Mir ist um die Jugend nicht bange

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Mir ist um die Jugend nicht bange
Kolumne
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Mir ist um die Jugend nicht bange.
Kolumne. Dr. Herbert Winkler über Vorurteile, Gemeinschaftsallergie und Werte der Jungen
von Dr. Herbert Winkler
K
ritik an der „heutigen Jugend“ gab es
zu allen Zeiten. Die essigsauren Phrasen wurden schon im Altertum schockgefroren und werden bei Bedarf immer
wieder aufgetaut: Die Jungen sind desinteressiert, vom Konsumwahn befallen und
das Einzige, was sie antreibt, ist Fun und
Action. Seit es den Computer gibt, wurde noch eines draufgesetzt. Jugendliche seien mehrheitlich unsportlich und hängen
den ganzen Tag vor dem Computer. Die Fähigkeit, gedruckte
Texte zu wiederholen, geschweige denn zu produzieren, gehe
bei den Schülerinnen und Schülern immer mehr den Bach hinunter. Jo, eh … nur stimmt es so nicht.
In etlichen Bereichen ist das Gegenteil von dem wahr, was
den Jugendlichen als negativ ausgelegt wird.
Empirische Studien in Deutschland zeigen ein überraschendes Ergebnis: Die Aufsätze der Schüler/innen sind in den letzten
vierzig Jahren erheblich länger und die Syntax ist deutlich komplexer geworden. Nix ist mit dem Niedergang der Schreibkultur.
Ich kenne aus meiner Profession als Psychologe Doktorarbeiten
aus den Sechzigerjahren, deren Umfang und Qualität heute
bestenfalls für die Graduierung als Bachelor reichen würde.
Nur so als Beispiel. Und noch eines ist auffällig: Die Ergebnisse
bei nonverbalen Intelligenztests, speziell bei den Faktoren, in
denen es um abstraktes Denken oder räumliche Orientierung
geht, sind in den letzten Dekaden gestiegen. Wer früher laut
Intelligenztest zu den klügsten zehn Prozent der Bevölkerung
zählte, würde heute unter die dümmsten fünf Prozent fallen.
Offenbar hat der immer komplexere Lebensstil die Menschen
zu intellektuellen Anpassungen geführt.
Was ist der Grund, warum es trotzdem so viele Vorurteile
gegenüber Jugendlichen gibt?
Vermutlich ist es das „Andersartige“, das stört. Jugendliche
irritieren, wenn sie sich dem Mainstream widersetzen und sich
vom Gesellschaftsvertrag absentieren. Umso exzentrischer junge Menschen von der gesellschaftlichen Norm abweichen, desto
mehr stört es die Gralshüter des Wahren, Guten und Schönen.
Ihr Benehmen wird als respektlos, ihre Freizeitkultur als hedonistisch und ihr Outfit als geschmacksbeleidigend empfunden.
Das war immer so.
Dabei dienen die Erwachsenen selbst als Escort-Unternehmen für den kritisierten Lebensstil. Erwachsene rauchen und
trinken Alkohol, rasen mit den Autos und laufen den Traumwelten der Hochglanzmagazine nach. Wen wundert es, wenn
Jugendliche die Erwachsenen nachahmen? Wenn Erwachsene
Normen für Jugendliche setzen, die sie selbst nicht einhalten,
nehmen diese die Normen auch nicht ernst. Der rauchende Vater, der seinen Kindern die Zigarette verbietet, macht sich lächerlich. Es ist nicht verwunderlich, dass bereits 12-Jährige Alkohol ausprobieren, rauchen oder erotische Kontakte suchen.
Das Internet legt die Welt der Erwachsenen in Wort und Bild
zur freien Entnahme auf und lässt in eine Sexual- und Gewaltwelt blicken, die keinen Genierer kennt.
Es wundert auch nicht, wenn sich junge Leute nicht sonderlich für Politik interessieren. Das hat viele Gründe. Auch als
Erwachsener weiß man schon nicht mehr, für wen in der politischen Szene die Schulds- oder Unschuldsvermutung zählt. Mitgliedschaften bei Vereinen oder religiösen Organisationen sind
auch kein Heuler. Trachtenvereine sind retro, Wandergruppen
sind schnarch. Die Schulpolitik trägt ihr Scherflein zur unbewegten Jugend bei. Mit dem Feigenblatt einer Turnstunde in der
Woche animiert die Schule sicher nicht zu einem sportlichen
Lebensentwurf.
Trotzdem haben Jugendliche keine Gemeinschaftsallergie.
Und schon gar nicht sind sie egoistische Konsumierer und unsolidarische Gesellen. Zumindest nicht in stärkerem Maß als es
Erwachsene sind. Werte wie Freundschaft, Gemeinschaft oder
Solidarität sind Schülerinnen und Schülern durchaus wichtig. Aber sie realisieren diese Werte in anderen Formen. Das
klassische Modell eines Vereines ist history. Sie haben einen
zu hohen Verbindlichkeitsanspruch. Jugendliche sind lieber
in informellen Kleingruppen. Diese lassen mehr Freiheit und
Individualität zu. Es gibt Hip-Hop-, Techno-, Sport-, Snowboardoder Facebookszenen. Dazu gibt es verschiedene Insignien des
Szenestils: eigene Hosen, Grußrituale, Hairstyles, Tattoos, Piercings. Nur wer die Rituale der Szene kennt, sich gruppenkonform kleidet und die angesagten Locations kennt, ist mit dabei. Das kann für ängstliche Eltern und wertkonservative Leh­rer/innen hohes Gastritispotenzial haben.
Aber so sehr sich die Jugendlichen auch in Geschmacksfragen von den Alten unterscheiden, so ähnlich sind ihre Werte
geblieben. Ausbildung, Arbeitsplatz, Partnerschaft, Kinder und
Treue sind nach wie vor die Spitzenreiter, wenn man die Zukunftswünsche von Jugendlichen erhebt. Die Ästhetik ist anders und das bürgerliche Vertragsmodell ist brüchig geworden.
Nichts ist aber schlechter geworden. Die Sorge, wohin sich die
Jugend entwickelt, war nie frei von Projektionen. Jugend ist seit
der romantischen Aufklärung immer ein Feld für Ängste und
Wünsche der Erwachsenen gewesen.
„Den größten Fehler, den die Jugend hat, ist der, dass man
nicht mehr zu ihr gehört“, sagte einmal Salvador Dali. Jo, eh.
Y
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