Es war eine schwere Geburt - Folgen traumatischer

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Es war eine schwere Geburt - Folgen traumatischer
VIRESHA J. BLOEMEKE
viva. Gesundheit in Wandelzeiten
Tel. 040-88 13 08 44
[email protected]
KÖRPER- UND TRAUMATHERAPIE
VORTRÄGE, SEMINARE
Es war eine schwere Geburt Folgen traumatischer Geburtserlebnisse und ihre Heilung
Wie wir als Hebammen unsere Begleitung von Familien1 nach einem belastenden Geburtserlebnis
unterstützend gestalten können, möchte ich an Hand eines Ihnen sicher bekannten Märchens der
Gebrüder Grimm vorstellen. Die bildhafte Sprache unterstützt durch die Illustrationen von Jutta
Wiesermann können die Reaktionen auf ein traumatisches Erlebnis und auch den Weg der
Heilung symbolhaft verdeutlichen.
„DER WOLF
UND DIE SIEBEN
GEISSLEIN“
Da lebt eine liebevolle Geiß mit ihren sieben Kindern. Sie hat ihre Zicklein gut auf die Gefahren des Lebens
vorbereitet und traut ihnen schon genug Selbständigkeit zu, sie nun einmal vorübergehend allein zu lassen.
Wir sehen hier ein Bild, das den inneren Zustand einer Schwangeren kurz vor Geburtsbeginn
darstellen könnte: Sie hat in ihrer Lebensgeschichte von Kindheit an durch alle Altersstufen bis
zum Erwachsensein hin Vertrauen in die Welt bekommen. Sie hat in jeder Lebensphase
Fähigkeiten entwickelt, die ihr im Umgang mit Herausforderungen zur Verfügung stehen, bis hin
zu den aktuellsten „Aufklärungen“, die sie im Laufe der Schwangerschaft durch ihre Form der
Geburtsvorbereitung erhalten hat. Sie hat ihre „inneren sieben Geißlein“ beisammen.
Nun beginnt mit der Geburt für sie eine neue Erfahrung, bei der sie sich nicht so sicher geschützt
fühlt. Sie ist aufgeregt aber guten Mutes, die Aufgabe zu meistern!
Mutter Geiß verlässt die Geißlein: Grosshirn-Aktivität wird geringer, Stammhirn mit automatischen
Überlebensfunktionen wird aktiv: Adrenalin-Ausschüttung verstärkt die Fähigkeiten, mit Gefahren
umzugehen.
Schon bald klopft der Wolf an die Tür. Aber die Geißlein erkennen ihn an seiner tiefen Stimme und lassen ihn
nicht ins Haus. Das ist ein starkes Gefühl!
Das Wissen um den Geburtsverlauf und das erfolgreiche Anwenden erlernter Methoden heben
die Stimmung der Gebärenden. „Gefahr erkannt, Gefahr gebannt!“ Die Frau fühlt sich in ihrer
Kraft, auch wenn die ersten Hürden auftauchen: Die Schmerzen werden stärker, die ersten
Untersuchungen sind geschafft, die Eröffnungsphase geht voran – für alles ist gesorgt.
Die Aktivität des Sympaticus und die Ausschüttung von Oxytocin fördern die Wehentätigkeit, in den
Wehenpausen bringt der Parasympaticus Entspannung und es können entsprechend große Mengen von
Endorphinen ausgeschüttet werden. Die Gebärende wird von den sie begleitenden Menschen und
besonders von der Hebamme gut unterstützt und kann sich so vertrauensvoll diesem rhythmischen,
physiologischen Prozess hingeben. Sie erlebt ihren aktiven Beitrag durch bewusste Atmung,
Körperwahrnehmung und Bewegung und fühlt sich der Aufgabe des Gebärens gewachsen.
1
Ich begrenze mich im Text auf die Mütter
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Aber der Wolf gibt nicht auf. Er kommt wieder und wieder und es wird schwerer für die Geißlein, sich zu
schützen.
Während der Geburt gibt es wohl für jede Frau Phasen, in denen sie wieder neue Kräfte
mobilisieren muss, um mit den zunehmenden Anforderungen zurrecht zu kommen: Seien es die
heftiger werdenden Kontraktionen, seien es Eingriffe, Komplikationen oder seien es menschliche
Herausforderungen durch den Partner oder das geburtshilfliche Team.
Wie es das Selbstbewusstsein hebt, die Kraft der Geburt mit achtsamer Unterstützung selbst
bewältigt zu haben, sehen wir an den vielen glücklichen und stolzen Müttern mit ihren
Neugeborenen auf dem Arm!
Nach einem Geburtsverlauf (sei er auch noch so schwer gewesen), bei dem die Frau in Kontakt mit
ihren Fähigkeiten geblieben ist und alle Eingriffe und Handhabungen als angemessene Unterstützung
nachvollziehen konnte, reguliert sich ihr Hirnstoffwechsel schnell und entlässt - - entsprechend der
vorher hohen Ausschüttung von Stresshormonen - - euphorisierende Stoffe nach der Bewältigung der
Gefahr.
Für die Frauen jedoch, bei denen während der Geburt „der Wolf“ alle ihre Fähigkeiten
verschlingt, sieht es ganz anders aus!
Die Geißlein erwarten hoffnungsvoll ihr Mütterlein und öffnen stattdessen dem bösen Wolf ihr Haus! Welch ein
Schrecken! Da hilft nur noch die Flucht und sich verstecken! Der Wolf findet alle und verschlingt sie mit Haut
und Haaren. Nur das Kleinste im Uhrenkasten hat er nicht entdeckt!
Hier sehen wir ein Bild, das uns zeigt, was bei einem traumatischen Ereignis geschieht: Das
Leben ist bedroht, Kampf ist nicht mehr möglich! Das Gehirn löst die automatischen
Überlebensreaktionen aus. Panische Flucht und, wenn das nicht mehr geht, Erstarren setzen ein.
Alle erworbenen „Coping-Kompetenzen“ werden verschlungen. Übrig bleibt das Zarteste, das
Schutzloseste, tief versteckt, abgekapselt und erstarrt - im Uhrenkasten.
Der Hirnstoffwechsel beim Trauma:
Wenn in einer bedrohlichen Situation weder Kampf noch Flucht möglich sind, führt dies zu einer
weiteren automatischen Überlebenshilfe unseres autonomen Nervensystems:
Die hohe Adrenalinausschüttung wird gebremst durch gleichzeitig erhöhte Parasympathikus-Aktivität:
es folgt Erstarren, ein Zustand ohnmächtiger Überwältigung.
Das limbische System ist in Aktion getreten, eine Hirnregion, die für die Sicherung des Überlebens in
Sekunden-Schnelle reagiert. Der Mandelkern (Amygdala) schlägt Alarm, blockiert den Hippocampus,
der für das biografische Gedächtnis zuständig ist (-> lückenhafte Erinnerung), dadurch geht die
Verbindung zum Sprachzentrum und zu anderen Bereichen des Frontalhirns verloren (-> sprachlos vor
Schreck). Die Amygdala sorgt fürs Überleben durch Dissoziation (-> Abspaltung von der Realität,
Entfremdungserlebnis): Selbstwahrnehmung wie außerhalb des Körperzuhauses, verringertes
Schmerzempfinden und Amnesie. Das Unerträgliche wird in einzelne hoch emotional geladene
Erinnerungsbilder fragmentiert und gespeichert („So etwas soll nie wieder passieren!“). Eine
fortbestehende Übererregung und Wachheit (Adrenalin für Kampf und Flucht waren bereitgestellt und
nicht genutzt) ermöglichen, auf fortgesetzte Gefahr zu reagieren und Momente zu erkennen, um sich
in Sicherheit zu bringen. Der Stoffwechsel sucht nach Vollendung der begonnenen Handlung, strebt
nach Rückkehr zu Entspannung und Sicherheit, der Feueralarm der Botenstoffe klingt aber nur
langsam ab.
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Kehren Sicherheit und Ruhe nicht bald danach ein oder wiederholen sich traumatische Erlebnisse, so
bleibt das Gefahrengefühl bestehen und der Zustand von maximaler Erregung und minimaler
Handlungsfähigkeit wird zur Gewohnheit. Auch bei geringen Herausforderungen, die von
Außenstehenden vielleicht nicht einmal als solche erkennbar sind, springt bei den Betroffenen das
System für Lebensbedrohung an und führt immer weiter zu Ohnmacht und Kompetenzverlust.
Mutter Geiß kehrt zurück und was muss sie sehen! Alles umgeworfen und zerbrochen und keins ihrer Kinder zu
sehen. Sie ruft sie nacheinander bei ihren Namen – keine Antwort – bis sie den Namen des Jüngsten nennt, und
es sich in seinem Versteck ängstlich zu erkennen gibt. Sie holt es heraus, lässt es erzählen, weint mit ihm und hält
es ganz fest im Arm.
Hier ist nun der Schlüssel für den Beginn unserer behutsamen Arbeit mit einer vom
Geburtserlebnis tief erschütterten Frau. Wenn wir spüren, dass eine Frau wie erstarrt und im
Körper nicht zu Hause ist, dass sie alarmiert erscheint, als wäre die Gefahr noch gegenwärtig,
wenn sie keinen Schlaf findet und gar nicht recht handlungsfähig ist, so sitzt sie noch sozusagen
„unentdeckt im Uhrenkasten“.
Die Symptome:
Die Überlebenshilfe des Erstarrens hat Symptome zur Folge, die als Posttraumatische
Belastungsreaktion beschrieben werden.
1. Konstriktion:
Der Schreck „fährt einem in die Glieder“. Das Leben geht weiter, aber es ist eigenartig fremd.
2. Intrusion:
ausgelöst durch Eindrücke der Gegenwart (trigger) kommt es am Tage zu spontanen ErinnerungsBlitzen (flash-backs), die mit starken Angstsymptomen einhergehen. Nachts quälen Alpträume, es
folgen Schlafstörungen.
3. Hyperarousal:
das Autonome Nervensystem bleibt im „Habacht-Modus“ und führt zu Schreckhaftigkeit,
Überaktivität und Überforderungsgefühlen.
4. Isolation:
Betroffene versuchen, allem auszuweichen, was als Auslöser für schreckliche Erinnerungen und
panische Gefühle dienen könnte. Sie ziehen sich eventuell sehr aus dem sozialen Leben zurück,
vermeiden Unternehmungen und Kontakte.
Wenn diese Reaktionen auf das traumatische Erlebnis mit der Zeit eher zunehmen und länger als ca.
ein Vierteljahr andauern, entsteht eine massive Lebensbeeinträchtigung, die Posttraumatische
Belastungsstörung PTBS, auf die sich noch weitere Krankheitsbilder aufsetzen können:
5. Komorbidität:
Mit wachsender Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit steigt das Risiko, dass sich zur vorhandenen
PTBS weitere gesundheitliche Probleme einstellen z. B. Sucht oder auch Depression,
Essstörungen, psychosomatische Beschwerden.
Das Neugeborene weint und braucht Halt von ihr. Es will gestillt und versorgt, liebkost und
beruhigt werden. Vielleicht ist es selbst zu tiefst erschrocken. Sie, die Mutter, aber ist nicht einmal
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bei sich selbst zu Hause. Wie soll da ein Liebesband entstehen, eine lustvolle Stillbeziehung
beginnen?
Sie erlebt die lauthals geäußerten Bedürfnisse ihres Kindes vielleicht wie eine fortbestehende
Bedrohung, die ihre Erstarrung aufrecht erhält und vor der sie sich nur weiter verstecken kann.
Wenn wir Fachleute nun bei ihr Fähigkeiten zur Bewältigung ihres neuen Mutter-Lebens
voraussetzen und sie auf den Einsatz von früher bei ihr sicher vorhandenen Stärken ansprechen,
werden wir keine Antwort hören und uns vielleicht sogar ärgern, dass sie nicht tut, was man doch
gerade mit ihr besprochen hat!
Sie kann nicht! Die „großen Geschwister“ – all ihre erlernten Bewältigungsstrategien - sind
verschlungen. Das ängstliche Kleinste müssen wir ansprechen und vorsichtig aus dem Versteck
befreien. Es muss erzählen dürfen, unser Mitgefühl spüren und bei uns Halt finden.
Stabilisierung:
Das auf die Lebensbedrohung weiterhin reagierende Nervensystem muss „mit allen Fasern“ wieder
Sicherheit erfahren und den Überschuss an Adrenalin abbauen können. Methoden der
Selbstberuhigung, eine sichere Umgebung und empathische Menschen, um das Erlebnis mitteilen und
die Gefühle ausdrücken zu können, helfen bei der Stabilisierung.
Die Geiß und ihr Jüngstes klagen und suchen zusammen nach dem bösen Wolf. Sie finden ihn schlafend mit sich
bewegendem Leib und schöpfen Hoffnung, alle von ihm verschlungenen Geißlein wieder ins Leben zurück zu
holen!
Wenn die Frau für den erlebten Schrecken und die Hilflosigkeit Gehör findet, kehrt bei ihr die
eigene innerliche Fürsorglichkeit auch wieder zurück. Sie kann ihre verschreckte Seele an die
Hand nehmen, klagen, die Ursache des Schreckens suchen und entdecken, wie sich langsam das
Leben wieder in ihr regt. Sie „geht in den Angriff“, um ihre alten Stärken wieder zu beleben und
in neu geborener Form für ihr Leben als Mutter zu nutzen.
Dabei können wir sie begleiten. Wir können ihr Mut machen, ganz genau hinzugucken, was
während der Geburt ihre tief gehende Ohnmacht und Erstarrung verursacht hat. Wir können ihr
helfen – vielleicht auch mit Hilfe des ausführlichen Geburtsprotokolls -, alle Vorgänge
nachträglich zu verstehen und Erinnerungslücken zu schließen.
Wir können betrachten, wo sie sich schuldig fühlt und für Entlastung, „Ent-schulden“ sorgen.
Wir können nachträglich dafür Raum geben, dass sie sich wehrt, wo sie ein Unrecht empfunden
hat, sich überwältigt oder missachtet gefühlt hat.
Aktiv werden:
Kampf und Flucht können nachgeholt werden, die Coping-Kompetenzen wieder belebt werden.
So werden die Mutter und ihr Zicklein aktiv, schneiden dem Wolf den Bauch auf und befreien nacheinander alle
sechs Geißlein, die er gierig ganz heruntergeschluckt hatte. Das ist eine Freude!
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Nun kann auch die frisch entbundene Mutter aktiv werden. Sie kann sich wehren, kann wütend
werden über alles, was ihr widerfahren ist.
Sie kann sich wieder alten Fähigkeiten zuwenden. Was hat ihr vor der Geburt zu Lebensfreude
verholfen? Was hat sie selbst getan, wenn sie früher Herausforderungen zu meistern hatte? Wen
hat sie um Hilfe gebeten, wen kann sie heute um Hilfe bitten? Schritt für Schritt können Sie
zusehen, wie die Stillende oder die Wöchnerin, die sie besuchen, so ihre eigenen Kräfte wieder
zurückerlangt.
Die Mutter erteilt den ins Leben befreiten Geißlein gleich eine Aufgabe: sie sollen Wackersteine herbeischleppen
und so viele in den Bauch des schlafenden Wolfes füllen, wie sie hineinbringen können. Dann näht sie ihn schnell
wieder zu, so dass er nichts merkt und sich nicht einmal regt.
Nun müssen die wieder erlangten Kräfte für die Aufgabe genutzt werden, die Erstarrung wieder
loszuwerden. Dabei soll der Schrecken der Geburt gleich alles Schwere der Vergangenheit mit
sich nehmen und sich in der Gegenwart der jungen Mutter möglichst nicht mehr regen!
Der Wolf erwacht durstig, läuft verwundert über das Rumpeln und Pumpeln in seinem Bauch zum Brunnen, fällt
durch die Schwere der Steine hinein und ertrinkt.
Das Erlebnis der Geburt verschwindet nach einigem „Rumpeln“ (Flashbacks) in der
Vergangenheit und verliert seinen Zugriff, seine emotionale Bedrohung in der Gegenwart.
Flashbacks und trigger:
Im Verlauf der Verarbeitung werden Situationen auftauchen, die als Auslöser (trigger) wirken und
Erinnerungen wach rufen, die mit heftigen Gefühlen einhergehen, als wäre die vergangene Gefahr
wieder gegenwärtig (flashbacks).
Die Mutter und ihre sieben Geißlein beenden das Märchen mit einem Freudentanz um den Brunnen herum und
rufen laut: „Der Wolf ist tot! Der Wolf ist tot!“
Mit dem Gewinn der verwandelten Kräfte entsteht neue Lebensfreude. Sie können mit der Frau
ein ihr gemäßes Ritual erdenken, mit dem sie den überstandenen Schrecken beendet Sie können
Ihre Freude laut und deutlich zum Ausdruck bringen, wie schön die Mutter ihrem Baby
Aufmerksamkeit zuwendet und wie die Liebe fließt!
Sie können Ihr Glück und Ihre Anerkennung aussprechen, wenn Stillprobleme gelöst und der
gesamte körperliche und psychische Heilungs- und Neufindungsprozess trotz anfänglicher
Hürden so gut gelungen ist!
Manche Frauen schreiben dann ihr persönliches Märchen, aus dem nach der Überwindung aller
Schrecken und Herausforderungen, aller gelösten Rätsel und besiegten Gespenster die Heldin
gestärkt und mit einem Geschenk belohnt hervorgeht.
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