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DIE ZEIT − Der Teigfladenreport
Boeing
DIE ZEIT
17/2003
Der Teigfladenreport
Die Fertigpizza ist das beliebteste Tiefkühlprodukt der Deutschen. Doch ihr Ruf ist miserabel. Hat sie das
verdient? Ein Blick in die Backstuben der Großproduzenten
Von Niels Boeing
Eine Pizza aus der Tiefkühltruhe? Brrr, da schüttelt sich der Gourmet. Die Teigspezialität aus dem
Mittelmeerraum kann stilgerecht nur direkt aus dem Holzbackofen gegessen werden. Nicht allein wegen des
Geschmacks. Auch wegen der Zutaten. Nicht auszudenken, was auf so einer Fertigpizza landet: Farb−,
Aroma− und Geschmacksverstärker? Gentechnisch manipulierte Soja? Abfälle aus der Fleischwirtschaft? Den
dunklen Machenschaften der Lebensmittelindustrie ist alles zuzutrauen.
Andererseits: Die Weltwirtschaft krankt, der eigene Geldbeutel ebenso, und der Überlebenskampf der
Ich−AG lässt kaum mehr Zeit zum eigenhändigen Pizzakneten. Drei Gründe, vielleicht doch mal in die
Tiefkühltruhe im Supermarkt zu schauen. Fragt sich nur, worauf sich der ahnungslose Konsument da einlässt.
Zunächst einmal auf ein geringes finanzielles Risiko. Eine komplette Pizza gibt es schon zum Kampfpreis von
1,59 Euro. Doch ein Rest von Nostalgie lässt den Tester zur 2,99 Euro teuren Prosciutto Rucola Pesto
greifen. Die Packung mit der Lederrückenimitation und der altmodischen Zeichnung erinnert wenigstens
entfernt an die Vorstellung vom Holzbackofen. Zu Hause finden sich zwar keine Rucolablätter, aber immerhin
grünes Gehäcksel, einige appetitliche Mozzarellakügelchen und separat verpackter Schinken, der tadellos
riecht. Auch der Geschmack ist besser als erwartet. Liegt das an ganz perfiden Aromastoffen?
Lokaltermin bei der Wagner Tiefkühlprodukte GmbH im nördlichen Saarland, ein schmuckloser Industriebau
in einem Gewerbegebiet. Durchs Treppenhaus zieht Pizzeria−Duft. Als der Reporter von seinem ersten
Tiefkühl−Erlebnis berichtet, geht ein Schmunzeln durch die Runde. Volltreffer für die Marketingabteilung:
Die Produktlinie La Pizza, zu der die Prosciutto Rucola Pesto gehört, ist eigens für Tiefkühlmuffel und
intellektuelle Esser entwickelt worden. Eine so genannte Premiummarke. Wir wollen handwerkliche
Backkunst in industrielle Großserien umsetzen und dabei die Qualität halten, sagt Geschäftsführer Gottfried
Hares.
Dann bekommt der Gast Kittel und Haarhaube verpasst. Er muss die Hände waschen und desinfizieren, als
ginge es in einen Reinraum zur Chipproduktion. Wir betreten eine riesige Fertigungshalle, durch die sich
endlose Förderbänder winden. Hier wird der Pizzateig in badewannengroßen Trögen geknetet, maschinell in
Portionen zerlegt und in Pizzableche auf dem Förderband gepresst. Ein rotierender Kamm verteilt
Tomatensauce, danach wird automatisch Käse aus riesigen Quadern darüber gerieben. Schließlich
verschwindet das Laufband in einem endlos langen Ofen, aus dessen Ende zart vorgebräunte Pizzen
herausgleiten. Meterlange Salamis werden geschnitten, die Scheiben fallen computergesteuert auf die Fladen,
flinke Hände korrigieren Belegungslücken. Ein spontaner Geschmackstest von Hefeteig, Käse und Speck
verläuft durchaus überzeugend. Ist die Wagner GmbH vielleicht ein Vorzeigebetrieb? Beim
Konkurrenzhersteller Freiberger Lebensmittelprodukte in Berlin bietet sich das gleiche Bild.
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Selbst Acrylamid ist im beliebtesten Tiefkühlgericht der Deutschen in nennenswerten Mengen nicht zu finden.
Ergebnis einer aktuellen Untersuchung der Zeitschrift Ökotest: Das Krebsgift spielt auf dem Pizzaboden keine
Rolle. Das ist die eigentliche Botschaft des Tests: Tiefkühlpizzen sind im Vergleich zu Pommes frites
wirklich unbedenklich. Aber das schreibt Ökotest nicht, ärgert sich Freiberger−Geschäftsführer Helmut
Morent.
Früher, so gibt Klaus Riebel freimütig zu, seien vorgebackene Pizzaböden noch mit dem Geschmack eines
Trockenkekses aus der Fabrik gekommen. Seither ist viel passiert. Die Wagner Tiefkühlprodukte GmbH
erfand 1985 die Steinofen−Technik für ein durchgeführtes Förderband. Stein hat eine geringere
Wärmeleitfähigkeit als die zuvor genutzen Stahlbleche. Dabei bleibt letztlich mehr Feuchtigkeit im Teig.
Zugleich ermöglicht das so genannte Schockfrosten, die angebackene Pizza in kürzester Zeit auf minus 33
Grad Celsius zu kühlen. Vorteil gegenüber dem klassischen, feuchten Tiefgefrieren: Es bilden sich kaum
mehr Eiskristalle.
Die faulen Tricks der Billigmarken
Dazu kommen zahlreiche Qualitätsüberprüfungen, Audits, die jede Fabrik mehrere Male im Jahr über sich
ergehen lassen muss. Ein regelrechter Audit−Tourismus, wie Helmut Morent etwas unglücklich hinzufügt.
Da wäre das deutsche Audit ISO 9000, der internationale Codex Alimentarius sowie europäische Zertifikate.
Vor allem der britische BRC−Standard hat die Sicherheitsanforderungen in der Produktion hochgeschraubt.
Dass man ranzige Fische auf der Pizza findet, ist Vergangenheit, bestätigt Urban Jörissen vom Hamburger
Labor Wierz Eggert Jörissen, das für Handelsketten seit Jahren Tiefkühlpizzen auf ihre Inhaltsstoffe hin
untersucht.
Also Entwarnung? Matthias Wolfschmidt von der Verbraucherorganisation foodwatch traut dem Braten nicht:
Wir vermissen immer noch, dass die Industrie klipp und klar sagt, wie der Geschmack auf die Pizza
kommt. Klaus Riebel ist vor dieser Frage nicht bange. Geduldig schleppt er in der Testküche Beutel voll
gefrorener vorgegrillter Zucchini an, schneidet Käse− und Schinkenecken, lässt Schältomaten kosten. Diese
würden nur von ausgewählten Lieferanten in Italien bezogen, die Ernten vor Ort kontrolliert, sagt der
Qualitätssicherer. Von einer Billigmischung à la Konzentrat plus Wasser plus Bindemittel hält Riebel gar
nichts, das sei etwas für Ketchup−Sozialisierte.
Aber Italien ist weit weg. Wie viele Transportkilometer hat die Pizza hinter sich? Was ist mit Mehl, Schinken,
Wurst, Käse? Die, so berichtet Riebel stolz, kommen allesamt aus Südwestdeutschland, der Hinterschinken
gar vom Fleischlieferanten auf der anderen Straßenseite. Die Zulieferer werden scharf kontrolliert. Sie müssen
nachweisen, dass ihre Produkte gentechnikfrei sind zumindest im Rahmen der derzeit geltenden
Nachweisgrenze von einem Prozent. Sonderangebote von fremden Zulieferern würden nicht angenommen.
Wir kaufen keine flottierenden Scampi aus einem geplatzten Geschäft, sagt Freiberger−Chef Morent strikt.
Gerade weil die Versorgungssicherheit so wichtig sei, arbeite man mit möglichst nahe gelegenen Zulieferern.
Tatsächlich ergab eine Studie des Öko−Instituts, dass die Herstellung einer Tiefkühlpizza letztlich weniger
Emissionen der Treibhausgase Kohlendioxid und Methan verursache als eine selbst zubereitete Mahlzeit.
Zwar gilt dies nur für eine allein essende Person, aber angesichts der rapiden Zunahme der Single−Haushalte
ist diese Betrachtung durchaus relevant.
Allerdings gibt es in der Erfolgsgeschichte des lebensmitteltechnischen Fortschritts seit Jahresbeginn einen
Missklang. Er kommt aus Bremerhaven, von einer Firma, die selbst gar keine Pizzen herstellt, und tönt
Frosta−Reinheitsgebot. Seit Januar verzichtet die Firma Frosta auf sämtliche Zusatz− und Ersatzstoffe, die
den Geschmack aufpeppen sollen. Als wir vor zwei Jahren eine umfassende Kundenbefragung vornahmen,
fanden wir zwei Hauptkritikpunkte: Die Verbraucher waren unzufrieden mit dem Geschmack und misstrauten
den Zutaten in Tiefkühlprodukten, erläutert Thomas Braumann, Vorstandsvorsitzender von Frosta. Und
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seien Sie mal ehrlich, würden Sie Ihren Lieben, die am Sonntag zu Besuch kommen, ein Tiefkühlfertiggericht
servieren?
Daher hat sich Frosta zu einem puristisch anmutenden Programm verpflichtet: kein Betacarotin in der Butter,
kein Carrageen in der Sahne, kein Nitritpökelsalz in der Wurst, nicht einmal Rieselhilfen fürs Speisesalz. Von
Aromen, Bindemitteln und den berüchtigten E−Stoffen ganz abgesehen. Frosta hat auf die ganzen faulen
Tricks verzichtet, die in der Branche gang und gäbe sind. Mir ist kein Tiefkühlkosthersteller bekannt, der
diesen Weg so konsequent gegangen ist, lobt selbst der Branchenkritiker Udo Pollmer.
Die faulen Tricks finden sich vor allem in den billigen Handelsmarken−Pizzen. Anders sind die
Dumping−Preise in den Kühltruhen von Aldi, Lidl oder Spar kaum zu erklären. Helmut Morent versichert
zwar, dass die größte Einsparung das Marketing beträfe. Billigmarken würden eben nicht beworben. Doch
gespart wird bei Billigprodukten auch an den Zutaten: Schmelzkäse statt Edamer oder Mozzarella, Plockwurst
statt Salami, Formvorder− statt richtigem Schinken. Und um trotzdem Geschmack vorzutäuschen, kommen
Aromen und Stabilisatoren zum Einsatz.
Die deutschen Verbraucher glauben immer noch, sie bekämen beim Discounter in jeder Hinsicht dieselbe
Qualität für weniger Geld, sagt der Verbraucherschützer Matthias Wolfschmidt. Und Heino Fangmann,
Projektleiter Audits des Lebensmittelprüfers Fresenius in Taunusstein, kann über die Widersprüchlichkeit der
Kunden nur lachen: In Befragungen sagen die Verbraucher immer, dass sie kein Nitritpökelsalz in der Wurst
wollen. Wenn die Wurst dann aber grau im Regal liegt, wird sie nicht gekauft.
Die Frosta−Initiative indes halten viele Groß−Pizzabäcker für verzerrt. Zusatzstoffe sind oft Extrakte aus
Lebensmitteln, sagt Klaus Riebel. So sei etwa Lecithin natürlicherweise in Eiern und Sojamehl enthalten.
Dieses Argument will Udo Pollmer nicht gelten lassen und kontert mit dem Beispiel des berüchtigten
Geschmacksverstärkers Glutamat. Der komme zwar natürlich auch in Parmesan vor. Aber weil Parmesan
teuer ist und einen starken Eigengeschmack hat, werde er meist durch isoliertes Glutamat ersetzt. Und das
kann eine ganz andere Wirkung entfalten, etwa den unerklärlichen Drang, mehr und mehr vom selben essen
zu wollen.
Schmeckt wie Skihandschuh
Doch fern aller wissenschaftlichen Diskussion stellt sich für den einfachen Verbraucher die Frage: Kann man
die Unterschiede schmecken? Dazu ist ein empirischer Test vonnöten, am besten mit einigen Freunden, zu
denen regelmäßige Fast−Food−Konsumenten ebenso gehören wie Bioköstler. Die Runde, die sich in der
Küche des Autors um ein Dutzend Tiefkühlpizzen von 99 Cent bis hin zu stolzen 4,39 Euro eingefunden
hat, kann zwar nicht den harten Standards eines wissenschaftlichen Blindfold−Tests genügen. Dennoch ist das
Urteil erstaunlich einmütig: Zwei Pizzen aus dem untersten Preissegment werden mit teils drastischen
Kommentaren verworfen schmeckt, wie ein Skihandschuh von innen riecht , drei hochwertige Pizzen
machen dagegen das Rennen. Der Spinat schmeckt nach Spinat, lautet hier das höchste Lob.
In einem sind sich alle einig: Eine gute Pizza erkennt man an der Konsistenz ihres Bodens und an diesem
unbeschreiblichen Gefühl beim ersten Bissen. Selbst mit hervorragenden Zutaten scheint es, als blieben der
Lebensmittelindustrie auf dem Weg zur perfekten Pizza noch zwei Hürden: der Boden und die Magie.
Für Ersteren braucht man vor allem einen erstklassigen Ofen. Ich habe Freunden, die nicht glauben wollten,
dass es am Ofen liegt, auch schon unsere Teigkugeln mitgegeben, sagt Michael Schlie, Inhaber des in
Hamburg gerühmten Restaurants Eisenstein. Sein Pizzaofen erreicht immerhin 400 Grad Celsius. Da kann
kein heimischer Herd mithalten.
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Und wer je einen Pizzabäcker beim Kneten, Schlagen und Hochschleudern der mehligen Fladen gesehen hat,
wird Ernst Ulrich Schassberger, Präsident der Initiative der Europäischen Chefköche Eurotoques, nicht
widersprechen: Der Teig braucht eine liebevolle Hand. Auch für Pietro Dedonno, der in München 30Jahre
eine eigene Pizzeria betrieben hat, ist die Sache ganz klar: Der Teig ist wie ein kleines Kind. Man muss ihn
schützen. So viel Gefühl bringt auch die vorbildlichste Pizzafabrik nicht auf.
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