In 80 Dingen um die Welt. Der Jules-Verne-Code
Transcription
In 80 Dingen um die Welt. Der Jules-Verne-Code
Leipziger Straße 16 D-10117 Berlin Telefon +49 (0)30 202 94 0 Telefax +49 (0)30 202 94 111 E-Mail [email protected] www.museumsstiftung.de Nr. 43/ Berlin, im September 2014 In 80 Dingen um die Welt. Der Jules-Verne-Code Ausstellungstexte Intro Wir schreiben das Jahr 1872. Am 28. März sitzt Jules Verne an seinem Pariser Schreibtisch und beginnt ein neues Manuskript: „Le Tour de Monde en 80 Jours“ setzt er in selbstbewusster Handschrift dicht unter den oberen Rand seines ersten Blattes. Wenige Monate später, am 24. August 1872, greift in Berlin ein anderer Mann zur Feder, um ein wichtiges Anliegen auf den Weg zu bringen: Generalpostmeister Heinrich von Stephan formuliert ein Schreiben an die Oberpostdirektion und legt darin den Grundstein für das erste Postmuseum der Welt, das heutige Museum für Kommunikation. Kurze Zeit darauf, am 2. Oktober 1872, steht ein dritter Herr – der englische Gentleman Phileas Fogg, Produkt der Phantasie Jules Vernes – im Londoner Reform Club und hört den weitsichtigen Satz: „Die Erde ist kleiner geworden, weil wir sie heute zehn Mal schneller umrunden können als noch vor 100 Jahren.“ Kurzerhand wettet er um die Hälfte seines Vermögens, dass er von einer Reise um die Welt in achtzig Tagen pünktlich zurück sein wird. Drei Geschichten, die im Jahr 1872 spielen – ein Zufall? Ja und nein. Eine direkte Verbindung zwischen Generalpostmeister Heinrich von Stephan auf der einen, Jules Verne und Phileas Fogg auf der anderen Seite gibt es nicht. Was sie dennoch verbindet, ist der Geist der Zeit und ein Gespür für die bahnbrechenden Entwicklungen des weltweiten Verkehrs und der globalen Kommunikation. Die Ausstellung „In 80 Dingen um die Welt. Der Jules-Verne-Code“ spürt dieser Verwandlung der Welt im späten 19. Jahrhundert nach. Sie nimmt Jules Vernes Roman In 80 Tagen um die Welt als Reiseführer durch die Sammlung der Museumsstiftung Post und Telekommunikation und die Zeit um 1872. Auf den Spuren des englischen Gentleman Phileas Fogg entfaltet sie ein Panorama der Globalisierung im späten 19. Jahrhundert. Heinrich von Stephan Heinrich von Stephan (1831-1897) ist die prägende Gestalt des deutschen und europäischen Postwesens im 19. Jahrhundert. Als Generalpostdirektor und Staatssekretär des Reichspostamts vereinheitlicht und organisiert er die neu gegründete Reichspost. Mit großem Sendungsbewusstsein entwickelt er sie zu einer der ersten gesamtstaatlichen Institutionen des noch jungen Reiches. Sie dient nicht nur der inneren Einheit, sondern stellt auch den imperialen Anspruch nach außen zur Schau. 1872 gibt er den Anstoß zur Gründung einer Sammlung zum Zweck einer „Übersicht über die Gestaltung des Verkehrswesens aller Zeiten und Völker“. Stephan ist auch die treibende Kraft bei der Entstehung des Weltpostvereins 1874, der entscheidend zum Ausbau eines grenzüberschreitenden Kommunikationsnetzes beiträgt. Als eine der ersten internationalen Organisationen setzt der Weltpostverein Impulse für eine Globalisierung unter europäischer Vorherrschaft. Datum Nr. 43/ Berlin, im September 2014 Jules Verne Jules Verne (1828-1905) ist einer der meistgelesenen Schriftsteller Frankreichs und In 80 Tagen um die Welt sein populärster Roman. Der Autor führt ein auffällig unauffälliges Leben. Nach Kindheit und Jugend in Nantes, einem Jurastudium und bescheidenen literarischen Erfolgen in Paris lässt Verne sich 1870 in Amiens nieder. Bis zu seinem Tod verlässt er die Stadt im Norden Frankreichs kaum mehr. Die Beschreibungen all der Länder, die er selbst nie besucht, der Ereignisse, die er selbst nie erlebt hat, saugt er aus Reiseberichten, Nachschlagewerken und akribisch ausgewerteten Zeitungen. Schon in Kindertagen soll Verne nach dem Schiffbruch mit einem Floß erklärt haben: „Ab jetzt werde ich nur noch im Traume reisen.“ Bibliothek der Weltreisenden Wissenschaftler, Missionare, Abenteurer, Kolonialbeamte, Touristen, Militärs… Auf den Straßen, Schienen und Seewegen der Welt sind neben Phileas Fogg um 1872 Weltreisende unterschiedlichster Couleur unterwegs. Ihre Abhandlungen und Reiseberichte tragen Bilder ferner Länder und Gesellschaften in die europäischen Metropolen. Die Beschreibungen zeugen von einem wachsenden Interesse an anderen Teilen der Welt. Mit stereotypen Darstellungen stützen und bestärken viele zugleich das Gefühl europäischer Überlegenheit und der vermeintlichen Rechtmäßigkeit kolonialer Herrschaft. Zur gleichen Zeit werfen Reisende aus dem Nahen und Fernen Osten einen eigenen Blick auf Europa. Ausgangspunkt „Dieser Mann schien die ganze Welt bereist zu haben – zumindest im Geiste.“ Phileas Fogg, der Protagonist des Romans In 80 Tagen um die Welt ist ein klassischer armchair traveller. Er besticht durch Wissen über ferne Länder, Kenntnisse der neuesten Erfindungen und weitschweifende Ansichten über Gott und die Welt – noch ehe er den bequemen Sessel seines elitären Londoner Clubs überhaupt verlassen hat. Im 19. Jahrhundert haben immer mehr Menschen in den Metropolen Europas teil an der Erschließung und Erfassung der Welt. Neue, zunehmend weltumspannende Telegrafen-, Eisenbahn oder Postdampferlinien eröffnen Horizonte. Zeitungen, frühe Illustrierte und Berichte von Weltreisenden befördern das Interesse an weltweiten Entwicklungen. Jules Vernes Roman und Heinrich von Stephans Postreformen teilen diese globale Perspektive, der vielfach eine koloniale und imperiale Dimension eingeschrieben ist. Datum Nr. 43/ Berlin, im September 2014 Um die Welt „Die Erde ist kleiner geworden, weil wir sie heute zehn Mal schneller umrunden können als noch vor 100 Jahren.“ Inspiriert und fasziniert ist Phileas Fogg von der Aussicht einer schrumpfenden Erde. Der englische Gentleman teilt damit eine verbreitete Weltsicht des späten 19. Jahrhunderts. Wie Heinrich von Stephan ist Fogg begeistert von technischen Innovationen. Und so wagt er den Wettlauf gegen Raum und Zeit. In acht Etappen – von London über Paris, Suez und Bombay bis Hongkong, Yokohama und die USA – entfaltet sich ein Panorama des Reisens im späten 19. Jahrhunderts. Die Vermessung und Vernetzung der Welt spielt dabei ebenso eine Rolle, wie die Beschleunigung des Weltverkehrs und Begegnungen zwischen Europa und anderen Teilen der Welt. Die Reiseutensilien und Fundstücke stammen zumeist aus der Sammlung der Museumsstiftung Post und Telekommunikation. Und manche Dinge werfen ihre Schatten voraus. Denn die Eindrücke unserer Reisen entfalten sich nicht zuletzt im Kopf. Ausblick „Wenn der Globus rundherum bereisbar ist, besteht die eigentliche Herausforderung darin, zu Hause zu bleiben und die Welt von dort aus zu entdecken.“ (Judith Schalansky, Atlas der entlegenen Inseln) Die rasante Verdichtung und Beschleunigung des globalen Personen-, Waren- und Informationsverkehrs ist eine prägende Entwicklung des späten 19. Jahrhunderts. Die vielfältigen neuen Netze, die sich um 1872 über den Globus legten, veränderten dabei auch das Bild von der Welt und ihre Wahrnehmung. Seit der Weltumrundung Phileas Foggs sind diese Netze bekanntlich ins Uferlose gewachsen. Gibt es da noch blinden Flecken? Und wie erfassen wir eigentlich heute die Welt? Als Armchair- oder Real-Life-Traveller? Mit dem Finger auf der Landkarte? Mit der Fernbedienung in der Hand? In 80 Clicks um die Welt? Mit wachsender Perfektion und alltäglicher Verfügbarkeit globaler Kommunikationstechnologien stellen sich die Fragen des realen vs. virtuellen Reisens umso plastischer. Pressekontakt Monika Seidel Telefon (030) 202 94 109 Telefax (030) 202 94 110 [email protected] www.mfk-berlin.de