3 Lebesgue-Integration im IR

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3 Lebesgue-Integration im IR
33
3
3.1
Lebesgue-Integration im IRn
Vorbemerkung
Zuerst eine heuristische Betrachtung:
z
Wir betrachten eine nichtnegative stetige Funktion
f (x, y), die über einem kompakten, also beschränkten
und abgeschlossenen Bereich B ⊂ IR2 definiert ist. B
habe einen wohldefinierten Flächeninhalt. Dann beschreibt die Menge
6
f (x, y)
y
M = {(x, y, z) ∈ IR3 ; (x, y) ∈ B, 0 ≤ z ≤ f (x, y)}
den Teil eines Zylinders“ über B, dessen Boden“
”
”
von B und dessen Deckel“ vom Graph von f gebildet
”
wird.
B
x
z
Um das Volumen V von M zu berechnen, nehmen wir
zuerst an, daß B ein achsenparalleles Rechteck ist, also
6
B = {(x, y); a1 ≤ x ≤ b1 , a2 ≤ y ≤ b2 }.
f (x, y)
y
Wir zerlegen [a2 , b2 ] in m Intervalle [yk−1 , yk ] der
Länge
x
b2 − a 2
y0
ym
(mit y0 := a2 , ym := b2 )
∆y
m
und legen durch jedes yk eine zur (x, z)-Ebene parallele Ebene. Dadurch wird M in Scheiben“ zer”
schnitten. Ist f stetig und sind die Scheiben hinreichend dünn“, dann ist das Volumen ∆Vk der k-ten
”
Scheibe wegen der Stetigkeit des Parameterintegrals“
”
Z b1
F (y) :=
f (x, y) dx
∆y =
a1
näherungsweise gleich dem Produkt des Flächeninhaltes Fk := F (yk ) der Schnittfläche bei yk und der
Scheibendicke ∆y, d.h.
Z b1
∆Vk ≈ Fk · ∆y =
f (x, yk ) dx · ∆y.
a1
Summation über alle Scheiben ergibt als Näherung des Gesamtvolumens
m
m Z b1
X
X
V =
∆Vk ≈
f (x, yk ) dx · ∆y.
k=1
Für m → ∞ erhält man
V =
a1
k=1
Z
b2
a2
Z
b1
f (x, y) dx
a1
dy.
Da es gleichgültig ist, ob man M in y- oder in x-Richtung in Scheiben schneidet, ergibt sich analog
Z b1 Z b2
Z b2 Z b1
V =
f (x, y) dy dx =
f (x, y) dx dy.
a1
a2
a2
a1
3. Lebesgue-Integration im IRn
34
(Die Klammern um die Integrale kann man weglassen, da die Ausdrücke auch ohne Klammern eindeutig
sind.)
Bemerkung 3.1.1 Durch die Stellung der Integrationsvariablen dy bzw. dx im Integral wird beschrieben, welcher Integrationsbereich [a 1 , b1 ] bzw. [a2 , b2 ] zu den Integrationsvariablen gehört. Man kann das
aber auch deutlich machen, indem man die entsprechende Variable unter das Integralzeichen schreibt.
Beispiel 3.1.2 Für das Volumen unter dem Graph der Funktion f (x, y) := 2 − xy über dem Rechteck
B = {(x, y); 0 ≤ x ≤ 1, 0 ≤ y ≤ 2} erhält man
1
Z 2 Z 1
Z 2
Z 2
x2 y
y
V =
(2 − xy) dx dy =
2x −
dy =
2−
dy = 3
2 x=0
2
y=0 x=0
0
0
bzw. analog
3.2
Z
1
x=0
Z
2
y=0
(2 − xy) dy dx = 3.
Integration von Treppenfunktionen
Im letzten Kapitel haben wir gesehen, daß die Riemann-integrierbaren Funktionen praktisch die Regelfunktionen sind, also die Funktionen, die sich als Grenzfunktion einer gleichmäßig konvergenten Folge
darstellen lassen. Man kann nun das Regel-Integral auf Funktionen mehrerer Variabler ausdehnen. Ein
zusätzlich auftretendes Problem bei Funktionen mehrerer Variabler ist allerdings das Integrationsgebiet,
das viel komplizierter aussehen kann als bei einer Variablen.
Ersetzt man aber die gleichmäßige Konvergenz durch eine schwächere Konvergenzbedingung, dann erhält
man eine Klasse von integrierbaren Funktionen, die die Klasse der Riemann-integrierbaren Funktionen
umfaßt (mit demselben Integralwert), aber auch Funktionen, die nicht Riemann-integrierbar sind und
z.B. in der Stochastik wichtig sind.
Wir betrachten zuerst Treppenfunktionen im IR n .
Definition 3.2.1 (a) Eine Funktion ϕ : IR n → IR heißt Treppenfunktion auf IRn , wenn es endlich
viele paarweise disjunkte (offene oder abgeschlossene) Quader Q 1 , Q2 , . . . , Qs gibt mit
(i) ϕ ist auf jedem Qk konstant, 1 ≤ k ≤ s,
s
[
n
(ii) ϕ(x) = 0 für alle x ∈ IR \
Qk .
k=1
(b) Für eine Teilmenge A ⊂ IRn heißt
EA : IRn → IR
mit
charakteristische Funktion von A.
EA (x) :=

1
0
für x ∈ A,
sonst
(c) Sind Q1 , Q2 , . . . , Qs endlich viele disjunkte Quader mit Volumen v(Q k ), ck ∈ IR, 1 ≤ k ≤ s, dann
heißt
Z
Z
s
X
ϕ(x) dx :=
ϕ(x) dx :=
ck v(Qk )
IRn
Integral der Treppenfunktion ϕ =
s
X
k=1
c k · E Qk .
k=1
3. Lebesgue-Integration im IRn
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Bemerkungen 3.2.2 (1) Da in der Definition der Treppenfunktion auch niederdimensionale Quader
zugelassen sind, kann man jede Treppenfunktion als Linearkombination der charakteristischen
Funktionen von Quadern darstellen. Umgekehrt ist jede Linearkombination solcher Funktionen
eine Treppenfunktion.
(2) Die Treppenfunktionen bilden einen Vektorraum T , d.h. mit ϕ, ψ ∈ T , α, β ∈ IR ist αϕ + βψ ∈ T .
Außerdem gilt
|ϕ| ∈ T,
max(ϕ, ψ), min(ϕ, ψ) ∈ T.
(3) Das Volumen v(Q) eines n-dimensionalen Quaders Q sei (elementargeometrisch) das Produkt
seiner Kantenlängen, und ein niederdimensionaler Quader (Teilmenge einer Hyperebene) habe
Volumen 0.
Das Integral einer Treppenfunktion ist natürlich nur dann sinnvoll, wenn der Wert nicht von der speziellen Darstellung der Funktion abhängt. Es gilt
Satz 3.2.3 Seien ϕ, ψ Treppenfunktionen, α, β ∈ IR. Dann gilt:
(a) Das Integral von ϕ hängt nicht von der speziellen Darstellung von ϕ als Linearkombination von
charakteristischen Funktionen von Quadern ab.
(b) Das Integral ist linear, d.h. es gilt
Z
Z
Z
αϕ + βψ dx = α
ϕ dx + β
ψ dx.
(c) Es gilt die Dreiecksungleichung“
”
(d) ϕ(x) ≤ ψ(x) für alle x ∈ IR
=⇒
Z
Z
ϕ dx ≤ ϕ dx.
R
ϕ dx ≤
R
ψ dx.
Korollar 3.2.3.1 (S.v.Fubini f. Treppenfunktionen)
Z Z
Z
ϕ(x, y) d(x, y) =
ϕ(x, y) dx dy.
X×Y
3.3
Y
X
Die L1-Halbnorm
Wir betrachten im folgenden auch Funktionen und Reihen, die den Wert ∞ annehmen können. Dabei
werden zusätzlich folgende Rechenregeln festgelegt:
x<∞
für x ∈ IR,
∞·x=x·∞=∞
∞±x = x±∞ = ∞
für x ∈ IR ∪ {∞},
x 6= 0,
für x ∈ IR ∪ {∞},
∞ · 0 = 0 · ∞ = 0.
Um das Volumen der Menge M ⊂ IRn+1 zwischen dem Definitionsbereich und dem Graph einer nichtnegativen Funktion f nach oben abzuschätzen, überdecken wir M durch Quader und berechnen deren
Gesamtinhalt. Da wir Funktionen betrachten, die auf ganz IR n definiert sind und sogar unbeschränkt
sein dürfen, müssen wir abzählbare Überdeckungen zulassen.
3. Lebesgue-Integration im IRn
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Definition 3.3.1 Sei f : IRn → IR ∪ {∞} eine Funktion
(a) Sind Qk offene Quader im IRn , ck nichtnegative reelle Zahlen, k ∈ IN, und gilt
∞
X
|f (x)| ≤ Φ(x) :=
k=1
ck · EQk (x)
für alle x ∈ IRn ,
dann heißt Φ(x) Hüllreihe von f und
I(Φ) :=
∞
X
k=1
ck · v(Qk )
Inhalt der Hüllreihe.
(b) kf k1 := inf{I(Φ); Φ ist Hüllreihe von f }
heißt L1 -Halbnorm von f .
(1) Sei Qk der offene achsenparallele Würfel mit Mittelpunkt 0 und Kan∞
X
n
tenlänge k. Dann hat jede Funktion f : IR → IR ∪ {∞} die Hüllreihe
k · EQk (x). Die Menge
Bemerkungen 3.3.2
k=1
der Zahlen, über die das Infimum gebildet wird, ist also nicht leer, d.h. das Infimum existiert und
ist nach Definition nicht negativ. Es kann aber ∞ sein.
(2) Die L1 -Halbnorm ist nicht positiv definit, also keine Norm.
Es gelten folgende Eigenschaften:
Satz 3.3.3 Für f, g : IRn → IR ∪ {∞}, c ∈ IR ∪ {∞} gilt:
(a) kc · f k1 = |c| · kf k1 .
(b) kf + gk1 ≤ kf k1 + kgk1 .
(c) Aus |f | ≤ |g| folgt kf k1 ≤ kgk1 .
(d) Für nichtnegative Funktionen fk : IRn → IR ∪ {∞}, k ∈ IN, gilt
∞
∞
X
X
fk ≤
kfk k1 .
k=1
Für Treppenfunktionen gilt
Satz 3.3.4
1
k=1
(a) Für die charakteristische Funktion eines abgeschlossenen Quaders Q gilt
Z
kEQ (x)k1 = v(Q) = EQ dx.
(b) Für eine Treppenfunktion ϕ auf IRn gilt
kϕk1 =
Z
|ϕ(x)| dx.
3. Lebesgue-Integration im IRn
3.4
37
Definition des Lebesgue-Integrals
Definition 3.4.1 Gibt es zu einer Funktion f : IRn → IR ∪ {∞} eine Folge von Treppenfunktionen (ϕ k )
mit lim kf − ϕk k1 = 0, dann heißt f Lebesgue-integrierbar über IRn .
k→∞
Z
IRn
f (x) dx := lim
Z
k→∞ IRn
ϕk (x) dx
heißt Lebesgue-Integral von f über IRn .
Bemerkungen 3.4.2 (1) Die Folge der Integrale der Treppenfunktionen ist eine Cauchy-Folge und
damit konvergent, d.h. der Grenzwert existiert. Als Cauchy-Folge ist diese Folge beschränkt, d.h.
das Lebesgue-Integral einer Funktion ist eine reelle Zahl.
(2) Der Grenzwert ist unabhängig von der speziellen Auswahl der bezüglich der L1 -Halbnorm gegen
f konvergenten Folge von Treppenfunktionen, das Lebesgue-Integral von f also wohldefiniert.
(3) Jede Treppenfunktion ist Lebesgue-integrierbar, und das Lebesgue-Integral ist gleich dem Wert
des Integrals aus Definition 3.2.1.
(4) Aus der Konvergenz bezüglich der L1 -Halbnorm kann man noch nicht z.B. auf punktweise Konvergenz schließen.
Es gelten folgende Rechenregeln:
Satz 3.4.3 Seien f, g : IRn → IR ∪ {∞} Lebesgue-integrierbar über IRn , α, β ∈ IR. Dann gilt:
(a) |f | ist Lebesgue-integrierbar über IRn und
Z
Z
f (x) dx ≤
IRn
IRn
|f (x)| dx = kf k1 .
(b) Das Lebesgue-Integral ist linear, d.h. αf + βg ist über IRn Lebesgue-integrierbar, und es gilt
Z
Z
Z
(αf + βg)(x) dx = α
f (x) dx + β
g(x) dx.
IRn
(c)
f ≤g
=⇒
R
n
IR
IRn
f (x) dx ≤
R
IRn
IRn
g(x) dx.
(d) Ist g beschränkt, dann ist f · g Lebesgue-integrierbar über IRn .
Bemerkungen 3.4.4
raum.
(1) Die Menge der Lebesgue-integrierbaren Funktionen bilden einen Vektor-
(2) Sind f, g : IRn → IR ∪ {∞} Lebesgue-integrierbar, dann auch die Funktionen max(f, g) und
min(f, g).
(3) Speziell sind die Funktionen f + := max(f, 0) und f − := max(−f, 0) Lebesgue-integrierbar. Sie
heißen positiver bzw. negativer Anteil von f , und es gilt
f + , f − ≥ 0,
f = f + − f −,
|f | = f + + f − .
3. Lebesgue-Integration im IRn
38
Wir betrachten nun Funktionen, die auf einer Teilmenge des IR n Lebesgue-integrierbar sind:
Definition 3.4.5 Sei M ⊂ IRn eine Teilmenge und f : M → IR ∪ {∞} eine Funktion.

f (x) für x ∈ M
(a) fM : IRn → IR ∪ {∞} mit fM (x) :=
heißt triviale Fortsetzung von f auf
0
sonst
IRn .
(b) Wir setzen
kf k1,M := kfM k1 .
(c) f heißt über M Lebesgue-integrierbar, wenn die triviale Fortsetzung f M über IRn Lebesgue-integrierbar
ist.
Z
Z
f (x) dx :=
fM (x) dx
IRn
M
heißt das Lebesgue-Integral von f über M .
Bemerkung 3.4.6 Satz 3.4.3 gilt entsprechend. Insbesondere bilden die über M Lebesgue-integrierbaren
Funktionen einen reellen Vektorraum. Bezeichnung: L 1 (M ).
Der folgende Satz zeigt den Zusammenhang zwischen Regelintegral und Lebesgue-Integral f ür Funktionen einer reellen Variablen:
Satz 3.4.7 Eine Regelfunktion f über einem kompakten Intervall [a, b] ist über [a, b] Lebesgue-integrierbar,
und die Werte von Regel- und Lebesgue-Integral sind gleich, d.h.
Z
f (x) dx =
[a,b]
Z
b
f (x) dx.
a
Mit dem nächsten Satz erhält man eine große Klasse von Lebesgue-integrierbaren Funktionen mit mehreren Variablen:
Satz 3.4.8 Sei f : M → IR ∪ {∞} eine Funktion und es gebe eine Folge (ϕ k ) von Treppenfunktionen
mit:
(i) Die Folge (ϕk ) ist monoton,
(ii) sie konvergiert punktweise gegen f ,
Z
(iii) die Folge der Integrale
ϕk dx ist beschränkt.
IRn
Dann ist f Lebesgue-integrierbar, und es gilt
Z
Z
f (x) dx = lim
IRn
k→∞ IRn
ϕk (x) dx.
3. Lebesgue-Integration im IRn
39
Wir untersuchen nun das Verhältnis von Regelintegralen über beliebigen reellen Intervallen und LebesgueIntegralen:
Satz 3.4.9 Sei I ⊂ IR ein reelles Intervall, f : I → IR eine Regelfunktion.
(a) Ist f ≥ 0, dann gibt es eine monoton wachsende Folge (ϕ k ) von Treppenfunktionen auf I, die
punktweise gegen f konvergiert.
(b) Ist I = (a, b) ein offenes (beschränktes oder unbeschränktes) Intervall, dann ist f genau dann über
I Lebesgue-integrierbar, wenn das uneigentliche Regelintegral von f über I absolut konvergiert. In
diesem Fall stimmen die Werte beider Integrale überein, d.h.
Z
f (x) dx =
I
Z
b
f (x) dx.
a
Bemerkung 3.4.10 Die Konvergenz des uneigentlichen Regelintegrals reicht für die Lebesgue-Integriersin x
barkeit nicht aus wie das Beispiel der Funktion
zeigt.
x
Wir betrachten nun auf offenen oder kompakten Mengen definierte stetige Funktionen. Dazu beweisen
wir zuerst folgenden Hilfsatz:
Satz 3.4.11 Sei M ⊂ IRn , f : M → IR stetig auf M .
(a) Ist M offen, dann gibt es eine Folge (ϕ k ) von Treppenfunktionen, die monoton wächst und (punktweise) gegen fM konvergiert.
(b) Ist M kompakt, dann gibt es eine Folge (ϕ k ) von nichtnegativen Treppenfunktionen, die monoton
fällt und (punktweise) gegen fM konvergiert.
Damit folgt
Satz 3.4.12 (a) Ist U ⊂ IRn offen und beschränkt, f auf U definiert, stetig und beschränkt, dann ist
f über U Lebesgue-integrierbar.
(b) Ist M ⊂ IRn kompakt, f auf M definiert und stetig, dann ist f über M Lebesgue-integrierbar.
3.5
Meßbarkeit von Mengen, Nullmengen
Rechtecken und allgemein n-dimensionalen Quadern ordnet man ein Volumen zu. Mit Hilfe des LebesgueIntegrals verallgemeinern wir den Inhaltsbegriff:
Definition 3.5.1 Eine Menge M ⊂ IRn heißt Lebesgue-meßbar oder kurz meßbar, wenn ihre charakteristische Funktion Lebesgue-integrierbar ist.
Z
v(M ) := vn (M ) :=
EA (x) dx
M
heißt n-dimensionales Volumen oder Lebesgue-Maß von M . Außerdem setzen wir
v(∅) := 0.
3. Lebesgue-Integration im IRn
40
Aus Satz 3.4.12 und den Rechenregeln für das Lebesgue-Integral folgt
Satz 3.5.2
(a) Jede beschränkte offene Teilmenge und jede kompakte Teilmenge des IR n ist meßbar.
(b) Sind A und B meßbare Mengen, dann sind A ∩ B und A ∪ B auch meßbar mit
v(A ∪ B) = v(A) + v(B) − v(A ∩ B).
(c) Sind A und B meßbare Mengen mit A ⊂ B, dann gilt
v(A) ≤ v(B).
Zur geometrischen Darstellung des Lebesgue-Maßes verwendet man oft Ausschöpfungen einer (offenen
oder kompakten) Menge durch Vereinigungen endlich vieler Quader.
Ist M offen, und (Qk ) die (abzählbare) Menge der achsenparallelen Würfel Qk ⊂ M mit rationalem
Mittelpunkt und rationaler Kantenlänge. Dann bilden die Vereinigungen A k := Q1 ∪ . . . ∪ Qk eine
∞
∞
[
[
Ausschöpfung von M . Es gilt Ak ⊂ Ak+1 und
Ak =
Qk = M .
k=1
k=1
Ist M kompakt, W ein offener Würfel mit M ⊂ W , dann ist W \ M offen, hat also eine Ausschöpfung
(Bk ) wie oben. Mit Ak := cl (W \ Bk ) erhält man eine Ausschöpfung von M mit Ak ⊃ Ak+1 und
∞
\
Ak = M .
k+1
Es gilt:
Satz 3.5.3 (a) Sei M offen und (Ak ) eine Ausschöpfung von M . M ist genau dann meßbar, wenn
v(Ak ) beschränkt ist. Es gilt dann
v(M ) = lim v(Ak ) = sup v(Ak ).
k→∞
k∈IN
(b) Sei M kompakt und (Ak ) eine Ausschöpfung von M . Dann gilt
v(M ) = lim v(Ak ) = inf v(Ak ).
k→∞
k∈IN
Für das Volumen gilt die Translationsinvarianz:
Satz 3.5.4 (a) Sei f auf IRn Lebesgue-integrierbar, a ∈ IRn beliebig. Dann ist auch g : IRn → IR mit
g(x) := f (x − a) Lebesgue-integrierbar mit
Z
Z
g(x) dx =
f (x) dx.
IRn
IRn
(b) Ist M meßbar, dann auch M + a und es gilt v(M ) = v(M + a).
Im folgenden sollen für einige Beispiele die Integrale bestimmt werden. Das wesentliche Hilfsmittel,
das diese Aufgabe auf iterierte Integrale einer Variablen und damit auf mehrfache Anwendung des
Hauptsatzes der Differential- und Integralrechnung zurückführt, ist der Satz von Fubini, der hier im
Vorgriff in einem Spezialfall zitiert und angewendet werden soll.
3. Lebesgue-Integration im IRn
41
Satz 3.5.5 Sei M = X ×Y ⊂ IRn kompakt oder offen und beschränkt und f : M → IR auf M beschränkt
und stetig. Zu jedem y ∈ Y sei die Schnittmenge M y definiert durch
My := {x ∈ X; (x, y) ∈ M }
und
F (y) :=
Z


falls My 6= ∅
f (x, y) dx
My
0
sonst
Dann ist F (y) über Y integrierbar, und es gilt
Z
Z
Z Z
f (x, y) d(x, y) =
F (y) dy =
M
.
Y
Y
My
f (x, y) dx dy.
Beispiele 3.5.6 (1) Sei M das Rechteck [a, b] × [c, d] ⊂ IR 2 . Für alle y ∈ Y = [c, d] gilt My = [a, b].
Für stetiges f : M → IR folgt
Z
Z dZ b
f (x, y) d(x, y) =
f (x, y) dx dy.
M
c
a
(2) Sei M ⊂ p
IR2 der Kreis
p mit Mittelpunkt 0 und Radius r. Für y ∈ Y = [−r, r] ist
My = [− r 2 − y 2 , r 2 − y 2 ]. Für stetiges f : M → IR folgt
Z r Z √r2 −y2
Z
f (x, y) d(x, y) =
f (x, y) dx dy.
√
M
Z.B. für f ≡ 1 ergibt sich
−r
Z
M
f (x, y) d(x, y) = 2
r 2 −y 2
−
Z
r
−r
p
r 2 − y 2 dy = πr 2 .
(3) Mit der charakteristische Funktion von M ergibt sich das Volumen von M ⊂ IR p × IRq (mit
p + q = n) durch
Z
vn (M ) =
vp (My ) dy.
IRq
(a) Sei M ⊂ IR3 die Kugel p
mit Mittelpunkt 0 und Radius r. Für y ∈ Y = [−r, r] ist My die
Kreisscheibe mit Radius r 2 − y 2 , also der Fläche π(r 2 −y 2 ). Damit ergibt sich das Volumen
der Kugel aus
Z
Z r
4
v(M ) =
EM (x, y) d(x, y) = π
(r 2 − y 2 ) dy = πr 3 .
3
IRn
−r
(b) Ist X ⊂ IRn−1 kompakt oder offen und beschränkt (also meßbar) und h > 0, dann heißt die
Menge M := B × [0, h] gerader Zylinder mit Basis B. M hat das Volumen
Z
Z h
v(M ) = EM (x, y) d(x, y) =
vn−1 (B) dy = h · vn−1 (B).
0
Ein gerader Kreiszylinder z.B. hat das Volumen πr 2 · h.
3. Lebesgue-Integration im IRn
42
(c) Ist X ⊂ IRn−1 kompakt oder offen und beschränkt und h > 0, dann heißt die Menge
y
M := {(x, y) ∈ IRn ; y ∈ [0, h], x ∈ 1 − B}
h
y
B das
Kegel mit Basis B und Höhe h. Für y ∈ [0, h] hat die Schnittmenge My = 1 −
h
(n − 1)-dimensionalen Volumen
y n−1
vn−1 (My ) = 1 −
· vn−1 (B).
h
M hat daher das Volumen
Z
Z
v(M ) =
EM (x, y) d(x, y) =
M
0
Z.B. das Standardsimplex
h
1−
h
y n−1
· vn−1 (B) dy = · vn−1 (B).
h
n
M = {x ∈ IRn ; ξi ≥ 0, 1 ≤ i ≤ n,
hat das Volumen vn (M ) =
n
X
ξi = 1}
i=1
1
.
n!
Bemerkung 3.5.7 Aus der Formel in Beispiel 3.5.6 (3) ergibt sich das Prinzip von Cavalieri:
Zwei kompakte Mengen M1 und M2 haben dasselbe Volumen, wenn die Schnittmengen M 1y und M2y
für jedes y ∈ IRq dasselbe p-dimensionale Volumen haben (mit n = p + q).
Von besonderer Bedeutung für das Verständnis des Lebesgue-Integrals (im Vergleich zum RiemannIntegral) sind (meßbaren) Mengen im IR n mit Maß 0. Sie heißen auch kurz Nullmengen.
Es gilt
Satz 3.5.8
(a) M ist Nullmenge genau dann, wenn kE M k1 = 0.
(b) Jede Teilmenge einer Nullmenge ist (meßbar und selbst) Nullmenge.
(c) Die Vereinigung abzählbar vieler Nullmengen ist eine Nullmenge.
Beispiele 3.5.9 (1) Ist M ⊂ IRn−1 abgeschlossen oder offen, f : M → IR stetig in M . Dann ist der
Graph von f eine Nullmenge im IRn .
(2) Jede Hyperebene im IRn ist eine Nullmenge.
(3) Seien U, V offene Teilmengen des IR n . Eine bijektive Abbildung d : U → V heißt Diffeomorphismus, wenn d und d−1 auf U bzw. V stetig differenzierbar sind.
Eine nichtleere Menge M ⊂ IRn heißt k-dimensionale (differenzierbare) Untermannigfaltigkeit
im IRn , wenn es zu jedem a ∈ M eine Umgebung U ⊂ IRn und einen Diffeomorphismus d : U → V
auf eine offene Menge V ⊂ IRn gibt mit
d(M ∩ U ) = IRk ∩ V.
Jede kompakte Teilmenge einer Untermannigfaltigkeit ist Nullmenge.
3. Lebesgue-Integration im IRn
43
Gilt eine Eigenschaft für alle Elemente einer Menge M außer für die Elemente einer Teilmenge vom
Maß Null, dann sagt man, die Eigenschaft gilt in M fast überall.
Die Rolle der Nullmengen als zulässige Ausnahmemengen für die Lebesgue-Integration zeigt
Satz 3.5.10 Seien f, g : IRn → IR ∪ {∞} Funktionen.
(a) Gilt kf k1 < ∞, dann sind die Funktionswerte von f fast überall reell, d.h.
N := {x ∈ IRn ; f (x) = ∞} ist eine Nullmenge. Speziell gilt dies für jede Lebesgue-integrierbare
Funktion.
(b) Gilt fast überall f (x) = g(x) und ist f Lebesgue-integrierbar, dann ist auch g Lebesgue-integrierbar,
und es gilt
Z
Z
f (x) dx =
g(x) dx.
(c) Ist f über A, B ⊂ IRn Lebesgue-integrierbar und A ∩ B eine Nullmenge, dann ist f über A ∪ B
Lebesgue-integrierbar mit
Z
Z
Z
f (x) dx =
f (x) dx +
f (x) dx.
A∪B
A
B
(d) Zu f gibt es eine auf IRn Lebesgue-integrierbare Funktion f 1 : IRn → IR, die fast überall mit f
übereinstimmt und deren Integralwert gleich dem von f ist.
(e) Die Funktionswerte sind fast überall Null genau dann, wenn kf k1 = 0.
3.6
Vollständigkeit, gliedweise Integration
Die Lebesgue-integrierbaren Funktionen sind nach Definition Grenzfunktionen von Folgen von Treppenfunktionen bezüglich der L1 -Halbnorm. Wir wollen zeigen, daß eine bezüglich dieser Halbnorm konvergente Folge von Lebesgue-integrierbaren Funktionen wieder Lebesgue-integrierbar ist, also die Menge
L1 (IRn ) dieser Funktionen abgeschlossen gegen eine derartige Grenzwertbildung ist.
Wir beschreiben den Konvergenzvorgang genauer:
Definition 3.6.1 Sei (fk ) eine Folge von auf IRn definierten Funktionen.
(a) Die Folge heißt L1 -konvergent gegen die Funktion f : IR n → IR ∪ {∞}, den L1 -Grenzwert,
wenn
lim kf − fk k1 = 0.
k→∞
(b) (fk ) heißt L1 -Cauchyfolge, wenn es zu jedem > 0 ein N ∈ IN gibt mit
kfk − fm k1 < für k, m ≥ N.
3. Lebesgue-Integration im IRn
44
Bemerkungen 3.6.2 (1) Der L1 -Grenzwert einer L1 -konvergenten Folge ist nicht eindeutig bestimmt.
Zwar gilt für zwei L1 -Grenzwerte f, f ∗ derselben Folge kf − f ∗ k1 = 0, aber das bedeutet nur, daß
beide Funktionen fast überall gleich sind.
(2) Der Konvergenzprozeß ist linear, d.h. für beliebige L1 -konvergente Folgen (fk ) und (gk ) mit L1 Grenzwerten f und g und beliebige α, β ∈ IR ist die Folge (αf k +βgk ) L1 -konvergent mit Grenzwert
αf + βg.
(3) Wie bei Zahlenfolgen gilt: Jede L 1 -konvergente Folge ist auch L1 -Cauchyfolge.
Die Umkehrung der letzten Bemerkung für Lebesgue-integrierbare Funktionen liefert
Satz 3.6.3 (Riesz-Fischer) Jede L1 -Cauchyfolge (fk ) ⊂ L1 (IRn ) ist L1 -konvergent mit einem L1 Grenzwert f ∈ L1 (IRn ). Weiter gilt:
Z
Z
fk (x) dx.
(a)
f (x) dx = lim
k→∞
(b) Eine geeignete Teilfolge von (fk ) konvergiert fast überall punktweise gegen f .
Bemerkungen 3.6.4 (1) Zu jeder natürlichen Zahl k existieren eindeutig bestimmte nichtnegative
ganze Zahlen p und q mit k = 2p + q und q < 2p . Es sei
Ik := [q · 2−p , (q + 1) · 2−p ],
Dann gilt
kfk k1 =
Z
fk (x) dx = 2−p
→0
fk := EIk .
für k → ∞.
(fk ) ist also eine L1 -Nullfolge, konvergiert aber für kein x ∈ [0, 1]. In Satz 3.6.3(b) darf man also
nicht Teilfolge“ durch Folge“ ersetzen.
”
”
(2) Jede Lebesgue-integrierbare Funktion ist nach Definition L 1 -Grenzwert einer Folge von Treppenfunktionen. Man findet sogar eine Folge (ϕ k ) von Treppenfunktionen mit L1 -Grenzwert f und
∞
X
kϕk+1 − ϕk k1 < ∞, die fast überall punktweise gegen f konvergiert.
k=1
(3) Wie gezeigt, ist k k1 keine Norm, da sie nicht definit ist. Sei nun
N := {f ∈ L1 (IRn ); kf k1 = 0}.
N ist Untervektorraum von L1 (IRn ), d.h. der Quotientenraum
L1 (IRn ) := L1 (IRn )/N
ist ein Vektorraum, und für jede Äquivalenzklasse f + N von f wird durch
kf + N k1 := kf k1
eine Norm auf L1 (IRn ) definiert. L1 (IRn ) ist also nach Satz 3.6.3 ein vollständiger normierter
Vektorraum, d.h. ein Banachraum.
3. Lebesgue-Integration im IRn
45
Als Verallgemeinerung von Satz 3.4.8 ergibt sich die nächste Aussage über die gliedweise Integration
monoton wachsender Folgen:
Satz 3.6.5 (Beppo Levi) Sei (fk ) eine monoton wachsende Folge Lebesgue-integrierbarer Funktionen
auf IRn . Die punktweise
gebildete Grenzfunktion f ist genau dann Lebesgue-integrierbar, wenn die Folge
Z
der Integrale
fk (x) dx beschränkt ist. In diesem Fall gilt
Z
f (x) dx = lim
k→∞
Z
fk (x) dx.
Zur Messung von Flächen und Volumina, also allgemein dem Maß einer Menge M , benutzten schon
in der Antike Eudoxos und Archimedes Aussch öpfungen, d.h. eine bezüglich der Inklusion monoton
∞
[
wachsende Folge von Teilmengen Mk von M mit
Mk = M . Es gilt
k=1
Satz 3.6.6 Sei f eine auf M ⊂ IRn definierte Funktion, (Mk ) eine Ausschöpfung von M , und f über
jedem Mk Lebesgue-integrierbar. Dann gilt:
Z
f ist über M Lebesgue-integrierbar genau dann, wenn die Folge der Integrale
|f (x)| dx beschränkt ist.
In diesem Fall ist
Z
f (x) dx = lim
Z
k→∞ Mk
M
f (x) dx.
An ein Volumen-Maß v stellt man folgende vernünftige“ Forderungen:
”
(i) v(∅) = 0.
(ii) v ist translationsinvariant, d.h. für jede meßbare Menge M und jede Translation t gilt v(t(M )) =
v(M ).
(iii) Der Einheitswürfel ist meßbar und hat das Maß 1.
(iv) v ist einfach-additiv, d.h. für meßbare Mengen M1 , M2 , deren Durchschnitt eine Nullmenge ist, ist
die Vereinigung meßbar und es gilt v(M 1 ∪ M2 ) = v(M1 ) + v(M2 ).
Die Einfach-Additivität läßt sich natürlich auf endliche Vereinigungen entsprechender Mengen verallgemeinern. Für das Lebesgue-Maß gilt das sogar für abzählbare Vereinigungen, es ist σ-additiv.
Satz 3.6.7 (a) Sei (Mk ) eine bezüglich der Inklusion monoton wachsende Folge von Lebesgue-meßbaren
Mengen im IRn . Ihre Vereinigung ist genau dann Lebesgue-meßbar, wenn die Folge (v(M k )) beschränkt ist. Es gilt dann
∞
[
v
Mk = sup v(Mk ).
k=1
k∈IN
(b) Sei (Mk ) eine Folge Lebesgue-meßbarer Mengen im IRn , so daß für i 6= j der Durchschnitt Mi ∩Mj
∞
X
Nullmenge ist. Ihre Vereinigung ist genau dann Lebesgue-meßbar, wenn
v(Mk ) < ∞. Dann gilt
k=1
v
∞
[
k=1
∞
X
Mk =
v(Mk ).
k=1
3. Lebesgue-Integration im IRn
46
Bemerkungen 3.6.8 (1) Durch die Forderungen (i)-(iii) und die σ-Additivität ist das Lebesgue-Maß
auf IRn eindeutig festgelegt.
(2) Mit Hilfe der σ-Additivität kann man Beispiele von nicht-Lebesgue-integrierbaren Funktionen
konstruieren.
Ein weiterer wichtiger Satz über die gliedweise Integration ist
Satz 3.6.9 (Lebesgue) Sei (fk ) eine Folge über IRn Lebesgue-integrierbarer Funktionen, die fast überall
punktweise gegen eine Funktion f konvergiert, und es gebe eine Lebesgue-integrierbare Funktion h mit
|fk | ≤ h für alle k ∈ IN (Majorante). Dann ist f Lebesgue-integierbar, und es gilt
Z
f (x) dx = lim fk (x) dx.
k→∞
3.7
Der Satz von Fubini, Koordinatentransformationen
Nachdem wir uns Gedanken dazu gemacht haben, welche Funktionen Lebesgue-integrierbar sind, wollen
wir uns in diesem Abschnitt damit beschäftigen, wie man die entsprechenden Integrale ausrechnen kann.
Ursprung unserer heuristischen Betrachtungen waren auf einem Quader definierte stetige Funktionen
und ein bezüglich der Variablen iteriertes Regelintegral. Dabei war die Reihenfolge der Variablen, nach
denen integriert wurde, beliebig.
Der nächste Satz überträgt diese Eigenschaft auf beliebige Lebesgue-integrierbare Funktionen. Dazu
setzen wir in diesem Abschnitt p, q ∈ IN mit p + q = n, X := IR p und Y := IRq , d.h. X × Y = IRn .
Satz 3.7.1 (Fubini) Sei f eine auf X × Y integrierbare Funktion und für jedes y ∈ Y sei f(y) die auf
X definierte Funktion mit f(y) (x) = f (x, y). Dann gilt:
(a) Es gibt eine Nullmenge N ⊂ Y , so daß für alle y ∈ Y \ N f(y) über X Lebesgue-integrierbar ist.
Z
 f (x, y) dx für y ∈ Y \ N
(b) Die Funktion
F (y) :=
X

0
für y ∈ N
ist über Y Lebesgue-integrierbar und es gilt
Z
Z
f (x, y) d(x, y) =
X×Y
Y
Z
X
f (x, y) dx dy.
Zum Beweis benötigt man z.B.
Satz 3.7.2 Sei M ⊂ X × Y eine Nullmenge. Dann gibt es eine Nullmenge N ⊂ Y , so daß für alle
y ∈ Y \ N die Schnittmenge
My := {x ∈ X; (x, y) ∈ M }
eine Nullmenge in X ist.
Bemerkung 3.7.3 In der Aussage von Satz 3.7.2 ist i.a. M y nur für fast alle y ∈ Y eine Nullmenge.
Zum Beispiel ist M := IR × Q
I ⊂ IR × IR in IR × IR eine Nullmenge, aber für y ∈ Q
I ist My = IR keine
Nullmenge in IR.
3. Lebesgue-Integration im IRn
47
(a) Ist f : IRn → IR positiv und integrierbar, dann ist
Folgerung 3.7.4
M := {(x, y); x ∈ IRn , 0 ≤ y ≤ f (x)} ⊂ IRn+1
(die Punktmenge unterhalb f“ ) meßbar und hat das Volumen
”
Z
vn+1 (M ) =
f (x) dx.
IRn
(b) Ist f über X × Y Lebesgue-integrierbar, dann gilt die Vertauschungsregel
Z Z
Z Z
f (x, y) dy dx =
f (x, y) dx dy.
X
Beispiele 3.7.5
fläche
Y
Y
X
(1) Die Pyramide M mit den Ecken (0, 0, 0), (a, 0, 0), (0, b, 0), (0, 0, c) hat die GrundB = {(x, y); 0 ≤ x ≤ a, 0 ≤ y ≤ b −
und die Deckfläche
f (x, y) :== c −
c
c
x − y,
a
b
b
x}
a
(x, y) ∈ B,
also das Volumen
v(M ) =
Z
f (x, y) d(x, y) =
B
Z
a
x=0
bzw.
v(M ) =
Z
b
y=0
Z
a− ab y
x=0
Z
b− ab x y=0
c−
c−
c
c abc
x − y dy dx =
a
b
6
c
c abc
x − y dx dy =
.
a
b
6
(2) Ist B der Teil des Kreise um den Ursprung mit Radius r im 1. Quadranten (Viertelkreis),
f (x, y) := x3 y 2 , (x, y) ∈ B. Dann ist
v(M ) =
Z
f (x, y) d(x, y) =
B
bzw.
v(M ) =
Z
r
y=0
Z
r
x=0
Z √r2 −y2
x=0
Z √r2 −x2
y=0
1
x y dy dx =
3
3 2
1
x y dx dy =
4
3 2
Z
r
y=0
Z
r
x=0
x3 (r 2 − x2 )3/2 dx =
(r 2 − y 2 )2 · y 2 dy =
2 7
r
105
2 7
r .
105
(3) Sei B die Kugel im IRn mit Mittelpunkt 0 und Radius r, f : IR 3 → IR mit f ≡ 1. Der Schnitt der
Kugel mit der Ebene in Höhe z, −r ≤ z ≤ r, ist eine Kreisscheibe B 2,z . Für das Volumen der
Kugel ergibt sich
!
Z
Z r Z
4
κ3 := v(B) =
f (x, y, z) d(x, y, z) =
d(x, y) dz = πr 3 .
3
B
−r
B2,z
(4) Ist in einem Gebiet G ⊂ IR3 die Massenverteilung durch die Dichtefunktion“ ρ(x, y, z) gegeben,
”
dann erhält man die Gesamtmasse m(G) und die Koordinaten (x S , yS , zS ) des Schwerpunkts
durch
Z
Z
1
m(G) :=
ρ(x, y, z) d(x, y, z),
xS :=
x · ρ(x, y, z) d(x, y, z),
m(G) G
G
Z
Z
1
1
yS =
y · ρ(x, y, z) d(x, y, z), zS =
z · ρ(x, y, z) d(x, y, z).
m(G) G
m(G) G
3. Lebesgue-Integration im IRn
48
Für den Schwerpunkt S = (xS , yS , zS ) der quadratischen Pyramide B mit Spitze im Ursprung,
die durch
ax
ax
ax
ax
B = {(x, y, z); 0 ≤ x ≤ h, −
≤y≤
,−
≤z≤
}
2h
2h
2h
2h
beschrieben wird, und ρ(x, y, z) ≡ 1 gilt v := v(B) = m(B) und
Z
Z
Z
1
1
1
xS =
x d(x, y, z), yS =
y d(x, y, z), zS =
z d(x, y, z).
v B
v B
v B
Mit v =
3
a2 h
erhält man xS = h, yS = zS = 0.
3
4
(5) Ist G ⊂ IR3 ein räumliches Gebiet mit Massendichte ρ(x, y, z) und ist δ(x, y, z) der Abstand eines
Punktes (x, y, z) ∈ IR3 von einer festen Achse g, dann wird das Tr ägheitsmoment von G um die
Achse g definiert durch
Z
Tg :=
δ 2 (x, y, z) · ρ(x, y, z) d(x, y, z).
G
Für den geraden, bzgl. der (x, y)-Ebene symmetrischen Kreiszylinder B der Höhe h mit z-Achse
h
h
als Achse und Grundkreisradius r gilt − ≤ z ≤ . Hat der Zylinder die konstante Massendichte
2
2
1, dann ist das Trägheitsmoment bezüglich der x-Achse gegeben durch
Tx =
Z
2
2
(y + z ) d(x, y, z) =
B
Z
r
x=−r
Z √r2 −x2
√
y=− r 2 −x2
Z
h/2
(y 2 + z 2 ) dz dy dx =
z=−h/2
πhr 2
(3r 2 + h2 ).
12
Die Anwendbarkeit des Satzes von Fubini setzt die Lebesgue-Integrierbarkeit der Funktion auf X × Y
voraus. Ein gutes Kriterium dafür gibt
Satz 3.7.6 (Tonelli) Die Funktion f : X × Y → IR sei fast überall auf X × Y stetig oder sie sei
lokal-integrierbar (d.h. über jeder kompakten Teilmenge von X × Y Lebesgue-integrierbar). Dann ist sie
genau dann über X × Y Lebesgue-integrierbar, wenn wenigstens eins der Lebesgue-Integrale
Z Z
Z Z
|f (x, y)| dy dx
oder
|f (x, y)| dx dy
X
Y
existiert (d.h. z.B. die Funktion F (x) =
Y
Z
Y
X
|f (x, y)| dy existiert für fast alle x ∈ X und die triviale
Fortsetzung von F auf X ist über X Lebesgue-integrierbar). In diesem Fall gilt der Satz von Fubini und
die Vertauschungsregel.
Muß man ein Anwendungsproblem lösen, dann hat man oft bei der mathematischen Modellierung
Wahlmöglichkeiten. Zum Beispiel kann man einen Körper, dessen Volumen, Masse, Schwerpunkt oder
Trägheitsmoment bestimmt werden soll, durch Koordinaten unterschiedlicher Koordinatensysteme beschreiben. Die Darstellung eines Körpers kann relativ kompliziert oder bei Koordinaten, die dem Problem
sehr gut angepaßt sind, relativ einfach sein.
Das Integral ist mit Hilfe von Quadern, also mit Hilfe kartesischer Koordinaten definiert. Übergang zu
anderen Koordinaten bedeutet, daß auch das Volumelement“ dx transformiert werden muß. Der folgen”
de Satz gibt dafür die entsprechende Transformationsformel an und ist daher ein wichtiges Hilfsmittel,
um Integrale mit möglichst wenig Aufwand zu berechnen.
3. Lebesgue-Integration im IRn
49
Satz 3.7.7 Seien U, V ⊂ IRn offene Teilmengen, T : U → V ein Diffeomorphismus, d.h. eine bijektive,
stetig differenzierbare Funktion mit nirgends verschwindender Funktionaldeterminante det T 0 (x) .
Eine auf V definierte
Funktion f ist genau integrierbar über V , wenn die auf U definierte Funktion
(f ◦ T ) · | det T 0 (x) | auf U integrierbar ist. Dann gilt
Z
Z
f (y) dy =
f T (x) det T 0 (x) dx.
B
A
Bemerkung 3.7.8 Betrachtet man für eine Riemann-integrierbare Funktion f zunächst Riemannsche
Summen, dann erscheint die Transformationsformel plausibel: Sei U Vereinigung kleiner Quader Q k ,
d.h. V Vereinigung von krummlinigen Parallelotopen“ Pk := T (Qk ). Ist f in Pk nahezu konstant, T
”
dort nahezu affin, dann ist mit xk ∈ Qk , yk := T (xk ) ∈ Pk
Z
X
f (y) dy ≈
f (yk ) · v(Pk ).
V
Pk hat näherungsweise das Volumen v(Pk ) = | det T 0 (xk )| · v(Qk ), d.h. es gilt
X
X
f (yk ) · v(Pk ) ≈
f T (xk )
Folgerung 3.7.9 (a) Sei T : IRn → IR eine bijektive affine Transformation, d.h. T (x) = A · x + b mit
einer reellen (n, n)-Matrix A und b ∈ IRn . Ist f über einer Menge M ∈ IRn Lebesgue-integrierbar,
dann auch f ◦ T über T −1 (M ) und es gilt
Z
Z
f (y) dy = | det A| ·
f (Ax + b) dx.
M
T −1 (K)
(b) Mit f ≡ 1 ergibt sich: Mit M ist auch T (M ) meßbar und es gilt
v T (M ) = | det A| · v(M ).
Damit folgt für meßbare Mengen die Homogenität des Volumens
v(λM ) = |λ|n · v(M ).
Bemerkungen 3.7.10 Neben den kartesischen Koordinaten sind für die Anwendungen die Polarkoordinaten im IR2 und die Zylinder- und Kugelkoordinaten im IR 3 wichtig. Die Funktionaldeterminanten
der entsprechenden Transformationen müssen natürlich nur einmal berechnet werden und stehen dann
zur Verfügung.
z
P0
(1) Jeder Punkt
der (x, y)-Ebene (außer dem Nullpunkt) läßt sich
umkehrbar eindeutig durch den Abstand r 0 vom Nullpunkt und
den Winkel φ0 , den der Verbindungsstrahl vom Nullpunkt zu P 0
mit der positiven x-Achse einschließt und der von der x-Achse aus
gegen den Uhrzeigersinn gemessen wird, beschreiben. Damit kann
man jeden Punkt P des Raums mit den kartesischen Koordinaten
(x, y, z) (außer den Punkten der z-Achse) durch die drei Zylinderkoordinaten r, ϕ und z umkehrbar eindeutig beschreiben.
Für r = 0 wird kein ϕ-Wert festgelegt.
z
6
bP
y
ϕ
x
x
r
b
P0
y
3. Lebesgue-Integration im IRn
50
Für die Transformation T auf Zylinderkoordinaten gilt
T : [0; ∞) × [0; 2π) × IR → IR3
mit T (r, ϕ, z) := (r cos ϕ, r sin ϕ, z)
mit der Funktionaldeterminante r. Sie ist nur auf der z-Achse gleich Null.
T −1 : IR3 → [0; ∞) × [0; 2π) × IR mit

y


arctan x


π



2

p
y
−1
2
2
T (x, y, z) := ( x + y , ϕ, z) und ϕ = arctan + π
x


3π





2


arctan y + 2π
x
Die Umkehrabbildung ist
für x > 0, y > 0
für x = 0, y > 0
für x < 0
.
für x = 0, y < 0
für x > 0, y < 0
(2) Für die Transformation auf Polarkoordinaten gilt analog
T : [0; ∞) × [0; 2π) → IR2
mit T (r, ϕ) := (r cos ϕ, r sin ϕ)
mit Funktionaldeterminante r.
z
(3) Sei P ein beliebiger Punkt P des Raums (außer dem Nullpunkt)
6
0
z p
und P die Projektion auf die (x, y)-Ebene. P läßt sich umkehrbar eindeutig durch den Abstand r vom Nullpunkt, den Winkel
bP
ϕ, den der Verbindungsstrahl vom Nullpunkt zu P 0 mit der por
sitiven x-Achse einschließt und der von der x-Achse aus gegen
r sin θ ]θ
den Uhrzeigersinn gemessen wird, und den Winkel θ, den der
y
y
ϕ
Strahl vom Nullpunkt zu P mit seiner Projektion auf die (x, y) r cos θ
pb
Ebene einschließt, beschreiben. Damit kann man jeden Punkt
x
P0
des Raums mit den kartesischen Koordinaten (x, y, z) (außer
x
dem Nullpunkt) durch die drei Kugelkoordinaten r, ϕ und θ
beschreiben.
Für die Transformation T auf Kugelkoordinaten gilt
π π
T : [0; ∞) × [0; 2π) × [− ; ] → IR3
mit T (r, ϕ, θ) := (r cos ϕ cos θ, r sin ϕ cos θ, r sin θ)
2 2
mit der Funktionaldeterminante r 2 cos θ.
π π
T −1 : IR3 → [0; ∞) × [0; 2π) × [− ; ] mit
2 2
p
z
T −1 (x, y, z) := ( x2 + y 2 + z 2 , ϕ, arcsin ) und ϕ wie bei den Zylinderkoordinaten..
r
Die Umkehrabbildung ist
Beispiele 3.7.11
(1) Wählt man für einen geraden Kreiszylinders mit Radius R und Höhe h die z-Achse als Achse und
die (x, y)-Ebene als Boden, dann hat er in Zylinderkoordinaten die Darstellung
{(r, φ, z); 0 ≤ r ≤ R, 0 ≤ φ < 2π, 0 ≤ z ≤ h}.
Sein Volumen ist
v=
Z
R
r=0
Z
2π
φ=0
Z
h
z=0
r dz dφ dr =
R2
· 2π · h = πR2 h.
2
3. Lebesgue-Integration im IRn
51
(2) Wählt man für eine Kugel mit Radius R den Kugelmittelpunkt als Ursprung, dann hat die Kugel
π
π
in Kugelkoordinaten die Darstellung (r, φ, θ), 0 ≤ r, 0 ≤ φ < 2π, − ≤ θ ≤ . Ihr Volumen ist
2
2
Z R Z 2π Z π/2
4
1 · r 2 cos θ dθ dφ dr = · πR3 .
v=
3
r=0 φ=0 θ=−π/2
(3) Für die Halbkugel G = {(x, y, z); x2 + y 2 + z 2 < R2 , z > 0} mit homogener Massenverteilung
ρ ≡ 1 erhält man bezüglich der Zylinderkoordinatendarstellung die Schwerpunktkoordinaten
xS = 0,
yS = 0,
zS =
3
R
8
und das Trägheitsmoment bezüglich der z-Achse
Tz =
Z
2
2
(x + y ) d(x, y, z) =
G
Z
R
z=0
Z
2π
ϕ=0
√
R2 −z 2
Z
r=0
r 2 · r dr dϕ dz =
4
πR5 .
15
(4) Für die Kugelschale G := {(x, y, z); R1 2 < x2 + y 2 + z 2 < R2 2 } mit homogener Massenverteilung
ρ ≡ 1 erhält man bezüglich der Kugelkoordinatendarstellung das Trägheitsmoment bezüglich der
z–Achse
Z
Z R2 Z 2π Z π/2
2
2
(x + y ) d(x, y, z) =
r 2 cos2 θ · r 2 cos θ dθ dϕ dr
Tz =
G
2π
(R2 5 − R1 5 )
5
=
Z
r=R1
π/2
ϕ=0
cos3 θ dθ =
−π/2
θ=−π/2
8
π R2 5 − R 1 5 .
15
Aus Symmetriegründen ergibt sich bei der Kugelschale dieses Trägheitsmoment um jede Achse
durch den Nullpunkt.
(5) Wir wollen das (für die Wahrscheinlichkeitsrechnung wichtige) konvergente, aber nicht mit Hilfe
von Stammfunktionen berechenbare uneigentliche Integral
Z ∞
2
e−x dx
I :=
0
bestimmen. I 2 kann man formal als iteriertes Integral im IR 2 mit Integrationsgebiet G∗ = {(x, y)| 0 <
x < ∞, 0 < y < ∞} schreiben:
2
I =
Z
∞
0
e
−x2
dx
2
=
Z
0
∞
e
−x2
Z
dx ·
∞
e
0
−y 2
dy
=
Z
∞
x=0
Z
∞
y=0
e
−x2 −y 2
dy dx.
π
Übergang zu Polarkoordinaten mit G = {(r, ϕ)| 0 < r < ∞, 0 < ϕ < } und Funktionaldetermi2
nanten r > 0 ergibt
!
Z
Z ∞ Z π/2
π
2
2
I2 =
e−r r d(r, ϕ) =
re−r dϕ dr =
4
G
r=0
ϕ=0
und damit
I=
1√
π.
2
3. Lebesgue-Integration im IRn
(6) Die uneigentlichen Integrale
Z
1
e
−t
0
·t
x−1
dt
Z
und
∞
1
e−t · tx−1 dt
existieren für alle x > 0, und damit ist die Gamma-Funktion
Z ∞
Γ(x) :=
e−t · tx−1 dt
0
für alle x > 0 definiert. Wegen der für sie geltenden Funktionalgleichung
Γ(x + 1) = x · Γ(x)
und Γ(1) = 1 gilt
Γ(n + 1) = n!,
die Gammafunktion ist also eine stetige Fortsetzung der Fakultätsfunktion n! von IN auf IR+ .
√
1
Aus Beispiel (5) folgt Γ( ) = π.
2
Als Verallgemeinerung von Beispiel (5) ergibt sich weiter (mit der euklidischen Norm k k)
Z
Z
n
2
−kxk2
e
dx =
e−t dt = π n/2 .
IRn
IR
(7) Die n-dimensionale Einheitskugel
Bn := {x ∈ IRn ; kxk ≤ 1}
im euklidischen Raum IRn ist meßbar und hat das Volumen
κn = v(Bn ) =
π n/2
.
Γ(1 + n/2)
Es gilt
lim v(Bn ) = 0.
n→∞
52

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