T-0057 - Die Geistige Evolution nach Sri Aurobindo - heinz

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T-0057 - Die Geistige Evolution nach Sri Aurobindo - heinz
Heinz Kappes
„Die Geistige Evolution des Menschen
nach Sri Aurobindo“
Vortrag anläßlich der zehnten Feier
zum Gedächtnis an Sri Aurobindo´s Tod (1950)
am 05. 12. 1960 in Stuttgart
Heinz Kappes: „Die Geistige Evolution des Menschen nach Sri Aurobindo“
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Die Niederschrift des Vortrags folgt dem gesprochenen Wort. Sämtliche Zitate, soweit als solche
erkennbar, wurden in Anführungszeichen gesetzt und die entsprechende Quellenangabe wenn
möglich als Fußnote hinzugefügt.
Während seiner erzwungenen Emigration hatte Heinz Kappes 1944 das Magnum Opus Sri
Aurobindo´s, das „Life Divine“ in einem Antiquariat in Jerusalem entdeckt. „Der Weg zu einem
‚göttlichen Leben auf der Erde‛ ‚zum Reich Gottes Jesu‛ wurde hier in einer überwältigenden
Schau und Sprache gewiesen. Seit dieser Zeit mußte ich geistig und praktisch im ‚Integralen Yoga‛
leben.“
Der Text ist für den Einzelnen bestimmt (oder in Kopie zur persönlichen Weitergabe an Interessierte) und darf nicht für kommerzielle Interessen genutzt werden.
„Die Geistige Evolution des Menschen nach Sri Aurobindo“
Vortrag von Heinz Kappes anläßlich der zehnten Feier zum Gedächtnis an
Sri Aurobindo´s Tod (1950) am 05. 12. 1960
T-0057
A. Wenn wir an seinem Todestag eines Menschen gedenken, der in der Krise der Zeit auf die
Neue Epoche der Menschheit, auf ihre weitere Evolution einen bestimmten Einfluß ausübt, dann
ist die Er-Innerung ein Innewerden seiner Gegenwärtigkeit da, und inwiefern er uns unsere Vergangenheit und Gegenwart verstehen und unsere Zukunft verantwortlich gestalten lehrt.
Sri Aurobindo hat die Zusage hinterlassen, daß er im "Orbit" der Erde weiterwirken werde, bis die
Evolutionsstufe des Supramentals erreicht ist.
Was sagt uns Sri Aurobindo über den weiteren Weg der menschlichen und kosmischen Evolution?
Der Marburger Theologieprofessor Dr. Dr. Ernst Benz sagte von ihm im elften seiner dreizehn Vorträge im Heidelberger Studio des Süddeutschen Rundfunks 1964:
„Sri Aurobindo´s Lehre von der Evolution und von der Zukunft des Menschen", Nymphenburger
Verlagsbuchhandlung 1965, S. 206):
“Sri Aurobindo, dieser universalste Geist unter den Führern des modernen Hinduismus, hat den
Versuch unternommen, ein neues Verständnis von der Zukunft des Menschen und der Menschheit
aufgrund einer kühnen Umdeutung der Evolutionslehre zu entwerfen."
Professor Dr. Dr. Otto Wolff, Tübingen, faßt im dritten seiner bei Rowohlt erschienen Taschenbücher über Sri Aurobindo („Sri Aurobindo in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten") die Bedeutung
seines Lebens so zusammen:
„Er ist ein Helfer und Führer in der Evolution des menschlichen Selbstverständnisses. Er fühlt sich
als das, was Krishna den Arjuna in der Gita zu sein mahnt: als „Gottes Werkzeug". Es ist das größte Ziel seines Integralen Yoga, daß wir dadurch Werkzeug für ein Größeres, Weiteres und Mächtigeres werden.“
Zwei Umstände machen ihn zu einem echten Helfer in der Evolution:
1. Sein Weg ist die Praxis, sein Vorgehen ist wissenschaftlich, denn er verfährt experimentell. Sri
Aurobindo spricht von dem ungeheuren Preis, den ihn dieses Experiment kostete.
Darum ist sein Gesamt-Denken grundsätzlich anti-spekulativ, anti-scholastisch und anti-theoretisch. Bei einem so fundamentalen Problem, wie der Reichweite des menschlichen Bewußtseins
und seine entsprechende Stellung in der Welt und im Kosmos, wiegt ein praktisch-experimenteller
Einsatz mehr als jede deutende Spekulation. Denn aus einem solchen Einsatz folgt ein neuer
ethisch-metaphysischer Ausbruch.
2. Die heutige Evolutionsstufe ist erschöpft. Die rationale, technisierte Welt hat Dimensionen angenommen und manipuliert Kräfte, die über das Maß des jetzigen Menschen hinausgehen. Aurobindo sieht realistisch die dunklen, zerstörerischen und titanenhaften Elemente. Die weitere Ent-
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wicklung der Menschheit von ihnen zu reinigen, erfordert eine Umwandlung des Menschen in die
geistige, gnostische oder supramentale Existenz, zu der er den Weg bahnt. Er repräsentiert selbst
den Yoga, den er in seinen großen Werken lehrt: den geistigen Übermenschen,
Wie absolut sicher sich Sri Aurobindo seiner Funktion in diesem „Kairos", in dieser „erfüllten Zeit”
ist, geht aus seinen eigenen Worten hervor:
„Nicht um meiner persönlichen Größe willen suche ich das Supramental hernieder zu bringen. Ich
kümmere mich nicht um Größe oder Kleinheit im menschlichen Sinne. Ich will ein Prinzip innerer
Wahrheit, des Lichts, der Harmonie und des Friedens in das Erden-Bewußtsein bringen. Ich sehe
es über mir und weiß, was es ist. Ich fühle, wie es immer von oben her auf mein Bewußtsein hernieder leuchtet.“
Darum muß ich es ihm möglich machen, daß es das ganze Wesen des Menschen in seine ursprüngliche Macht emporhebt, damit nicht die menschliche Natur immer weiter in einem Halb-Licht
und Halb-Dunkel verbleiben muß.
Ich glaube, daß es der endgültige Sinn der Erden-Evolution ist, daß die ‛Wahrheit hernieder kommt
und hier den Weg zu einer Entfaltung eines ‛Göttlichen Bewußtseins öffnet.
„Wenn Männer, die größer waren als ich, diese Schau und dieses Ideal nicht vor sich sahen,
ist das kein Grund, warum ich nicht meiner Erkenntnis und meiner Schau der Wahrheit folgen
sollte. Wenn mich die Vernunft der Menschen für einen Narren hält, weil ich das versuche,
was Krishna nicht versuchte, ich kümmere mich nicht im geringsten darum. Die Frage ist
nicht, ob der Mensch X., Y. oder sonst wer das tut.“
„Das ist allein eine Frage zwischen Gott und mir selbst:
ob es der Wille Gottes ist oder nicht;
ob ich dazu bestimmt bin, es hernieder zu bringen;
ob ich den Weg für sein Herniederkommen öffne; oder ob ich dieses mindestens möglich
machen soll.
Mögen alle Menschen, wenn sie wollen, mich verhöhnen!
Mag die ganze Hölle, wenn sie will, wegen meiner Anmaßung auf mich hereinstürzen: Ich
gehe weiter bis ich siege oder untergehe!
Das ist der Geist, in dem ich das Supramental suche.”
Zum Kontrast setze ich hierher ein Wort des Nobelpreisträgers Max Born, das in der "Universitas"
veröffentlicht wurde; er schreibt über die Veränderungen, welche die Naturwissenschaften in den
menschlichen Angelegenheiten herbeigeführt haben:
„Alle Versuche, unsere sittlichen Maßstäbe der Situation im technischen Zeitalter anzupassen,
sind gescheitert. Das ist kein Zufall, sondern die logische Konsequenz des naturwissenschaftlichen
Denkens und Handelns. Obwohl ich die Naturwissenschaft liebe, habe ich das Gefühl, daß sie so
sehr gegen die geschichtliche Entwicklung und Tradition ist, daß sie durch unsere Zivilisation nicht
absorbiert werden kann. Die politischen und militärischen Schrecken sowie der vollständige Zusammenbruch der Ethik, deren Zeuge ich während meines Lebens gewesen bin, sind kein Symptom einer vorübergehenden sozialen Schwäche, sondern eine notwendige Folge des naturwissenschaftlichen Aufstiegs, der an sich eine der größten intellektuellen Leistungen der Menschheit
ist. Keine Bildungsmethode kann mehr den Menschen mit all den Eigenschaften versehen, die er
zur Bewältigung seiner Aufgaben haben müßte. Es scheint mir, daß der Versuch der Natur, auf
dieser Erde ein denkendes Wesen hervorzubringen, gescheitert ist. In diesem Wesen sind tierische Instinkte mit intellektuellen Kräften so unheilvoll vermischt, daß diese Mischung nicht unter
Kontrolle gehalten werden kann. Das Versuchswesen ist auf Selbst-Zerstörung angelegt. Selbst
wenn die Gattung Mensch sich listig an der Selbstauslöschung durch die A- und H-Bomben vorbeischleichen sollte, wird das um den Preis jeder Freiheit und Selbstverantwortlichkeit geschehen.“
„In Zukunft werden nur noch riesige Herden von dummen, dumpfen Existenzen da sein, die
von tyrannischen Machtmenschen mit Hilfe einer wissenschaftlich fundierten Technik dahin gegängelt werden, wohin diese wollen. Die Zeit des humanen, freien, verantwortlichen Existierens ist
dahin, und der Grund liegt in der Konstitution des Menschen selbst, in der Fähigkeit einer Minorität,
naturwissenschaftlich zu denken und dadurch die Welt zu verändern."
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Born vermag nur noch „grundlos" zu hoffen.
„Eines Tages mag ein Mann erscheinen, der geschickter und klüger ist als irgend jemand in
unserer Generation, und der imstande ist, die Welt aus dieser Sackgasse herauszuführen."
Wahre Propheten sind Unglückspropheten! Ist die Kraft des durch sie geoffenbarten Geistes und
die Macht ihres Bewußtseins stark genug, um durch die Warnungen die Zeitgenossen zu erschüttern, dann mögen sie wohl als „falsche Propheten" in der Geschichte dastehen, da sich das geschaute Unheil, das drohende Gewitter einer Katastrophe wieder verzog, aber sie haben - auch
wenn sie vielleicht sogar für ihre Warnung hingerichtet werden - der Menschheit zu einem Neuen
Leben geholfen.
Sri Aurobindo sieht ebenso realistisch wie Max Born. Er schreibt an einen Suchenden am
9. 4. 1947:
„Die extreme Schwierigkeit meines Yoga rührt daher, daß Du in den untersten Felsengrund
der Unbewußtheit eingedrungen bist. Dort liegt die fundamentale Basis für jeden Widerstand
im individuellen Menschen und in der Welt gegen den Sieg des Geistes und gegen das Göttliche Werk, das zum Sieg führt.
Diese Schwierigkeiten sind sowohl im Ashram als auch in der Welt draußen allgemein vorhanden. Hier sind die allgemeinen Züge der Schwierigkeit: Zweifel, Entmutigung, Minderung
des Glaubens oder des Verlusts, Hinschwinden der vitalen Begeisterung für das Ideal, Ratlosigkeit und ein Verzagen der Hoffnung.
In der Welt draußen gibt es dazu noch viel schlimmere Symptome:
Das allgemeine Anwachsen des Zynismus, eine Weigerung, überhaupt noch zu glauben, ein
Abnehmen der Redlichkeit, eine ungeheure Korruption, ein vordringliches Interesse an Geld,
Luxus und Vergnügen unter Ausschluß der höheren Dinge, schließlich eine allgemeine Erwartung, daß der Welt immer schlimmere Dinge bevorstehen. So akut diese Lage auch ist,
so ist das doch nur eine zeitlich begrenzte Erscheinung, auf welche alle, die etwas von der
Wirkensweise der Weltenergie und des Geistes wissen, vorbereitet waren. Ich selbst sah im
Voraus, daß vor der Morgendämmerung diese schlimme Finsternis der Nacht kommen werde. Darum werde ich nicht entmutigt. Ich weiß, was sich hinter dieser Finsternis vorbereitet,
und ich kann die ersten Anzeichen seines Hervortretens sehen und fühlen. Alle, die nach
dem Göttlichen Wesen suchen, müssen fest stehen und standhaft in ihrem Suchen beharren.
Nach einiger Zeit wird die Finsternis nachlassen und immer mehr verschwinden. Dann wird
das Licht kommen.“
Er sagt, er sei deshalb nicht enttäuscht, da er die Hoffnungen der intellektuellen Idealisten nie geteilt habe.
In einer frühen Schrift. „Der Yoga und seine Ziele" spricht Sri Aurobindo von den vier Zyklen, den
‚Yuga’, in denen nach indischer Geschichtsphilosophie der Ablauf der Weltgeschichte verläuft:
„Das Ziel des Integralen Yoga ist, den Willen der Gottheit in der Welt zu verwirklichen, eine geistige Transformation zustande zu bringen, eine Natur und ein Leben aus Höchstem Wesen in die
mentale, vitale und physische Natur sowie in das Leben der Menschheit hernieder zu bringen.“
Sein Ziel ist das Life Divine auf der Erde! Sein Ziel ist nicht die persönliche Seligkeit (‚Ananda’),
sondern das Herabbringen der göttlichen Seligkeit auf die Erde: Christi Reich Gottes, unser Zeitalter der Wahrheit, das ‚Satyayuga’, was am Anfang bestand und in der zweiten Epoche noch mit
künstlichen Mitteln aufrecht erhalten wurde, fällt schließlich in sich zusammen und wird zerstört.
Jedoch ist diese ‚Kali’-Epoche, daß eine fortgeschrittene Vollkommenheit kommen kann. In der
‚Kali’-Epoche, die zwar prinzipiell schon abgelaufen ist, die aber in ihren Auswirkungen noch andauert - die jetzt jedoch definitiv zuende kommt! - ist es zu einer allgemeinen Zerstörung des Alten
Wissens und der Alten Kultur gekommen.
Nun ist aber die Zeit für eine neue Aufwärtsbewegung und für einen ersten Versuch gekommen,
eine neue Harmonie und eine neue Vollkommenheit zu erreichen. Das ist der Grund, daß heute so
viele Ideen auftauchen, welche die menschliche Gesellschaft, die Erkenntnis, die Religion und die
Ethik vervollkommnen wollen. Die wahre Harmonie ist aber noch nicht gefunden worden.
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Die „kühne Umdeutung der Evolution" durch Sri Aurobindo gründet sich auf seine Erfahrung der
evolutionären Macht des ‛Geistes des Schöpfers des Kosmos und von der Entfaltung der Instrumente des Geistes, des Selbst und der Seele.
Er sagt:
„Eine progressive Evolution der sichtbaren und unsichtbaren Instrumente des ‛Geistes ist das
ganze Gesetz der Erden-Natur. Das ist auch der fundamentale Wert, der allen anderen Werten, ihrer Existenz und ihrem Entwicklungsprozeß zugrunde liegt und ihnen ihre Bedeutung
verleiht.
Die Involution eines überbewußten Geistes in die nicht-bewußte Materie ist das Geheimnis
der sichtbaren und wahrnehmbaren Welt. Die Evolution dieses Über-Bewußten, heraus aus
einer nicht-bewußten Natur, ist das Lösungswort für die Rätsel der Erde. Das Erdenleben ist
die selbst-gewählte Wohnstätte einer großen “Divinität“, ihr die Äonen füllender Wille ist es,
diesen Wohnsitz aus einem lichtlosen Gefängnis in ihr herrliches Haus und in ihren hoch in
den Himmel emporragenden Tempel umzuwandeln. Der in einer nicht-bewußte Materie
selbst-verborgene Geist entwickelt zunächst für sich selbst, und so als ob das sein einziges
Anliegen wäre, Formen der Materie durch das Wirken der materiellen Kräfte. Erst, wenn das
in genügendem Maße geschehen ist, denkt der Geist an das Leben, das in der Materie und
in deren Kräfte eingesperrt war und selbst in ihren scheinbar völlig leblosen Gestaltungen
existiert. Ebenso existieren in der Materie aber auch die anderen Grade des evolutionären
Aufstiegs aus der Nicht-Bewußtheit empor bis in die Überbewußtheit: das Mental, das Supramental, und jenseits dieser vierfachen Macht unserer bis jetzt realisierten menschlichen
Existenz:
‚Sat - Chit - Ananda’, das ‚Höchste Sein‛ - die ‚Höchste Bewußtseins-Kraft‛- die ‚Höchste Seligkeit‛. Diese letztere Trinität, die aus der nun zur Verwirklichung drängenden „oberen Hemisphäre" auf unsere sich jetzt bis zum Übermental entwickelnde physische, vitale und mentale
Welt „drückt", will jenen „Übermenschen" hervorbringen, der im Sinne des Geistes mit den
ungeheuren Kräften des Atoms und der Zellen umgehen kann, die der Mensch jetzt entbindet
und damit die äußere Evolution seiner Welt bestimmt.“
Daß Geist und Materie dieselbe Kraft sind (eine Feststellung, die sowohl Julian Huxley wie Friedrich v. Weizsäcker gemacht hat) und daß der Mensch, der den Geist bewußt verwirklichen kann,
ob er will oder nicht, für das Schicksal, das heißt für die Evolution der Erde verantwortlich ist, ist
heute die Überzeugung der bedeutendsten Naturwissenschaftler.
Sri Aurobindo sagt: (Autobiographie, 1964, S. 28/29)
„Die Natur kommt im Menschen zu der Befähigung, sich durch einen bewußten Willen in ihrem Werkzeug-Sein zu entwickeln. Durch den mentalen Willen im Menschen kann das aber
nicht völlig geleistet werden. Denn das Mental kommt nur bis zu einem gewissen Punkt und
kann sich nachher nur noch im Kreise drehen. Es muß eine Umkehrung gemacht werden, eine Wandlung des Bewußtseins, wodurch das Mental in ein höheres Prinzip verwandelt werden soll. Die Methode dazu findet man durch die psychologische Disziplin und Praxis des
Yoga. Man hat das in der Vergangenheit dadurch versucht, daß man sich aus der Welt zurückzog und in die Höhe des Selbst oder des Geistes entschwand. Nun ist aber das Herniederkommen des Höheren Prinzips möglich, welches das geistige Selbst nicht bloß aus der
Welt hinaus frei macht, sondern es zum Wirken in die Welt hinein befreien wird. Es wird die
Unwissenheit oder die sehr begrenzte Erkenntnis des Mentals durch ein supramentales
Wahrheits-Bewußtsein ersetzen. Der Mensch kann die psychologische Disziplin des Yoga so
verwenden, daß sich alle Seiten seines Wesens öffnen für eine Umwandlung oder Transformation durch das Herniederkommen und Wirken des höheren, noch verborgenen Prinzips
des Supramentals. Der erste Prozeß im Yoga besteht also darin, die Bereiche des inneren
Wesens zu öffnen und von dorther nach außen hin zu leben. So wird dann das äußere Leben
von einem inneren Licht und von einer inneren Kraft regiert. Wenn der Mensch dieses tut,
entdeckt er in sich selbst seine wahre Seele. Die nach außen hin gewandte Mischung von
mentalen, vitalen und physischen Elementen ist gar nicht seine wahre Seele. Die wahre
Seele ist vielmehr etwas von jener Wirklichkeit, die hinter diesen Elementen steht: ein Funke
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aus dem Einen Göttlichen Feuer. Der Mensch muß also lernen, aus seiner Seele zu leben.
Durch ihren Drang nach der Wahrheit soll er seine ganze übrige Natur läutern und orientieren. Später kann dann ein Sich-öffnen nach oben hin eintreten, und ein Höheres Prinzip des
Seins kann hernieder kommen. Aber dieses kann dann noch nicht sofort das volle supramentale Licht und die supramentale Kraft sein. Denn zwischen dem gewöhnlichen menschlichen
Mental und dem supramentalen Wahrheits-Bewußtsein liegen noch viele Bereiche der Bewußtheit. Diese Zwischenbereiche müssen erschlossen werden. Erst dann kann die volle
Macht des Supramentals in der Natur wirken. Erst dann kann der Geistige Übermensch hervortreten, denn Supermind = Superman.“
Dieser Weg ist absolut keine ichhafte „Selbst-Erlösung", wie das dem geistigen Yoga oft von der
christlichen Seite vorgeworfen wird. Nachdem Sri Aurobindo im Jahr 1908 nach vorherigen unregelmäßigen Yoga-Übungen durch Yogi Lele in wenigen Tagen die völlige Einung mit dem Göttlichen, das „Nirvana-Bewußtsein" erlangt hatte, ließ er sich seitdem, vor allem während seines Gefängnisjahres 1908/1909 und danach, als er in Chandernagore im Versteck und dann in Pondicherry vier Jahre lang die härtesten Yoga-Disziplinen praktizierte, allein noch von der göttlichen
Stimme aus seiner Seele lenken.
„Ich war in jenes Schweigen eingedrungen, aus dem das Wort der Wahrheit kommt, so daß
von da ab alles, was ich tat, von jener ´Gegenwart` gelenkt und bestimmt war: das Reden,
Schreiben, Denken, der Wille und die anderen verwandten Tätigkeiten kamen aus dem Bewußtsein oberhalb des Hauptes."
Die vier Grundhaltungen von Seiten des Menschen sind Glaube, Aspiration, Konsekration und
“surrender“ also insgesamt die völlige Hingabe, Übergabe, die Kapitulation des Ego vor dem
Höchsten, Absoluten Wesen, damit dessen „Nähe" = „Gnade" diesem „Sich-angeloben" = „Glauben" antworten kann. Erst muß das Ego, das am kritischen Punkt des Übergangs aus dem Tierwesen zum Menschenwesen die Individualität formte, das sich aus dem geeinten Bewußtsein „absonderte" = „Sünde" - und mit ihm die „Begehrens-Seele" (concupiscentia) geopfert werden. So
entspricht dieser Yoga dem Weg Jesu: „Joch und Kreuz". Aber woher weiß denn der Mensch etwas von diesem Weg? Er könnte auf seinem Evolutionsweg niemals zum Ziel kommen: Yoga =
Einswerden mit dem Göttlichen, wenn ihm nicht an allen entscheidenden Wendepunkten der
Menschheitsentwicklung, eben dann, wenn ein „Kairos“ eingetreten ist, Gott selbst als Mensch
inkarniert entgegenkäme!
Diesen Grundgedanken der „Bhagavadgita“ stellt Sri Aurobindo immer in die Mitte seiner Gedanken über die Evolution. Ausführlich stellt er das in seinen “Essays on the Gita" und in Briefen dar:
„Die „Avatare" sind letzten Endes die Einzige Gottheit, die sich zu verschiedenen Zeiten so als
Mensch offenbarte, wie es die Situation und die evolutionäre Aufgabe für die nächste Epoche erforderte.“ Für Sri Aurobindo ist die evolutionäre Aufgabe des Christus (Avatars) Jesus noch längst
nicht vollendet; vielmehr steht die Verwirklichung seiner “Divine Love“ erst noch bevor! So nennt
Sri Aurobindo drei Avatare, die für die Menschheitsevolution bestimmend wurden:
Krishna - Buddha - Christus.
Sie müssen die Bürde der Welt tragen, um der Welt und den Menschen zu helfen. Wenn diese
Leiden und Kämpfe irgendwie hilfreich sein sollen, müssen sie ganz real sein. Ein Schwindel oder
etwas Unwirkliches kann nicht helfen. Sie müssen so real sein wie die Kämpfe und Leiden des
Menschen selbst es sind. Das Göttliche Wesen trägt sie und zeigt zugleich den Weg, sie zu überwinden. Anderenfalls hätte es keinen Sinn, keinen Nutzen und keinen Wert, daß Gott die menschliche Natur annimmt. (IY 1967, S. 211) Wenn der Lenker der Evolution des Kosmos durch den
Menschen-Gott bei Sri Aurobindo einfach "The Divine" genannt wird, so will er damit alle Aspekte
umfassen, unter denen wir das Höchste Wesen in einer dynamischen Meditation, in den intellektuellen Funktionen, in unserem emotionalen Wesen, im Handeln als Wahrheit, Liebe, Kraft realisieren können: Das Sein und das Werden, das Personale und das A-Personale, das Männliche und
das Weibliche Prinzip der Schöpfung: ’Geist und ’Natur. In einem Abschnitt, der 321 englische
Wörter umfaßt, versucht er dieses Göttliche Wesen so vielfältig wie möglich auszudrücken, um
dann zu schließen: „die hinter allen diesen Aspekten stehende Wahrheit „muß“! immer dieselbe
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Bezieht sich auf die von Heinz Kappes herausgegebenen, inzwischen vergriffenen Yoga-Hefte
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sein: „Alles ist der Eine Göttliche Unendliche“, den alle Menschen immer suchen. (Integraler Yoga,
Heft 1 / 1969)2.
In der Verwirklichung der Einung mit Ihm kann der Mensch, der sich seiner Verantwortung für die
menschliche und kosmische Evolution bewußt ist, sicher gehen, wie Oliver Cromwell einmal von
sich sagte: „Ich gehe dann am sichersten, wenn ich (das heißt: mein reflektierendes Ego) nicht
weiß, wohin ich gehe.“
Sri Aurobindo hat bis zu seiner Verhaftung 14 Jahre aufs Höchste aktiv am politischen Befreiungskampf Indiens teilgenommen. Aber auch von Pondicherry aus hat er intensiv in die politischen
Ereignisse eingegriffen, wenn auch nur noch zweimal mit dem direkten Wort und Handeln, nämlich, wie ich vor einigen Jahren hier in einer Rede zu diesem Tag darstellte, durch die Kraft seines
Yoga.
Er schreibt in der Autobiographie (Er schreibt von sich in der dritten Person):
„Das Grundprinzip seines Yoga ist es, nicht nur das Höchste Wesen zu realisieren und zu einem vollkommenen geistigen Bewußtsein zu gelangen, sondern nun erst recht das gesamte
Leben und das gesamte Wirken in der Welt in den Bereichen dieses geistigen Bewußtseins
und des Handelns aus dem Geist einzubeziehen. So soll nun das ganze Leben auf den Geist
gegründet sein und vom ihm seine spirituelle Bedeutung empfangen. Während der Zurückgezogenheit in Pondicherry beobachtete er aufmerksam alles, was sich in der Welt und in Indien ereignete, und griff praktisch immer dann ein, wenn es nötig war. Er tat das aber allein
mit einer spirituellen Kraft und mit schweigender geistiger Aktion. Denn es gehört zur Erfahrung derer, die eine hohe Stufe in ihrer Yoga-Realisation erreicht haben, daß es außer den
gewöhnlichen Kräften und Betätigungen des Mentals, des Vitals und des Körpers noch andere Kräfte und Mächte gibt, die einwirken können, und die es auch tatsächlich aus Bereichen
hinter und über dem Materiellen tun. Er tat dies zuerst nur in dem begrenzten Gebiet persönlichen Wirkens, später jedoch in einer beständigen Einwirkung auf die Welt-Kräfte. Er hatte
keinen Grund dazu, mit dem Ergebnis unzufrieden zu sein.“ (Integraler Yoga 1964, SS.
20/21)
Bemerkung:
Für den Weg des Integralen Yoga braucht man keinen Yoga-Lehrer, keine „Gemeinschaft", keine
„esoterischen Zirkel" und ähnlichen okkulten Krimskrams. Auch im Ashram in Pondicherry wird
dieser Yoga nicht gelehrt. Es gibt auch keine verbindliche Methode, kein: „jetzt mußt du dies, dann
das etc. tun." Jeder Mensch ist ja eine von allen seinen früheren Inkarnationen und seinen Anlagen und seiner Umwelt geprägte (nicht determinierte!) Individualität. Seine Lenkung geschieht zunächst durch das „Schicksal", das äußere Instrument seines göttlichen Selbst, das ihm Gottes Willen offenbart, und dann immer mehr durch die unmittelbare Lenkung von innen her, durch die Lenkung des Geistes. Darum braucht er eigentlich (nach meiner eigenen Erfahrung) nur die Texte, die
ihm sich „von selbst erschließen" werden. Und wenn ihm dann auch ein unmittelbarer „influx" von
Seiten Sri Aurobindo´s zu Hilfe kommt, wird er „von einer Klarheit zur anderen" fortschreiten, ohne
daß er sich im Wirrsal dessen verliert, was andere als den „alleinseligmachenden Weg" ihres Zirkels anpreisen. Aus diesem Grunde habe ich vor allem, aus den Texten das größte praktischpsychologische Werk Sri Aurobindo´s, die „Synthesis of Yoga" übersetzt und veröffentlicht, damit,
bis einmal ein Verlag dieses für viele Generationen der Zukunft bedeutsame Werk zu veröffentlichen unternimmt, den jetzt Suchenden diese Hilfe zuteil wird. Ich will das dazu noch an Erläuterungen aus den Briefen Sri Aurobindo´s, aus anderen Schriften und aus dem „Life Divine” verständlicher machen.
Hier steht vor uns der aus dem Übermentalen-Bewußtsein Handelnde, dessen Selbst so geeint ist
mit dem Absoluten Göttlichen Selbst, daß die individuelle Person in vollem Maße Werkzeug Gottes
werden kann, weil er die ‛Licht-Kraft aus dem Supramental direkt in seiner Seele aufnimmt und mit
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Diese an verschiedenen Stellen zitierten Yoga-Hefte sind vergriffen. Ihre Herausgabe wurde nach dem
Erscheinen der deutschsprachigen Übersetzungen der Werke Sri Aurobindo´s durch den Verlag Hinder &
Deelmann eingestellt.
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dem Selbst aller Wesen, ja sogar mit dem Selbst der Dinge und Ereignisse geeint ist. Das Bewußtsein hat sich nicht nur vertikal, nach oben hin, geeint, sondern es ist auch horizontal mit dem
im Kosmos involvierten ´Zeit-Geist` eins oder identisch geworden.
In einer Rede vor einem gelehrten Club in Jerusalem sprach ich 1941 über das Thema: „Welchen
Menschen-Typus erzeugt diese Menschheitskrise?" und beantwortete die Frage - drei Jahre bevor
ich dann das “Life Divine” dort fand - mit einer Beschreibung des Universalen Menschen.
Es bedürfte wohl einer Serie von 20 Vorträgen (wie in meinen Karlsruher VolkshochschulVorlesungen3), um den Weg des Integralen Yoga auch nur in Umrissen darzustellen. Und das wäre doch nur ein Bruchteil von dem, was ich bis Ende 1969 in 24 Heften à 80 Seiten aus den Werken Sri Aurobindo´s ins Deutsche übersetzt habe, und das ist noch kaum ein Zwanzigstel vom
gesamten gedruckten geistigen Werk Aurobindo´s. Halten wir bei den Stufen der „Geistigen Evolution" des Menschen immer das praktische Ergebnis fest: Über das „Wie“ der Verwirklichung hat Sri
Aurobindo seine “Synthesis of Yoga" geschrieben
Der HIGHER MIND, das HÖHERE MENTAL:
Es ist dadurch charakterisiert, daß das Selbst alle physischen, vitalen und mentalen Dualitäten von
ihrer Einheit her als Polaritäten und nicht mehr als Gegensätzlichkeiten sieht, realisiert und verwirklicht. Allein auf dieser Grundlage kann ein Mensch zur "equality", zur „harmonischen Ausgeglichenheit" in seinem körperlichen und vitalen Wesen kommen und die Dialektik des sich ausschließenden „Satz- und Gegensatz"-Kampfes eines Intellekts überwinden. Das bedeutet in starkem
Maße körperliche Gesundheit, Frieden in der eigenen Triebstruktur und mit den Mitmenschen, die
Kunst des Dialogs, mit der wir die zertrennenden Diskussionen überwinden müssen. Menschen,
welche diese Stufe des vergeistigten Mentals erlangt haben, sind Friedensstifter, „Gottes Kinder"
und „Sanftmütige", die das Erdreich und das Himmelreich besitzen und darum verwirklichen.
THE ILLUMINED MIND, das ERLEUCHTETE MENTAL:
Es ist die Einheit von Bewußtheit und Kraft: Hier soll der Widerspruch zwischen der BegehrensSeele und der Geist-Seele in dem immer obstinaten Vital überwunden werden, über den Faust
klagt: „Zwei Seelen trag ich, ach in meiner Brust", oder Paulus im Römerbrief: „Das Gute, das ich
tun will, das tue ich nicht."
Diese Einung kann nicht durch ein „Du sollst!", nicht durch Moralität gewonnen werden. Die Tiefenpsychologie weiß, daß die Basis des gewöhnlichen Mentals zu schmal und zu schwach ist, um
das wach gewordene Unterbewußte zu absorbieren. Das kann nur durch das ‛Licht das jenen Tiefen entsprechende Höhere Bewußtsein geschehen. Dann erst können wir unseren Willen unserer
Einsicht gemäß bestimmen, wie es im Jugendgerichtsgesetz als Beschreibung eines voll Verantwortlichen heißt.
THE INTUITIVE MIND, das INTUITIVE – INSPIRIERTE, DIE OFFENBARUNG EMPFANGENDE
MENTAL:
Je tiefer und höher unser Bewußtsein in die geistigen Bereiche eindringt, desto mehr gelangt es in
den Bereich des Schweigens auf den Stufen der Ruhe, der Stille, des Friedens. „Aus dem Schweigen kam mir das Göttliche Wort" sagt der Prophet, und Meister Eckehart predigt darüber in der
ersten seiner vier Predigten „von der Ewigen Geburt". (Predigten I, S. 75)4
Nun erkennen wir erst, daß die Gedanken von außen her, aus einem universalen Mental, aus dem
Wahrheitsbewußtsein zu uns kommen. Das Mental ist der Computer. Der ‛Geist programmiert es.
Je geläuterter das Mental ist, desto klarer erfassen wir die Einleuchtungen, die Inspirationen, die
Offenbarungen. Der Prozeß des Denkens allein, selbst nicht der unserer logischen Vernunft, verschafft uns keine Wahrheits-Gewißheit! Ein subtiler Intellekt mit rationaler Logik ist gewiß notwendig, damit wir Wahres vom Falschen unterscheiden können. Aber die Vernunft = „vernehmen“
kann erst dann verantwortlich entscheiden, wenn sie diese Wahrheit ohne Deformationen empfangen kann! Wenn die Entscheidungen auf allen Gebieten des Lebens sowohl in der „Demokratie"
wie in der „Diktatur" in immer kleinen Gremien liegen, muß diese Befähigung sowohl oben wie un3
4
siehe Rubrik Yoga-Vorträge
Yoga-Hefte
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ten wachsen, und keiner derer, die unter einer Diktatur oder in Kerkern „schweigen" müssen, ist
ohnmächtig! Diese Bewußtheitskraft der Intuition, Inspiration, Offenbarung dringt auf ihren eigenen
Vibrationen dorthin, wo sie fördernd oder verhindernd wirken müssen! – Das ist die eigentliche
Prophetie, die der ´Wahrheit` die Stimme leiht.
THE OVERMIND, das ÜBERMENTAL, das KOSMISCHE BEWUSSTSEIN,
das LICHT-BEWUSSTSEIN:
Was die Erleuchteten, die Propheten, die Heiligen, die Prototypen der Menschheit auf irgendeinem
Gebiet sind, das sollen wir durch unsere geistige Evolution werden. Die oberste Sphäre des vergeistigten Mentals wird von der Geist-Seele durchdrungen, die (nach Meister Eckehart) ein unendliches Wesen ist. Als solche lebt sie nicht nur als die Beherrscherin des subtilen Leibes, dessen
Organismus der Tantrische Yoga erforschte und zu verwenden lehrte, - nicht nur in der eigentlichen universalen ‚Prana’-Kraft des Vitals, das nun zu einem gefügigen Dynamismus des Selbst
geworden ist, - nicht nur in einem reinen, universalen Mental, das die ‛Wahrheit` (‚Sat’) oder eigentlich den ‛Geist-Stoff des Seins aufnehmen kann, - nicht nur in der ‛Seligkeit der göttlichen Liebe und Freude, die den unmittelbarsten Weg zum Göttlichen Licht findet, sondern: sie ist (wie oben
erwähnt) mit dem Selbst aller Wesen und Geschehnisse, mit dem Belebten und Unbelebten geeint.
Wir hören solche Klänge der Harmonie mit dem Unendlichen in der Musik und Dichtung mancher
Begnadeten, - wir schauen das Wesenhafte in manchen Bildern und in Werken der Skulptur, der
Architektur, in genialen Erfindungen und Gestaltungen der Technik, in Gesetzen und Ordnungen,
die in Wahrheit die mitmenschliche Gerechtigkeit ausdrücken. Dieser Bereich ist die „Welt der
Großen Götter", der Symbolgestalten der menschlichen Evolution, die sich bedrängend und zwingend in den der harten Disziplin Geöffneten zum Ausdruck bringen, damit durch sie ein neuer „Pegelstand", neue Normen der Entwicklung festgelegt werden. Nachdem Sri Aurobindo dieses Bewußtsein, das er das Krishna-Bewußtsein nannte, am 24.11.1926 erlangt hatte, zog er sich von
den Menschen, auch seinen nächsten Schülern zurück. Von nun an mußte! er in der Abgeschiedenheit jenes Höchste Bewußtsein realisieren, seine Manifestation ergreifen, seine Gesetze praktizieren, alles wagen: ein Abenteuer des Geistes, ein Pionier und Wegweiser durch den Urwald der
menschlichen Seele zum Licht. Aus diesem Licht schrieb er sein größtes Werk: die 24 000 Verse
von „Savitri“. Es ist auch Seine Autobiographie, wenn er dort ( B.I, C.5., S.72, erste Ausgabe) von
Aswapati, dem königlichen Yogi, sagt:
„Ein Ruf aus unerreichbar fernen Höhen kam zu ihm,
Achtlos des kleinen vordergründigen Mentals
Verweilt er in dem weiten Reich des Ewigen.
Sein Wesen überragt nun den vorstellbaren Raum,
Sein grenzenloses Denken war dem kosmischen Schau'n verwandt:
In seinen Augen war des Universums Licht,
Ein goldener Strom floß ihm durch Herz und Hirn,
Kraft durch die Glieder dieser Sterblichkeit,
Gezeiten aus den ewigen Meeren aller Seligkeit;
Er fühlte, wie sie ihn mit namenloser Freude überströmten.
Nun war er seines tief verborgenen und allmächtigen Ursprungs sicher, von der allwissenden
Entzückung hingerissen,
Lebendiger Mittelpunkt des Unbegrenzten,
Weit ausgebreitet, gleich der Welten Umfang
So nahm er nun den Auftrag seines ungeheuren geistigen Geschickes an."
Unter dem Druck des manifest gewordenen Supramentals muß unsere geistige Evolution noch in
unserer Zeit - mindestens bei denen, die sich für dieses große Experiment hergeben - bis zum
Übermental kommen! „Bereit sein ist alles!"
Es soll auch kein Zweifel niederdrücken, daß unsere Seele endlich zu ihrem Ziel gelangt. Die Leitsterne auf diesem "weiten, wegelosen Ozean" sind wohl am besten durch die Jesus-Worte aus der
Bergpredigt ausgedrückt:
Heinz Kappes: „Die Geistige Evolution des Menschen nach Sri Aurobindo“
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„Ihr sollt (dürft, könnt) vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist" und: „Trachtet
am ersten nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, so wird euch alles andere auch zuteil
werden."
Freilich: Ein einziges Leben reicht für diesen Weg nicht aus!
Das Tier ist ein lebendiges Laboratorium, in dem die Natur sozusagen den Menschen entwickelt
hat. Der Mensch mag ebensogut ein denkendes und lebendes Laboratorium sein, in dem sie - mit
seiner bewußten Mitarbeit! - den Übermenschen erschaffen oder besser gesagt: Gott offenbaren
will.
Wenn es stimmt, daß ‛Geist in der Materie involviert ist und daß das, was Natur zu sein scheint, in
Wahrheit Gott ist, dann ist auch die Offenbarung des Göttlichen im Menschen und die Verwirklichung Gottes in ihm und in der Welt das höchste und legitimste Ziel, das dem Menschen auf Erden
gegeben ist.
Dieser irdische Entfaltungsprozeß der Natur von der Materie bis zum Mental und darüber hinaus
ist ein unsichtbarer Vorgang der Entwicklung der Seele. Der Mechanismus dieser Entwicklung ist
die Wiedergeburt zu immer höheren Stufen der Form und des Bewußtseins.
Wiedergeburt ist die unerläßliche Voraussetzung für jegliche Fortdauer und für die Entwicklung des
individuellen Wesens im irdischen Dasein.
„Jede Stufe der kosmischen Offenbarung, jeder Formentypus, der den innewohnenden Geist
beherbergen kann, wird durch die Wiedergeburt zu einem Mittel für die Einzelseele, für das
‛Seelische ‛Wesen, immer mehr von seinem verborgenen Bewußtsein zu offenbaren. Jedes
Einzelleben stellt einen Schritt auf dem Weg zum Sieg über die Materie durch ein mächtigeres Entfalten des Bewußtseins dar, so daß schließlich die Materie selbst zu einem Mittel für
die volle Offenbarung des Geistes wird." (Aus Kapitel 1 des “Life Divine”)
Und nun erst gelangen wir in die „Obere Hemisphäre", zum SUPERMIND:
Aber Sri Aurobindo gesteht selbst ein, daß die Begriffe der mentalen Sprache und deren Bilder
kaum fähig sind, diese von ihm geschauten und erfahrenen Realitäten auszudrücken. Unsere Evolution wird heute von ihnen bestimmt. Darum kommt mit solcher Penetranz alles Negative in diesem Jahrhundert der Katastrophen heraus: Damit wir es sehen und überwinden! Darum leuchten
überall aus der Verborgenheit die ersten Blitze eines neuen ‛Lichtes des Geistes‛ auf. Vertrauen
wir darauf, daß die Evolution einen Geistigen, Göttlichen Sinn hat! Er sagt in „Yoga und seine Ziele" (1964, S.100):
„Gott ist dein Guru!“
„Daß Gott selbst dein Guru ist, wirst du dann entdecken, wenn das Wissen zu dir kommt.
Dann wirst du dessen innewerden, daß auch die scheinbar geringen Umstände in dir und
außerhalb von dir durch eine unendliche Weisheit bis ins Feinste geplant und zuwege gebracht worden sind, um den natürlichen Fortschritt deines Yoga zu lenken:
Die aller stärkste Selbst-Kontrolle des ‚Raja’-Yoga,
die höchstentwickelte Beherrschung des Körpers und der vitalen Kräfte durch den ‚Hatha’Yoga und im ‚Pranayama’;
die angestrengteste Meditation,
die höchste Ekstase des ‚Bhakti’-Yoga (Gottes-Liebe),
das Handeln in strengster Selbst-Verneinung (‚Karma’-Yoga),
die ganze Dynamik des ‚Tantra’-Yoga
mögen gewiß machtvolle und wirkungskräftige Methoden sein. Sie sind in ihrer Wirkensweise
durch unsere Leistungsfähigkeit begrenzt. Die Machtfülle, die uns zuströmt, wenn wir uns
ganz an Gott hingeben, und uns für sie in einer absoluten Hingabe öffnen, ist unbegrenzbar.
Denen, die sich Ihm hingeben, und die dabei um nichts bitten, schenkt Er alles, um was sie
vielleicht gebeten oder was sie benötigt hätten. Darüber hinaus schenkt Er Selbst Sich ihnen
und alle spontanen Segnungen Seiner Liebe.
Sollte etwa noch jemand „christliche Bedenken" anmelden, dann möge er die Worte bedenken, die
ein zum Christentum konvertierter Hindu, der schon verstorbene Jura-Professor an der Universität
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Madras, der gerade von indischen Christen sehr verehrt wird, P.M. Chendria, über Sri Aurobindo
sagte:
„Fast zwanzig Jahrhunderte nach Jesus und Paulus hat Indien den besten Interpreten der
Menschwerdung Gottes hervorgebracht, und zwar aus den inneren Bereichen des Hinduismus.
Jesus verkündigt, daß das supramentale Leben jetzt schon vorhanden und lebendig geworden ist,
indem es auf uns herabkam, eine Verleiblichung in uns sucht, und auf die Schöpfung einer neuen
Rasse von Übermenschen hinwirkt – die „Söhne Gottes", Christi, die inkarnierten GottesMenschen."
Dahin zielt die Geistige Evolution des Menschen.
© Else Lehle und Heinz Kappes Freundeskreis
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