Lichtensteigs Weg zu einem revitalisierten Stadtkern

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Lichtensteigs Weg zu einem revitalisierten Stadtkern
ZENTRUMSENTWICKLUNG
Lichtensteigs Weg zu einem
revitalisierten Stadtkern
Viele Gemeinden erleben in ihren Ortskernen einen negativen Strukturwandel: Die Läden ziehen
aus, Wohnungen stehen leer. Vor rund sechs Jahren hat die Toggenburger Gemeinde Lichtensteig,
die ebenfalls unter dieser Entwicklung litt, ein Projekt lanciert, um ihren historischen Kern
aufzuwerten. Durch vermehrte Sanierungstätigkeit konnte ein neues Mietersegment erschlossen
werden. Der Revitalisierungsprozess ist immer noch im Gang.
Die bauliche Verdichtung in den Ortskernen wird oft als wichtige Massnahme
gegen Zersiedelung genannt. Doch
viele Stadt- und Dorfkerne haben in den
vergangenen Jahren an Attraktivität
verloren und am meisten unter den negativen Auswirkungen der Zersiedelung gelitten. Auch Lichtensteig, eine
Kleinstadt mit knapp 2000 Einwohnern
im Herzen des Toggenburgs, hat einen
negativen Strukturwandel erlebt. Mit
dem Selbstverständnis als jahrhundertealter Markt-, Gerichts- und Gewerbeort für das Toggenburg wurden die
Veränderungen in der Siedlungsstruktur des Tals und der Bedürfnisse von Industrie und Gewerbe zu wenig wahrgenommen – es setzte ein schleichender
Abwanderungsprozess von Arbeitsplätzen ein.
Leer stehende Läden und Wohnungen
in der historischen Altstadt
Mit der erhöhten Mobilität und der damit verbundenen Veränderung des Einkaufsverhaltens der Bevölkerung beschleunigte sich der Abwärtstrend vor
rund 20 Jahren. Lichtensteig hatte den
grossflächigen Einkaufszentren, die verschiedene Fachmärkte vereinen, nichts
entgegenzusetzen. Für das Gewerbe
war das Raumangebot in der historischen Altstadt nicht überall passend.
Die Läden zogen in der Folge aus, die
Leerstände in den Gewerbe- und Ladenetagen waren ein augenfälliges Zeichen
des Strukturwandels. Schliesslich ging
mit der Abwanderung der Arbeitsplätze
in Lichtensteig und der Region die
Nachfrage nach Wohnungen – selbst im
Billigsegment – stark zurück. «Die Leerwohnungsbestände von über 50 Einheiten waren für unsere kleine historische
Stadt ein grosser Schock», sagt Roger
Hochreutener, Stadtpräsident von Lichtensteig. Der negative Prozess von ausziehenden Läden und leer stehenden
Wohnungen wirkte sich nicht nur im Immobilienbereich, sondern auch in den
Sozialstrukturen und den Gemeindefinanzen negativ aus.
Schweizer Gemeinde 11/12
Die Gemeinde Lichtensteig im Toggenburg konnte dank vermehrter Sanierungstätigkeit ihren
Stadtkern aufwerten.
Bilder: zvg
Stadtanalyse deckte die
strukturellen Schwierigkeiten auf
Im Mai 2006 informierte der Gemeinderat die Einwohnerinnen und Einwohner
über das Projekt «Schritte zur Weiterentwicklung von Lichtensteig». Das Ziel des
Projekts war, die Altstadtgebäude zu sanieren und aufzuwerten und damit Lichtensteig als Wohnstandort zu positionieren. Gleichzeitig sollte die Attraktivität
des Ortskerns gesteigert und die Qualität des Aufenthalts für Besucher kultureller Veranstaltungen und für Kunden
der spezialisierten Gewerbebetriebe,
Fachgeschäfte und Gastronomiebetriebe verbessert werden. Schliesslich
ging es darum, die Verkehrsanbindung
für den Individualverkehr und den öffentlichen Verkehr zu optimieren. «Es
war wichtig, zu Beginn des Prozesses
die Bevölkerung und die Eigentümer
der historischen Altstadtliegenschaften
zu sensibilisieren», sagt Hochreutener.
Durch die Zusammenarbeit mit dem
Netzwerk Altstadt konnte aufgezeigt
werden, dass Lichtensteig kein Einzelfall ist und viele andere Kleinstädte mit
den gleichen Problemen zu kämpfen haben. Die von Vertretern des Netzwerks
Altstadt erstellte Stadtanalyse deckte
die bestehenden strukturellen Schwierigkeiten von Lichtensteig offen auf. Ein
Thema war zudem das Spannungsfeld
im Ortskern zwischen Verkehr, Gewerbenutzung, Wohnnutzung und dem öffentlichem Raum als Ort für Freizeit, Kultur oder Veranstaltungen.
Nebst der Sensibilisierung wurden konkrete Entwicklungsschritte erarbeitet.
Hier spielte der Einbezug der Quartierbevölkerung in Form von sogenannten
Gassenclubs eine wichtige Rolle. Dadurch wurde die Akzeptanz der Massnahmen erhöht, was sich insbesondere
bei der erfolgreichen Umsetzung der
Zonenplanung, der Schutzverordnung
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und des Baureglements für die Altstadt
zeigte. «Die Gespräche unter den Eigentümern zeigten, dass Anliegen und Probleme weitgehend identisch sind und
man bereit ist, selber Massnahmen zu
ergreifen, um den Wohnstandort Altstadt zu halten und aufzuwerten», blickt
Hochreutener zurück.
Nach Hausanalyse stieg Bautätigkeit
in der Altstadt markant an
Sehr viele positive Effekte für die Wiederbelebung des Stadtkerns von Lichtensteig erzielte die sogenannte Hausanalyse, deren Kosten zu je einem Drittel Gemeinde, Kanton und Grundeigentümer tragen. Im Zentrum der
Hausanalyse steht die Wirtschaftlichkeitsberechnung einer neuen Nutzung
und die Beratung vor Ort. Der Grundeigentümer erhält einen detaillierten Bericht, in dem das vorhandene Potenzial
der Liegenschaft aufgezeigt wird. Durch
die Hausanalyse stieg die Umbautätigkeit in der Altstadt von Lichtensteig markant an, die Anzahl Baubewilligungen
hat sich innerhalb von sechs Jahren
mehr als verdoppelt. Dank der vermehrten Sanierungstätigkeit in der Altstadt
konnte ein neues Mietersegment erschlossen werden. «Die Neuzuzüger
schätzen die attraktiven und einzigartigen Wohnungen, Standardneubauwohnungen gibt es andernorts genug», sagt
Hochreutener und zählt weitere erfolgreich umgesetzte Massnahmen zur
Revitalisierung des Stadtkerns auf: «Die
Fassadensanierungen, die neue Altstadtbeleuchtung und neue Ladenlokale haben Charme in die historischen
Gassen und damit eine neue Aufenthaltsqualität gebracht.» Mit den
neuen
Stockwerkeigentumswohnungen komme eine «interessierte und en-
Eine renovierte Wohnung im ehemaligen Polizeigebäude, einer gemeindeeigenen Liegenschaft in der Altstadt von Lichtensteig.
gagierte Bevölkerung» als Wohnungseigentümer ins «Städtli».
Revitalisierung des Ortskerns –
ein intensives, langwieriges Projekt
Als Erfolgsfaktoren auf dem Weg zur Revitalisierung des Stadtkerns von Lichtensteig nennt Hochreutener den Einbezug der Bevölkerung und das Sensibilisieren für die Problematik des Strukturwandels. «Es ist nicht einfach, die
Resignation zu durchbrechen und zu
Veränderungen zu motivieren.» Die Gemeinde ging dabei mit gutem Beispiel
voran. Sie sanierte die eigenen Liegenschaften und schuf attraktive Wohnun-
Gemeinden und Gewerbe gemeinsam für belebte Zentren
Einer der politischen Schwerpunkte des Schweizerischen Gemeindeverbandes
(SGV) ist die Umsetzung einer nachhaltigen und zukunftsgerichteten Raumentwicklung auf Gemeindeebene, weshalb er insbesondere auch Revitalisierungsbestrebungen unterstützt. Zusammen mit dem Schweizerischen Gewerbeverband (sgv-usam) hat sich der SGV zum Ziel gesetzt, mögliche Massnahmen und
konkrete Handlungsfelder für erfolgreiche Revitalisierungen von Stadt- und
Ortskernen aufzuzeigen. An einer Medienkonferenz Mitte November in Bern
zum Thema «Gemeinden und Gewerbe gemeinsam für belebte Zentren» begründeten Hannes Germann, Präsident SGV, und Jean-François Rime, Präsident
sgv-usam, das Zusammengehen der beiden Verbände und erläuterten deren
Zielsetzung und nächsten Schritte. Gustave Muheim, Gemeindepräsident von
Belmont-sur-Lausanne, Luc Mentha, Gemeindepräsident von Köniz, und Roger
Hochreutener, Stadtpräsident von Lichtensteig, zeigten auf, wie die Ortskerne in
ihren Gemeinden revitalisiert wurden. SGV und sgv-usam sehen nun vor, die
Anzahl guter Beispiele zu erweitern und im kommenden Jahr einen Leitfaden
«Revitalisierung von Stadt- und Ortskernen» herauszugeben. Damit sollen kommunale Entscheidungsträger noch stärker für die Thematik sensibilisiert und für
entsprechende Projekte motiviert werden.
gen. Gleichzeitig unterstützte sie aber
auch die interessierten Privaten in der
Planung, mit Förderbeiträgen, in der
Energieberatung und mit der Vermittlung von Mietern. Sehr wichtig sei auch
die Motivation des Gemeinderates und
der verschiedenen Akteure, «denn in einem solch umfassenden Veränderungsprozess gibt es mindestens so viele
Rückschläge wie Fortschritte», gibt
Hochreutener zu bedenken.
Welche Ratschläge gibt Lichtensteigs
Stadtpräsident anderen Gemeinden,
die ihre Ortskerne revitalisieren möchten? «Man muss sich bewusst sein, dass
es sich um ein intensives, langwieriges
Projekt handelt. Die Analysephase sollte
eine Aussensicht und eine Innensicht
beinhalten. Bevor man sich auf Teilprojekte oder Instrumente fixiert, muss
man sich klar werden, welche einzigartigen Angebote es gibt – diese Chancen
sind konsequent auszubauen.» Externe
Berater könnten wertvolle Impulse geben, sie müssten jedoch zur Gemeinde
«passen». «Die Arbeit können aber nicht
die Externen bewältigen – den Karren
müssen die Gemeinderäte ziehen», betont Hochreutener. Schliesslich würden
nicht einzelne Aktionen zu einer Revitalisierung des Stadtkerns führen, sondern nur der Gesamtprozess. «Diesen
gilt es nun konstant weiterzuführen – in
der Politik, durch die Motivation der Investoren und vor allem auch in der Bevölkerung.»
Philippe Blatter
Schweizer Gemeinde 11/12
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