher beim Divisionsstab abgeliefert wurde, schrieb ein amerikanischer Journalist: "Der größte
Judenhasser der Geschichte" wurde "von einem Juden entdeckt und gefangengenommen".
Generalgouverneur Hans Frank geriet Anfang Mai in amerikanische Kriegsgefangenschaft; er hatte
versucht, sich die Pulsadern durchzuschneiden. Im Lager übergab er seinen Häschern 38 Kladden
seines Dienst-Tagebuches. "Hier haben wir mit dreieinhalb Millionen Juden begonnen, von denen
sind nur noch wenige Arbeitskompanien vorhanden", stand darin, "die anderen sind - sagen wir
einmal - ausgewandert."
Hitlers einstiges Finanzgenie Hjalmar Schacht, bis 1938 Reichsbankpräsident, der nach dem
mißglückten Attentat auf Hitler im Juli 1944 von der Gestapo eingesperrt worden war, befreiten die
Amerikaner aus KZ-Haft. Ähnlich erging es Franz von Papen, auch er sah seine Befreiung nahe. Die
Nazis hatten den Herrenreiter Papen, 1932 ein halbes Jahr Reichskanzler, 1933 Hitlers
Steigbügelhalter und Vizekanzler, sodann Botschafter in Wien und Ankara, unter Gestapoaufsicht
gestellt.
Die Ausbeute der Sowjets war mager. Sie fingen nur Großadmiral Erich Raeder, bis 1943
Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, in seiner Berliner Wohnung, und den Rundfunkkommentator
Hans Fritzsche, Abteilungsleiter in Goebbels Propagandaministerium.
Schubweise wurden die Gefangenen in das Nürnberger Gerichtsgefängnis eingeliefert und in die
Zelle gesperrt, einziges Mobiliar eine Pritsche, ein Tisch, ein Stuhl nebst Klo.
Aber Hitler, Goebbels, Himmler und Bormann fehlten. Hitler hatte sich im "Führerbunker"
umgebracht. Er wollte nicht, wie er sagte, im Käfig durch Rußland geschleift werden.
Auch Goebbels, der den totalen Krieg ausgerufen und das Volk belogen und betrogen hatte,
beging, gemeinsam mit seiner Frau, Selbstmord, nachdem die Eltern ihre sechs Kinder hatten töten
lassen. Himmler, der den Terror im Lande und den Völkermord in den besetzten Gebieten
organisiert hatte, nahm, in letzter Sekunde, von den Briten gefangen und schon identifiziert,
Zyankali. Bormann galt bei Kriegsende als verschollen.
Das Straf- und Weltgericht mußte sich also mit der zweiten und dritten NS-Besetzung bescheiden.
"Nr. 1" war nun der schrullige Bonvivant Göring, der seit 1941 vorwiegend tragikomische Figur
gemacht hatte. Entweder dämmerte er vor sich hin, oder er führte auf seinem Landsitz "Karinhall",
mal als Germane, mal als Waidmann gewandet, seine protzigen Operetten auf.
"Nr. 2" war der verwirrte Heß, seit 1941, seinem Ausflug nach England, außer NS-Betrieb, "Nr. 3" ExAußenminister Ribbentrop, der unter Hitler allzeit nichts zu melden hatte.
Aus dem Umfeld der Macht kam einzig Kriegsverlängerer Speer, der die Rüstung auf Hochtouren
gebracht und dafür bedenkenlos die Sklaven aus den Ostvölkern verheizt hatte. Fünf nach zwölf,
das Unternehmen war dem Technokraten zu riskant geworden, wollte er sich schnell noch
absetzen.
Die Vollstrecker in Rußland, Polen und der Tschechoslowakei, Rosenberg, Frank und Frick, hätten
leicht, wie üblich, in den Ländern abgeurteilt werden können, in denen sie ihre Taten begangen
hatten. Fritzsche, Papen und Schacht waren auf der Nürnberger Anklagebank wirklich fehl am
Platze. Sie wurden denn auch freigesprochen.
Vorschriftsmäßig vier Wochen vor der Eröffnung des Prozesses vor dem Internationalen
Militärgerichtshof wurde die Anklageschrift zugestellt.
Anklagepunkt I/Gemeinsamer Plan, Verschwörung: " ... Der gemeinsame Plan oder Verschwörung
stellte insofern die Begehung von Verbrechen gegen den Frieden dar, als die Angeklagten
Angriffskriege planten, vorbereiteten, entfesselten und führten, die gleichzeitig Kriege unter
Verletzung internationaler Verträge, Vereinbarungen und Zusicherungen waren ... Der gemeinsame
Plan oder die Verschwörung hatte Verbrechen gegen die Humanität in Deutschland und den
besetzten Gebieten zum Ziel ...: Ermordung, Vernichtung, Versklavung, Verschleppung und andere
unmenschliche Akte gegen die Zivilbevölkerung."
Anklagepunkt II/Verbrechen gegen den Frieden: " Alle Angeklagten, zusammen mit anderen
Personen, nahmen in den Jahren, die dem 8. Mai 1945 vorausgingen, an der Planung, der
Vorbereitung, der Entfesselung und der Führung von Angriffskriegen teil, die zugleich auch Kriege
waren, die internationale Verträge, Abkommen und Zusicherungen verletzten."
Anklagepunkt III/Kriegsverbrechen: " Sämtliche Angeklagten begingen vom 1. September 1939 bis
8. Mai 1945 Kriegsverbrechen in Deutschland und in allen von deutschen Truppen seit dem 1.
September 1939 besetzten Ländern und Gebieten ... und auf hoher See."
Anklagepunkt IV/Verbrechen gegen die Menschlichkeit: " In einer Reihe von Jahren vor dem 8. Mai
1945 haben sämtliche Angeklagten Verbrechen gegen die Humanität in Deutschland und in allen
jenen Ländern, die von der deutschen Armee seit dem 1. September 1939 besetzt waren, sowie in
Österreich, der Tschechoslowakei, in ltalien und auf hoher See begangen ... Ermordung, Ausrottung,
Versklavung, Deportierung und andere unmenschliche Handlungen gegen Zivilbevölkerungen ...
Verfolgung aus politischen, rassischen und religiösen Gründen."
Nach dem Studium der Anklageschrift, in der seine und seiner Kumpane ungeheuerlichen
Verbrechen detailliert aufgelistet waren, äußerte der Angeklagte Göring, er hatte abgespeckt, 35
Kilo, und war nach einer Entziehungskur von seiner Drogensucht geheilt, das für ihn Naheliegende:
"Der Sieger wird immer der Richter und der Besiegte stets der Angeklagte sein."
Ribbentrop jammerte: "Die Anklage ist gegen die verkehrten Personen gerichtet": Er dachte dabei
an Hitler und Himmler.
Frank, in seiner Zelle in den Schoß der katholischen Kirche zurückgekehrt, betrachtete den Prozeß
als "gottgewolltes Weltgericht", während der besessene Antisemit Streicher bei seinen fixen Ideen
blieb: "Dieser Prozeß ist ein Triumph des Weltjudentums."
Sklaventreiber Sauckel wunderte sich plötzlich über "die Kluft" zwischen "seinem Ideal einer
sozialistischen Gesellschaft und den schrecklichen Geschehnissen in den Konzentrationslagern",
und Speer erkannte, von Anbeginn auf die lebensrettende Balance zwischen Selbstanklage und
Unwissen bedacht: "Eine Mitverantwortlichkeit für solch grauenvolle Verbrechen gibt es sogar in
einem autoritären Staat"; seine eigene Schuld erschien ihm freilich "so fraglich ... wie die der
übrigen".
Die drei Militärs, Keitel, Jodl und Dönitz ("eine amerikanische Marotte"), begriffen nicht, wie "man
nun die Gehorsamspflicht eines Soldaten leugnen könne".
Derweil dämmerte Heß vor sich hin, wie meist im Verlauf des Verfahrens, mal schien er das
Gedächtnis total, dann wieder nur partiell verloren zu haben, mal war er plötzlich hellwach. Zur
Anklage meinte er nur: "I can't remember."
Als die Anklageschrift im Gerichtssaal verlesen wurde, über Stunden, wurden die Angeklagten "von
einer unwiderstehlichen Schlafsucht befallen", erzählte Häftling Fritzsche hernach dem
Gefängnispsychologen Gustave M. Gilbert: "Einer nach dem anderen nickte ein ... Schließlich
hockten und hingen wir alle so, daß wenigstens unsere Köpfe nicht sanken." Die Posten, baumlange
US-Militärpolizisten mit weißem Koppelzeug und blitzenden Helmen, griffen nur noch ein, "wenn
jemand schnarchte".
Alle Angeklagten bekannten sich im Sinne der Anklage nicht schuldig, die einen rundheraus, die
anderen mit gewissen Schuldgefühlen - und tatsächlich waren sie es auch nicht, wenigstens in den
Punkten I (Verschwörung), II (Verbrechen gegen den Frieden) und IV (Verbrechen gegen die
Menschlichkeit), obgleich einige Angeklagte an Angriffskriegen und Völkermord durchaus beteiligt
waren. Aber das waren, so absurd das erscheinen mag, nach geltendem Völkerrecht keine
Straftatbestände.
"Was wir bei diesem Verfahren abschaffen wollen, ist die Diskussion darüber, ob die Handlungen
Verletzungen des Völkerrechts sind oder nicht", hatte, reichlich kühn, der britische Ankläger Maxwell
Fyfe auf der Londoner Konferenz empfohlen: "Wir erklären einfach, was das Völkerrecht ist." Danach
wurde ausgiebig verfahren.
Aber ganz so einfach war das nicht. Insbesondere bei den langwierigen und kontroversen
Beratungen über die Urteilsgründe für den Anklagepunkt I/Verschwörung, für die Amerikaner das
"Herzstück" des ganzen Verfahrens, für die Franzosen hingegen "barbarischer Anachronismus", taten
sich einige Richter und Ersatzrichter schwer, das Recht zu beugen.
Der französische Richter Henri Donnedieu de Vabres, Rechtsprofessor an der Sorbonne, erhob
massive Einwände und verlangte, den fragwürdigen Anklagepunkt gänzlich fallenzulassen. Nach
angloamerikanischer Rechtspraxis, die keineswegs unumstritten ist, werden danach zwei oder
mehrere Personen, Gangsterbanden, bestraft, die übereingekommen sind, ein Verbrechen zu
begehen, und zwar für alle Straftaten, die einer der Verschwörer dabei begeht. Im kontinentalen
Recht und im Völkerrecht fände sich dafür, so Donnedieu, keine Stütze, und selbst über die
angloamerikanische Praxis ginge Punkt I noch weit hinaus; er konstatiere nämlich eine
"Großverschwörung", die 25 Jahre gedauert habe, von der Gründung der NSDAP, 1920, bis zur
bedingungslosen Kapitulation des Reiches, 1945.
Den Angeklagten sei nicht zu beweisen, wann und wo sie sich zu Verbrechen verabredet hätten,
kritisierte Donnedieu. Eine Verurteilung geschehe "ex post facto", das hieße, eine Handlung würde
rückwirkend zum Verbrechen erklärt und bestraft, nachdem sie begangen worden sei. Das jedoch
verstoße gegen alle Rechtsgrundsätze.
Ebenso vehement vertrat der britische Ersatzrichter Norman Birkett, einer der bekanntesten
Strafverteidiger seines Landes, die Gegenposition, ohne sich allerdings lange bei Lehrmeinungen
aufzuhalten. Er sprach von einer "nationalen Katastrophe", sollte das Gericht die Anklage wegen
Verschwörung abweisen. Der Prozeß verlöre jeglichen Sinn und Wert. Einige Angeklagte könnten
zwar wegen Mordes, Beihilfe und Mitwisserschaft verurteilt werden, "das Naziregime aber würde
freigesprochen".
Der Russe Nikitschenko, dem die endlosen Beratungen dieser Materie erkennbar auf die Nerven
gingen - er sei hier nicht in einem "Debattierklub" -, verwies auf die vom Gericht erkannte
Notwendigkeit, neues Recht zu setzen; dazu sollten sich die Richter gefälligst bekennen und
entsprechend verfahren.
Er und andere Richter stellten aber auch höchst vordergründige Erwägungen an. Wie sollten,
beispielsweise, Angeklagte wie Fritzsche, Papen und Schacht verurteilt werden, wenn nicht als
Verschwörer? Dabei hätte gerade der Hinweis auf diese Randfiguren des NS-Regimes die
Verschwörertheorie erschüttern müssen.
Heraus kam schließlich ein Kompromiß. Der Beginn der Verschwörung wurde auf das Jahr 1937
datiert. Damals, am 5. November, hatte Hitler den Oberbefehlshabern der Wehrmacht seine
Angriffspläne gegen Österreich und die Tschechoslowakei offenbart und auch schon sein "Volk
ohne Raum"-Motiv anklingen lassen: "Zur Lösung der deutschen Frage könne es nur den Weg der
Gewalt geben." Das Beweisdokument, das sogenannte Hoßbach-Protokoll, lag dem Gericht vor.
Die Anklage wegen Verschwörung wurde nur in Verbindung mit Anklagepunkt II/Verbrechen
gegen den Frieden (Angriffskrieg) zugelassen, im Zusammenhang mit Kriegsverbrechen und
Verbrechen gegen die Menschlichkeit jedoch abgewiesen. Verurteilt wurden nach Punkt I acht
Angeklagte, die sämtlich auch nach Punkt II für schuldig befunden worden waren. (Verurteilt
wurden: Göring, Heß, Ribbentrop, Keitel, Rosenberg, Jodl, Neurath, Raeder.)
Anklagepunkt II/Verbrechen gegen den Frieden ging auf hartnäckiges Betreiben der Sowjets
zurück. Aber Angriffskriege waren zwar "geächtet", jedoch nicht mit Strafe bedroht. Ein
Völkerstrafrecht gab es und gibt es, beklagenswerterweise, bis heute nicht.
Der berühmte Briand-Kellogg-Pakt (so genannt nach den Außenministern Frankreichs und der USA),
der 1928 den Krieg "für die Lösung internationaler Streitfälle" feierlich verdammt hatte, blieb eine
"lex imperfecta", "mehr ein Glaubensbekenntnis", meinte der schwedische Außenminister Östen
Unden, "als eine Strafbestimmung", vergleichbar dem 5. Gebot: "Du sollst nicht töten."
Die Völkerrechtsgemeinschaft brachte es nicht einmal fertig zu definieren, was Angriffskrieg, was
erlaubter Verteidigungskrieg sei, und so blieb es beim vae victis - wehe den Besiegten.
Strafsanktionen blieben gänzlich außer Betracht. Der Briand-Kellogg-Vertrag enthalte keine
Strafandrohung, stellte der Auswärtige Ausschuß des amerikanischen Senats fest, "weder
ausdrücklich noch stillschweigend".
Und so geschah auch nichts, als beispielsweise 1931 die Japaner in die Mandschurei, 1935 die
Italiener in Abessinien einfielen oder, wiederum, Japan 1937 gegen die Chinesen zu Feld zog.
Formal völlig zu Recht erklärten mithin alle 40 Verteidiger vor dem Nürnberger Militärgericht in einer
Gesamteingabe: "Der jetzige Prozeß kann sich deshalb, soweit er Verbrechen wider den Frieden
ahnden soll, nicht auf geltendes Völkerrecht stützen, sondern ist ein Verfahren auf Grund eines
neuen Strafgesetzes ... das erst nach der Tat geschaffen wurde. Dies widerspricht einem in der Welt
geheiligten Grundsatz der Rechtspflege."
Ankläger und Richter wiesen den Einwand ab: US-Chefankläger Jackson sagte: "Die allergeringste
Folge der Verträge, die den Angriffskrieg für widerrechtlich erklärten, ist, jedem, der dennoch einen
solchen Krieg anstiftet oder entfesselt, jeglichen Schutz zu nehmen, den das Gesetz je gab."
Und das Gericht befand: "Zu behaupten, daß es ungerecht sei, jene zu bestrafen, die unter
Verletzung von Verträgen und Versicherungen Nachbarstaaten ohne Warnung angegriffen haben,
ist offenbar unrichtig, denn unter solchen Umständen muß der Angreifer wissen, daß er unrecht hat,
und weit davon entfernt, daß es ungerecht wäre, ihn zu strafen, wäre vielmehr ungerecht, wenn
man seine Freveltat straffrei ließe." (Verurteilt wurden: Göring, Heß,Ribbentrop, Keitel, Rosenberg,
Frick, Funk, Jodl, Seyß-Inquart, Neurath, Raeder, Dönitz.)
Ungerecht wäre es ganz gewiß, unerträglich auch, aber nach geltendem Völkerrecht war das,
beklagenswerterweise, Rechtens.
Schier unerträglich war die Lücke zwischen Recht und Gerechtigkeit, den Normen des Vökerrechts
und dem Weltgewissen, die sich im Hinblick auf Anklagepunkt IV/Verbrechen gegen die
Menschlichkeit auftat. Völkermord, Holocaust und Verfolgung aus politischen, rassischen, religiösen
Gründen solchen Ausmaßes hat es bis dahin in der Geschichte der Menschheit nicht gegeben. Daß
der Tatbestand, das Gesetz und die Strafandrohung fehlten, lag folglich auch in den Untaten selbst
begründet.
Aber strafrechtliche Verfolgung gegen Schuldige vor internationalen Gerichten, das war neu. Sie
widersprach dem traditionellen Völkerrechtsdenken fundamental, für das der souveräne Staat
einziges Rechtssubjekt war.
Das Nürnberger Gericht brach mit diesem Prinzip. Es sollten nicht nur die Mörder zur Rechenschaft
gezogen werden, sondern eben auch die verantwortlichen, wenngleich nicht unmittelbar
tatbeteiligten Staatsmänner, Militärs, Gestapochefs - die Schreibtischtäter. "Die Untergebenen
waren", geißelte Jackson die bis dahin gängige Rechtspraxis, "gegen eine Haftung durch die
Befehle ihrer Vorgesetzten geschützt. Die Vorgesetzten waren gedeckt, weil ihre Befehle als
Staatsakte bezeichnet wurden" - damit sollte nun Schluß gemacht werden. Das Gericht verurteilte
16 Angeklagte nach Punkt IV der Anklage. (Verurteilt wurden: Göring, Ribbentrop, Keitel,
Kaltenbrunner, Rosenberg, Frank, Frick, Streicher, Funk, Sauckel, Jodl, Seyß-Inquart, Speer, Neurath,
Bormann, Schirach.)
Auf festerem Rechtsgrund standen die Richter dagegen bei der Verurteilung nach Anklagepunkt
III/Kriegsverbrechen. Hier ahndeten sie Verletzungen des geltenden Kriegsrechts, der Haager
Landkriegsordnung von 1907 und verschiedener Genfer Konventionen, die in der Zwischenkriegszeit
zustande gekommen waren. (Verurteilt wurden: Göring, Ribbentrop, Keitel, Kaltenbrunner,
Rosenberg, Frank, Frick, Funk, Sauckel, Jodl, Seyß-Inquart, Speer, Neurath, Bormann, Raeder, Dönitz.)
Am 1. Oktober 1946 sprach der Internationale Militärgerichtshof die Urteile: zwölfmal Tod durch
Strang; dreimal lebenslange Haft (Heß, Funk, Raeder); zweimal 20 Jahre (Schirach, Speer); einmal 15
Jahre (Neurath); einmal zehn Jahre (Dönitz); drei Freisprüche (Fritzsche, Papen, Schacht). Das
Führungskorps der NSDAP, Gestapo, SD und SS wurden zu "verbrecherischen Organisationen" erklärt.
"Tod", pustete Göring und ließ sich auf seine Pritsche fallen. "Er atmete schwer", beobachtete
Gefängnispsychologe Gilbert, "als kämpfte er einen seelischen Kollaps nieder."
"Tod, Tod", stöhnte Hitlers Außenminister von Ribbentrop: "Soviel Haß." Keitel, einst OKW-Chef,
salutierte, als Gilbert seine Zelle betrat: "Tod durch den Strang. Das, dachte ich, würde mir
wenigstens erspart bleiben"; er hatte sich die Kugel gewünscht. Reichsprotektor Frick "hatte nichts
anderes erwartet": "Hängen ... Nun, ich hoffe, sie bringen es schnell hinter sich."
Ex-Reichsminister Funk konnte es nicht fassen: "Lebenslänglich ... Sie werden mich doch nicht mein
ganzes Leben lang im Gefängnis behalten?" Heß wußte wieder einmal von nichts; bei der
Urteilsverkündung habe er nicht zugehört. Speer wollte sich "nicht beklagen": "20 Jahre, nun, das ist
gerecht genug." Für die drei Freigesprochenen gab es an diesem Tag je eine Apfelsine extra.
Nach der Exekution der Todeskandidaten, in der Nacht zum 16. Oktober 1946, wurden die
großdeutschen Leichen verbrannt, die Asche, bei Nacht und Nebel, in die Isar gekippt.
Tags drauf schrubbten die Häftlinge Heß, Schirach und Speer, nun kahlgeschoren und in
amerikanischen Drillich gesteckt, die Turnhalle des Justizpalastes in Nürnberg.
Die Entnazifizierung der Steine – 23.01.1989
Von Karl Heinz Krüger
Hitler nannte seine Bauten "Worte aus Stein"; sie sollten "ewig" währen. 50 Jahre danach diskutieren
Historiker die Frage der Entsorgung: Abriß oder Denkmalschutz? Erstmals erschienen auch
umfangreiche Untersuchungen über frühe Aktivitäten von Naziarchitekten in der Bundesrepublik.
Resümee: Auch die Bauzunft hat ihre Globkes.
Nur wer die Geschichte kennt, kann die Gegenwart begreifen.
Helmut Kohl
Das Monstrum steht mitten in Berlin. Es steht - grau, schwer, furchteinflößend, von Unkraut
umwuchert - seit einem halben Jahrhundert an der Schöneberger Kolonnenbrücke, doch kaum
jemand weiß, was es mit dem haushohen zylindrischen Kloben auf sich hat: ein mysteriöses Ding,
das zu nichts zu gebrauchen und kaum zu beseitigen ist.
Kennern gilt das Gebilde aus Vollbeton als das bedeutsamste Bauwerk, das der Nationalsozialismus
hinterlassen hat. Seine Bezeichnung klingt so abstrakt wie bedrohlich: "Großbelastungskörper".
Mit dem Koloß, im Kriegsjahr 1941 für 400 000 Reichsmark von der Firma Dyckerhoff & Widmann in
den märkischen Sand gesetzt, wollte Adolf Hitlers Chefarchitekt Albert Speer den Berliner Boden auf
seine Tragfähigkeit für das "Bauwerk T" testen, das - spätestens 1950 - als Zeichen des Sieges die
"Welthauptstadt Germania" krönen sollte: ein Triumphbogen nach einer Skizze des Führers aus dem
Jahre 1925, 117 Meter hoch, 170 Meter breit, 119 Meter lang.
Der Weg unten durch, so träumte der Führer, müßte jedem, der nach Berlin komme, um "vor den
Herrn der Welt zu treten", den "Atem nehmen".
Ähnlich Atemraubendes hatte Hitler, gleichfalls bis 1950, für die "Führerstädte" München, Nürnberg,
Linz und Hamburg bestellt - das ganze Reich sollte zum gewaltigsten Gesamtkunstwerk geraten -,
und immer meinte er "Riesen" und "Giganten", die "überwältigend" und "zerschmetternd" sein
müßten, vor allem "ewig".
"Wir nehmen Granit", fabulierte er; dann würden die steinernen Zeugen der Bewegung gleich
Domen "hineinragen in die Jahrtausende der Zukunft".
Die Baukolonnen mußten, glücklicherweise, oft auch Backstein und Muschelkalk nehmen; und so
macht vieles von dem, was überhaupt noch gebaut wurde und den Krieg überdauerte, einen
reichlich ramponierten Eindruck.
Doch auch die Fragmente des Gewaltkunstwerks, die in die nun 40jährige Bundesrepublik
hereinragen, bereiten Kunsthistorikern Kopfzerbrechen - etwa Paradestücke wie die Führerbauten
am Münchner Königsplatz und die Führertribüne auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände;
funktionstüchtige Anlagen wie das Reichssportfeld in Berlin oder die nationalsozialistischen
Ordensburgen im Allgäu und in der Eifel; schließlich Zubehörteile wie Hoheitsadler, Hakenkreuze und
Skulpturen.
Dabei sind es weniger die Erbstücke selbst als vielmehr der laxe Umgang mit ihnen, der Kritikern und
Historikern zu schaffen macht.
In Hitlers Vorstellungswelt waren die Bauten "Worte aus Stein" - überredender als das gesprochene,
überzeugender als das geschriebene Wort: gebauter Nationalsozialismus. Die 50 Jahre später an
die Nürnberger Führertribüne geschmierte Parole "Fickt die Türken in den Arsch!" kann natürlich
nicht das letzte Wort dazu sein.
Daß der Diskurs über die NS-Architektur, ihre Vorgeschichte und ihre Nachwirkungen auf die
Gestaltung der Bundesrepublik so vehement ausgebrochen ist, hat mehrere Ursachen:
Im Sog von Albert Speers mystifizierenden "Erinnerungen" schwemmten zahlreiche dreiste
Publikationen auf den Markt, die den NS-Bau historisieren und aufwerten wollen.
In der Aneignung überkommener NS-Bauten offenbarten Behörden und Unternehmer eine
dümmliche bis abgebrühte Unbefangenheit, die in dem Versuch gipfelte, in einer Bauruine auf
dem Nürnberger Parteitagsgelände ein Zeitgeist-Zentrum für bayrische Schickis einzurichten.
Nach jahrzehntelanger Tabuisierung der Nazi-Ära an den Hochschulen enthüllten jüngste
Forschungsarbeiten das Ausmaß, in dem Cliquen von NS-Architekten frühzeitig Planungsposten in
der Bundesrepublik bezogen, einander Aufträge zuschanzten und zu Hausarchitekten von
Wirtschaftsgrößen avancierten.
Die Geschichte dieser Kumpanei hat nahezu im Alleingang der Darmstädter Architekt und
Soziologe Werner Durth recherchiert. Akribisch und scheinbar leidenschaftslos breitet er auf
insgesamt 1572 Buchseiten seine anstoßerregende Wahrheit aus.
Durth, Professor für Umweltgestaltung an der Universität Mainz, ist so alt wie die Bundesrepublik, er
wird im Mai vierzig - doch lange spürte er "in dieser Gesellschaft keinen Boden unter den Füßen".
Auch während des Studiums irritierte ihn ein Zeitsprung: Die Jahre von 1933 bis 1945 fehlten.
Durth wollte sich sein Geschichtsverständnis aber nicht von "den Fests und ihren konstruierten
Geschichtsbildern" vermitteln lassen - von jenen virtuosen, auflagefördernden Klitterungen, wie die
konservativen Publizisten Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler sie mit Speers Erinnerungen und
Tagebüchern betrieben haben. Durth begann 1978 mit eigenen Recherchen über die NSVergangenheit westdeutscher Aufbauarchitekten.
Resümee, zehn Jahre danach: Auch die deutschen Architekten haben ihre Globkes, und zwar
reichlich. Auch in der deutschen Architektur ist die vermeintliche "Stunde Null" eine fromme
Legende: Unbeschadet überstanden Architekten ihr Engagement für den NS-Bau - auch und
gerade Leute, die sich den Nationalsozialisten nicht nur durch Deutschtümelei und forsches
Frontkämpfertum, sondern zusätzlich mit Hymnen auf Hitler und Hetzschriften gegen Linke
empfahlen.
Den älteren, allesamt völkisch gesinnten unter ihnen - die es fertigbrachten, nacheinander der
Monarchie und Weimar, dem Dritten Reich und der Bundesrepublik zu dienen - bot sich 1933 die
ersehnte Gelegenheit, endlich die verhaßte Avantgarde zu liquidieren, das "100 Prozent
bolschewistische Bauhaus" (Emil Hoegg).
Paul Schmitthenner, der Generationen von Studenten seine Satteldach-Gesinnung einbleute, zog
als Redner für Alfred Rosenbergs "Kampfbund" durchs Land, putzte die Neue Sachlichkeit als "letzten
geilen Trieb am Baum der deutschen Baukunst" herunter und ließ Hitler, dem großen "unbekannten
Steinmetz", 1933 die Ehrendoktorwürde der Stuttgarter Hochschule antragen. 1958 nahm er - aus
der Hand des Bundespräsidenten Theodor Heuss - in Bonn den Orden Pour le merite entgegen.
Julius Schulte-Frohlinde hatte "Juden und Marxisten" als "verderbenbringende Drahtzieher" der
Moderne ausgemacht - und als Bauleiter von Robert Leys Deutscher Arbeitsfront hinreichend
Gelegenheiten, sein Bekenntnis zur Bewegung in der Errichtung von Schulungsburgen und KdFAnlagen auszudrücken. 1952 übernahm er in Düsseldorf das städtische Hochbauamt und errichtete
ein neues Rathaus.
Von den jüngeren - die sich von den bauwütigen Nazis vor allem schnellen Aufstieg versprachen machte Hanns Dustmann eine kinoreife Karriere.
Der Bürochef des Bauhaus-Gründers Walter Gropius meldete sich am Abend des 30. Januar 1933 als
"SS-Mann Dustmann" am Telephon. Er wurde Reichsarchitekt und Ehrendolchträger der Hitlerjugend
und zeichnete, von Hitler zum Professor ernannt, für die "Welthauptstadt" ein kolossales völkisches
Museum und eine ebenso kolossale Langemarck-Halle.
Nach dem Krieg wurde er Hausarchitekt der Victoria-Versicherung, baute über 30 Häuser für
Banken und Assekuranzen sowie den Allianz-Komplex auf dem Bonner Tulpenfeld, mit Büros für
Abgeordnete, Beamte, Journalisten.
Andere Hitler-Professoren standen Dustmann kaum nach. Friedrich Hetzelt, Architekt von Görings
Räuberhöhle Karinhall und Designer von Heydrichs Amtsräumen im Reichssicherheitshauptamt, kam
als Beigeordneter in Wuppertal unter und errichtete dort die Schwimmoper und das
Schauspielhaus. Herbert Rimpl, Architekt der Hermann-Göring-Werke und Rüstungsexperte mit
Geheimaufträgen für besetzte Gebiete, baute das Bundeskriminalamt in Wiesbaden.
Friedrich Tamms, Spezialist für Bunker und Flaktürme (und stramme Propagandaschriften), stieg
nach 1948 zum hochdekorierten Bauchef von Düsseldorf auf - und sicherte die Landeshauptstadt
als Brückenkopf für alte Kameraden.
An der Düsseldorfer Königsallee konnte Helmut Hentrich die vierkantigen Doppelsäulen realisieren,
die er schon für die geplante OKW-Fassade in Berlin gezeichnet hatte: Er setzte sie dem Bankhaus
Trinkaus vor. In Düsseldorf ließ sich Carl Piepenburg nieder, der Bauleiter der Reichskanzlei. Hier
baute auch Speers V-Mann Rudolf Wolters 1955 die Industriekreditbank.
Späte Erfüllung fanden frühe Träume Cäsar Pinnaus: Der Ausstatter der Führer-Gemächer in der
Reichskanzlei konnte Entwürfe, die er 1940 für Großbauten an der vorgesehenen WelthauptstadtAchse gezeichnet hatte, noch 1980 verwerten - für den Verwaltungsbau der RheinischWestfälischen Bankengruppe in Münster.
Alle gehörten zum harten Kern der Gruppe Speer, und für alle war der 30. Januar 1937 ein
bedeutsames Datum - der Tag, an dem Hitler den 31jährigen Albert Speer zum
Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt ernannte.
Der mittelmäßig begabte Streber, seit 1931 Parteigenosse, seit 1932 Parteiarchitekt und seit 1935
Bühnenbildner und Beleuchter der Nürnberger Parteitage, war für den Führer allerdings nur zweite
Wahl, nachdem Hitlers Bau-Idol Paul Ludwig Troost unter Hinterlassung der Entwürfe für die
Führerbauten, die Ehrentempel und das Haus der Deutschen Kunst in München zum Ewigen Appell
weggetreten war.
Halb Berlin wollten die Speer-Adjutoren zerschlagen - notfalls mit Haubitzen, wie sie witzelten -, um
Ungetüme aufzurichten, wie die Welt sie noch nicht gesehen hatte, durchweg im Speerschen
Vulgär-Klassizismus gestylt.
Zu Arbeitsessen traf man sich bei Horcher, dem Schlemmerlokal der NS-Schickeria (und Schauplatz
des ersten Aktes von Carl Zuckmayers "Des Teufels General"). Dort tafelten des Teufels Architekten
mit ihrem Chef noch in den Kriegsjahren 1941 und 1942, als in den Granitbrüchen von Flossenbürg
und im Klinkerwerk Neuengamme KZ-Häftlinge zur Gewinnung von Baumaterial angetrieben
wurden.
Schlüsselstellungen in seinem Stab hatte Speer mit zwei Männern besetzt, die ihm auch dienten, als
- nach der Schlacht um Stalingrad und den ersten großen Flächenbombardements deutscher
Städte - das Projekt "Germania" an Aktualität eingebüßt hatte: Rudolf Wolters und Karl Maria
Hettlage.
Hettlage, Finanzfachmann und firm in allen Wirtschafts- und Verwaltungsfragen, folgte Speer ins
Munitionsministerium, wo er das Rüstungskontor (zur Beschaffung von Mangelgütern aus den
besetzten Gebieten) übernahm.
Wolters hielt seinem Chef noch die Treue, als Hettlage bereits zum Staatssekretär im Bonner
Finanzministerium aufgestiegen war und Speer, als Kriegsverbrecher verurteilt, im Spandauer
Gefängnis einsaß: Wolters organisierte den Kassiberschmuggel mit Speers Lebenserinnerungen auf
Klosettpapier.
Beiden war von Speer Ende 1943 eine neue Aufgabe zugedacht worden: Sie sollten sich - der
Rüstungsminister hatte einen entsprechenden Führererlaß erwirkt - um einen neuen Arbeitsstab,
diesmal für die "Wiederaufbauplanung zerstörter Städte", kümmern; Speer sah sich
selbstverständlich schon als Manager des Wohnungsbaus in Nachkriegsdeutschland.
Die für "Germania" entbehrlich und für einen Fronteinsatz verfügbar gewordenen Architekten
konnten aufatmen: Sie wurden nun dringend für eine "vorbereitende Friedensaufgabe" gebraucht
und blieben vom Kriegsdienst freigestellt; Wolters hatte sich auch eine neue Berufsbezeichnung für
sie ausgedacht: "Erzbaumeister".
1944 tagten die Erzarchitekten auf einem Speer-Anwesen in Wriezen - und teilten schon die
brennenden deutschen Städte untereinander auf. Ab 1947 trafen sie sich, erst beim Fürsten zu SalmSalm auf Schloß Anholt, dann bei Wolters im westfälischen Coesfeld, das Netz ihrer Verbindungen
neu zu knüpfen.
Zwischendurch, im Frühjahr 1945, erfüllte Wolters einen letzten Auftrag seines Ministers: Um Büros für
den von Speer geplanten industriellen Wohnungsbau vorzubereiten, reiste er zwischen
Flüchtlingstrecks und fliegenden Standgerichten mit dem Bauleiter Heinrich Lübke durch
Restdeutschland, bis die beiden von britischen Truppen überrollt wurden.
Dabei hatte Wolters in dem späteren Bundespräsidenten einen freundschaftlichen Fürsprecher
gefunden: Noch als nordrhein-westfälischer Landwirtschaftsminister verwandte Lübke sich für eine
schnelle Entnazifizierung seines Reisegefährten.
Doch die Erzbaumeister kamen auch ohne besonderen Beistand durch die Spruchkammern. Selbst
Speer brummte ja nur als Rüstungsminister. Als "Architekt Hitlers", so notierte der Altnazi 1950 im Knast
ganz richtig, hätte ihm "noch nicht einmal ein ernsthaftes Verfahren" durch die deutschen
Behörden bevorgestanden.
Auch mit Bauten wurde auf Betreiben der Sieger nur in besonders brisanten Fällen kurzer Prozeß
gemacht: Die Russen ebneten 1946 die Reste der Reichskanzlei ein, die Amerikaner ließen 1947 die
Ehrentempel am Münchner Königsplatz sprengen, und die Briten rissen 1987 mit dem Spandauer
Gefängnis, einem Backsteinbau aus dem 19. Jahrhundert, die letzte Heß-Bleibe ab (und deckten
die Flächen mit einem gläsernen Shopping Centre für ihre Familien zu).
Verständlich. Die Bauten mußten als ideologisch hochgradig kontaminiert und somit als potentielle
Kultstätten für alte und neue Nazis gelten. Welche Anziehungskraft noch ein paar Mauerreste auf
sonst bereinigtem Terrain ausüben können, demonstrieren jährlich rund 300 000 Touristen, die in
Loden, Nerz und Parka zum ehemaligen Führer-Anwesen auf dem Obersalzberg pilgern.
Genau das wollten die Sieger den Besiegten bei ihrer Umerziehung austreiben. Die Entnazifizierung
der Deutschen sollte mit einer Entnazifizierung Deutschlands einhergehen.
Der Alliierte Kontrollrat verfügte am 13. Mai 1946, daß sämtliche Bauwerke und Denkmäler
"militärischen und nationalsozialistischen Charakters" bis zum 1. Januar 1947 "vollständig zu zerstören
und zu beseitigen" seien - ausgenommen "Gegenstände von wesentlichem Nutzen für die
Allgemeinheit oder von großem architektonischen Wert"; bei ihnen seien nur die "zu
beanstandenden Teile" zu beseitigen.
Die wuchtige Geste der Befreiung konnte also unterbleiben, der einzig mögliche Zeitpunkt für eine
gewaltsame Lösung war verpaßt: Die deutschen Behörden erkannten fast durchweg auf "Wert" und
"Nutzen", verschonten die NS-Bauten und demontierten lediglich die anstößigsten Applikationen.
Am Münchner Führerbau - einer Hitler-Dependance, in der im September 1938 das Münchner
Abkommen unterzeichnet worden war - fielen zwar die kompletten Hoheitsadler; ansonsten aber,
bei Finanzämtern und Gerichtsgebäuden etwa, beschränkten die beauftragten Exorzisten sich auf
minimale kosmetische Korrekturen: Nur die Hakenkreuze wurden aus den Krallen der Adler entfernt.
Bei der Benutzung der Bauten und der Handhabung der Embleme gingen die Umerzieher den zu
Erziehenden allerdings nicht mit bestem Beispiel voran. Die kurioseste Behandlung erfuhr der
viereinhalb Meter hohe, neun Tonnen schwere Hoheitsadler, der von 1940 bis 1962 auf dem
Flughafengebäude in Berlin-Tempelhof ansässig war.
Als die Amerikaner seinen Platz für ein Radargerät benötigten, zerlegten sie den gußeisernen Vogel
und schafften den 136 Kilogramm schweren Kopf ins Museum der Militärakademie West Point im USStaat New York. 22 Jahre später holte die Air Force den Adlerkopf zurück und vermachte ihn den
Berlinern. Seit 1985 ist er auf einem Sockel aus Waschbeton am Platz der Luftbrücke öffentlich
ausgestellt.
Ähnlich ungeniert verfahren die Briten mit dem Berliner Reichssportfeld, auf dem sie ihr
Hauptquartier eingerichtet haben: Stets sind die bronzierten NS-Adler tadellos poliert, auf dem
Maifeld finden die Geburtstagsparaden für die Königin statt - und die Wandsprüche in der
Glockenturmhalle, die noch an die "blutigen Weihen" der "heiligen grauen Reihen" von
Langemarck erinnern, sind durch die Fürbitte "God save the Queen" ergänzt.
Wo immer Deutsche im Laufe der Jahre in die von den Besatzern wieder freigemachten NSImmobilien nachrückten - der Polizeipräsident in den Tempelhofer Flughafenbau, der
Bundesnachrichtendienst in die Rudolf-Heß-Siedlung Pullach, die Bundeswehr in die Ordensburg
Sonthofen -, taten sie dies nicht mehr als Geschlagene, sondern als selbstbewußte Bündnispartner.
Sie sahen keine Veranlassung, an den vorgefundenen Einrichtungen etwas zu ändern.
So behielt zum Beispiel das bayrische Wirtschaftsministerium, als es einem PX-Center der U.S. Army in
das Münchner Luftgaukommando folgte, die NS-Militaria an der Fassade bei: eine Kriegerbüste
über dem Portal und eine Reihe wasserkopfgroßer Wehrmachtsstahlhelme in den Fenstergiebeln.
Doch der unbefangene Umgang der Sieger mit ihren Trophäen, meint der Berliner Kunsthistoriker
Hans-Ernst Mittig, könne kein Modell für den Umgang der Deutschen mit ihrem Erbe sein. Beispiele
aus der Geschichte läßt er bei dieser Hinterlassenschaft gleichfalls nicht gelten. Die Bauten der NSEpoche seien nicht auf dem Normalweg zu historisieren.
Was dann? Abreißen? Verfallen lassen? Oder doch behalten, aber wie? Das eine scheint so falsch
wie das andere:
Abriß hieße Verdrängung, wäre ein später, ziemlich lächerlicher Versuch, Spuren der Geschichte
und mit der Substanz auch Anschauungsmaterial zu beseitigen;
Erhaltung und Nutzung könnten Anerkennung und Identifikation bedeuten, mithin als ein Zeichen
gelten, daß mit der Begnadigung seiner Bauten auch der Nationalsozialismus aus der Verurteilung
entlassen und wieder gesellschaftsfähig sei; hingenommener oder gar inszenierter Verfall könnte
Ruinenromantik aufkommen lassen (die Hitler und Speer bei ihren Planungen einkalkuliert hatten).
Alle Diskussionen enden in Ratlosigkeit, zeigen das Dilemma: Auch diese Generation weiß keine
einleuchtende Lösung der Frage - zumal die Denkmalpflege mittlerweile die meisten der Bauten,
vorsorglich, unter ihre Fittiche genommen hat.
Das mindeste, immerhin darüber herrscht Konsens, wären eine überlegte Nutzung und öffentlich
angebrachte Kennzeichnung und Erläuterung der Gebäude. Doch daran hapert es.
Zu welchen Perversitäten eine Freigabe der NS-Relikte an die freie Wirtschaft führen könnte, zeigten
unlängst Verhandlungen der Nürnberger Stadtverwaltung mit einer Unternehmensgruppe.
Nürnberg
ist
besonders
geschlagen
mit
den
gigantischen
Fossilien
auf
dem
Reichsparteitagsgelände, auf dem der Führer einmal im Jahr seine spektakulären Feldgottesdienste
zelebrierte. Die Stadt unterhält die Halbruinen teils als Gedenkstätte, teils als Einnahmequelle.
Im Torso der Kongreßhalle der NSDAP - Hitlers "erstem Riesen" unter den Bauten des Dritten Reiches,
dem Kolosseum von Rom nachgebildet und mit Granitquadern aus den KZ-Brüchen von
Flossenbürg verkleidet - üben der Katastrophenschutz und die Nürnberger Symphoniker. 16 000
Quadratmeter sind als Lagerfläche an das Versandhaus Quelle vermietet, eine Firmengründung
des Altnazis und Arisierers Gustav Schickedanz.
Nur unter dem Druck öffentlicher Proteste widerstand die Stadtverwaltung der Versuchung, einem
Angebot der eigens gegründeten Finanzierungsgesellschaft "Kongreß & Partner" nachzugeben.
Die Nürnberger Unternehmer wollten den Nazi-Torso für 99 Jahre in Pacht nehmen und für eine
halbe Milliarde Mark zu einem "Erlebnis- und Freizeitzentrum für gehobene Ansprüche" ausbauen -
mit Disco, Squash und Sauna, Bistros, Boutiquen und Penthäusern. Ähnlichen Anfechtungen sieht
sich keine andere Stadt ausgesetzt. Doch die Art und Weise, in der etwa München oder West-Berlin
ihre Erbschaftsangelegenheiten zu erledigen versuchen, kann auch nicht als beispielgebend
gelten.
Verständlich, daß die Stadt München, besorgt um ihr Image als "Weltstadt mit Herz", nicht gern an
ihre Vergangenheit als "Hauptstadt der Bewegung" erinnert werden will und alles tut, sie vergessen
zu machen. Am Haus der Kunst rankt Efeu; über den Königsplatz, die granitene Aufmarschfläche
der NSDAP, ist Gras gewachsen; in den Führerbauten sind die Musikhochschule und Kulturinstitute
untergebracht.
Auch die 16 "Blutzeugen" von Hitlers Novemberputsch sind die Münchner los; die Tempel für ihre
Sarkophage sind gesprengt. Geblieben sind - letzte Steine des Anstoßes - die Sockel: Die
Bauverwaltung will sie nicht haben, zumal NS-Veteranen an ihnen gelegentlich in stillem Gedenken
verharren; die Denkmalpflege will sie bewahren, als "Denksteine der Geschichte".
Während München sich weitgehend entnazifiziert hat, haben die West-Berliner sich unlängst
überraschend renazifiziert. Die Stadt hat sich ein architektonisches Unikum zugelegt: ein
Nazigebäude, Baujahr 1987.
Der Senat will das desolate Diplomatenviertel am Tiergartenrand reanimieren. Die zerschossenen
Botschaftsgebäude aus der NS-Zeit werden instand gesetzt. Über die Häuser der beiden ExAchsenmächte kam es zum Streit. In die italienische Botschaft (Architekt: Friedrich Hetzelt) soll,
ausgerechnet, die neugegründete Akademie der Wissenschaften ziehen. Die Mailänder Architektin
Gae Aulenti will den Bau postmodern aufpeppen, sein Pathos ironisieren. Der Denkmalpfleger
jedoch wünscht sich die Mumifizierung der faschistischen Form und lehnt den Aulenti-Entwurf ab.
Japans ungebrochenes Verhältnis zur Vergangenheit demonstrierte der Tokioer Architekt Kisho
Kurokawa bei der japanischen Niederlassung, die als ein Japanisch-Deutsches Zentrum dienen soll:
Weil der Nazikasten (Architekt: Ludwig Moshamer) durchgefault war, ließ Kurokawa ihn abreißen
und mit Zustimmung der deutschen Behörden originalgetreu wiederaufrichten (Innenarchitekt, wie
1940: Cäsar Pinnau).
Protesten gegen den wiederauferstandenen NS-Bau begegnete der Generalsekretär des Zentrums,
Thilo Graf Brockdorff, mit der blasierten Bemerkung, daß der Nazibau in Japan "größtes Charisma"
genieße.
Derlei affirmative Auslassungen empfinden Kritiker wie Mittig als das eigentlich Skandalöse. Das gilt
auch für den fröhlichen Umgang mit einem der Wahrzeichen West-Berlins, dem wegen seiner Form
und Funktion auch offiziell gerühmten und ohne die Spur einer Zurückhaltung für die "Alte
Hauptstadt"-Werbung längst vereinnahmten Olympiastadion von 1936.
Die endgültige Form der Eisenbetonschüssel und ihre Verkleidung mit Haustein waren Führerwille.
Der Architekt Werner March lieferte Hitler die gewünschte "Kampfstätte" und mit dem Maifeld ein
feierliches Aufmarschgelände. Der Heldentod stand Pate.
Den Glockenturm weihte March der "singend in den Tod gezogenen Jugend von Langemarck", die
den (noch) Lebenden "Sinnbild und Vorbild" sein sollte. Für das Opening der Spiele reimte ihr
Organisator, Deutschlands Sportheiliger Carl Diem: "Vaterlandes höchst Gebot in der Not:
Opfertod!"
Mit dem Kriegsausbruch folgte für Diem der sportliche Ernstfall. Sein verbaler Beitrag 1939: Der Sport
sei der "Büchsenspanner des Soldaten". Seine Reaktion auf Stalingrad: eine Reise an die Ostfront,
mit dem Appell "Ich rufe die Jugend - zur soldatischen Pflicht".
Im März 1945 - das Olympiastadion war zur Festung ausgebaut, der Volkssturm auf dem
Olympischen Platz vereidigt, Reichssportführer Karl Ritter von Halt kommandierte das Bataillon
"Reichssportfeld" - rief der große Organisator am Olympiastadion noch einmal die Jugend; und der
damals 18jährige Reinhard Appel, später Chefredakteur des ZDF, "kann nicht vergessen", wie Diem
"in einer flammenden Rede, in der viel von Sparta und Opferbereitschaft vorkam", die Hitlerjungen
der Division "Großdeutschland" zum "siegreichen Endkampf" aufforderte.
Einen Monat später, nach dem Endkampf um das Stadion zwischen der Roten Armee und
zusammengetrommelten Hitlerjungen, lagen mehr als 2000 Tote auf dem Reichssportfeld, fast alle
Pimpfe im Alter von 13 und 14 Jahren.
Nichts am Stadion erinnert an ihren sinnlosen Tod. Nur Carl Diems, des im gesegneten Alter von 80
Jahren im Bett gestorbenen Rektors der neugegründeten Hochschule für Leibesübungen in Köln,
wird mit einer Porträtplakette am Marathontor ehrend gedacht.
Wo auch immer: Das "selektive Erinnern" (Mittig) ist symptomatisch. Ob auf den Ordensburgen oder
in einer Idylle an der Krummen Lanke: Die Geschichte wird verdaulich dargeboten.
Auf den Ordensburgen, von NS-Architekten als "Festungen des Glaubens" erbaut, sollten die
"fanatischsten Träger der nationalsozialistischen Weltanschauung" erzogen werden, wie Robert Ley
sie sich wünschte: "Herrenmenschen" für das zu errichtende "Großgermanische Reich".
Die Sonthofener Burg heißt nun, zur Erinnerung an den Widerstand, Generaloberst-Beck-Kaserne;
hier werden jetzt Feldjäger und Stabsleute für die Bundeswehr geschult.
In launigen Einführungsvorträgen für neue Lehrgangsteilnehmer - über Allgäuer Käse, NSErziehungssysteme und die Innere Führung beim Bund - wird die Nazi-Ideologie kaum kritisch
angegangen. Detaillierter erfahren Neuankömmlinge schon, wer hier als Adolf-Hitler-Schüler
"durchgelaufen" sei: Hardy Krüger und Dietmar Schönherr zum Beispiel, der spätere SED-Ideologe
Werner Lamberz sowie der Chefredakteur der "Zeit" Theo Sommer.
Das neue Wappen der Burg zeigt den preußischen Gardestern mit der Losung "Suum cuique".
Deutlichere Spuren der Vergangenheit finden sich noch auf dem Territorium der Ordensburg
Vogelsang in der Eifel, jetzt Truppenübungsplatz der Nato unter belgischer Verwaltung. Dort steht
ein sechs Meter hoher, verwitterter Denkmalblock mit dem Relief eines Fackelträgers und der
verstümmelten Inschrift:
Ihr seid die Fack.....ger der Nation Ihr tragt das Licht des Geistes voran.....mpf für............*
Der Rheinische Landeskonservator will die Burg "in der Originalsubstanz" bewahren. Das Amt für
Denkmalpflege hat sie als "Mahnmal" eingeordnet, ausdrücklich als "ideologisches Gegenstück zu
den Vernichtungslagern".
Vergleichbare Zusammenhänge sieht der Darmstädter Kunsthistoriker Klaus Wolbert ("Die Nackten
und die Toten des Dritten Reiches") in seiner Deutung der NS-Kunst am Bau vor allem bei den
Skulpturen von Arno Breker: In der aufgeladenen Pracht dieser Leiber werde "Schönheit als Waffe"
gegen alles Kranke und Verkrüppelte eingesetzt.
Wolbert widerspricht dem ehemaligen Bundeskanzler Ludwig Erhard, der Breker als Verteidiger der
"Freiheit und Würde des Menschen" auf der "Grundlage der christlichen Ethik" pries, ganz
entschieden. Er widerspricht auch den bundesdeutschen Wirtschaftsgrößen und Leistungssportlern,
die Hitlers nun greisen Michelangelo in großer Zahl als den Skulpteur ihrer Wahl bewundern.
Wolbert: Da für NS-Rassentheoretiker nur der makellose Mensch lebenswert war, verkörperten die
nackten Nazi-Schönheiten, quasi als Soll-Typen, die "Anweisung zum Mord".
Die Rassentheoretiker der SS wohnten in einer Idylle, die sich auch 50 Jahre danach bei den
Berlinern (und bemerkenswert vielen Angehörigen der Polizei) großer Beliebtheit erfreut - als
"Waldsiedlung Krumme Lanke", unter Birken und Kiefern am See, mit Satteldächern und
Jägerzäunen und so putzigen Straßennamen wie "Himmelsteig" und "Im Kinderland".
Andere Straßen hießen vor 50 Jahren noch "Treuepfad" und "Ahnenzeile"; die "Waldsiedlung" war
eine "Kameradschaftssiedlung der SS", sie war auf Betreiben Himmlers als geschlossene Anlage für
die Mitarbeiter der SS-Hauptämter errichtet worden: ein "beredtes Zeugnis für die Gestaltungskraft
der SS auch auf diesem Gebiet" ("Das Schwarze Korps").
Als das SS-Blatt, um auch mal die "heitere Seite des SS-Dienstes" zu zeigen, 1938 per
Preisausschreiben die Straßennamen für die Siedlung suchte, gab eine Siedlungskameradin (vier
Kinder) in einem Leserbrief ihrer Hoffnung Ausdruck, daß die Männer, die rassisch eine Auslese des
Deutschen Volkes darstellen, ihr hochwertiges Erbgut an eine recht große Zahl von erbgesunden
Nachkommen weitergeben. Dann wird auch eine Straße, die den schönen Namen "Kinderland"
oder "Glück im Winkel" trägt, bald ihrem Namen gerecht werden, denn die harten Kämpfer der SS
werden dann bei ihren kleinen Lieblingen ihr Glück im Winkel finden.
In diesem Sinne Heil Hitler!
Der Landeskonservator wollte die Totenkopf-Idylle schon vor zehn Jahren unter seinen Schutz
nehmen - als "flächendeckende, denkmalwerte Siedlung". Der Bauhistoriker Dittmar Machule weiß,
warum das noch nicht geschehen ist: aus Sorge, daß dann "die alten Geschichten wieder
hochkommen".
Ein deutscher Karrierist – 02.10.1995
Schriftsteller Rafael Seligmann über die neue Speer-Biographie der Britin Gitta Sereny.
Die Auseinandersetzung mit den Nazi-Verbrechen hat die in Wien geborene britische Journalistin
und Schriftstellerin Gitta Sereny nicht losgelassen, seit sie 1946 dem Prozeß gegen die
Kriegsverbrecher in Nürnberg beiwohnte. Hier fiel ihr unter den Nazi-Häuptlingen besonders Hitlers
Rüstungsminister Albert Speer auf, der als einziger Reue zeigte. Sereny war beeindruckt, wie
"besonders jung" er wirkte und daß er "auffallend gut aussah".
Mehr als drei Jahrzehnte später sollte die Journalistin endlich Gelegenheit bekommen, aus der
Nähe in Speers "dunkle, intelligente Augen" zu blicken. Mittlerweile hatte Speer seine 20 Jahre im
Spandauer Gefängnis abgesessen und seine Erinnerungsbücher an die Zeit mit Hitler und die
Haftjahre geschrieben. Sereny war "fasziniert" von Speers "literarischem Talent", von den
"eindrucksvollsten Gefängnismemoiren", die sie "je gelesen hatte".
Speer seinerseits gefiel ein Artikel Serenys im Sunday Times Magazine. Darin hatte die Journalistin
David Irvings These widerlegt, Hitler habe den Massenmord an den Juden nicht initiiert, sondern erst
Ende 1943 davon erfahren. Speer schickte Lob und Dank nach London und erwähnte dabei, daß
ihm Serenys Buch über Franz Stangl, den Kommandanten des Vernichtungslagers Treblinka,
"schlaflose Nächte" bereitet habe. Er lud die Autorin ein, ihn in Heidelberg zu besuchen.
Dies war der Beginn einer intensiven Beziehung mit hohem Anspruch. Herausgekommen ist eine
Biographie mit dem Titel "Albert Speer. Sein Ringen mit der Wahrheit" (Kindler Verlag; 888 Seiten; 68
Mark). Ziel der Autorin war, "Speer verstehen zu lernen" und "alle Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, die Hitler entfesselte und die uns heute wieder bedrohen, als ein Ganzes zu
betrachten".
Dies läßt einen langatmigen moralphilosophischen Wälzer befürchten. Doch in Gitta Serenys
detailgesättigter Speer-Biographie können wir manch Nützliches lernen: über deutsche Charaktere
etwa oder die wirksamste Methode, Karriere zu machen, und schließlich über eine spezifische
deutsche Spielart der "Judenliebe". Denn Speer entwickelte sich auf seine alten Tage zum
ausgemachten Philosemiten.
Mißraten allerdings ist der Autorin bisweilen die Einordnung jener Zeitumstände, in denen ihr
Wahrheitsringer Karriere machte. "In Deutschland gärte es 1933 . . . Die Ideale des
Nationalsozialismus waren attraktiv, auch wenn es bei ihrer Durchsetzung etwas scharf zuging."
Etwas scharf ging es fürwahr zu, als politische Gegner mißhandelt und erschlagen, als die Parteien
und Gewerkschaften verboten, Juden, Demokraten und Kommunisten aus ihren Ämtern gejagt und
die KZ errichtet wurden.
An anderer Stelle faselt die Schreiberin von einem "angeborenen Antisemitismus". Solchen Unfug
predigte nicht einmal Oberantisemit Hitler. Antisemitismus ist Sereny nicht vorzuwerfen - nur
Unbedarftheit, wenn sie beispielsweise antijüdische Instinkte an Speer entdeckt.
Terriergleich biß sich die Autorin am Objekt ihrer Begierde fest. Nur allzugern bot ihr der geläuterte
Exnazi das blanke Hinterteil seines Gewissens. Nicht von ungefähr hatte er gerade sie aus dem Heer
der Möchtegern-Biographen herausgepickt.
Das erste Rendezvous der beiden fand 1978 in Speers Heim statt. Der steife Heidelberger redete die
Besucherin aus England sogleich beim Vornamen an und begann, sich ihr unverzüglich
anzuvertrauen.
Die Ankündigung, sie "wolle versuchen, die Schutzhülle (seiner) Abwehrstrategien zu durchbrechen",
schreckte ihn nicht. Schließlich hatte ihm sein brillanter Geist schon beim Tribunal in Nürnberg
geholfen, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, während sein Sklaventreiber, der
Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz, Fritz Sauckel, zum Tode verurteilt wurde.
Gitta Sereny erfuhr von Speer, daß es in dessen Elternhaus "kalt" zugegangen sei. "Die einzige
Wärme, die ich je zu Hause fühlte, ging von unserer französischen Gouvernante, Mademoiselle
Blum, aus . . . Die war übrigens Jüdin." Die Suche nach menschlicher Wärme führte Speer schließlich
in die Ehe mit der Handwerkertochter Margarete Weber - gegen den Widerstand seiner Eltern.
Beim Abitur war Speer der Beste in Mathematik. Dieses Fach wollte er auch studieren. Aber der
kühle Vater war dagegen und riet dem Filius dringend, Architekt zu werden - wie er selbst. Der Sohn
parierte.
Unverhofft fand Student Speer zu seiner Bestimmung. Er verliebte sich in seinen Lehrer. Professor
Heinrich Tessenow, dessen "schlichte, klare Architektur" er bewunderte, wurde ihm zum "verehrten
Meister", dem er mit "Begeisterung und Hingabe" diente.
Es war die Zeit, in der sich ein neuer "Meister" anschickte, Deutschland zu erobern: Adolf Hitler. Ihn
erlebte Speer erstmals im Dezember 1930. Die Begeisterung der Hitler-Anhänger für ihr Idol lief Speer
"heiß und kalt den Rücken herunter". Er trat 1931 in die NSDAP ein. Kurz nach der Machtübernahme
wurde Hitler auf ihn aufmerksam. Speer entbrannte in Liebe zu seinem neuen Herrn: "Ich fühlte
damals, daß ihm Deutschland etwas bedeutete." Genauer: "daß ich ihm etwas bedeutete".
Wie machte Hitler das? Speer: "Durch eine Art Hypnose." Der Nazi-Führer habe es verstanden, "den
einzelnen Menschen zu vermitteln, daß er sie liebte". Später wurde Speer dem Meister sogar "hörig".
Als Speer Hitler seine Frau vorstellte, gestand er, daß seine Ehe noch kinderlos war. Da gab der
"Führer" Fortpflanzungsorder. Speer gehorchte. Mit der folgsamen Margarete zeugte er fünf Kinder.
Für Hitler? Speer: "Ja, man könnte das sagen."
Was steckte hinter Hitlers angeblich hypnotischen Fähigkeiten? Womit machte er seine Paladine
und Millionen anderer Deutscher "hörig"? Diese Fragen kommen Gitta Sereny nicht in den Sinn.
Eine mögliche Antwort ist, daß Speer und unzählige andere Hitler "hörig" wurden, weil er ihnen Brot,
Spiele und, am wichtigsten, Bestätigung gab. Speer avancierte rasch zum Lieblingsarchitekten und
bevorzugten Gesprächspartner des geliebten Führers. "Wenn Hitler überhaupt Freunde gehabt
hätte, wäre ich bestimmt einer seiner engsten Freunde gewesen", brüstete er sich noch 1946.
Speer wurde 1937 zum Generalbauinspektor Berlins berufen und setzte fortan den Größenwahn
Hitlers architektonisch in Szene. Noch im Krieg bastelte er an Modellen der Nazi-Welthauptstadt
"Germania".
Der Meister dankte es Speer. Im Februar 1942, nach dem Flugzeugabsturz des Ministers für
Bewaffnung und Munition Fritz Todt, ernannte Hitler den Baumeister zu Todts Nachfolger. Unablässig
drängte Speer fortan gemeinsam mit seinem Kabinettskollegen Joseph Goebbels zum "totalen
Krieg".
Kriegsherr Hitler war begeistert und räumte ihm nahezu uneingeschränkte Kompetenzen ein. 14
Millionen Menschen schufteten unter Speers Leitung für den Nazi-Sieg, Deutsche und Ausländer,
Juden und Zigeuner, als relativ freie Arbeiter oder als KZ-Sklaven.
Im Januar 1944 brach Speer zusammen, mußte aufs Krankenlager. Als der Genesende nach
Monaten wieder Hitler gegenübertreten konnte, empfand er dessen Antlitz mit einem Mal
"abstoßend".
Was war geschehen?
Gitta Sereny meint den Grund zu kennen: Speer sei am 6. Oktober 1943 in Posen Zeuge der
berüchtigten Rede Himmlers vor Reichs- und Gauleitern gewesen, in der sich der SS-Chef zum
Völkermord an den Juden bekannte: "Es mußte der schwere Entschluß gefaßt werden, dieses Volk
von der Erde verschwinden zu lassen." Doch Speer leugnete seine Anwesenheit. Er sei damals auf
dem Weg in Hitlers Hauptquartier bei Rastenburg gewesen.
Seine Ignoranz nimmt ihm Sereny nicht ab: "Es ist schlicht unmöglich, daß er von Himmlers Rede
nichts gewußt hat, ob er nun dort gesessen hat oder nicht." Kein seriöser Historiker zweifelt mehr,
daß die engsten Helfershelfer Hitlers vom Judenmord gewußt haben.
Am Ende erlag Speer dem Drängen seiner inquisitorischen Bewunderin. Er zeigte ihr ein Schreiben
von 1977 an einen jüdischen Funktionär in Südafrika. Da findet sich der Satz: "Meine Hauptschuld
sehe ich immer noch in der Billigung der Judenverfolgungen und der Morde an Millionen von
ihnen."
Sieh an. Nun hatte die Autorin ihren vermeintlichen Scoop. Die Londoner Times fiel auf diesen Tinnef
herein: Sereny habe Speer "gezwungen, seine Komplizenschaft zu bekennen".
Die Wahrheit ist viel simpler. Bereits 1941 hatte Speer Kenntnis von den sogenannten EuthanasieMorden, den Morden an geistig Behinderten. Diese Untaten waren nicht minder verwerflich als der
Judenmord. Dennoch tat Speer alles, um seinem Meister zum "Endsieg" zu verhelfen.
Zu diesem Zeitpunkt schien der Triumph noch erreichbar, und Speer war noch nicht auf der
höchsten Stufe seiner Karriereleiter angelangt. Im Winter 1944 dagegen konnte jeder Leutnant und mancher General - erkennen, daß der Krieg verloren war. Da erschien ihm der Diktator mit
einem Male "unerträglich". Fortan machte Speer nur noch Dienst nach Vorschrift.
Tatsächlich widersetzte sich Speer in den letzten Kriegsmonaten den Hitler-Befehlen der
Verbrannten Erde und tat sein Bestes, damit Hitler das deutsche Volk nicht mit sich in den Abgrund
reißen konnte. Millionen Deutsche verhielten sich ähnlich. Wo waren Hitlers hypnotische Fähigkeiten
geblieben? Verbrannt im Bombenhagel der Alliierten.
Der dem Strick entkommene Speer wandelte sich in Spandau zum Mustergefangenen. Hinter
Gittern fand er einen neuen Meister. "Wollen Sie mir helfen, ein anderer Mensch zu werden?" fragte
Speer den französischen Gefängnisgeistlichen George Casalis. Der konnte sich diesem geistigen
Liebeswerben nicht entziehen. "Als ich Speer kennenlernte, war er der gequälteste Mensch. Als ich
Spandau verließ, war er für mich der reuigste", glaubte Casalis.
Am 1. Oktober 1966 um Mitternacht wurde Speer aus der Haft entlassen: "Im Hotel angekommen,
stand ich vor zahllosen Mikrofonen. Ich gab bereitwillig Auskunft und fühlte mich bald wieder in
meinem Element."
Speer blieb in diesem Element. Seine Bücher wurden internationale Bestseller, er geriet zum
Medienstar. Er hatte schon in Spandau die Political correctness der deutschen
Nachkriegsdemokratie internalisiert. Kernpunkt: die wortreiche Zerknirschung über den Völkermord
an den Juden.
Als neuer Mentor Speers kam daher nur ein Jude in Frage. Bald fand sich einer. Der querköpfige
Rabbiner Robert Raphael Geis, dessen Angehörige von den Nazis ermordet worden waren, schrieb
Speer: "Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß Sie unter dem Verzeihen stehen, denn Sie sind heute
ein aufrechter Mensch." Der Empfänger vergoß "Tränen" der Rührung. Endlich wurde ihm Pardon
von einem Juden gewährt, gar von einem Rabbi. Speer spendete nun einen Teil seiner
Buchtantiemen für jüdische Einrichtungen.
Albert Speer war ein deutscher Karrierist - schlauer als der duckmäuserische "Untertan" von Heinrich
Mann, zaghafter als der Mephisto von Thomas Mann. Speer war nicht stark genug, sich seinen Weg
nach oben zu erkämpfen. Liebe war das Vehikel seiner Karriere. Er besaß die Fähigkeit, sich in die
"richtigen" Männer zu verlieben und diese Herren seine Liebe spüren zu lassen.
Auf dieses Triebwerk von Speers Persönlichkeit geht Gitta Sereny nicht ein. Ihre Biographie kreist um
die Fragen von Schuld und Sühne. Zum Schluß gönnt sie dem Leser noch einen Blick durch das
Schlüsselloch eines Londoner Hotelzimmers, in dem der 75jährige am 1. September 1981 im Bett
seiner jungen Geliebten starb.
Er kenne "kein Buch, das menschlicher über die größte Unmenschlichkeit der Geschichte berichtet",
schrieb einst der Historiker Eberhard Jäckel über Gitta Serenys Franz-Stangl-Buch. Für ihre SpeerBiographie gilt Ähnliches: menschlich - allzu menschelnd.
"Seele verkauft" – 20.09.1999
Der Chefarchitekt und Rüstungsminister Adolf Hitlers, Albert Speer, bekannte sich nach 1945 zu
seiner Mitschuld an der NS-Herrschaft. Von dem Jahrhundert-Verbrechen an den Juden wollte er
aber nichts gewusst haben. Hitler-Biograf Joachim Fest geht in einem neuen Buch dem Rätsel Speer
auf den Grund.
Etwas spröde, bescheiden, fast demütig". Der Publizist Joachim Fest erinnert sich noch genau, wie
Albert Speer auf ihn wirkte, als er ihm Ende 1966 zum ersten Mal persönlich begegnete. "Ich konnte
es kaum glauben, dass dieser freundliche Herr mit dem NS-Minister, der einer der mächtigsten
Männer im Dritten Reich war, identisch sein sollte."
Wenige Monate zuvor, nach 20 Jahren Haft, aus dem Spandauer Gefängnis entlassen, suchte der
61-jährige Speer damals einen Experten, der bereit war, ihm bei seinen Memoiren zur Hand zu
gehen. Das traf sich gut, denn Fest, Jahrgang 1926, war gerade mit den Vorarbeiten für eine
umfangreiche Hitler-Biografie beschäftigt. Ein Zeitzeuge wie Speer, der dem sagenumwobenen
Diktator so nahe gestanden hatte wie vielleicht kein Zweiter, kam dem Historiker wie gerufen.
In den folgenden zwei Jahren half Fest - zusammen mit dem Verleger Wolf Jobst Siedler - als eine
Art Lektor und historischer Berater, die "Erinnerungen" Speers in eine lesbare Fassung zu gießen.
Der Haftentlassene hatte im Gefängnis schon vieles notiert und in nahezu 2000 Kassibern
herausschmuggeln lassen. Sein Gedächtnis arbeitete hervorragend, wenngleich offensichtlich
selektiv. Lücken ließen sich auch durch insistierende Vorhaltungen nicht immer schließen. Fest: "Bei
bestimmten Fragen wich er, statt konkret zu werden, ins Ungefähre aus."
Speers "Erinnerungen" wurden, als sie im Herbst 1969 erschienen, trotzdem - oder gerade deswegen
- ein beispielloser Erfolg. Der geläuterte Nazi, der stellvertretend Reue zeigte, fand Gefallen bei den
vielen, die schlechten Gewissens waren. Die Medien rissen sich um den gebildeten Herrn mit den
guten Manieren. Sarkastisch brachte der Historiker Eberhard Jäckel den Lebenslauf des letzten
Überlebenden aus dem innersten Kreis der Nazi-Macht auf den Begriff: "Everybody's darling - Hitlers
Lieblingsarchitekt, seit 1942 sein Lieblingsminister, in Nürnberg der Lieblingsangeklagte und heute
der Lieblingsspätheimkehrer der westdeutschen Gesellschaft".
Speer blieb eine merkwürdig schillernde Gestalt der Zeitgeschichte, höchst umstritten, von allen NSGrößen die rätselhafteste, gerade weil er etwas aus der Reihe fiel. Viele meinten, des "Teufels
Architekt" habe sich beim Nürnberger Prozess und später dann in seinen Memoiren seine eigene
Legende mit Bedacht und eiskaltem Kalkül fabriziert. Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich
legte dagegen bei dem "feinsinnigen Schuldig-Unschuldigen" massive Verdrängungsmechanismen
bloß: "ein schönes Beispiel unbewusster Selbstblendung".
"Von den Ermordungen der Juden hatte ich keine Kenntnis" - bei dieser Aussage vor dem
Internationalen Militärgericht blieb Speer im Kern sein Leben lang.
Erst nach seinem Tod (1981) wurde Speers ganz persönliche Beteiligung an der "Ent-mietung" und
Vertreibung der Berliner Juden und der Ausbeutung der Zwangsarbeiter für die Rüstungsindustrie
systematisch erforscht und aufgedeckt.
Das ließ den Historiker Fest nicht ruhen. Seine Hitler-Biografie (1973), auch sie ein Bestseller, hatte für
Furore gesorgt. Danach hatte sich der Buchautor anderen Themen zugewandt: den Brüdern
Thomas und Heinrich Mann, Italien und dem Widerstand gegen Hitler ("Staatsstreich", 1994).
Mit Speer aber stand noch eine Rechnung offen. Fest wusste inzwischen: Sein Gesprächspartner
von damals hatte ihm nicht alles gesagt, und nicht alles, was er gesagt hatte, diente der
Wahrheitsfindung. Auch musste den Publizisten, 20 Jahre lang Mitherausgeber der "Frankfurter
Allgemeinen", der immer wieder erhobene Vorwurf kränken, er habe bei der Selbststilisierung Speers
Formulierungshilfe geleistet. Zudem gab es noch ein Konvolut von Notizen, die er damals gemacht
hatte, ohne sie bislang auszuwerten.
So erscheint nun nächste Woche am 28. September seine Speer-Biografie, ein brillant
geschriebenes Werk, aus dem der SPIEGEL einen Auszug vorabdruckt*.
An Fakten bringt Fests Buch kaum etwas, was nicht auch schon woanders stand. Gleichwohl bietet
seine abwägende Darstellung dem Leser neue Einsichten. Meisterhaft versteht es der Autor, die
Facetten dieser Biografie herauszuarbeiten und so zu arrangieren, dass sich die innere Dramatik
offenbart. Er holt die Gestalt Speers quasi aus dem Wachsfigurenkabinett der Geschichte und
reanimiert sie zu einer historischen Person mitsamt ihren Lebenslügen und eklatanten
Widersprüchen.
Ein Charmeur, ein Fachmann der Improvisation, ein roboterhafter Workaholic, unbestechlich und
karrieresüchtig, hingabebereit und machthungrig. Der Architekt Speer war all dies und noch mehr.
Aber auf ein entscheidendes Defizit macht Fest aufmerksam: "In einem Charakter wie dem seinen
war kein Raum für Grundsätze." Der alte Speer selbst sagte über seine Berufsanfangsjahre: "Für einen
großen Bau hätte ich wie Faust meine Seele verkauft."
In einer Schlussbetrachtung nennt ihn Fest "einen Mann mit vielen Fähigkeiten, aber ohne
Eigenschaften", ein "Genie der Anpassung", letzten Endes abhängig von seinem Meister, den er sich
in Hitler gesucht hatte.
Für diesen empfand er eine "grenzenlose Bewunderung". Schon als er Ende 1930 den
nationalsozialistischen Parteiführer zum ersten Mal als Redner erlebte, sei er ihm verfallen.
"Ich war 30, als er mir eine Welt zu Füßen legte", erklärte Speer nach 1945 seine Faszination. Der
Architekt und sein hoch gestellter Bauherr verstanden sich großartig, offenbar beide bewegt von
einer erotisch gefärbten Zuneigung. Sein Bürochef Karl Maria Hettlage soll es Speer hinterbracht
haben: "Sie müssen wissen, Sie sind Hitlers unglückliche Liebe."
Beide fühlten sich als Künstler. In endlosen Nachtgesprächen entwarfen sie Bauwerke, deren
Dimensionen alle menschlichen Maße sprengten.
Für Berlin-Mitte plante Speer riesige Achsenstraßen von über 100 Meter Breite, an deren einem Ende
sich ein Triumphbogen erhob, um vieles mächtiger als der in Paris. Neben dem Brandenburger Tor
entstand auf dem Reißbrett eine gigantische Versammlungshalle, 290 Meter hoch und mit einer
Kuppel von 250 Meter Durchmesser. 1950 sollte alles fertig sein und Berlin als Metropole eines neuen
germanischen Weltreichs in "Germania" umgetauft werden.
Als "Generalbauinspektor" beglückte Speer seinen Gönner mit einer neuen Reichskanzlei, 391Quadratmeter- Arbeitszimmer für den Hausherrn inklusive. Bei den Massenaufmärschen der Partei in
Nürnberg sorgte er als "Chefdekorateur" mit Flakscheinwerfern für die spektakulären Lichtdome,
Wahrzeichen nationalsozialistischer Ästhetik.
Als Nachfolger des verunglückten Rüstungsministers Fritz Todt demontierte der Aufsteiger seinen
Rivalen Göring und entmachtete Minister und Generäle, die ihm im Weg standen. Mit Goebbels
hingegen paktierte er, um den "totalen Krieg" voranzutreiben.
Unter Speers Ägide verdreifachte sich die deutsche Rüstungsproduktion. Untergebenen, die nicht
spurten, drohte er mit dem Konzentrationslager. Als er 1943 auf dem Höhepunkt seiner Macht die
gesamte Kriegswirtschaft dirigierte, brachte er sich selbst als Kronprinzen ins Gespräch.
Ein Traum, der nicht lange währte. Wenig später torpedierten die Bomberangriffe der alliierten
Luftflotten auch die Position des Rüstungsministers. Die Produktionsziffern sanken, und mit ihnen sein
Stern. Um ihn herum Intrigen und interne Machtkämpfe. Speer litt, weil er sich von Hitler
zurückgesetzt fühlte. Die Welt zu seinen Füßen? Nein, ein Trümmerhaufen.
Als endlich auch er, Anfang 1945, den Krieg verloren gab, unterlief er die in seinen Augen
"verbrecherischen" Vernichtungsanordnungen ("Nero-Befehl") seines Chefs und sabotierte sie, wo er
konnte. Für Fest stellt dies einen überraschenden Bruch in Speers Biografie dar, der nicht leicht zu
erklären ist.
Wirklich unbegreiflich ist ihm jedoch, dass Speer am 23. April noch einmal in das Berliner BunkerInferno zurückkehrte, um von seinem geliebten Führer persönlich Abschied zu nehmen und ihm
seine unverminderte Loyalität auszudrücken. Da kapituliert der für sein verständnisvolles
Einfühlungsvermögen berühmte Autor: "An dieser Stelle muss der historische Betrachter einen
Augenblick lang aus seiner Rolle als distanzierter Chronist heraustreten und seine Ratlosigkeit
bekennen."
"Der Schatten meines Vaters" – 08.11.1999
Der Stadtplaner und Hochschullehrer Albert Speer, 65, über die Verschönerung der Innenstädte, das
teure Projekt Expo 2000 und sein Schicksal als Sohn von Hitlers Lieblingsarchitekt und
Rüstungsminister
SPIEGEL: Herr Professor Speer, mit Ihrem Konzept für das Frankfurter Europaviertel, das Sie zwischen
Hauptbahnhof und Messegelände bauen wollen, lassen Sie Moden der Jahrhundertwende wieder
aufleben. So soll die Innenstadt einen großen Pracht-Boulevard bekommen. Ist das ein Akt der
Wiedergutmachung nach Jahrzehnten städtebaulicher Sünden?
Speer: Vielleicht. In der Stadtplanung sind tatsächlich viele Fehler gemacht worden. Aber Sie
müssen auch bedenken: Man hat den Ausbau der Innenstädte lange nicht vorantreiben können,
weil es einfach keinen Platz gab.
SPIEGEL: Und das hat sich jetzt geändert?
Speer: Ja, große Firmen ziehen sich in letzter Zeit aus riesigen Gebieten zurück, wie zum Beispiel
Opel aus Rüsselsheim. Auch viele andere Firmen haben früher Flächen gehortet, weil sie an
Expansionen dachten, nun geben sie sie frei. Deswegen können wir plötzlich wieder Boulevards und
attraktive Plätze bauen. Investoren haben die Auswahl, ob sie sich in München ansiedeln oder in
Paris oder eben in Frankfurt. Da müssen sich Städteplaner anstrengen, um sie dahin zu lotsen, wo sie
sie haben wollen.
SPIEGEL: Dennoch werden die Innenstädte meist halbherzig verschönert. Auch bei Ihrem Boulevard
gibt es berechtigte Sorgen, dass daraus wieder nur eine Stadtautobahn wird.
Speer: Das wollen wir verhindern. Man muss unseren Boulevard an vielen Stellen überqueren
können. Wir brauchen mehr Zebrastreifen als üblich und für die Straßenbahn ein begrüntes
Gleisbett, über das Fußgänger laufen dürfen.
SPIEGEL: Die Straßenbahn ist ein Verkehrsmittel aus alten Zeiten. Warum gibt es sie auf einmal
überall wieder?
Speer: Der Bau einer Straßenbahn ist nur ein Zehntel so teuer wie der Bau einer U-Bahn. Außerdem
mögen die Leute lieber überirdisch fahren, weil sie da etwas zu sehen haben.
SPIEGEL: Trotz Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr - die Autos bleiben das größte Problem
der Städte. Über Ihren Boulevard, das haben Verkehrsplaner schon ausgerechnet, werden
voraussichtlich 40.000 Autos täglich donnern. Ist das für eine Flaniermeile nicht viel zu viel?
Speer: Ich gebe zu, das ist eine Horrorzahl. Die muss man allerdings differenziert betrachten. Unter
den Linden in Berlin fahren auch 40.000 Autos in 24 Stunden, und dort können Sie ohne weiteres
über die Straße gehen.
SPIEGEL: Die Leute ziehen, auch wegen der vielen Autos, aus der Stadt aufs Land. Das
Einfamilienhaus gilt als beliebteste Wohnform. Sie sehen aber für Ihr Europaviertel Wohnblöcke mit
insgesamt 4100 Wohnungen vor. Wie wollen Sie gerade die Besserverdienenden in die Innenstadt
locken?
Speer: Einfamilienhäuser sind beliebt, weil es keine echte Alternative gibt. Unser Wohnviertel soll
aber eine Alternative sein. Es kommt in einen Park, ausgewiesene Wohnungsbauarchitekten aus
europäischen Ländern sollen dort etwas Besonderes zaubern.
SPIEGEL: Zum Europaviertel gehört auch das so genannte Urban Entertainment Center - eine
Ansammlung von Hochhäusern, in denen auf geballtem Raum lauter Vergnügungsstätten
entstehen, Theater, Kinos, Cafés. Warum werden überall in Deutschland monströse Spaßviertel
errichtet?
Speer: Die Investoren lieben diese Viertel, sie stürzen sich geradezu darauf. Und das nicht ganz zu
Unrecht. Innenstädte haben an Attraktion verloren, weil die Shopping- und Kino-Center sich oft
draußen auf der grünen Wiese befinden. Gleichzeitig entwickeln wir uns hin zu einer
Erlebnisgesellschaft. Durch immer mehr Heimarbeit wird die Routine nach Hause geholt, und dann
entsteht der Wunsch, draußen etwas erleben zu wollen.
SPIEGEL: Um die Innenstadt insgesamt wieder attraktiver zu machen, wäre es doch sinnvoller, die
Vergnügungsstätten zu verteilen, nicht zusammenzuballen.
Speer: Ich schätze diesen Trend auch nicht sehr, und er entspricht zudem nicht der Tradition der
europäischen Stadt. Doch die Menschen wollen nun mal alles auf einmal bekommen, ohne sich
anzustrengen. Stadtplanung muss mit solchen Entwicklungen verantwortungsvoll umgehen.
SPIEGEL: Während Ihr Europaviertel bislang weitgehend gute Kritiken bekommt, beziehen Sie als
einer der wichtigsten Gestalter der Expo 2000 laufend Prügel. Was läuft schief?
Speer: Sie müssen beachten: Deutschland hat sich für die Expo entschieden, als die Mauer noch
stand. Hannover sollte Schaufenster zum Osten sein, sonst hätte man wohl einen anderen Standort
gewählt. Zudem: Wenn man gewusst hätte, wie teuer der Aufbau der neuen Bundesländer wird,
hätten wir die Expo wahrscheinlich gar nicht gemacht. Nun hat man sich aber entschlossen, eine
zu machen, und eine halbe wäre peinlich, also wird es teuer. Völlig klar.
SPIEGEL: Immens teuer. Eine Milliarde Mark fließen allein in die Baumaßnahmen. Wie konnte es zu
diesen horrenden Kosten kommen?
Speer: Wir bauen ganz bewusst eine Expo-Stadt und keinen Millenniumsdom wie die Londoner. Das
Gelände besteht aus Straßen, Parks und ist so groß, dass es später ein Stück Stadt wird. 800 Millionen
sind für längerfristige Investitionen ausgegeben worden, auch für S-Bahn-Stationen und einen
neuen Bahnhof. Dies alles amortisiert sich nicht in fünf Monaten, aber im Lauf der Jahre auf jeden
Fall.
SPIEGEL: Bei der Expo sind Sie, wie bei den meisten Projekten, vor allem Moderator, Vermittler
zwischen den Interessen von Bauherren, Stadt und Land. Sie propagieren überdies den Abschied
vom Architekturbüro alter Schule. Was haben Sie gegen aufrechte Entwerfer?
Speer: Nichts. Aber die Zeiten haben sich geändert. Es geht nicht mehr vor allem darum, schöne
Häuser zu bauen, sondern darum, wuchernde Städte zu organisieren. Was ich hier mit einem sehr
schlagkräftigen und sich stetig verjüngenden Team zu schaffen versuche, ist ein Dienstleistungsbüro
im allerweitesten Sinne. Wir sind ein Architekturbüro mit Spezialisten - zu denen ich mich selbst nicht
zähle -, dazu gehören auch Verkehrs- und konventionelle Stadtplaner. Und dann gibt es einen
Bereich, der alle diese Dinge zusammendenkt. Der wird immer wichtiger, und dort liegen vor allem
meine Stärken.
SPIEGEL: Sie übernehmen Aufgaben von Regional- und Kommunalpolitikern. Überschreiten Sie
damit nicht Ihre Kompetenzen?
Speer: Die Komplexität der Aufgaben ist heutzutage so groß, dass die Kommunen, Firmen wie BASF
oder Preussag jemanden brauchen, der Moderationen übernimmt. Überlegen Sie mal: In München
liegen zwischen Hauptbahnhof und Pasing 160 Hektar Bahnfläche brach. Die Stadt und die Bahn
konnten sich zehn Jahre lang nicht einigen, was hier geschehen soll. Uns ist es in einem strikt
organisierten Diskussionsprozess gelungen, in einem Jahr einen Rahmenplan zu erstellen, der zu
einem Vertrag zwischen Bahn und Stadt geführt hat, der überdies einstimmig durch den Münchner
Stadtrat gegangen ist.
SPIEGEL: Der Architekt, der Stadtplaner soll also in Zukunft Berater der Mächtigen sein, nicht mehr
eigenständiger Künstler?
Speer: Nicht ganz. Das eigenständige Kunstwerk kann heutzutage erst nach einer langwierigen
Beratungsphase entstehen, das übersehen viele Architekten häufig. Die verteidigen immer noch
das, was nicht funktioniert, reden nicht mit den Investoren, weil das angeblich böse Menschen sind,
die die Stadt kaputtmachen wollen. Das Gegenteil ist der Fall. Nur mit den wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Gruppen gemeinsam ist überhaupt noch etwas zu bewegen.
SPIEGEL: Drei Generationen Speer waren in diesem Jahrhundert als Architekten tätig, alle drei auf
völlig unterschiedliche, kaum zu vergleichende Art und Weise. Neigt Ihre Berufsgruppe mehr als
andere dazu, sich gesellschaftlichem Wandel total zu unterwerfen?
Speer: Die Familie Speer ist sicherlich - bedauerlicherweise - ein Sonderfall. Dennoch ist die
Architektur immer in hohem Maße Ausdruck der Gesellschaft. Mein Großvater war ein typischer
Architekt der Jahrhundertwende. Er hat im Südwesten Deutschlands prächtige Bürgerhäuser, aber
auch viele erste Industriebauten entworfen, das Benzwerk in Mannheim etwa. Die
denkmalgeschützten Hallen stehen noch - mit der fünften Generation Maschinen drin.
SPIEGEL: Ihr Großvater, heißt es, war von den elefantösen Entwürfen, die sein Sohn, Hitlers
Lieblingsarchitekt, zeichnete, nicht besonders angetan.
Speer: Mein Vater hat meinem Großvater einmal seine Pläne für Berlin gezeigt. Mein Großvater hat
nur mit dem Kopf geschüttelt und gesagt: "Ihr seid ja alle verrückt geworden."
SPIEGEL: Ihr Vater ist der Dämon Ihres Berufsstandes. Hatten Sie gar keine Scheu, im gleichen
Bereich tätig zu werden?
Speer: Schwierig zu sagen. Ich hatte einen relativ schweren Start in das Leben. Ich habe nämlich
mit fünf oder sechs Jahren das Stottern begonnen, und zwar so heftig, dass ich in der Schule nicht
mehr drangenommen wurde. Das hat dazu geführt, dass ich die Schule gerade noch so geschafft
habe, wenn auch ziemlich schlecht, bis zur mittleren Reife. Dann wusste ich nicht, was tun. Durch
die Vermittlung meines Großvaters, der bis in die dreißiger Jahre eine Schreinerei hatte, bekam ich
eine Lehrstelle in Heidelberg. Die Ausbildung kam mir sehr entgegen, denn handwerklich war ich
begabt, und ich musste nicht viel reden.
SPIEGEL: Dabei ist es aber offensichtlich nicht geblieben. Hat Sie doch noch der Ehrgeiz gepackt?
Speer: Glauben Sie mir, so eine Schreinerlehre war damals sehr hart. Natürlich wollte ich aus
meinem Leben mehr machen. Ich bin in die Abendschule gegangen, habe fürs Abitur gelernt und
habe es beim zweiten Anlauf gerade so geschafft. Das war 1955. Danach habe ich mich für ein
Architekturstudium in München entschieden.
SPIEGEL: Sie bekamen als junger Architekt schnell Preise. Hat sich das Stottern durch die
Erfolgserlebnisse gebessert?
Speer: Wenn ich aufgeregt bin, taucht es wieder auf. Das ist ein Handicap, das sich derjenige, der
es nicht kennt, nicht vorstellen kann. Man ist sich seiner Sprache nie sicher. Ich habe mit großer
Energie versucht, es zu beherrschen.
SPIEGEL: Wie?
Speer: Sehr geholfen hat mir ein Aufenthalt in Amerika. Da gehen die Leute freier mit einem um,
also habe ich erste Hemmungen abbauen können. Ich lernte zum Beispiel den Stadtplaner
Edmund Bacon kennen, der hatte gerade einen Film gemacht über neueste Stadtsanierungen.
Damit bin ich in Frankfurt ins Amerikahaus gegangen und habe gesagt, sie sollten sich doch mal
den Film bestellen. Da haben die gesagt, ja, machen sie, aber nur, wenn ich dazu einen Vortrag
halte. Ich habe zugestimmt, aber die ganzen Wochen vorher Angst vorm Versagen gehabt. Aber
es ging ganz gut.
Anschließend tourte ich durch sämtliche Amerikahäuser Deutschlands, jedes Mal wurde ich freier
und besser.
SPIEGEL: Wissen Sie denn, warum Sie plötzlich begonnen haben zu stottern?
Speer: Ein Freund sagte einmal: "Dir haben die letzten Kriegsjahre die Sprache verschlagen." Ich
weiß nicht genau, wo der Bruch liegt.
SPIEGEL: Welche Erinnerungen haben Sie an das Kriegsende?
Speer: Wir lebten in ziemlich ärmlichen Verhältnissen. Sehr beengt, in einer kleinen Wohnung, die
uns die Stadt Heidelberg zugewiesen hatte.
SPIEGEL: Das Leben nach dem Krieg stand wahrscheinlich in krassem Gegensatz zu jenem im Dritten
Reich, als es für Sie doch sicher sehr komfortabel zuging?
Speer: Das stimmt nicht. Mein Vater hat die Familie völlig rausgehalten. Wir lebten auf dem
Obersalzberg zwar in einem großen Haus, aber ich musste jeden Tag zu Fuß in die Volksschule nach
Berchtesgaden gehen. Eine Stunde den Berg hinab, eineinhalb Stunden hinauf, im Winter noch
länger. Nein, wir lebten nicht herausgehoben. Wir sind streng erzogen worden.
SPIEGEL: Aber am Obersalzberg waren Sie und Ihre Familie in unmittelbarer Nähe Hitlers. Das muss
doch Ihr Leben geprägt haben.
Speer: Hat es auch, aber ich weiß nie, was Erinnerung ist oder Erzählung. Dass wir zu Hitlers
Geburtstag eingeladen waren, das weiß ich schon, und dass wir auf seinem Berghof freier
herumlaufen durften als zu Hause, weiß ich auch noch.
SPIEGEL: Da gab es also eine Diskrepanz zwischen strenger Erziehung einerseits und andererseits der
Nähe zum mächtigsten Mann Europas?
Speer: Ach, das wusste ich ja nicht, dass der so mächtig ist. Aus meiner Perspektive war er ein Onkel
wie jeder andere auch.
SPIEGEL: Der Publizist Joachim Fest vertritt in seiner neuen Biografie über Ihren Vater die These, Hitler
habe die einzig wirklich intensive emotionale Beziehung seines Lebens ausgerechnet zu Ihrem Vater
gehabt. Was empfinden Sie bei dem Gedanken, dass das größte Monstrum dieses Jahrhunderts
ausgerechnet Ihren Vater verehrte?
Speer: Das kann ich nicht wirklich beurteilen. Ich glaube aber, dass da was dran ist. Für Hitler war
mein Vater der hoch begabte junge Mann, der er selbst hätte sein wollen. Das ist bestimmt ein
wesentliches Motiv, das die gegenseitige Abhängigkeit erklärt. Ich kann aber nur sagen, dass ich
meinen Vater nicht als emotionalen Menschen erlebt habe - ich habe ihn überhaupt kaum erlebt.
Der war ständig weg, und wenn er zu Hause war, hieß es immer, wir sollten alle still sein, um ihn nicht
zu stören. Und dann kam die Zeit, in der er im Spandauer Gefängnis saß, 20 Jahre.
SPIEGEL: Wie oft haben Sie da Ihren Vater gesehen?
Speer: Es gab jährlich einen Besuch von zweimal einer halben Stunde. Es war jedes Mal eine
Anstrengung, ihn zu unterhalten. Sie können sich nicht vorstellen, wie lang eine halbe Stunde sein
kann.
SPIEGEL: 1966 wurde Ihr Vater aus dem Gefängnis entlassen. Er starb 15 Jahre später. Zeit, sich mit
ihm auseinander zu setzen?
Speer: Eigentlich nicht. Ich war mit dem Aufbau meines Büros beschäftigt, habe ihn zwar ab und zu
gesehen, habe aber nicht die Diskussion gesucht. Er wurde ja von allen Seiten beansprucht. Ich bin
auf Distanz geblieben, so wie das vorher auch der Fall war.
SPIEGEL: Sie haben sich also ein Leben lang zum Kontakt zu Ihrem Vater gezwungen?
Speer: Nein, wir haben schon zu ihm gestanden, das war selbstverständlich, aber nicht ganz leicht.
In der Spandauer Zeit durften wir jede Woche einen Brief schreiben, und unsere Mutter hat peinlich
darauf geachtet, dass wir das auch taten. Jeder von uns hatte eine Anzahl von Worten, die er
erfüllen musste. Wir durften insgesamt 1500 Worte schreiben. Meine Mutter sagte dann immer:
"Albert, du bist dran, du machst 500 Worte und Fritz 300", und so weiter.
SPIEGEL: In der Fest-Biografie bleibt eines rätselhaft: Es wird nicht klar, was für ein Verhältnis Ihr Vater
und Ihre Mutter zueinander hatten. War es eine Ehe ohne Liebe?
Speer: In meiner Familie sind Emotionen vielleicht ein bisschen zu kurz gekommen. Die drückte man
nicht aus. Meine Mutter war eine ungeheuer tapfere Frau, die aus
sechs Kindern etwas gemacht hat. Aber sie war auch herb. Das einzige Mal, dass ich Tränen in
ihren Augen gesehen habe, das war, als ich das erste Mal durchs Abitur gefallen bin. Was meine
Eltern betrifft: Es
gibt ein Foto nach ihrer Hochzeit, das alles sagt. Da laufen beide über den Ku'damm, nicht Arm in
Arm, sondern richtig schön auf Distanz. Genauso war es zwischen den beiden. Selbstverständlich
zusammen und doch irgendwie fremd.
SPIEGEL: Haben Sie sich mit der Architektur Ihres Vaters befasst?
Speer: Ein bisschen, nicht intensiv. Wenn Sie die Gesamtplanung von Berlin - ich meine nicht die
große Achse und nicht den abstrusen Germania-Dom - mal vergleichen mit dem, was Le Corbusier
zur gleichen Zeit für Paris geplant hat, Infrastrukturen mit Ober- und Unterführungen und so, dann ist
das sehr ähnlich. Die Arbeit meines Vaters war also in dieser Hinsicht offenbar zeitgemäß. Auch
seine Idee, die Bahnhöfe herauszulegen, die Bahn in Berlin nur noch auf dem S-Bahn-Ring verlaufen
zu lassen und die Innenstadt frei von Schienen zu halten, finde ich sinnvoll. Nach der Wende 1989
hat man die Schienen über den Lehrter Bahnhof wieder in die Stadt hineingezogen - ob das gut
war oder nicht, dazu möchte ich nichts sagen.
SPIEGEL: Sie schätzen also die Pläne Ihres Vaters?
Speer: Nein, die Riesen-Achse war verrückt. Aber als Architekt hat er teilweise schöne Sachen
gemacht. Wenn Sie die Rückseite der Neuen Reichskanzlei nehmen: ein gelungener klassizistischer
Bau.
SPIEGEL: Was halten Sie denn vom neuen Bundeskanzleramt?
Speer: Das überrascht mich in seinen Dimensionen. Das ist ja riesig. Man muss aber seine
Fertigstellung abwarten, um es beurteilen zu können.
SPIEGEL: Hatten Sie eigentlich jemals in Ihrem Leben die Möglichkeit, ganz aus dem Schatten Ihres
Vaters herauszutreten?
Speer: Den Schatten gibt es leider bis heute. Mit dem Phantom meines Vaters muss ich leben. Die
letzte Geschichte ist keine 14 Tage her. Ich war im Frankfurter Presseclub eingeladen, um das
Europaviertel vorzustellen. Der Präsident des Clubs hatte ein Fax bekommen, das er erst nach der
Veranstaltung gelesen hat. Da forderte ein Mitglied, man solle den Speer entweder ausladen oder
zur Zwangsarbeiterfrage während der Nazi-Zeit befragen. Absurd.
SPIEGEL: Hatten Sie berufliche Nachteile durch Ihren belasteten Namen?
Speer: Ja sicher. In Berlin habe ich Projekte nicht durchgekriegt - dafür gibt es eindeutige Hinweise wegen meines Namens. Ich verstehe auch, dass es nicht in aller Welt heißen soll, Albert Speer baut
in Berlin. Insgesamt muss ich jedoch sagen: Es grenzt oft an Sippenhaft, was mir passiert. Vieles läuft
zwar hinter meinem Rücken, aber mir hat auch schon jemand in einer fachlichen Diskussion
vorgeworfen: "Ich verzeihe Ihnen Ihren Vater nicht."
SPIEGEL: Es klingt zynisch, aber hat Ihnen Ihr bekannter Name nicht auch Vorteile gebracht?
Größere Neugierde auf Ihre Projekte?
Speer: Ich bilde mir ein, ich habe mir meinen Namen aus eigener Kraft gemacht. Der ganze Start in
meine Selbständigkeit lief ausschließlich über anonyme Wettbewerbe.
SPIEGEL: Wie haben Sie versucht, sich beruflich von Ihrem Vater abzugrenzen? Speer: Mein Büro hat
sich immer bemüht, international tätig zu sein, wir sind geradezu versessen aufs Ausland, planten
und planen für Saudi-Arabien, Afrika, Nepal, China. Das ist mir sehr wichtig.
SPIEGEL: Sie haben sich für die Stadtplanung entschieden, Ihre Arbeit ist unsichtbarer als die des
Architekten, der Häuser entwirft. Hängt der Wunsch nach Unsichtbarkeit auch mit Ihrem Vater
zusammen?
Speer: Das glaube ich nicht. Ich wäre nie ein hervorragender Architekt geworden. Dafür habe ich
exzellente Leute. Wie gesagt, meine Fähigkeiten liegen in der Moderation, in der Planung, und ich
glaube, wenn Sie sich umhören, welches das wichtigste Planungsbüro in Deutschland ist, dann ist
das wahrscheinlich ASP, also Albert Speer und Partner. Darauf darf ich, glaube ich, schon stolz sein.
SPIEGEL: Herr Professor Speer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
"Verbrecherischer Ehrgeiz" – 30.08.2004
Hilde Schramm, die Tochter des NS-Architekten Albert Speer, über die Versäumnisse des Friedrich
Christian Flick, ihr Engagement für ehemalige Zwangsarbeiter und ihren Vater
SPIEGEL: Frau Schramm, am Montag nächster Woche bekommen Sie vom
Berliner Senat und Vertretern der Religionsgemeinschaften den MosesMendelssohn-Preis verliehen. Dieser Preis sollte ursprünglich in einer Synagoge
übergeben werden. Als aber bekannt wurde, dass Sie, die Tochter des NSVerbrechers Albert Speer, die Preisträgerin sind, wurde ein anderer Ort gesucht.
Sie haben das respektiert. Sind Sie trotzdem enttäuscht?
Schramm: Überhaupt nicht. Ich kann sehr gut verstehen, wenn da NS-Opfer
oder ihre Nachkommen mit Abwehr reagieren.
SPIEGEL: Sie können es gut verstehen, für die Verbrechen Ihres Vaters
verantwortlich gemacht zu werden?
DER SPIEGEL
Speer-Tochter Schramm: "Der
Herkunft gestellt"
Schramm: Ich lege, seitdem ich denken kann, allergrößten Wert darauf, als
eigenständige Person wahrgenommen zu werden. Gleichwohl weiß ich sehr gut, dass die Vernunft
von Menschen nicht immer mit ihren Empfindungen übereinstimmt. Wenn irgendein Mitglied der
jüdischen Gemeinde gesagt hätte, man kann doch nicht die Tochter für ihren Vater verantwortlich
machen, dann hätten vermutlich alle mit dem Kopf genickt. Aber vielleicht wären trotzdem welche
dabei gewesen, die es gestört hätte, mich in einer Synagoge zu sehen, und das hätte ich nicht
gewollt.
SPIEGEL: Gefühle sind wichtiger als der Verstand?
Schramm: In diesem Fall schon. Ich fand es gut, dass die Leute von der Gemeinde ehrlich zu mir
waren. Die Entscheidung war sowieso richtig, die Veranstaltung wäre überfrachtet worden,
überladen mit Bedeutung.
SPIEGEL: Im September, gut zwei Wochen nach Ihrer Auszeichnung, wird in Berlin mit großem
Aufwand die Kunstsammlung von Friedrich Christian Flick öffentlich zugänglich. Flick, Enkel des
Industriellen und Hitler-Förderers Friedrich Flick, ist deswegen unter erhebliche Kritik geraten. Haben
die Nachkommen von NS-Verbrechern lediglich Anrecht auf die halbe, von Abweisung
überschattete Ehre?
Schramm: Man muss unterscheiden. Es gibt die Flicksche Sammlung und die Bereitschaft des Herrn
Flick, die zu zeigen. Und es gibt das Interesse der Öffentlichkeit, die Sammlung zu sehen. Hinzu
kommt aber, dass man fragen sollte - nicht nur bei Herrn Flick, sondern immer -, woher das Geld für
die Kunst kommt. Dass man diese Frage gestellt und Herr Flick sich daran gestört hat, führte ja erst
zu dem Skandal.
SPIEGEL: Sie gehören selbst zu denjenigen, die diese Frage stellten. Sie gründeten bereits im Mai
vergangenen Jahres eine Initiative, mit der Sie forderten, dass es parallel zur Flick-Schau eine
weitere Ausstellung zu den NS-Verbrechen des Großvaters geben solle. Flick ist gegen die
Installierung einer Parallelausstellung, weil er meint, dass dadurch seine Kunst und die Künstler
belastet würden. Wollen Sie Kunst und Künstler beschädigen?
Schramm: Ich halte die Argumentation für falsch. Es gibt nun mal einen Zusammenhang zwischen
der Kunst, die Flick gesammelt hat, und den NS-Verbrechen seines Großvaters: Flick hat seinen
Großvater beerbt, das ist der Grundstock für seinen Reichtum und damit für die Sammlung.
SPIEGEL: Flick besteht darauf, dass das Geld überwiegend in der Nachkriegszeit verdient wurde.
Schramm: Es haut einfach nicht hin, diese Dinge voneinander zu trennen. Der Nachkriegsreichtum
der Bundesrepublik basiert zum großen Teil auf dem Realkapital der letzten Kriegsjahre, in das
damals auch die Gewinne aus der Rüstungsproduktion flossen. Es gibt also Linien, die sich
durchziehen von damals bis heute. Man erbt keine Schuld, aber wenn man ein materielles Erbe
annimmt, das belastet ist, macht man sich mitschuldig, indem man profitiert von dem Unrecht, das
dem Erbe anhaftet. Ich sage ja nicht, dass es den einen zweifelsfrei richtigen Weg gibt, sich da zu
verhalten. Aber eines stimmt: Je reflektierter, ehrlicher und angstfreier man damit umgeht, je mehr
man an sich rankommen lässt, dass da ein Problem steckt, desto weniger aufgebracht wird eine
Diskussion geführt.
SPIEGEL: Flick hat sich dann doch den meisten Fragen ausgesetzt und seine Sicht dargelegt. Was
wollen Sie noch?
Schramm: Er hätte deutlicher zeigen müssen, dass er die Fragen, die man an ihn stellt, berechtigt
findet. Aber eigentlich ist Herr Flick gar nicht das Problem. Das Problem sind die Leute in der Politik,
die die Sammlung möglichst ohne Aufhebens in Berlin haben installieren wollen. So etwas geht
nicht ohne Diskussionen.
SPIEGEL: Die Diskussion hatte polemische, verletzende Züge, es war von Blutkunst die Rede. Können
Sie das verantworten?
Schramm: Am Ton merkt man, wie emotional das Thema besetzt ist. Vielleicht sind die
Formulierungen nicht vertretbar, aber die Argumente sind es.
SPIEGEL: Ihr Vater und der Großvater Flicks waren für die Ausbeutung von Zwangsarbeitern
verantwortlich. Flick weigert sich, in den Zwangsarbeiterfonds einzuzahlen, Sie dagegen haben
einen Verein mitgegründet, der ehemalige Zwangsarbeiter unterstützt. Ist Ihr Engagement als Signal
in Richtung Flick zu verstehen?
Schramm: Mein Engagement in der Zwangsarbeiterfrage hat nichts mit der Flick-Debatte zu tun. Ich
beschäftige mich schon lange damit, habe aber erst jetzt den Vorsitz in dem Verein übernommen.
Ich habe lange gehofft, dass das jemand anderes macht - jetzt habe ich mich für ein Jahr
verpflichtet und muss da durch.
SPIEGEL: Das klingt, als müssten Sie sich zwingen.
Schramm: Es ist tatsächlich keine freudvolle Tätigkeit. Spendenkampagnen sind generell nicht sehr
lustbesetzt - wer bettelt denn gern um Geld? Ich schreibe manchmal Briefe und kriege keine
Antwort, das ist verletzend. Aber die Leute, um die es geht - ehemalige Zwangsarbeiter in
Osteuropa, die kein Geld aus dem offiziellen Fonds bekommen können -, die sind sehr alt, es geht
ihnen schlecht, man muss jetzt handeln, sonst ist es zu spät.
SPIEGEL: Es gibt ja schon die offizielle Bundesstiftung, die ermittelt, welche Leute aus dem
Zwangsarbeiterfonds Geld bekommen können. Sie sagen, dass die Mittel nicht ausreichen, zu viele
Leute leer ausgingen. Taugt die Arbeit der Bundesstiftung nicht?
Schramm: Wir schätzen die Arbeit der Stiftung außerordentlich, verstehen uns als Ergänzung, holen
uns ihren Rat ein. Bevor das Geld für den Zwangsarbeiterfonds zusammengetragen worden war,
haben Vertreter verschiedener Länder Schätzungen abgegeben, wie viele Leute Anspruch auf
Zuwendungen haben dürften. In Russland und in der Ukraine hat man zu niedrig geschätzt. Viele
Leute sind durch das Raster gefallen. Unser Verein kümmert sich beispielsweise um diejenigen, die
Papiere verloren haben, mit denen sie belegen können, dass sie Zwangsarbeiter gewesen waren,
oder um ehemalige sowjetische Kriegsgefangene, die - nach den gesetzlichen Vorgaben, die ich
für falsch halte - vom Fonds nicht berücksichtigt werden können.
SPIEGEL: Im Zusammenhang mit der Unterstützung von NS-Opfern gibt es den Begriff der
Wiedergutmachung - wollen Sie die Taten Ihres Vaters wiedergutmachen?
Schramm: Ich glaube nicht an Wiedergutmachung. Wenn es sie gäbe, diese Wiedergutmachung,
dann könnten wir sie leisten und uns anderen Aufgaben zuwenden. Aber es ist nicht vorbei, solange
Opfer leben und solange deren Nachkommen an den Traumata leiden. Wir dürfen nicht vergessen:
In der Rüstungsindustrie mussten Zwangsarbeiter Kanonen drehen, mit denen dann auf deren
Landsleute geschossen wurde. Wenn sie zurück in die Heimat kamen, wurden viele der
Kollaboration verdächtigt und konnten sich kaum mehr integrieren - mit den entsprechenden
wirtschaftlichen Folgen: Viele sind sehr arm. Für mich ist das, aus nahe liegenden Gründen, ein sehr
schwieriges Thema.
SPIEGEL: Wegen Ihres Vaters?
Schramm: Ich habe es nun mal nicht gern, wenn ich in der Öffentlichkeit als Tochter von Albert
Speer wahrgenommen werde, und das ist bei diesem Thema automatisch der Fall. Ich würde das
gern entflechten, aber es geht nun mal nicht.
SPIEGEL: Doch von Flick erwarten Sie, dass er sich als Enkel eines Kriegsverbrechers positioniert?
Schramm: Ich erwarte nur, dass er verantwortungsvoll mit seinem Erbe umgeht.
SPIEGEL: Im kommenden Jahr wird es einen aufwendigen TV-Dreiteiler über Ihren Vater geben. Der
renommierte Filmemacher Heinrich Breloer hat dafür mit Ihnen Interviews geführt. Wenn Sie nicht
als Tochter Ihres Vaters gesehen werden wollen, warum traten Sie dann überhaupt auf?
Schramm: Ich hatte Breloer schon abgesagt, dann aber doch zugesagt, weil ich eine sehr eigene
Sicht auf meinen Vater habe, und ich fand, die dürfe nicht fehlen. Aber es gibt auch Phasen in
meinem Leben, in denen ich mich total entziehe.
SPIEGEL: Sie haben sich früh mit der Vergangenheit Ihres Vaters beschäftigt. Als 16- Jährige gingen
Sie als Austauschschülerin nach Amerika, was übrigens vorab wegen Ihrer Herkunft in den USA eine
Debatte auslöste. Dort begannen Sie, in Briefen an Ihren in Spandau inhaftierten Vater nach dem
Grund für sein Handeln zu fragen. Hatten Sie je Bedenken, sich zu sehr mit ihm zu identifizieren?
Schramm: Nein, es war eine sehr intensive Auseinandersetzung. Später, nach seiner Haft - er war ja
1966 entlassen worden -, konnten wir daran nicht mehr anschließen.
SPIEGEL: Woran lag das?
Schramm: Auch an mir. Es waren damals meine ersten Berufsjahre, die kosten ja viel Kraft, ich wollte
mein eigenständiges Leben hinkriegen.
SPIEGEL: Sie haben sich in Ihren Briefen auch mit dem Thema Ehrgeiz befasst. Was bedeutet Ehrgeiz
für Sie?
Schramm: Wer Karriere machen will, der braucht Gefallen an der Macht. Ich aber hielt auf Grund
meiner Familiengeschichte Ehrgeiz immer für etwas Gefährliches, etwas, was einen von einem
selbst wegführt. Immer wenn ich Ehrgeiz in mir verspürt habe, wurde ich unruhig und dachte, jetzt
musst du aufpassen.
SPIEGEL: Worauf?
Schramm: Auf Entwicklungen, die ich als Fehlentwicklungen betrachtet hätte. Ich war nie auf eine
geradlinige Karriere versessen, ich habe immer wieder etwas Neues gemacht, mal als
Wissenschaftlerin, mal als Politikerin. Ich denke, das entspricht mir ganz gut.
SPIEGEL: Wie war Ihr Verhältnis zu Ihrer Mutter? Ihre Mutter blieb ja Ihrem Vater treu, forderte Sie und
Ihre Geschwister auf, Kontakt zu ihm zu halten.
Schramm: Mit meiner Mutter habe ich mich auf Alltagskommunikation beschränkt. Sie hatte sechs
Kinder großzuziehen und war weiß Gott beschäftigt. Wahrscheinlich hat sie sich auch reingeflüchtet
in die Arbeit.
SPIEGEL: Sie machen den Eindruck, als seien Sie im Reinen mit sich und Ihrer Geschichte. Wie ist
Ihnen das gelungen?
Schramm: Ich habe mir fest vorgenommen, nicht kaputtzugehen an der Vergangenheit. Ich habe
mich meiner Herkunft und ihren Belastungen gestellt, mich aber auch an das Gute gehalten.
SPIEGEL: Was war das Gute?
Schramm: Etwa, dass wir zu Hause so viele Kinder waren. Als ich aber erwachsen und verheiratet
war, wusste ich, dass ich selbst nicht mehr als zwei Kinder bekommen würde, weil ich berufstätig
sein wollte. Also gefällt es mir, dass wir seit 1968 mit anderen Familien in einem Haus leben, in einer
großen Hausgemeinschaft. Nun werden wir hier zusammen alt.
SPIEGEL: Was haben Ihre Eltern zu Ihrem unbürgerlichen Dasein gesagt?
Schramm: Meine Mutter fand das befremdlich, meinem Vater hat es sogar gut gefallen, er hat
mich oft in Berlin besucht. Ich will dazu jetzt eigentlich nichts sagen, nur so viel: Mein Vater ist eine
sehr komplexe und schwer zu verstehende Gestalt. Er hat unkonventionelle Züge gehabt, dieses
Unbürgerliche, was er hier bei uns sah, das mochte er, solche Seiten hatte er als ganz junger Mann
auch gehabt. Aber es kommt immer darauf an, wie sich die Eigenschaften in einem Menschen
kombinieren.
SPIEGEL: Sie legen großen Wert darauf, aus dem Haus, das überwiegend Ihnen gehört, keine
Rendite zu ziehen, Sie verabscheuen Luxus und spenden viel. Es wirkt, als müssten Sie unbedingt
alles richtig machen, als dürften Sie nicht mit gutem Gewissen etwas für sich behalten. Stehen Sie
doch unter einem ewigen Beweisdruck?
Schramm: Ich empfinde das nicht als Druck. Mir geht es gut, ich habe eine Alterssicherung, ich
habe alles, was ich brauche. Luxus geht mir tatsächlich auf den Geist.
SPIEGEL: Sie haben 1994 die Stiftung "Zurückgeben" zur Förderung von jüdischen Frauen in Kunst und
Wissenschaft mitbegründet. Sie fordern unter anderem dazu auf, sich von Erbstücken zu trennen,
die durch Enteignung von Juden in Familienbesitz gekommen sind. Haben auch Sie Erbstücke zu
Gunsten Ihrer Stiftung verkauft?
Schramm: Ja. Ich habe nach dem Tod meiner Mutter drei Bilder geerbt, von denen ich annehmen
musste, dass sie jüdischen Besitzern entwendet worden waren und dann unter Wert auf dem
Kunstmarkt verkauft wurden - an meine Eltern. Ich wollte mit den Bildern nicht leben; ich könnte sie
Ihnen nicht einmal beschreiben, eines lag bei mir auf einem Schrank. Irgendwann habe ich es zu
Christie's getragen.
SPIEGEL: Sie argumentieren vernünftig, haben aber selbst gesagt, dass Gefühle nicht immer mit
dem Verstand übereinstimmen. Man liebt den Vater, auch wenn er ein Verbrecher war, man hängt
an einem Bild, auch wenn man dessen problematische Geschichte kennt. Sind solcherlei
Emotionen in Ihrem Moralkodex nicht erlaubt?
Schramm: Erlaubt ist manches. Es geht mir doch vor allem um eines: um den bewussten Umgang.
Dass man sich einfach mehr Fragen stellt.
SPIEGEL: Noch eine Frage: Welche Gefühle haben Sie heute gegenüber Ihrem Vater?
Schramm: Ich versuche immer noch zu verstehen, wie ein Mensch, den ich als liebenswürdig erlebt
habe, solche Verbrechen hat begehen können.
SPIEGEL: Frau Schramm, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Vater und Verbrecher – 31.01.2005
Von Susanne Beyer
Margret Nissen, die Tochter des NS-Rüstungsministers Albert Speer, hat ihre Erinnerungen
geschrieben. Sie porträtiert den Hitler-Freund als höchst egozentrischen Vater.
Sie hat nie darüber reden wollen, sagt sie. Nie mit ihrer Mutter, nie mit ihren Geschwistern, nie mit
ihrer besten Freundin, die sie immerhin seit über drei Jahrzehnten kennt.
Jan-Peter Böning / ZENIT
Buchautorin Nissen: Wöchentliche
Grüße aus dem Gefägnis
Doch dann kam vor zwei Jahren der Filmemacher Heinrich Breloer und
wollte ein Doku-Drama drehen, das so aufwendig werden sollte wie
sein vorheriges Fernsehepos über "Die Manns". Und diesmal wollte sich
Breloer das Tabuthema ihres Lebens vornehmen: ihren Vater Albert
Speer und dessen Verhältnis zu Hitler, seine Arbeit als Architekt und als
NS-Rüstungsminister. In diesem halbdokumentarischen Film sollten
Speers Kinder aussagen - und so wurde auch sie gefragt, ob sie dazu
bereit sei.
Sie lehnte ab. Breloers Pläne, so sagt sie, waren ihr "zu bombastisch",
und überhaupt: "Wir" - die Familie Speer - "sind nicht die Familie Mann." Nun also werden nur drei
ihrer Geschwister zu sehen sein, wenn im Mai Breloers "Speer und Er" in der ARD läuft. Und Margret
Nissen, die Viertgeborene und eine von zwei Töchtern Speers, ist nicht dabei.
Trotzdem kommen in diesen Tagen Fernsehteams in ihre große Altbauwohnung in BerlinSchöneberg. Sie machen sich breit zwischen den vielen Orientteppichen, stellen ihre Lampen auf
und bitten Margret Nissen zum Interview. Das Thema: ihr Vater. Die Fernsehleute dürfen kommen
und ihre Fragen stellen, weil Margret Nissen nun doch bereit ist zu sprechen. Sie hat ein Buch
geschrieben über ihr Leben, ihre Arbeit als Fotografin und darüber, wie es ist, die Tochter eines
solchen Vaters zu sein. Das gerade erschienene Buch ist das erste eines Speer-Kindes über den
Vater*.
Die Idee dazu ist vor knapp zwei Jahren am Küchentisch entstanden, kurz nachdem Margret Nissen
die Anfrage Breloers ("mit einem Dreizeiler", wie sie sagt) abgeschmettert hatte. Am Tisch saß ihre
Nachbarin und fragte, warum denn keiner fragen dürfe nach dem Vater - dann ging es los, die
halbe Nacht lang erzählte Nissen.
Sie setzten das Gespräch fort, irgendwann kamen ein Tonband und eine Journalistin dazu, und in
den Pausen zwischen den Gesprächen kramte Margret Nissen alte Dokumente hervor, die in der
Familie zum Teil im Original, zum Teil auch nur in Abschriften erhalten geblieben sind. Es sind Briefe
zwischen Vater und Tochter, Vater und Mutter, aber auch private Aufzeichnungen der Mutter. Aus
alldem zitierte sie für ihr Manuskript, das nun entstand und an dem die Nachbarin und die
Journalistin mitarbeiteten.
Margret Nissens Buch unterscheidet sich von den Bekenntnissen anderer Täterkinder. Der Journalist
Niklas Frank zum Beispiel, Sohn von Hans Frank, dem NS-Generalgouverneur von Polen, hasst seinen
Vater - Margret Nissen hasst ihren ganz eindeutig nicht. Wolf-Rüdiger Heß, der Sohn vom HitlerStellvertreter Rudolf Heß, versuchte, seinen Vater zu rechtfertigen - Margret Nissen rechtfertigt ihren
Vater nicht, sie benennt seine Verbrechen: dass Speer Zwangsarbeiter ausbeuten ließ, dass er mit
der effizienten Organisation des Rüstungsbetriebs mitverantwortlich war für die Länge des Krieges
(siehe Titelgeschichte Seite 50) und damit auch für das Fortbestehen der Konzentrationslager, dass
er rücksichtslos die Umgestaltung Berlins zu Hitlers Welthauptstadt "Germania" betrieb, dass er dafür
Tausende Juden aus ihren Wohnungen vertreiben ließ.
Doch sie schreibt auch, dass sie "von Beginn an meinen Vater als 'privaten' Menschen gesucht und
gesehen" habe, dass sie den "politischen und prominenten Vater davon trennen, ihn ignorieren"
wollte.
Auch wenn sie tatsächlich zwischen "privat" und "politisch" unterscheidet, oft ratlos, manchmal
sentimental (auch zu sentimental) auf ihren Vater blickt, ihn als lustig und schlampig beschreibt und
sich sogar zu ihrem kindlichen "Stolz" auf diesen "berühmten" Mann bekennt - so trägt der "private
Mensch" doch auch die unheimlichen, hochehrgeizigen Züge des
"politischen" Albert Speer: Der Vater achtete vor allem auf sich, selbst
bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen er überhaupt Kontakt mit
den Kindern hatte, war er mit seiner Außenwirkung, seinem Image,
seinem historischen Vermächtnis beschäftigt.
Eigentlich aber ist es ihre Geschichte, die Margret Nissen da erzählt. Sie
will, als nun 66-Jährige, wissen, warum sie ihr Leben führte, wie sie es nun
mal führte. Oft hat sie mehr Fragen als Antworten.
Architekt Speer, Kinder Margret, Fritz,
Hilde, Arnold, Albert (1942): Blumen
Obersalzbergfür den Führer
Wenn sie über ihre Kindheit in der Nähe Hitlers auf dem
schreibt, schlüpft sie in eine naive Rolle, schlägt einen unbekümmerten
Plauderton an - so als erzählte da tatsächlich ein Kind.
Im Jahr ihrer Geburt, 1938, hatte ihr Vater ein Bauernhaus am Obersalzberg umbauen lassen, das
Haus lag unterhalb von Hitlers Berghof. Familie Speer zog nun dorthin. Jedes Jahr zu Hitlers
Geburtstag wurden die Kinder mitgenommen, "um unsere Blumensträuße abzuliefern".
Die Kinder spielten oft draußen, denn die Mutter hielt viel von der Reformbewegung, im Winter
mussten die Kinder vor dem Frühstück rohes Sauerkraut essen.
Der Vater kam selten, er lebte die meiste Zeit in Berlin, und wenn er mal da war, war er abgelenkt,
wurde auch ständig auf den Berghof gerufen. Die Mutter, Margarete Speer, ging oft mit, traf sich
mit anderen Frauen, mit Eva Braun etwa, zum "Kaffeekränzchen". Die Eltern nahmen Eva Braun
auch mit in den Skiurlaub, da durfte sie dann tanzen - Braun tanzte gern, auf dem Berghof konnte
sie das nicht.
Am 23./24. April 1945 traf Speer Hitler ein letztes Mal im Bunker in Berlin. In einem Brief an seine Frau,
geschrieben am 22. April, deutete er an, dass er nicht vorhabe, mit Hitler in den Tod zu gehen:
"Meine liebe Gretel", schrieb er, "ich freue mich darauf, mit Dir ein neues Leben aufzubauen ...
Vieles Unnatürliche wird wegfallen und dadurch manches schöner werden ... Mein Ziel: Dich und
die Kinder durchzubringen, werde ich sicher erreichen. - Bis jetzt habe ich noch immer das erreicht,
was ich wollte."
Am 23. Mai wurde Speer festgenommen. Er begann nun regelmäßig Briefe an seine Familie zu
schreiben und darin einen optimistischen Ton anzuschlagen: "Bin frisch und gut erholt", "Ich habe
kein schlechtes Gewissen, und daher hoffe ich, mit Erfolg zu bestehen." Er las Schillers "Wallenstein"
und stellte zu seiner "Zufriedenheit" fest, dass Wallenstein da ganz gut wegkam. "Also habe ich in
späteren Dramen Aussicht, auch anständig behandelt zu werden."
Mutter und Kinder zogen 1946 nach Heidelberg, dort wohnten die Eltern der Mutter und auch die
des Vaters. Sie verfolgten am Radio den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, in dem der
Vater angeklagt war, sich geläutert gab und mit taktischem Geschick tatsächlich erreichte, dass er
nicht zum Tode verurteilt wurde, sondern zu 20 Jahren Haft. Die Mutter notierte: "Zuerst war da nur
Erlösung; keine Todesstrafe. Wir saßen still vor dem Radio, und langsam lösten sich die Gedanken, 20
Jahre, ich war 41." Die Mutter sorgte dafür, dass der Kontakt ihres Mannes zu den Kindern nicht
abriss. Tochter Margret wurde zur "Briefdirigentin" und achtete darauf, dass der Vater jede Woche
die erlaubten 1300 Wörter - jedes Kind ein paar Zeilen - zugesandt bekam.
Vater und Kinder versuchten sich gegenseitig zu schonen. Die Tochter schrieb dem Vater
aufmunternde Briefe, und der Vater erzählte seiner "lieben Margret" vom guten Essen, "statt Brot
essen wir in diesem Monat nur Bisquits, die von England kommen". Margret Nissen schreibt über den
Briefwechsel: "Mein Vater hatte ein Gespür für die absurden Vorgänge, die bürokratischen
Verrenkungen, die menschlichen Verwicklungen, die im Spandauer Gefängnis an der
Tagesordnung waren, und er verstand es, sich als gelassener Zellenbewohner zu präsentieren,
bestimmt schon damals mit einem Auge auf die Außen- und Nachwelt."
Verbissen arbeitete Speer an seinem öffentlichen Bild, nachdem er 1966 aus dem Gefängnis
entlassen worden war. In Büchern und Interviews kommentierte er seine NS-Vergangenheit, mit
seinen Kindern aber sprach er kaum darüber.
Seine Frau, die 20 Jahre auf ihn gewartet, die ihm nie Vorwürfe gemacht hatte, die er 1928
geheiratet hatte, weil sie aus einer einfachen, humorvollen Familie stammte und nicht aus so steifen
großbürgerlichen Verhältnissen wie er - seine Frau betrog er nun mit einer viel jüngeren Geliebten.
Die Tochter schreibt über die Reaktion der Mutter: "Ich hatte sie nie weinen sehen. Jetzt weinte sie."
Von dieser Kränkung habe die Mutter sich nie erholt. Die Tochter sieht in der "schweren
emotionalen Erschütterung" die Ursache dafür, dass die Mutter die Parkinsonsche Krankheit bekam.
Der Vater starb 1981, die Mutter sechs Jahre später. Margret Nissen trifft ihre Geschwister nur selten.
Doch vorvergangene Woche kam ihre ältere Schwester Hilde Schramm bei ihr vorbei, die wie sie in
Berlin lebt und inzwischen auch Großmutter ist. "Das erste Mal haben wir über unsere persönliche
Einstellung zu unserem Vater geredet", sagt Nissen. Nur ein paar Sätze waren es, aber auch ein
Anfang.
Der charmante Verbrecher – 02.05.2005
Von Klaus Wiegrefe
Albert Speer war der mächtigste Minister und zeitweise engste Vertraute Adolf Hitlers. Nach seiner
Haftentlassung 1966 präsentierte er sich als der gute Nazi - und wurde zur Symbolfigur für Millionen
Mitläufer. Nun haben Historiker die wahre Geschichte recherchiert. Von Klaus Wiegrefe
Als britische Posten um Mitternacht des 1. Oktober 1966 die Tore des
alliierten Gefängnisses in Berlin-Spandau öffneten, wurde Albert Speer
von gleißendem Scheinwerferlicht geblendet. Über hundert
Journalisten und Tausende Schaulustige begrüßten Hitlers einstigen
Stararchitekten und späteren Rüstungsminister wie einen Popstar. Nur
mühsam bahnte sich die schwarze Mercedes-Limousine mit Speer,
seiner Frau und seinem Anwalt den Weg durch die Menge, in der
Volksfeststimmung herrschte. Und das war nur der Anfang.
SPIEGEL TV
Diktator Hitler, Minister Speer: Mehr
als nur Sympathie
Zu 20 Jahren Haft hatte das alliierte Tribunal in Nürnberg Speer wegen
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt.
Nach seiner Freilassung wurde der großgewachsene, schlanke und gutaussehende Mann zu einer
geachteten und umworbenen Größe der westdeutschen Gesellschaft. Er war der liebste Ex-Nazi
der Bundesbürger.
Hunderte und Aberhunderte von Kassibern hatte der Häftling Nr. 5 im Spandauer Gefängnis voll
geschrieben und nach draußen schmuggeln lassen. Nach seiner Freilassung schrieb er mit Hilfe der
Notizen Bücher, die zu Millionenbestsellern wurden. Die "Erinnerungen" von 1969 und die "Spandauer
Tagebücher" von 1975 zählen bis heute zu den meistverkauften Werken der deutschen Sprache.
Fast ununterbrochen klingelte bei Speers in Heidelberg das Telefon: Reporter, Historiker oder
Interessierte, die über die Vergangenheit sprechen wollten, riefen an oder schickten Briefe, wie die
Speer-Biografin Gitta Sereny bei ihren Besuchen miterlebte. Im Restaurant grüßten wildfremde
Menschen vom Nachbartisch. Hunderttausende schalteten die Fernseher ein, wenn Speer vor der
Kamera Rede und Antwort stand.
Das Interesse galt nicht nur dem Insider der Nazi-Führung, der nüchtern und intelligent Einblicke in
den Arkanbereich des Regimes gewährte. Nach Jahrzehnten des öffentlichen Schweigens der
Tätergeneration empfanden es Schüler und Studenten damals geradezu als befreiend, dass Hitlers
mächtigster Minister den Diktator als "Verbrecher" bezeichnete und sich ohne das verbreitete
Selbstmitleid zur "Verantwortung" am Holocaust bekannte.
Aber Speer bediente auch - und vor allem - die Apologeten des Nationalsozialismus. Denn allen
Schuldbekenntnissen zum Trotz wollte der ehemalige Intimus des Führers ("Wenn Hitler überhaupt
Freunde gehabt hätte, wäre ich bestimmt einer seiner engen Freunde gewesen") an seiner
persönlichen Integrität keine Zweifel zulassen. Ein unpolitischer Fachmann - das war das Bild, das
Speer schon 1945 in Nürnberg von sich gezeichnet hatte. Und da die alliierten Ankläger sich nicht
ausreichend vorbereitet hatten, entging er knapp einem Todesurteil. Dem SPIEGEL erklärte er nach
seiner Freilassung, er habe von dem, was in den Konzentrationslagern geschah, "nur eine vage
Ahnung" gehabt, und dabei blieb es.
Es war diese Haltung, die Speer zum wohl wichtigsten Exkulpator des Dritten Reiches in den
Nachkriegsjahrzehnten werden ließ: Wenn schon die zeitweilige Nummer zwei des Regimes vom
Holocaust nichts gewusst habe, wie hätten dann die Volksgenossen informiert gewesen sein
können? Und bewies nicht zudem der charmante und gewinnende Speer, dass man beides sein
konnte: loyaler Mitarbeiter, ja sogar Freund Hitlers fast bis zum Schluss - und zugleich ein scheinbar
integrer, sympathischer und kultivierter Zeitgenosse?
Speer erschien vielen als der "Engel, der aus der Hölle kam", erklärt sein Verleger Wolf Jobst Siedler
den sensationellen Erfolg der Rechtfertigungsbücher, welche die Saga vom "feinsinnigen SchuldigUnschuldigen" (Alexander Mitscherlich) in die Welt trugen. Der Rüstungsminister wurde zur
Galionsfigur jener oft erzählten Geschichte vom idealistischen und tüchtigen Deutschen, der von
Hitler verführt worden war. Der einstige Adlatus nahm sich in dieser Perspektive nur als ein
prominentes unter zahlreichen selbsterklärten Opfern des Führers aus.
Zwar äußerten Historiker schon bald begründete Zweifel an der Darstellung des Erfolgsautors. Doch
gegen den sich verfestigenden Mythos vermochten sie nicht anzukommen, zumal Speer mit Siedler
und insbesondere dem späteren "FAZ"-Herausgeber Joachim Fest einflussreiche und wortgewaltige
Mitstreiter zur Seite standen.
Fest hatte sich bereits Anfang der sechziger Jahre ein Bild von Speer gemacht, das sich nicht allzu
sehr von dessen Selbststilisierungen in Nürnberg unterschied. Der brillante Publizist sah in der
einstigen NS-Spitzenkraft den "spezialistisch verengten Menschen", wie er in jedem politischen
System zu finden sei. Als Fest 1966 Speer beim Schreiben der Erinnerungen zur Hand ging, fühlte sich
der Freigelassene von seinem Ghostwriter in "meiner grundsätzlichen Auffassung von Hitler, seinem
System und von meiner eigenen Beteiligung bestätigt und verstärkt".
Fest stützte sich anschließend seinerseits beim Verfassen seiner zahlreichen Bestseller - insbesondere
der Hitler-Biografie - maßgeblich auf Speers Darstellungen. Noch im Kino-Welterfolg "Der Untergang"
vom vergangenen Jahr, der auf einem der Festschen Bücher basiert, kam Speer als Edel-Nazi
daher: ein Gentleman unter Lumpen und Mördern.
Es wird voraussichtlich das letzte Mal gewesen sein, dass Hitlers Helfer in solcher Weise dem
Publikum präsentiert wird. Denn am kommenden Montag tritt der preisgekrönte Filmemacher
Heinrich Breloer mit dem dreiteiligen Doku-Drama "Speer und Er" und einer Buchdokumentation zur
Gegendarstellung an.
Breloer hat zusammengetragen, was Wissenschaftler in den letzten Jahren über Speer
herausgefunden haben. Das Bild ist vernichtend. Denn der angeblich ungewollt in die Verbrechen
des Regimes Verstrickte trieb persönlich den Holocaust voran. Er bewilligte Materialien für den
Ausbau von Auschwitz, bereicherte sich an arisiertem Vermögen, denunzierte Konkurrenten und
unterstützte Terrormaßnahmen gegen Zwangsarbeiter. Die Gründung von zwei KZ, in denen
mehrere zehntausend Menschen umkamen, geht auf Speers Anstoß zurück. Wäre schon beim
Nürnberger Prozess bekannt gewesen, was man heute weiß, hätten ihn die alliierten Richter zum
Tode verurteilt.
"Er hat uns allen eine Nase gedreht", gesteht der Publizist Joachim Fest
Wahrlich blendend verstand Speer sich sowohl bei öffentlichen Auftritten als auch im Zwiegespräch
auf die Kunst der Täuschung. Die breiteste Wirkung erzielte er mit seinen Schriften. Wie wohl kaum
ein zeitgenössischer Memoirenschreiber von Rang ließ er entscheidende Abschnitte seiner
Lebensgeschichte aus, belog jene, die ihm Fragen stellten, verdrehte durch raffinierte Kürzungen
den Inhalt von Dokumenten in ihr Gegenteil. Inzwischen hat auch Fest eingeräumt, von Speer
manipuliert worden zu sein**: "Er hat uns allen eine Nase gedreht."
In glaubhaft wirkender Reue stiftete Speer einen beträchtlichen Teil seiner Tantiemen jüdischen
Einrichtungen. Weil sich solche Züge in seiner Person mit größter Abgebrühtheit mischen, rätseln
viele Betrachter bis heute über den wahren Kern dieses Mannes.
Der 1905 geborene Speer zählte zu jener Studentengeneration, die den Aufstieg der
Nationalsozialisten Anfang der dreißiger Jahre begeistert unterstützte. Der Sohn aus
gutbürgerlichem Heidelberger Hause studierte damals an der TH-Berlin; bei den Asta-Wahlen 1930
votierten zwei Drittel der angehenden Akademiker für den NS-Studentenbund.
DER SPIEGEL
Grafik: Unternehmen Größenwahn
Auch Speer verachtet die Weimarer Republik. Massenarbeitslosigkeit,
außenpolitische Ohnmacht, Armut - was er sieht, lässt ihn glauben, in
einer "Periode des Verfalls" zu leben. Eine "romantische Protesthaltung
gegen die Zivilisation" sei ihm eigen gewesen, so Speer, und sie ebnet
ihm wohl auch den Weg zu den Nationalsozialisten.
Im Dezember 1930 lässt er sich von Kommilitonen zum Besuch eines Hitler-Auftritts in Neukölln
überreden. Anfang 1931 tritt er der NSDAP als Mitglied Nr. 474481 bei. Um den politisch liberal
eingestellten Vater nicht zu verprellen, verheimlicht Speer seinen Schritt. Jahre später stellt er fest,
dass auch seine Mutter eingetreten ist - und es gleichfalls vor dem Vater verborgen hat.
Das Engagement des neuen Parteigenossen ist zunächst begrenzt. Mit seinem schicken
Sportwagen erledigt er gelegentlich Kurierfahrten für das Nationalsozialistische Kraftfahrerkorps
(NSKK), eine im Volk schlecht beleumundete paramilitärische Truppe ("NSKK = Nur saufen, keine
Kämpfer"). Immerhin verschafft die Partei dem 26-Jährigen, der von einer großen
Architektenkarriere träumt, aber dem Vater auf der Tasche liegt, einige Aufträge.
Er freundet sich mit Karl Hanke an, dem späteren Gauleiter von Niederschlesien. Der Schützling von
Propagandaminister Joseph Goebbels sorgt im Frühjahr 1933 dafür, dass Speer die Ministerwohnung
ausbauen darf - und damit Hitlers Aufmerksamkeit erringt, weil er so schnell fertig wird.
Die Nationalsozialisten haben nun die Macht, und das soll sich auch in den Bauten widerspiegeln.
Reichskanzler Hitler will als Erstes sein Dienstdomizil in der Wilhelmstraße neu gestalten. Speer soll
dem beauftragten Münchner Architekten zur Hand gehen.
Hitler hatte einst davon geträumt, Architekt zu werden; fast jeden Tag besucht er nun die Baustelle,
die Speer beaufsichtigt. Nach einigen Wochen lädt der Regierungschef den 16 Jahre Jüngeren
zum Essen ein, und schon bald zählt Speer zum engeren Kreis um den Diktator. Er habe jemanden
gesucht, dem er seine Baupläne anvertrauen könne und der "auch nach meinem Tode mit der von
mir verliehenen Autorität weitermachen kann", erklärt Hitler seine Zuneigung.
Manche Zeitgenossen hingegen glaubten, dass Hitler für den Architekten mehr empfand als nur
Sympathie. Kam Speer zu Besuch, "war Hitler begeistert, als ob eine Geliebte käme", erinnerte sich
später ein Mitarbeiter des Diktators, "und dann fingen sie beide an zu zeichnen und Pläne zu
machen, und Modelle wurden aufgestellt".
Speer ist bereits seit fünf Jahren verheiratet, als er Hitler erstmals persönlich trifft; später bezieht er
mit seiner vielköpfigen Familie ein Haus in der Nähe von Hitlers Berghof bei Berchtesgaden. Oft lässt
ihn der Führer spät in der Nacht kommen; niemand darf stören, wenn die beiden sich über den
Zeichentisch beugen.
Der Diktator stellt dem ehrgeizigen Speer "Aufträge und Möglichkeiten wie noch keinem
Architekten seit Menschengedenken" in Aussicht. Rasch steigt dieser zum "Chefdekorateur" der
bombastischen Selbstdarstellung Nazi-Deutschlands auf.
Die Inszenierung der Reichsparteitage, die Massenfeiern mit ihren Fahnenwänden und
Aufmarschfeldern - Speer ist aus der NS-Propaganda schon nach kurzer Zeit nicht mehr
wegzudenken. Er lässt mit Flakscheinwerfern acht bis zehn Kilometer hohe Lichtdome am dunklen
Himmel erstrahlen; "Kathedralen aus Eis" nennt der sichtlich beeindruckte britische Botschafter Sir
Neville Henderson das Spektakel.
1936 vertraut Hitler seinem Günstling den "größten Bauauftrag von allen" an: den Umbau Berlins zur
Welthauptstadt "Germania". Er drückt dem juvenilen Baumeister eine Briefkarte mit eigenen Skizzen
aus den zwanziger Jahren in die Hand - so will er es haben: einen Triumphbogen für die Toten des
Ersten Weltkriegs, doppelt so hoch wie der Arc de Triomphe, eine "Große Halle" für 180.000
Volksgenossen, siebzehnmal größer als der Petersdom in Rom, dazwischen eine Prachtstraße
deutlich breiter als die Champs-Élysées. Hitler spricht von "gebautem Nationalsozialismus".
Der Planer, der sich schon als "zweiter Schinkel" sieht, wird "Generalbauinspektor für die
Reichshauptstadt" im Range eines Staatssekretärs, einzig dem NSDAP-Chef verantwortlich. Hitler
lässt ihn mit Ehrungen überhäufen: Speer erhält das goldene Parteiabzeichen, wird preußischer
Staatsrat, Senator der Reichskulturkammer, Professor. Er residiert in einem prächtigen Gebäude am
Pariser Platz 4; dort entwirft er den Generalplan für den Umbau Berlins.
Er entwickelt spätestens jetzt auch jene Härte, die seinen Aufstieg bis fast an die Spitze des Regimes
ermöglicht. Als der Berliner Oberbürgermeister Julius Lippert, ein Spezi von Goebbels, sich gegen
Speers Vorhaben wehrt, schwärzt ihn der Architekt beim Führer an. Der Diktator schimpft über den
"Versager, Nichtskönner" und setzt den Oberbürgermeister ab; Speer übergibt seine Korrespondenz
mit Lippert dem Reichsführer SS, Heinrich Himmler, "zur vertraulichen Kenntnisnahme".
Speers erster Großbau wird die gigantische 421 Meter lange und 402 Meter breite Neue
Reichskanzlei an der Voßstraße, die Hitler zu Begeisterungsstürmen hinreißt. Besonders gefällt dem
gebürtigen Österreicher die rund 300 Meter lange Raumflucht vom Eingang bis zum Empfangssaal.
Ausländische Diplomaten würden auf dem Weg "schon etwas abbekommen von der Macht und
Größe des Deutschen Reiches".
Nach der Übergabe des Nazi-Palasts zum vereinbarten Termin am 9. Januar 1939 preist der Diktator
seinen neuen Star für dessen Organisationstalent. In nur zwölf Monaten (Hitler: "deutsches Tempo")
habe Speer die Baupläne entworfen, die alten Häuser abgerissen, die neue Kanzlei erstellt und
innen eingerichtet. Wohl wenig trägt so viel zu Speers Ruhm als Organisationsgenie bei wie diese
Propagandamär, die der Führer-Freund auch nach dem Krieg noch verbreitet.
Inzwischen haben Historiker die Baugeschichte rekonstruiert: mit den Planungen ist schon 1934
begonnen worden, die Abrissarbeiten waren bereits fast beendet, als Hitler Order gibt, den Bau ein
Jahr früher als geplant fertig zu stellen.
Bis zu diesem Punkt kennt Speer die Untaten des Regimes nur aus der Anschauung. Als er etwa 1934
das Palais Borsig für die SA-Führung umbauen soll, findet er in einem Büro die Blutlache des
konservativen Beamten Herbert von Bose vor. Die Nazis haben den Missliebigen kurz zuvor
erschossen. Speer meidet den Raum, ansonsten hat ihn der Mord, wie er später schreibt, "nicht
weiter berührt".
Doch im Frühjahr 1938 betritt er jenen Weg, der ihn zum Verbrecher werden lässt. Und wie bei so
vielen Deutschen steht am Anfang der Blick auf den eigenen Vorteil und das eigene Fortkommen.
Er tut sich das erste Mal mit SS-Chef Himmler zusammen. Der Totenkopforden ist noch nicht die
beinahe allmächtige Terrororganisation, als die ihn heute alle kennen. Der 37-jährige Himmler, der
von einem Wirtschaftsimperium träumt und in großem Stil jene rund 20.000 KZ-Häftlinge ausbeuten
will, die damals schon eingesperrt sind, bekommt für seine Unternehmen keine Kredite und benötigt
Verbündete.
Da trifft es sich gut, dass die Baustoffindustrie nicht jene Mengen liefern kann, die Speer für seinen
architektonischen Größenwahn anfordert. Mit einem hohen Millionenbetrag ermöglicht der
Baumeister, dem der Führer unbegrenzte Mittel zugesagt hat, der SS "den wirtschaftlichen
Großeinstieg" (Historiker Hermann Kaienburg).
Himmler lässt in der Nähe der Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen teilweise riesige
Ziegelwerke errichten; andere Lager - etwa in Mauthausen oder Flossenbürg - werden bei
Steinbrüchen gegründet, in denen sich dann Tausende für Speers "Germania"-Pläne zu Tode
schuften. Himmler zahlt die Kredite mit Baumaterialien ab. Die KZ in Natzweiler-Struthof im Elsass und
in Groß-Rosen in Schlesien gehen sogar direkt auf Anstöße Speers zurück, der den dort
vorhandenen Granit nutzen will.
Der NS-Chefarchitekt ist kein Sadist, der am Leiden anderer Menschen Freude hat. Ihn treibt auch
kein mörderischer Judenhass an wie Himmler oder Hitler; frei von Vorurteilen ist er allerdings auch
nicht. An seine Tochter Hilde Schramm schreibt er nach dem Krieg in klassisch antisemitischer
Diktion, er habe eigentlich nichts gegen Juden gehabt, nur so, wie "jeder von uns so etwas wie ein
unangenehmes Gefühl manchmal im Umgang mit ihnen hat".
Für die KZ-Opfer zeigt er kein Mitgefühl. Sein Bruder Hermann berichtet, Albert Speer habe den
Einsatz jüdischer Häftlinge in den Ziegeleien "ganz gemütlich" mit den Worten kommentiert: "Die
Judde haben ja schon in der ägyptischen Gefangenschaft Ziegel gestrichen!"
"Ein typischer Repräsentant der korrupten Führungskamarilla"
Es ist diese Rücksichtslosigkeit, die Speer mit vielen der jungen aufstrebenden Ingenieure und
Manager teilt und ihn zum Prototyp einer ganzen Generation von Technokraten werden ließ: Der
Raketenforscher Wernher von Braun nimmt für seinen Traum vom Flug auf den Mond in Kauf, dass
Tausende Zwangsarbeiter an den Folgen der katastrophalen Arbeitsbedingungen in unterirdischen
Raketenfabriken krepieren. Der Erfinder des "Volkswagens", Ferdinand Porsche, ist Herr über einen
Industriekomplex, in dem Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter zu Tausenden sterben. Der
Industrielle Alfried Krupp beutet mindestens 100 000 Menschen aus, welche von den
Nationalsozialisten zur Arbeit gezwungen werden. Der Hamburger Historiker Michael Wildt sieht in
Speer einen Repräsentanten einer Elite, "der jegliche Empathie fehlte" (siehe Seite 82).
Als sich Speer 1938 die Möglichkeit bietet, von einer jüdischen Familie ein Grundstück in exquisiter
Lage für einen Spottpreis zu kaufen, nutzt er die Gelegenheit und streicht beim Weiterverkauf der
Immobilie an die Staatskasse einen Arisierungsgewinn von 240.000 Reichsmark, ungefähr 2,5
Millionen Euro, ein. Beschwerden der früheren Eigentümer weist er mit dem Hinweis zurück, dass die
Vorbesitzer "alle Juden oder jüdisch versippet sind" und sich zudem von einem "jüdischen Anwalt"
vertreten ließen.
Auch sonst lohnt sich für Speer die Nähe zum Führer. Dietmar Arnold vom Verein Berliner
Unterwelten hat nun erstmals die im Bundesarchiv liegenden Abrechnungen Speers ausgewertet.
Danach ist Speer zum Multimillionär aufgestiegen.
Das private Architektenbüro Speer vermag zeitweise kaum noch die vom Generalbauinspektor
Speer erteilten staatlichen Aufträge zu bewältigen. Zudem profitiert der Multifunktionär von
exklusiven Steuererlassen. Als Speer ein Gut im Oderbruch kauft, schenkt ihm Reichsmarschall
Hermann Göring ein angrenzendes 100 Hektar großes Waldgelände. Der Hamburger NS-Experte
Frank Bajohr hält den Nazi mit dem Saubermannimage für einen "typischen Repräsentanten der
korrupten Führungskamarilla".
Obwohl Speer befürchtet, dass mit einem Weltkrieg seine Ausbaupläne für Berlin hinfällig werden,
zählt er 1939 zu den Kriegsbefürwortern in der Entourage Hitlers, wie er in seinen "Erinnerungen"
einräumt. Hitler erscheint ihm wie ein "Held der antiken Sage, der ohne zu zögern, im Bewusstsein
der Stärke, die abenteuerlichsten Unternehmungen einging und souverän bestand". Tatsächlich
reiht der Diktator in seinen Feldzügen 1939/40 gegen Polen, Norwegen, Frankreich Sieg an Sieg. Als
der sogenannte Erzfeind geschlagen ist, erfüllt sich der Führer einen "leidenschaftlichen Wunsch": Er
besucht Paris, und Speer darf dabei sein. Am 28. Juni 1940 landet die kleine Delegation
frühmorgens auf dem Flughafen Le Bourget. In Mercedes-Limousinen fahren Hitler und seine
Entourage durch die noch leeren Straßen zur Oper. Später, im Invalidendom, verweilt der
Reichskanzler lange gesenkten Hauptes vor dem Sarkophag Napoleons. Hinterher sagt er zu seinem
Fotografen: "Das war der größte und schönste Augenblick meines Lebens!"
Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches konnten viele Deutsche ihre Rolle bei der
Verfolgung von Juden verbergen, weil nicht bekannt war, wie sehr der Holocaust arbeitsteilig
organisiert war. Neben Hitler ergriffen oft auch untergeordnete Instanzen die Initiative. Eine dieser
Instanzen war Speers Generalbauinspektion.
Die Behörde steht im Sommer 1938 erstmals vor der Frage, wo man jene Zehntausende Berliner
unterbringen kann, deren Wohnquartiere für den Germania-Ausbau abgerissen werden sollen.
Noch vor der sogenannten Reichskristallnacht am 9. November 1938 schlägt Speer vor, zunächst
einmal 2500 Wohnungen "durch zwangsweise Ausmietung von Juden freizumachen". Nach dem
Pogrom lässt er sich schriftlich den ersten Zugriff auf arisierte Immobilien in Berlin zusichern, wie
kürzlich die Wissenschaftlerin Susanne Willems herausgefunden hat.
Am Pariser Platz wird eine "Hauptabteilung Umsiedlung" eingerichtet. Speers Beamte führen eine
Kartei der Wohnungen, in denen jüdische Deutsche wohnen, und entwerfen Pläne für "judenreine"
Stadtbezirke. Die Opfer werden "geschachtelt" - so nennen es die Bürokraten, wenn sie die
Vertriebenen in die Wohnungen anderer jüdischer Mieter zwangseinquartieren. Müssen die
geräumten Unterkünfte instand gesetzt werden, lässt sich Speer die Kosten zur Hälfte von der
Jüdischen Kultusvereinigung Berlin erstatten.
Der Behördenchef zeigt an der "Entjudung" auch persönliches Interesse. "Was macht die Aktion der
Räumung der tausend Judenwohnungen? Besonders Räumung Lichtenstein-Allee?", erkundigt er
sich am 27. November 1940 vom Obersalzberg aus. Speer sucht (und findet) in der LichtensteinAllee Gebäude für sein privates Architektenbüro.
Mit welcher Rücksichtslosigkeit er schon vor Beginn des Holocaust vorging, hat der Adjutant von
Generalfeldmarschall Erwin Rommel, Melchior Baron von Schlippenbach, dem Filmemacher Breloer
erzählt. Der Offizier suchte damals eine Wohnung und sprach daher - von Rommel vermittelt - bei
Speer vor. Fünf Wohnungen durfte sich der Baron ansehen, in einer traf er noch eine jüdische
Familie an. Als er einem Beamten Speers gegenüber anmerkte, dass es sich wohl um einen Irrtum
handeln müsse, verneinte dies der Mann. Wenn der Adjutant die Wohnung haben wolle, würde er
die Familie noch in der gleichen Nacht abholen lassen. Der Adlige lehnte ab.
Hitler hat bei Kriegsbeginn noch nicht endgültig über das Schicksal der Juden in seinem
Machtbereich entschieden, aber überall drängen seine Funktionäre, sie abzuschieben.
Propagandachef Goebbels, der Berlin "judenfrei" machen will, kann auf Speers Unterstützung
zählen.
Speer lässt die einzelnen Schritte in einer Chronik genau dokumentieren. Eintrag vom April 1941:
"Seit Jahresbeginn war in verstärktem Maße mit der Räumung der Abrissbereiche und Umsiedlung ...
in Judenwohnungen begonnen worden. Die ... Judenwohnungen wurden geräumt und die
jüdischen Mieter in jüdischen Wohnraum jüdischen Grundbesitzes geschachtelt."
Eintrag vom August 1941: "Gemäß Speer-Anordnung wird eine weitere Aktion zur Räumung von
rund fünftausend Judenwohnungen gestartet. Der vorhandene Apparat wird entsprechend
vergrößert."
Und Speer macht auch dann weiter, als im Herbst 1941 die Opfer nicht mehr "geschachtelt",
sondern nach Riga, Minsk oder Kaunas transportiert und dort erschossen werden. Die Gestapo nutzt
für die Auswahl der Opfer die von Speer-Mitarbeitern angelegte Kartei.
Weiß Hitler-Intimus Speer, was im Osten geschieht?
Nach seiner Entlassung erklärte er 1966, sein alter Spezi Karl Hanke sei einmal erregt zu ihm
gekommen und habe ihn gewarnt "nie zur Besichtigung eines Konzentrationslagers in
Oberschlesien" zu gehen - gemeint war Auschwitz. Mehr sei nicht gewesen.
Lebensnah war diese Schilderung nicht. Hanke und Speer kannten und duzten sich seit über einem
Jahrzehnt, und dennoch wollte Speer den Freund nicht nach dem "Warum" gefragt haben?
Doch den Speer-Kritikern fehlte es in den sechziger Jahren an Belegen für den Verdacht.
Inzwischen ist die Indizienlage erdrückend, und seine Biografin Sereny hat denn auch von der
"Lebenslüge" des NS-Funktionärs gesprochen. Die Nachweise führen in die Zeit nach dem 8. Februar
1942.
An diesem Tag stürzt Hitlers mächtiger Rüstungsminister Fritz Todt ab, als er vom Führerhauptquartier
Wolfschanze in Ostpreußen nach Berlin fliegen will. Speer hat ursprünglich die Absicht, Todt zu
begleiten, doch am Vorabend brütet er wieder einmal mit seinem Idol bis in den frühen Morgen
über Bauplänen und sagt den Flug schließlich ab, weil er ausschlafen will.
Der Führer lässt Speer sofort zu sich rufen, als er von Todts Unfall erfährt. Stehend empfängt er den
Architekten, nimmt dessen Beileidsbekundungen formell entgegen und sagt dann: "Herr Speer, ich
ernenne Sie zum Nachfolger von Minister Dr. Todt in allen seinen Ämtern." Speer windet sich ein
wenig, doch die Macht ist wie eine Droge für ihn. Er sei eben "ungeheuer ehrgeizig und
wahrscheinlich auch sehr machthungrig" gewesen, deutete er später sein Verhalten.
Speer beschwert sich über die "mehr als großzügige" Unterbringung der Häftlinge
Speer ist als Todts Nachfolger nicht nur für die Rüstung und eine Reihe anderer Wirtschaftsbereiche
zuständig, sondern übernimmt auch die Position des "Generalbevollmächtigten für die Regelung
der Bauwirtschaft", ein unverfänglicher Titel für eine mörderische Aufgabe. Denn Speer ist damit für
Baustoffe zuständig, und die SS braucht seine Zustimmung, wenn sie in den Konzentrationslagern
bauen will. Wie die Akten zeigen, nimmt er seine Aufsichtspflicht sehr genau.
Nach einem Besuch im Konzentrationslager Mauthausen etwa beschwert er sich Anfang 1943 bei
Himmler über die "mehr als großzügige" Unterbringung der Häftlinge und fordert eine Rückkehr zur
"Primitivbauweise". Empört notiert Himmlers Wirtschaftschef Oswald Pohl, dies sei doch "ein recht
starkes Stück", schließlich seien in den Konzentrationslagern "alle Bauvorhaben bis ins Einzelne" von
Speer genehmigt worden.
SS-Chef Himmler fürchtet, sein Traum eines Wirtschaftsimperiums könne scheitern, weil zu viele der
geschundenen Zwangsarbeiter vor Entkräftung sterben. Speer wiederum will vor allem Baustoffe
einsparen. Um sich ein Bild zu machen, beauftragt der Scharfmacher zwei Mitarbeiter, die
Konzentrationslager im damaligen Reichsgebiet - also auch in Auschwitz - zu inspizieren.
Anschließend lässt er sich "eingehend Bericht erstatten" - und ist zufrieden. Großzügig genehmigt er
der SS einige tausend Tonnen Eisen zur Verbesserung der Wasserversorgung in Auschwitz. Himmler
schreibt ihm, er fühle sich "in der Überzeugung bestärkt, dass es doch noch Gerechtigkeit gibt".
Viele Unterlagen zu den Konzentrationslagern sind von den Nazis vernichtet worden oder verloren
gegangen. So musste lange Zeit die Frage offen bleiben, ob Speer und seine Mitarbeiter Stahl und
Steine für den Bau der Gaskammern in Auschwitz oder Sachsenhausen bewilligten. Ein Zufallsfund
österreichischer Wissenschaftler um Bertrand Perz im Militärhistorischen Archiv in Prag hat vor
einigen Jahren Klarheit gebracht.
Das Dokument - eine detaillierte Kostenaufstellung - stammt aus dem Herbst 1942 und betrifft
Auschwitz. Die SS hatte sich kurz zuvor von Speer Baumaterialien im Wert von 13,7 Millionen
Reichsmark für "die Aufstellung von rund 300 Baracken mit den erforderlichen Versorgungs- und
Ergänzungsanlagen" genehmigen lassen. Aus dem Finanzpapier lässt sich nun erkennen,
wofür die Dinge auch gedacht waren: die "Durchführung der Sonderbehandlung" - so
bezeichneten die Nazis in ihrer Tarnsprache die Ermordung von Juden und anderen NS-Opfern. Die
Kosten für den Bau der Krematorien I bis IV sowie einiger Keller, welche die SS als Gaskammern
nutzte, wurden genau aufgeführt.
Zwar gibt es keinen Beweis, dass Speer diese Berechnung gesehen hat. Andererseits hatte er sein
Ministerium im Griff, und es ist kaum anzunehmen, dass er sich nicht weiter darum gekümmert hat,
was mit der von ihm abgesegneten, erheblichen Summe geschah.
Dass viel mehr Deutsche vom Holocaust gewusst haben, als es zunächst den Anschein hatte, ist
inzwischen unbestritten. Dennoch nahmen viele Speer die Beteuerungen seiner Unwissenheit auch
dann noch ab, als der amerikanische Historiker Erich Goldhagen in den siebziger Jahren darauf
hinwies, dass Speer am 6. Oktober 1943 als Gast unter den Gauleitern in Posen gewesen sein muss,
vor denen Himmler offen über die "Judenfrage" sprach. O-Ton Himmler: Es trat an uns die Frage
heran: Wie ist es mit den Frauen und Kindern? Ich habe mich entschlossen, auch hier eine ganz
klare Lösung zu finden. Ich hielt mich nämlich nicht für berechtigt, die Männer ... umbringen zu
lassen - und die Rächer in Gestalt der Kinder ... groß werden zu lassen.
Speer hatte vor Himmler referiert, wurde von dem SS-Chef sogar in der Rede zweimal direkt
angesprochen und behauptete dennoch, die Tagung frühzeitig verlassen und daher den Vortrag
nicht gehört zu haben. Er sei auf dem Weg zu Hitler gewesen und habe mit diesem mehrere
Stunden konferiert. Doch Hitlers Diener Heinz Linge notierte jeden Abend genau, wen der Diktator
während des Tages gesehen hatte. Speer war nicht darunter. Und die eidesstattliche Erklärung des
Rüstungsmanagers Walter Rohland ("Panzer-Rohland"), der Speer zu Hitler begleitet haben wollte, ist
wertlos. Wie Filmemacher Breloer bei Recherchen im Nachlass von Speer herausgefunden hat,
formulierte dieser die Aussage vor und ließ sie sich von Rohland abzeichnen.
Speer hatte sich den Weg zur Wahrheit bereits in Nürnberg verstellt. Bei einem Geständnis nach
seiner Freilassung hätte er, so Biograf Fest, "als der eigentliche Nazi-Schurke dagestanden": erst sich
mit den Verbrechern gemein machend, dann die leidende Unschuld mimend und schließlich die
Lügen hinausposaunend - das wäre, so Fest, dann der Eindruck gewesen. Und Speer war nicht
bereit, diesen Preis zu zahlen.
Mit seinen Ausflüchten in Nürnberg wies er einen Weg, den dann auch viele seiner
Managerkollegen einschlugen. Sie beriefen sich darauf, nur das eigene Metier im Blick gehabt und
nicht die Untaten gesehen zu haben, die sich direkt vor ihren Augen ereigneten. Es ist dieses
Versagen, das Speer nach Ansicht von Wissenschaftlern wie dem verstorbenen Briten Hugh TrevorRoper zum "wahren Verbrecher Nazi-Deutschlands" werden ließ. Denn Speer habe die "Natur der
Nazi-Regierung erkannt", doch nichts dagegen unternommen.
Das Geschick, mit dem Speer die Nachkriegsdeutschen täuscht, kommt im Dritten Reich dem
Rüstungsbereich zugute. Er sammelt um sich einen Stab junger Wirtschaftsführer, die dafür sorgen,
dass die Zusammenarbeit mit der Industrie besser funktioniert. Er lichtet das für den NS-Staat
typische Kompetenzwirrwarr. Vor allem aber streicht er die Konsumgüterproduktion zusammen und
beschränkt die Produktion auf wenige Waffentypen. Von 42 Flugzeugmodellen nimmt er 37 aus
dem Programm, von 151 Lkw-Typen bleiben 23 übrig.
Viele NS-Gauleiter lehnen eine Mobilisierung für den totalen Krieg ab, weil sie einen Aufstand der
Deutschen wie 1918 fürchten. Speer hingegen zählt zu den Hardlinern. Er droht allen Betriebsführern,
Angestellten, Beamten und Offizieren, die sich "durch unwahre Angaben" Material erschleichen,
"den Tod oder schweres Zuchthaus" an und fordert "schärfste Maßnahmen gegen Bummelanten
und Drückeberger". In einigen Fällen bittet Speer persönlich die zuständigen Stellen um
Strafverfolgung.
Stößt er auf Widerstände, wendet er sich an seinen Förderer. Wie geschickt er den Diktator dabei
manipuliert, hat er glaubhaft seinem Biografen Fest berichtet. Er habe das Gespräch kühl und
sachlich begonnen. Scheinbar aus Versehen habe er dann eine
Architekturskizze hervorgezogen, als sei sie zufällig zwischen die Akten geraten. Hitlers
Aufmerksamkeit sei sofort geweckt - und schon sei ein nicht enden wollendes Architekturgespräch
die Folge gewesen. Beim Verlassen des Büros sei er schließlich auf sein eigentliches Anliegen
zurückgekommen. Meist habe Hitler zugestimmt.
"Mein fähigster Minister", so rühmt der Führer seinen Günstling, in dem er einige Zeit lang sogar einen
potentiellen Nachfolger sieht. Nach zwei Jahren liegt die Waffenproduktion dreimal so hoch wie
bei Speers Amtsantritt. Hitler, aber auch die Amerikaner sprechen von einem "deutschen
Rüstungswunder". Doch das Ausgangsniveau ist niedrig. Und mit seinen Feinden kommt das Dritte
Reich trotzdem nicht mit.
Bald liefert die Waffenproduktion dreimal so hoch wie bei Speers Antritt
Lange hält der Speer-Boom nicht an, aber ohne ihn wäre der Krieg wohl schon 1943 verloren
gewesen. Die Angriffe der alliierten Luftflotten lassen die Produktionsziffern zunehmend sinken. Weil
er Hitlers Gunst nicht verwirken will, trickst der Minister und fälscht Statistiken. "Ich glaube dem Speer
kein Wort mehr", erklärt ein misstrauisch gewordener Goebbels, "er macht uns alle mit seinen Zahlen
besoffen."
Die Arbeitskräfte für den Rüstungsaufschwung holt sich Speer von der SS. Ende 1944 malochen
500.000 der insgesamt 600.000 KZ-Insassen in seinem Rüstungsimperium. Als im Mai 1944 ungarische
Juden - Frauen, Kinder und alte Männer - zur Zwangsarbeit eintreffen, von denen beim Bau von
Bunkern wenig zu erwarten ist, weist er an, zusätzlich 90 000 Ostarbeiter zu verhaften.
Um die Rüstungsindustrie gegen Luftangriffe zu sichern, verlegt Speer Fabriken in Bergwerksstollen,
darunter auch die Produktion der V-2-Rakete aus Peenemünde, die nun bei Nordhausen in
Thüringen hergestellt wird. Die KZ-Häftlinge müssen sich ohne ausreichende Nahrung und Wasser
unter Tage plagen und dürfen die Stollen nicht verlassen. 6000 Häftlinge sterben in den ersten
Monaten.
Speer besucht im Dezember 1943 den gigantischen unterirdischen Komplex. Nach der Visite
gratuliert er dem Chef der SS-Bauleitung, in zwei Monaten eine Fabrik aufgebaut zu haben, "die
ihresgleichen in Europa kein annäherndes Beispiel hat". Dem SS-Ingenieur spricht er "für diese
wirklich einmalige Tat" seine "höchste Anerkennung aus".
Als sein Anwalt ihn vor den alliierten Richtern in Nürnberg nach den Arbeitsbedingungen in
unterirdischen Fabriken fragt, tischt er dreiste Lügen auf. Die Verliese seien "absolut einwandfrei"
gewesen: "staubfreie, trockene Luft, gutes Licht, große Frischluftanlage".
Nach dem Krieg reklamiert Speer für sich, bereits im Frühjahr 1943 erkannt zu haben, dass der Krieg
verloren gewesen sei.
Doch diese Erkenntnis, wenn es sie denn so früh gab, bleibt lange ohne Auswirkung auf sein
Handeln. Wie Goebbels versucht er noch im Herbst 1944 mit einem letzten Mobilisierungsschub die
Niederlage abzuwenden. Er verbreitet Durchhalteparolen und fordert von seinen Mitarbeitern, mit
"fanatischem Glauben" bis zum "siegreichen Frieden" zu arbeiten.
Ende 1944 erreichen Amerikaner und Briten die deutsche Grenze, die Rote Armee steht kurz vor
Ostpreußen. In der Ardennen-Offensive, dem letzten Aufbäumen der Wehrmacht im Westen,
organisiert der Rüstungsminister rast- und rücksichtslos den Nachschub für die "entscheidende
Schlacht für Großdeutschland" (Speer).
Immerhin kann der Minister für sich in Anspruch nehmen, Hitler im Herbst 1944 dazu bewegt zu
haben, die ersten Nero-Befehle zurückzunehmen. Der Führer will eine Zivilisationswüste zurücklassen:
ohne Fabriken, Lebensmittellager, Telefonsystem.
Mit dem Hinweis, dass die verlorengehenden Gebiete ja bald im Zuge des "Endsiegs" zurückerobert
würden, setzt Speer dem Furor vorerst ein Ende. "Lähmen statt Zerstören", also die Stilllegung der
Betriebe, lautet die von ihm beim Führer durchgesetzte neue Richtung.
Allerdings besteht der Rüstungsminister darauf, dass die Lähmungsmaßnahmen keinesfalls zu früh
eingeleitet werden - die Waffenproduktion für das sinnlose Sterben soll so lange wie irgend möglich
laufen.
Für Speer ist mit dem Scheitern der Ardennen-Offensive im Dezember 1944 der Krieg "zu Ende". Und
damit beginnt eine Episode seines Wirkens, in der er sich tatsächlich Verdienste erwirbt. Denn der
energische Mann nutzt nun seine Autorität, um zu retten, was noch zu retten ist.
Beinahe ununterbrochen kurvt er in den letzten Kriegswochen durch das Ruhrrevier und die
anderen Frontgebiete im Westen. Er will radikale Gauleiter und Wehrmachtgeneräle davon
abhalten, mit dem Regime auch das Land untergehen zu lassen. Denn Hitler hat inzwischen die
Nero-Order erneuert.
Der Führer weiß nicht, dass sich sein einstiger Liebling von ihm abgewendet hat. Speer sammelt
Verbündete vor Ort, er beschwört Wehrmachtoffiziere, Parteifunktionäre, Beamte, nicht dem Druck
von oben nachzugeben. Er lässt sicherheitshalber Sprengstoff in Bergwerksschächte versenken und
gelegentlich sogar Maschinengewehre an den Werkschutz ausgeben; die Wachleute sollen die
Anlagen gegen braune Fanatiker verteidigen. Rund 70 Reisen mit weit über hundert
Besprechungen zwischen Januar und April 1945 haben Historiker gezählt.
Die Motive des Hitlers-Adlatus sind umstritten. Arbeitet der immer kühl kalkulierende Nationalsozialist
bereits an einer Nachkriegskarriere? Oder kann er sich nun - kurz vor dem Untergang - doch noch
aus Hitlers Bann lösen, weil dieser den Vertrauten in seine Untergangsphantasien einweiht? "Es ist
nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das deutsche Volk zu seinem primitivsten Weiterleben
braucht, Rücksicht zu nehmen", erklärt der Diktator dem 40-Jährigen im März 1945 beiläufig. "Im
Gegenteil, es ist besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Denn das Volk hat sich als das schwächere
erwiesen."
Speer gelingt es als einem der Letzten aus Hitlers Entourage, Berlin zu verlassen
Der wohl beste Kenner des Kriegsgeschehens im Westen 1945, Klaus-Dietmar Henke, warnt
allerdings davor, Speers Rolle zu überschätzen. Denn die Deutschen, die Hitler so lange gern
folgten, sind keineswegs bereit, ihre Heimat zu zerstören, nur weil der Führer es befiehlt. Zwar richten
Hitler-Treue bis zum Kriegsende Menschen hin, weil diese sich den sinnlosen Verteidigungskämpfen
entgegenzustellen oder auch nur zu entziehen suchen. Doch "ungleich häufiger ist der
unspektakuläre Normalfall einer örtlichen Koalition von Ernüchterten und Besonnenen", berichtet
Henke. Speer sei dabei durchaus hilfreich gewesen, aber die "mächtige Opposition gegen den
Untergangskurs" habe seiner "nicht bedurft".
Das letzte Mal treffen sich der Architekt und sein Gebieter in der Nacht vom 23. auf den 24. April im
Führerbunker unter der Reichskanzlei. Die Rote Armee hat Berlin längst eingeschlossen, in dem
muffigen Gemäuer, acht Meter unter der Erde, erörtern die engeren Mitarbeiter, ob sie ihrem
Leben besser mit Zyankali oder einer Kugel in den Kopf ein Ende setzen.
Hitler - ein von Parkinson gezeichneter, früh vergreister Mann mit blasser, teigiger Haut - überlegt,
wo er seinen Suizid besser in Szene setzen kann: in Berlin oder lieber auf dem Obersalzberg. Ein
ergriffener Speer rät ihm zum Bleiben. Die Hauptstadt sei ein angemessenerer Ort als das
"Wochenendhaus".
Dann, die Fassung verlierend, gesteht er seinem langjährigen Förderer, dass er als zuständiger
Minister nicht nur die Zerstörungen unterlassen, sondern sie sogar verhindert habe. Hitlers Augen
sollen sich laut Speer mit Tränen gefüllt haben. Andere wären für diese Befehlsverweigerung
hingerichtet worden, doch der Führer schweigt, auch als Speer anbietet, bei ihm in Berlin zu
bleiben. Das Treffen wird unterbrochen. Erst Stunden später sind beide wieder allein. Es ist
inzwischen drei Uhr morgens, und Speer will sich verabschieden. Hitler zeigt erneut keine Regung:
"Seine Worte kamen so kalt wie seine Hand: ,Also Sie fahren? Gut. Auf Wiedersehen.'"
Speer gelingt es als einem der Letzten aus der Entourage, mit einem Kleinflugzeug ("Fieseler Storch")
Berlin zu verlassen. Eine Woche später nimmt sich Hitler das Leben. In der von ihm erstellten
Kabinettsliste für eine Nachfolgeregierung unter Leitung von Großadmiral Karl Dönitz findet der
einstige Liebling keine Berücksichtigung mehr.
Speer überlebt sein einstiges Idol um 36 Jahre. Er stirbt 1981 bei einem Besuch in London in einem
Hotel.
Sein schwer ergründlicher Charakter offenbart sich vielleicht am besten in einem Satz, in dem er mit
kühler Hybris Rückschau hält. Als ihn sein Verleger Siedler einmal fragt, ob er - vor die Wahl gestellt sich lieber als "anständiger Stadtarchitekt von Heidelberg" sähe oder seinen Lebensweg ein zweites
Mal ginge, antwortet Speer: "Ich würde alles so noch einmal durchmachen wollen: noch einmal
der Glanz, noch einmal die Schande, noch einmal das Verbrechen und noch einmal der Weg in
die Geschichte."

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