Einführung in die Sprachwissenschaft Jan Eden Morphologie 1

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Einführung in die Sprachwissenschaft Jan Eden Morphologie 1
Einführung in die Sprachwissenschaft
Jan Eden
Morphologie 1: Wörter und Wortbestandteile
Sprachliche Äußerungen lassen sich auf mehreren Ebenen zerlegen (segmentieren). Die Syntax
befasst sich mit dem Aufbau von Phrasen und Sätzen aus Wörtern, die Phonologie mit dem
Aufbau von sprachlichen Ausdrücken aus Lauten. Damit sind allerdings nicht alle Strukturaspekte
von Sprache abgedeckt. Die folgende Segmentierung von Wörtern ist weder phonologisch noch
syntaktisch:
(1)
a. Baumstamm → Baum-stamm
b. Scheidung → Scheid-ung
c. fühlst → fühl-st
Mit der in (1) illustrierten inneren Struktur von Wörtern befassen sich in traditionellen Grammatiken die Wortbildungslehre und die Formenlehre. Die Wortbildungslehre betrachtet die Bildung
neuer Wörter aus bestehenden Wörtern und Wortteilen (vgl. (i/ii), die Formenlehre untersucht
die Bildung der verschiedenen Flexionsformen von Wörtern ([ich] fühl-e, [du] fühl-st, [das] Vogelnest, [des] Vogelnest-es).
Innerhalb der modernen Sprachwissenschaft beschäftigt sich die Morphologie mit diesem Gegenstandsbereich. Sie untersucht die Eigenschaften komplexer Wörter, d.h. ihren Aufbau aus kleineren Elementen und die Regeln, die die Kombinatorik dieser Elemente steuern.
Vor einer Untersuchung der Struktur von Wörtern sollte man sich klar machen, was ein Wort
ist. Allerdings liefert unsere eigene Intuition widersprüchliche Hinweise. In einer bestimmten
Hinsicht sind folgende Elemente Formen desselben Wortes:
(2)
a. fange an
b. anfing
c. anfangt
Gleichzeitig kann man die drei Formen als jeweils ein Wort betrachten. Unter einem anderen
Aspekt besteht das Datum (2a) sogar aus zwei Wörtern.
Das Problem liegt in der vortheoretischen Unschärfe des Gegenstandsbereiches: Es gibt keine
klar umgrenzte Realie „Menge aller Wörter“. Eine Realdefinition – d.h. ein Prinzip, nach dem
eindeutig entschieden werden kann, was ein Wort ist – ist daher nicht möglich.
Um den verschiedenen Aspekten der Bezeichnung „Wort“ gerecht zu werden, verwendet man im
Rahmen der Morphologie mehrere Nominaldefinitionen, die einen bestimmten Aspekt unserer
Intuition über Wörter erfassen. Die auf unserem intuitiven Verständnis beruhenden Nominaldefinitionen können letztlich dazu dienen, unsere Intuition zu ergänzen und den vortheoretisch
unscharfen Gegenstandsbereich abzugrenzen.
1
Meist werden vier Nominaldefinitionen verwendet:
• Die Intuition, dass alle Flexionsformen eines Wortes Repräsentanten desselben Wortes sind,
spiegelt das Konzept des lexikalischen Wortes oder Lexems (LW) wieder. Jedes Lexem hat
einen eigenen Lexikoneintrag, in dem alle flektierten Wortformen des jeweiligen Wortes
und eine Wortartmarkierung (sowie syntaktisch relevante Informationen) enthalten sind.
Die Gruppe der lexikalischen Wörter gliedert sich in die geschlossene Klasse der Funktionswörter (Präpositionen, Pronomina usw.) und die offene der Inhaltswörter (Begriffe).
• Gleichzeitig stellt auch jede einzelne Wortform ein Wort dar, das als flexivisches Wort (FW)
bezeichnet wird.
• Bestimmte flexivische Wörter können im Satzkontext getrennt auftreten:
– [ich] fange [mit der Arbeit] an
In diesem Fall bilden beide Bestandteile des FW fange an jeweils ein syntaktisches Wort
(SW). Das SW wird also verwendet, um die Aufteilung bestimmter flexivischer Verbformen
auf unterschiedliche syntaktische Positionen zu kennzeichnen.
• Das Gegenteil einer solchen Aufteilung ist die Verschmelzung mehrere (syntaktischer) Wörter zu einer lautlichen Einheit:
– an dem → am
– an das → ans
– in das → ins
Das Ergebnis einer solchen Verschmelzung bezeichnet man als phonologisches Wort (PW).
Die Bausteine, aus denen sich Wörter zusammensetzen, werden als Morpheme bezeichnet und
traditionell definiert als die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten einer Sprache. Morpheme
können demnach – anders als die meisten Wörter – nicht weiter in kleinere Einheiten mit bestimmter Lautung und bestimmter Bedeutung zerlegt werden. Aus dieser Definition ergibt sich
eine morphologische Struktur von Wörtern:
(3)
a. Milchtopf → Milch-topf
b. Hanswurst → Hans-wurst
Die Bestandteile milch, topf, hans und wurst lassen sich nicht weiter zerlegen, ohne dass sie ihre
spezifische Bedeutung verlieren. Folgende Segmentierung ist deshalb unzulässig:
(4) M-ilch, Kn-ilch
Die Lautfolge ilch ist kein Morphem des Deutschen, da es keine Bedeutung trägt. Etwas anders
liegt der Fall bei der Lautfolge [Ras]. Sie tritt in folgenden Wörtern auf:
2
(5) Rassehund, Trasse, Strassschmuck
Nur im Wort Rassehund repräsentiert sie das Morphem rass- mit der ungefähren Bedeutung „die
Abstammung betreffend“. In den anderen Wörtern hat die Lautfolge keine bestimmte Bedeutung
und repräsentiert damit kein Morphem.
Mit der Definition von Morphemen als bedeutungstragende Einheiten lassen sich nicht alle Morpheme. Die unterstrichenen Elemente in folgenden Wörtern würden wir intuitiv als morphologische Bausteine bezeichnen, ohne dass ihnen eine Bedeutung zugeordnet werden könnte:
(6)
a. glimpflich, Schornstein
b. schlafen
c. Es darf getanzt werden
Während sich die Bedeutung unikaler Morpheme (6a) durch sprachgeschichtliche Untersuchungen ermitteln ließe, haben Infinitivendungen (6b) oder grammatisch notwendige Morpheme (6c)
überhaupt keine „Bedeutung“ im klassischen Sinne. Um diese Elemente dennoch zu erfassen,
werden Morpheme in neueren Arbeiten definiert als kleinste, in ihren verschiedenen Vorkommen
als formal einheitlich identifizierbare Folgen von Segmenten, denen (wenigstens) eine als einheitlich identifizierbare außerphonologische Eigenschaft zugeordnet ist. Eine solche Eigenschaft
kann auch eine grammatische Funktion sein, so dass die Bedeutung nur noch eine der Möglichkeiten zur Identifikation von Morphemen ist.
Betrachtet man die Menge der Morpheme des Deutschen, so lassen sich zwei große Klassen unterscheiden:
Wurzeln können ohne ein zusätzliches Morphem (frei) auftreten. Sie bilden dann ein monomorphemisches Wort, das phonetisch mit einer Wurzel identisch ist:
(7) vogel, nest, kind, bett, trink-, fahr-, grau, grün, blau, voll, aus, ein, nur, bauTrotz der phonetischen Identität von Wurzeln und monomorphemischen Wörtern besteht morphologisch in vielen Fällen ein Unterschied: Flektierbare Wurzeln (der Kategorie V, A oder N)
müssen grundsätzlich flektiert werden. Der Eindruck, man könne sie ohne weitere Modifikation
in Sätze einfügen, entsteht durch unhörbare Nullmorpheme:
(8) mensch + [Nominativ Singular] = [der/ein] Mensch
(9) fahr + [Imperativ Singular] = Fahr!
Insofern ist die „Freiheit“ flektierbarer Wurzeln relativ. Im engeren Sinne frei sind lediglich unflektierbare Wurzeln wie Präpositionen (bei, auf, mit).
Gebundene Morpheme können nur in Kombination mit einer Wurzel auftreten:
3
(10)
a.
b.
c.
d.
Brombeere
Schornstein
trinkbar
befindlich
Zu den gebundenen Morphemen zählt man unikale Morpheme wie schorn in Schornstein. Diese
Morpheme treten nur mit einer ganz bestimmten Wurzel – d.h. in einer einzigen Umgebung – auf.
Unikale Morpheme sind aus Wurzeln durch den Verlust der semantischen und anschließend der
morphologischen Selbständigkeit entstanden. Sie werden auch als gebundene Wurzeln bezeichnet.
Dieser Terminus ist allerdings nicht sehr sinnvoll, da Wurzeln per Definition freie Morpheme
sind.
Die Affixe stellen die Mehrheit der gebundenen (Wortbildungs-)Morpheme. Affixe werden je
nach ihrer Position eingeteilt in Präfixe (ver-schicken) und Suffixe (Prüf-ling). Zirkumfixe (umschließende Affixe) und Infixe (engl. un-fucking-believable) treten im Deutschen nicht auf.
Schließlich gehören auch die Flexionsmorpheme (du gehst, ihr lacht, die Hund e, des Mannes),
zu den gebundenen Morphemen.Diese Morpheme sind im Deutschen stets Suffixe. Der Eindruck, bei Partizipien ge-lach-t seien Zirkumfixe beteiligt, trügt: Bei der initialen Lautfolge gehandelt es sich um einen phonologischen Reflex (vgl. die Partizipbildung bei verwend-, bekenn-),
der nichts mit der Flexion selbst zu tun hat. Allerdings werden diese Partizipbildungen und bestimmte Substantivierungen (Gedränge, Geschiebe) teilweise als Beispiele für Zirkumfixe im Deutschen genannt.
Damit ergibt sich folgende Klassifizierung der Morpheme des Deutschen:
Morpheme
freie Morpheme
(Wurzeln)
flektierbar
gebundene
Morpheme
nicht flektierbar
Derivationsmorpheme
(Affixe)
unikale
Morpheme
Flexionsmorpheme
Präfixe Suffixe
In der obigen Darstellung sind die sog. Fugenmorpheme nicht berücksichtigt. Diese Morpheme
haben sich historisch aus Flexionsmorphemen entwickelt:
4
(11)
a. Landesvater → Vater des Landes
b. Freundespflicht → Pflicht eines Freundes
c. Kinderzimmer → Zimmer für Kinder
Allerdings lassen sich viele Fugenmorpheme synchron nicht mehr auf eine flektive Funktion zurückführen. Sie treten nur noch im Rahmen der Wortbildung auf:
(12)
a.
b.
c.
d.
Scheunentor → Tor einer Scheune (6= Tor von Scheunen)
Haltestelle → Stelle, an der ein Halt (*Halte) vollzogen wird
Geburtstag → Tag der Geburt (*Geburts)
Schwanenbraten → Braten vom Schwan (*Schwanen)
Aus diesem Grund lassen sich Fugenmorpheme nicht eindeutig der Wortbildung oder der Flexion
zurechnen. Wir werden sie auch in den Fällen, in denen sie mit Flexionsmorphemen homophon
(gleichklingend) sind, als Fugenmorpheme analysieren.
Quer zu der Unterscheidung zwischen Wurzeln und gebundenen Morphemen steht die Unterscheidung zwischen Wurzeln und Stämmen. Als Wortstamm bezeichnet man die unflektierte
Form eines Wortes. Ein solcher Stamm kann eine Wurzel sein (tier-, geh-, gut-), aber auch eine
zusammengesetzte Form (wie himbeer- oder verschick-). Merke: Wurzeln bestehen nur aus einem
Morphem, Stämme können aus mehreren Morphemen bestehen:
5
Wurzel
lachtrinkglaub-
Stamm
ver-lach-
(flexivisches) Wort
[du] ver-lach-st
−−−−−−−−→
−−−−→
Wortbildung be-trink- Flexion [ihr] be-trink-t
glaub[er] glaub-t
In der Literatur wird teilweise auch die Unterscheidung Stamm und Stammgruppe verwendet,
um die morphologische Terminologie von der Terminologie der historischen Sprachwissenschaft
abzusetzen und terminologische Widersprüche zu vermeiden. „Stamm“ bezeichnet in dieser Terminologie alle nicht-komplexen, freien Morpheme und entspricht damit dem traditionellen Begriff der „Wurzel“. „Stammgruppen“ sind dagegen ausschließlich komplexe, unflektierte Elemente. Es gibt folglich anders als bei der Unterscheidung zwischen Wurzel und Stamm keine Überschneidung der beiden Definitionsbereiche.
Der Verzicht auf den Begriff „Wurzel“ erleichtert auch den Umgang mit Verben und Nomina, die
durch Veränderung ihres Stamms flektieren:
(13)
a. sing-, sang-, sungb. Vater- – Väter-, Bogen- – Bögen-
In diesen Fällen sind mehrere (freie) Morpheme im Lexikoneintrag des jeweiligen Lexems gespeichert.
Das Problem: Alle diese Elemente sind Wurzeln im Sinne der oben dargestellten Taxonomie. Traditionell wird als Wurzel des Lexems allerdings nur dasjenige Morphem bezeichnet, das als
Stamm des Infinitivs (sing-en) bzw. des Nominativ Singular (Buch) auftritt. Dies entspricht
einer Struktur des Lexikons, nach der jedes Lexem durch genau eine Form repräsentiert
wird. Ist z.B. sang- also nur ein Stamm oder auch eine Wurzel?
Die Lösung: Verzichtet man auf die Vorstellung einer bestimmten Wurzel, kann man einfach von
verschiedenen (gleichberechtigten) Stammformen desselben Lexems ausgehen. Alle freien
Morpheme sind Stämme, die sich mit Wortbildungsaffixen zu Stammgruppen kombinieren
lassen.
Morpheme sind abstrakte Einheiten, die in sprachlichen Äußerungen durch Morphe realisiert
werden. Das Pluralmorphem z.B. wird im Deutschen durch folgende Morphe ausgedrückt:
(14)
a.
b.
c.
d.
e.
Rind-er
Bett-en
Auto-s
Boot-e
Bote-n
6
Die Realisierung eines Morphems durch verschiedene Morphe bezeichnet man als Allomorphie:
-er, -en, -s, -e und -n sind Allomorphe des Pluralmorphems.
Die Identifizierung von Morphemen innerhalb eines Wortes erfolgt in zwei Schritten: Segmentierung und Klassifizierung. Zunächst werden die Morphe innerhalb des Wortes identifiziert, dann
werden diese Einheiten den zu Grunde liegenden Morphemen zugeordnet.
Segmentierung: Geburt-s-tag-s-fest-e
Klassifizierung: Geburt (Wurzel), s (Fugenmorphem), tag (Wurzel), s (Fugenmorphem), fest (Wurzel), e (Flexionsmorphem/Plural)
Hausaufgaben:
Worin besteht die morphologische Gemeinsamkeit der folgenden Wörter?
• dass, auf, doch, nein, gern, nur
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