Diese PDF enthält ausschließlich das Vorwort - Björn

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Diese PDF enthält ausschließlich das Vorwort - Björn
Diese PDF enthält ausschließlich das Vorwort und die
Einführung der ursprünglichen Magisterarbeit. Seit
2010 ist die Komplettüberarbeitung im Verlag Dr. Kovač erschienen:
„Nutzen und Gratifikation bei Boys‘ Love Manga Fujoshi oder verdorbene Mädchen in Japan und
Deutschland“. ISBN 978-3-8300-4941-8
Daher wird gebeten, nicht mehr auf diese PDF oder
die Magisterarbeit, sondern nur noch auf die Überarbeitung zu verweisen.
Universität Leipzig
Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften
Ostasiatisches Institut — Japanologie
— FUJOSHI —
NUTZEN UND GRATIFIKATION BEI
BOYS' LOVE MANGA IN JAPAN
UND
DEUTSCHLAND
(Einführung; v1.2, Feburar 2010)
Magisterarbeit
eingereicht von
Björn-­Ole Kamm
(April 2008)
Gutachterinnen:
Frau Prof. Dr. Stef@i Richter und Frau Prof. Dr. Jaqueline Berndt
Über den Autor:
Björn-­Ole Kamm wurde 1981 im schönen Heidelberg geboren und lebte je-­
weils ein Jahr in Wakayama, Kyōto und Ichinomiya, Japan. Er studierte von 2002 bis 2008 Japanologie und Kommunikations-­ und Medienwissenschaf-­
ten an der Universität Leipzig und war ein Jahr Coordinator for Internatio-­
nal Relations in der Aichi-­Präfektur, Japan. Seit 2009 ist er Promovent an der Universität Leipzig.
Vorwort
„Swing, though, started in the wrong place. He didin‘t look around, and watch and learn, and then say, ‚This is how people are, how do we deal with it?‘ No, he sat and thought: ‚This is how the people ought to be, how do we change them?‘“
―― (Pratchett 2002: 164)
Es gibt viele unterschiedliche Wege, sich einem Phänomen anzu-­‐
nähern. Ich selbst bin fasziniert von Erkenntnistheorie und allen Fragen der Konstruktion sozialer Realität. Realitätsvermittlung und Realitätswirkungen von Medien sind zwei Bereiche, mit denen ich mich in den vergangenen Jahren oft auseinandergesetzt habe. Viele Elemente dieses Feldes sind eher philosophischer Natur als sozial-­‐ oder direkt medienwissenschaftlicher.
Für das vorliegende Projekt habe ich mich jedoch bewusst dazu entschieden, den Mantel des Kommunikationswissenschaftlers an-­‐
zulegen. Der Grund dafür ist, dass ich vom Prinzip der Angemes-­‐
senheit überzeugt bin. Kurz gesagt bedeutet dies, dass allein For-­‐
schungsfrage und Untersuchungsgegenstand die Methode der An-­‐
näherung bestimmen. In der vorliegenden Arbeit geht um es Rezi-­‐
pienten, Mediennutzung und Nutzungsmotive — das heißt, es geht um mehr als das de facto Manga, das man in Händen hält, sondern auch um die gesellschaftlichen, insbesondere aber um die situati-­‐
ven und persönlichen Kontexte der Mediennutzung. Seit über vier-­‐
zig Jahren wird dieser Bereich in den Kommunikationswissen-­‐
schaften versucht, theoretisch und methodisch zu bearbeiten — ii
man kann also auf ein großes Repertoire zurückgreifen. Die beste-­‐
henden Ansätze in diesem Feld wurden dabei immer wieder kriti-­‐
siert und somit auch weiter entwickelt, um der Forschungsfrage gerecht zu werden — ihr angemessen zu sein. Daher entschloss ich mich, auf diesen Werkzeugkasten zurückzugreifen.
Sowohl die qualitativ orientierte als auch die quantitativ orientier-­‐
te Forschung über Medien sieht Mediennutzung als etwas Alltägli-­‐
ches an. Alltägliches erfordert eine Erforschung im Alltag. Darauf verweist das obige Zitat, das zwar für Stadtwachen formuliert wurde, aber ebenso auf die Sozialwissenschaften übertragen wer-­‐
den kann. Im Mindesten bedeutet dies, dass man in den Kategorien der Menschen forscht, die man untersuchen möchte — und sich eben nicht nur auf seine eigenen Annahmen verlässt.
Diese Kombination aus Kommunikationswissenschaft und einer eher qualitativen Methodik ließ mich aber mit anderen Ansätzen härter ins Gericht gehen, als ich das von einer anderen Perspektive aus getan hätte. Aber ich denke, dass dies nur der Diskussion und weiterer Erkenntnisse dienlich ist.
Zum Abschluss dieses Vorworts sei gesagt, dass für mich Wissens-­‐
chaftlichkeit Intersubjektivität bedeutet — die Cultural Studies nennen es Nachvollziehbarkeit. Menschen können nicht ‚objektiv‘ sein, wir können es aber für andere möglich machen, unsere Ent-­‐
scheidungen nachzuvollziehen. Daher lehne ich eine Sprache ab, die vortäuschen soll, der Forscher sei vollkommen distanziert ge-­‐
genüber dem Untersuchungsobjekt. Zu Zeiten Durkheims war dies eventuell noch nötig — heute ist ein solches Anbiedern an die Na-­‐
turwissenschaften nicht mehr angebracht.
iii
Einführung
Boīzurabu (Boys‘ Love oder BL). Fujoshi (verdorbenes Mädchen). Diese beiden Begriffe, gefolgt von otome-­rōdo (Maiden Road) oder bukuro-­kei, womit man diejenigen meint, die die auf der Maiden Road be@indlichen Geschäfte und Cafés in Ikebukuro frequentieren, tauchen seit spätestens 2005 immer wieder in Berichten und Zei-­‐
tungsartikeln auf oder es werden Reportagen dazu gedreht (z.B. TV-­‐Tōkyō 2006). Worum geht es? Um Frauen, die Liebesgeschich-­‐
ten über zwei Männer mögen. Genauer gesagt, geht es um ihre Kau@kraft, denn der Markt der männlichen otaku1 erscheint abge-­‐
schöpft (Hardach 2008; Kaneda et al. 2007). Hier zeigen sich Paral-­‐
lelen zum deutschen Comicmarkt: die Entdeckung und der Import japanischer Manga ließen einen strauchelnden Sektor mit neuer Kraft erblühen (Tscharnke 2004; Wahl 2005) — auch hier: haupt-­‐
sächlich weibliche Leser und viele Geschichten über Liebe und Sex zwischen Männern (JETRO 2006b). In Japan besitzt das Thema so viel traction, dass ein Webcomic/Manga-­‐Blog über eine solche 1
Die Erklärung dieses Begriffs könnte Bücher füllen, daher soll unter otaku an dieser Stelle ‚extremer Fan‘ verstanden werden. Das englische Äquivalent ist nerd. Der Begriff wird oft negativ verstanden, sei es als aso-­‐
zialer Stubenhocker oder potentieller Mörder. Kennzeichnend ist ein da-­‐
tenbankartiges Wissen (vgl. Azuma 2001) zu einem bestimmten Thema: einstens nur manga, anime und Computerspiele. Heute gibt es auch Auto-­‐ oder Gesunheits-­‐otaku bzw. wurde der Begriff auch auf andere Interes-­‐
sensgebiete ausgeweitet (Yoshinaga 2007: 294).
1
fujoshi nicht nur als Taschenbuch aufgelegt, sondern auch ver@ilmt wurde (Kojima Ajiko, ab 2006: Tonari no 801-­‐chan) — und bei ei-­‐
nem ist es auch nicht geblieben. Zudem bot beispielsweise Pop Ja-­‐
pan Travel im April 2008 eine Fujoshi Paradise Tour an, so dass auch ausländische Fans das Mekka aller verdorbenen Mädchen (I-­‐
kebukuro) kennen lernen konnten. Im Februar desselben Jahres war die Tour bereits ausgebucht. Während in den 1990er Jahren die Inhalte in dem Sinne im Vordergrund standen (BL-­‐Boom), dass eine Kommerzialisierung des Genres Boys‘ Love einsetzte, erlebt das beginnende 21. Jahrhundert einen Fujoshi-­‐Boom. Dabei han-­‐
delt es sich aber nicht um ein ausschließlich japanisches Phäno-­‐
men. Auch die Videogame-­‐Industrie in den USA startete Projekte, um gezielt weibliche Spieler anzusprechen (vgl. fragdolls der Firma Ubisoft) und sich so die Kau@kraft von Frauen zu Nutze zu machen, während Wizards of the Coast, der Marktführer in Sammelkarten-­‐ und Tischrollenspielen (vgl. Dungeons & Dragons), dies in seinem Bereich versucht (vgl. Mazzanoble 2007). Im Internet ist gleichzei-­‐
tig zu lesen: „Nerds are sexy!“ In Japan geht man teilweise soweit, weibliche otaku bzw. fujoshi als ein neues Geschlecht Frau zu fei-­‐
ern, das die Fähigkeit besitzt durch ein Hobby wieder genug Ener-­‐
gie zu tanken, um eine Karriere zu verfolgen (Sugiura 2006b). Das Geschäft mit und die Diskussion über das Thema blüht.
Auch ich beschäftige mich mit den verdorbenen Mädchen und Frauen, die von sich küssenden und sich liebenden Männern in Hitzewallungen geraten (vgl. moe, Kapitel 1). Mein Zugang zu dem Thema ist dabei identisch mit dem Tanigawa Tamaes 1993: Die bisherigen Erklärungen, warum Frauen Fiktionen homosexueller 2
Männer lesen, sind unbefriedigend. Genauer gesagt: Die methodi-­‐
sche Herangehensweise ist oft dem Gegenstand nicht angemessen und/oder es besteht ein Mangel an Nachvollziehbarkeit, wie man zu den Ergebnissen gekommen ist. Wim Lunsing (2006) beschreibt die bisherige Vorgehensweise so: es werden eine Handvoll Manga gelesen, um dann darüber zu philosophieren, warum Frauen eroti-­‐
sche Geschichten ohne Frauen lesen. Jaqueline Berndt (2007: 7) bezeichnet dies als Hang zur Hermetik. Bedenkt man, dass jeden Monat über 150 Geschichten durch Verlage publiziert (Kaneda et al. 2007: 9) und Abertausende von Fans geschrieben und gedruckt oder ins Internet gestellt werden, erscheinen Analysen anhand von ein paar wenigen Exemplaren als nicht aussagekräftig. Auch be-­‐
schränkt man sich oft ausschließlich auf weibliche Leser, während männliche Rezipienten — seien sie selbst homo-­‐, hetero-­‐ oder bi-­‐
sexuell — ausgeklammert werden.
Bisherige Erklärungen reichen von der Annahme, dass die Fans zu unattraktiv seien, um einen ‚realen‘ Freund zu @inden (vgl. Yoshina-­‐
ga 2007: 82), dass sie zu sehr Angst vor ‚realem‘ Sex hätten (Ya-­‐
mada Tazuko 2007) oder sie nicht die Kraft hätten, sich gegen das Patriarchat aufzulehnen und somit in eine Welt der geschlechtslo-­‐
sen Fantasie @lüchten müssten (Nakajima 2005). Viele jüngere For-­‐
scher/innen (z.B. Kaneda 2007c; Nagaike 2003) haben bemerkt, dass diese essentialisierenden Aussagen weniger erklären, warum sich Frauen diesem Medieninhalt zuwenden, sondern eher Be-­‐
hauptungen über die Gesellschaft darstellen. Das Thema der Frau, die schaut, lässt sich ebenso gut für eine feministische Unterdrü-­‐
ckungsnarration instrumentalisieren wie für das Problem, dass die 3
Zahl der willigen ‚Gebärmaschinen‘ sinkt. Es wurde bereits früh angemerkt, dass beide Denkrichtungen das gleiche Frauenbild — der Frau als Negativum — aufweisen (Tanigawa 1993: 69f). Gen-­‐
erell wird Schritt 2 vor Schritt 1 gemacht: Es wird versucht, die Frage nach dem „Warum“ zu beantworten bevor man die Antwort auf das „Wie“ kennt.
Als Medien-­‐ und Sozialwissenschaftler ist man erleichtert zu lesen, dass eine neue Generation von Forscherinnen wie Kaneda Junko (2004) oder Nagakubo Yōko (2005) sowie Autorinnen wie Yoshi-­‐
naga Fumi (2007) oder Miura Shion sich aktiv zu Wort melden und auf die Probleme dieser „Warum“-­‐Frage von außen verweisen. Das Stichwort lautet ‚Äquivalenzkette‘ — ein Begriff, den die Dis-­‐
kurstheoretiker Laclau und Mouffe (1985, 3. Au@lage 2006: 167f) geprägt haben. Wie z.B. für Weiße in den USA alle Schwarzen gleich sind, sind für Außenstehende alle fujoshi gleich, das heißt bestehende Differenzen werden ignoriert (Yoshinaga 2007: 83). Es gibt nur eine Form der fujoshi und somit auch nur einen Grund der Zuwendung: Wirklichkeits@lucht. Fans, Insider, Autorinnen und Zeichnerinnen halten dem entgegen, dass sowohl für das Genre als auch für die Nutzungsgründe nur ein Begriff ausschlaggebend ist: tayōsei oder Vielfalt. Dies richtet sich gegen die Vorstellung, dass die Zuwendung sich aus der Persönlichkeit der Rezipienten ergibt (Kaneda 2007c: 52f) oder sie etwas Besonderes an sich haben müssten (Miura in Yoshinaga 2007: 137). Stattdessen sollte der Konsum (und das Schreiben) von Boys‘ Love als eine Geschmacks-­‐
richtung unter vielen gesehen werden. Sugiura (2006b) führt zu-­‐
4
sätzlich Überlegungen über andere Aspekte des BL-­‐Konsums ein, die über die konkrete Rezeption hinausgehen.
Für die Mediennutzungsforschung sind dies keine neuen Ideen. Obwohl der so genannten ‚klassischen Kommunikationsforschung‘ weiterhin der Makel anhängt, einer viel zu einfachen Kausallogik zu folgen — Stimulus-­‐Response-­‐Modell — hat sich in den fast 40 Jahren, seit dem diese Kritik das erste Mal von Stuart Hall geäußert wurde, vieles innerhalb der Medienwirkungs-­‐ und Mediennut-­‐
zungsforschung getan. Konzepte wie das des aktiven Rezipienten (Blumler & Katz 1974, der Uses-­‐&-­‐Grati@ications-­‐Ansatz; Rencks-­‐
torf 1989, der Nutzenansatz), das Moment der Erwartung bei der Mediennutzung (Palmgreen et al. 1980, der Erwartungs-­‐Beloh-­‐
nungsansatz) und dynamische Prozessmodelle (Früh 2003b, die triadisch-­‐dynamische Unterhaltungstheorie; Früh & Schönbach 1982, der dynamisch-­‐transaktionale Ansatz) stellen nur eine kleine Auswahl an Theorien dar, die sich vom simplen Wirkungsansatz verabschiedet haben. Diese Modelle sind selbstverständlich nicht perfekt oder gar ‚korrekt‘ — sonst wären sie keine Modelle — son-­‐
dern stellen sprachliche Hilfsmittel dar, um sich Prozesse und Um-­‐
stände wie z.B. den Konstruktionscharakter der sozialen Realität von Menschen bewusst zu machen. Gleichzeitig bieten sie explizite Konzepte für z.B. Unterhaltung oder Wirklichkeits@lucht/Eskapis-­‐
mus und somit Referenzrahmen für das Sprechen über Medien und Mediennutzung. In weiten Teilen der bisherigen Diskussion um Boys‘ Love und fujoshi blieben diese Aspekte rein implizit. Dies er-­‐
höht die Schwierigkeit, nachzuvollziehen, was genau gemeint ist. Ist beispielsweise Eskapismus ein Bedürfnis oder ein Modus des 5
Rezeptionserlebens? Ist Mediennutzung Teil des Alltags oder tre-­‐
ten Menschen aus der Wirklichkeit heraus, um Medien zu nutzen? Bedenkt man, dass heutzutage selbst das ‚Neue Medium‘ Internet bereits für ein Großteil der Menschen zum Alltag gehört (AGOF 2008: 7; Reitze 2006: 69) — von Buch und Fernsehen ganz zu schweigen — so sollte sich die Forschung ebenfalls dessen bewusst machen.
Ein Vorwurf gegen Boys‘ Love besteht häu@ig in mangelnder Reali-­‐
tätsabbildung, insbesondere im Bezug auf die dargestellten homo-­‐
sexuellen Beziehungen. Auch hier bestehen Missverständnisse, die in der Kommunikationswissenschaft lange überwunden sind. Zum einen liegt dieser Forderung nach mehr Realität eine implizite Ab-­‐
bildungstheorie zu Grunde (Früh 2003c: 265): es wird (implizit) die Existenz einer abgrenzbaren und erfahrbaren Wirklichkeit an-­‐
genommen, die unverzerrt abgebildet werden soll. Menschen und somit auch die von ihnen hergestellten Medien hingegen sind se-­‐
lektiv und konstruierend. Welche Bedeutung Menschen den Dingen zuschreiben ist das sich stetig wandelnde ‚Ergebnis‘ eines Prozes-­‐
ses (Blumer 1969: 1f). Gleichzeitig ist die Forderung nach einem unverzerrten Abbild nur sinnvoll, „wenn man annimmt, dies würde in dieser Form dann auch die Vorstellungen des Publikums prägen, d.h. zu unverzerrten Realitätsvorstellungen führen“ (Früh 2003c: 267). Dies entspricht dem von allen abgelehnten, aber konzeptio-­‐
nell selten abgelegten Stimulus-­‐Response-­‐Modell einer direkten Medienwirkung.
Manga und somit auch BL-­‐Manga sind mehr als nur das konkrete Heft oder Taschenbuch, das ich in Händen halte. Sie sind ein sozia-­‐
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les Medium, ein Medium im kommunikationswissenschaftlichen Sinne, ein Unterhaltungsmedium. Die eine Seite hat sie zwar als Medium bezeichnet, aber bisher nur vereinzelt den Schritt gewagt, sie theoretisch als solches zu fassen. Die andere Seite, die der Me-­‐
diennutzungsforschung, tendiert zu einer nordatlantischen Kul-­‐
turperspektive, das heißt man geht von einer Medienlandschaft aus, in der das Fernsehen der große Symbolproduzent ist, der die Sprache liefert, aus der sich die Menschen ihre soziale Realität formen (vgl. Gerbners Kultivationshypothese). An diesem Punkt des gegenseitigen De@izits soll diese Arbeit ansetzen:
Ich möchte versuchen, die kultur-­‐ und regionalwissenschaftlichen Kenntnisse um Unterschiede in der Medienlandschaft mit den Konzepten der Mediennutzungsforschung in Verbindung bringen. Dieser Versuch folgt dem Ruf nach Transdisziplinarität im Bereich der ‚Manga Studies‘ (Richter 2006: 210) und dem Ruf nach einem Dialog zwischen Medienwirkungs-­‐/Mediennutzungsforschung und Kulturwissenschaft, wie ihn bereits Blumler (1979) anstrebte und er seitdem immer wieder unternommen wird (vgl. Früh & Stiehler 2003).
Ich selbst nehme dabei die mehrschichtige Position sowohl eines Insiders als auch eines Outsiders ein. Insider bin ich in dem Sinne, dass ich selbst Boys‘ Love lese, aber vor allem, weil ich Praktiker bin. Ich designe Charaktere, sprich schöne Männer, die in tragische und sexuelle Beziehungen zu anderen schönen Männern verwi-­‐
ckelt sind, zeichne sie und verwende sie zwar seltener in Kurzge-­‐
schichten, dafür häu@iger für Erzähl-­‐ und Rollenspiele wie Dunge-­
ons & Dragons oder The World of Darkness. Ein Beispiel dafür sind 7
die drei untoten, aber unsterblichen Wesenheiten, die die erste Sei-­‐
te des Anhangs dieser Arbeit zieren. Als Insider teile ich in gewis-­‐
ser Hinsicht die Auffassung, die viele Zeichnerinnen und Autorin-­‐
nen des Genres in den Sonderausgaben zum Thema BL der Zeit-­‐
schrift EUREKA äußerten: Es macht Spaß, muss man mehr erklä-­‐
ren? Dass es vor allem Spaß macht, Geschichten über Boys‘ Love zu lesen und zu schreiben, spiegelt sich darin wider, dass ich (BL) Manga als Unterhaltungsmedium betrachte.
Outsider wiederum bin ich, da ich weder in die japanische noch in die deutsche BL-­‐community integriert bin. Mir war aber allein durch mein Dasein als lurker2 in entsprechenden Internetforen bewusst, dass der soziale Aspekt eine große Rolle — nicht nur bei BL — spielt. Daher entschied ich mich für die kommunikationswis-­‐
senschaftliche Perspektive, da sie genau diesen Faktor der Medi-­‐
ennutzung berücksichtig.
Mein erster Kontakt zum Genre geschah über die Lektüre von Male Homosexuality in Modern Japan – Cultural Myths and Social Real-­
ities (McLelland 2000). Das Thema sprach mich an, da ich schon immer den Sinn fester Geschlechterrollen nicht nachvollziehen konnte, die mir vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe, nur weil ich bei meiner Geburt als ‚Junge‘ identi@iziert wurde (vgl. Butler 1991). Von Frauen dargestellte weibliche Männer (Takara-­‐
zuka-­‐Revue) und androgyne Jünglinge faszinierten mich. Heute stimme ich nicht mehr mit allen Analysen McLellands dazu über-­‐
ein, halte aber eine seiner Fragen zu den homoerotischen Ge-­‐
2 Ein lurker ist jemand, der nur liest, selbst aber keine Beiträge verfasst.
8
schichten für Frauen dennoch für angebracht: „[...] few people react with surprise to the fact that male pornography is full of ‘lesbian’ sex. If heterosexual men enjoy the idea of two women getting it on, why should heterosexual women not enjoy the idea of two men bonking?“ (2001: 1). Die oben genannte Frage nach dem „Warum“ impliziert nämlich auch, dass Frauen keine Sexualität hätten, dass sie z.B. nicht masturbierten. Aber eine Herangehensweise, die BL rein als Pornographie auffasst, verfällt in das gleiche Schema der anderen Analysen, die aus den Texten bestimmte Nutzungsmotive herauszulesen versuchen anstatt sich die tatsächliche Nutzung an-­‐
zusehen.
Um der angenommenen Vielfalt gerecht zu werden, eigene Wis-­‐
senslücken zu schließen und um der Forderung zu entsprechen, dass Mediennutzungsforschung nur in den Kategorien der Rezipi-­‐
enten erfolgen kann, entschied ich mich für die Methode des epi-­‐
sodischen (=qualitativen) Interviews. Das Problem hierbei war der Zeitpunkt der Interviews. Für gewisse Erkenntnisse lag ein Groß-­‐
teil der Interviews zu früh im Forschungsprozess — andererseits boten sie mir eine Fülle an Informationen über das Genre und über seine Rezipienten. Dieses Vorwissen erlaubte mir, bereits bestehende Untersuchungen zu und Behauptungen über das Genre und seine Rezipienten auf ihren Gehalt hin prüfen zu können. Ich fällte die Entscheidung, auch Interviews in Deutschland durchzu-­‐
führen, weil eine der frühesten essentialisierenden Analysen (Bu-­‐
ruma 1988, Original 1984) und viele weitere (kürzlich z.B. wieder bei Yamada Tazuko 2007) die Zuwendung über eine Besonderheit der japanischen Gesellschaft begründeten. Diese Interviews dien-­‐
9
ten somit dem Zweck zu ermitteln, ob in einer Kultur außerhalb Japans die Zuwendung völlig andere Formen annimmt oder nicht 3.
Während man in Deutschland eine recht klare Einteilung der Sub-­‐
genre des BL kennt (eine romantische und eine erotische Variante), musste ich feststellen, dass in Japan die für die Subgenre benutzten Bezeichnungen teilweise andere Bedeutungen haben. Zudem sind die im Westen verbreitet Annahmen über die japanische Verwen-­‐
dung dieser Begriffe auch nicht immer korrekt. Genauso verhält es sich mit bestimmten Konzepten und Konventionen des Genres, die tatsächlich weniger klar und unumstößlicher sind, als viele an-­‐
nehmen. Daher beginnt diese Arbeit auch mit einer ausführlichen Darstellung der Bedeutungsvielfalt dieser Begriffe und Konventio-­‐
nen. Dies soll die Differenzierungen und Verwendungsweisen ebenso klarstellen wie eine kurze Genregeschichte bieten. Davor soll geklärt werden, was unter einem Medium ‚im kommunikati-­‐
onswissenschaftlichen Sinn‘ gemeint ist.
Das zweite Kapitel dient der Vorstellung einiger Beispiele der bis-­‐
herigen Untersuchungsvarianten. Die ‚Position der Vielfalt‘, wie sie durch z.B. Yoshinaga (2007) oder Kaneda & Miura (2007) vertreten wird und der auch diese Arbeit zuzuschreiben ist, wird nicht in diesem Kapitel behandelt werden. Die Grundannahmen wurden bereits in dieser Einführung umrissen und als Beispiel einer theo-­‐
3 Natürlich gibt es auch eine ‚nicht-­‐japanische‘ Form des BL: slash diction. Die Praktiker beider Formen wissen auch um einander und es gibt ge-­‐
meinsame Veranstaltungen wie z.B. die Yaoi-­‐Panel-­‐Discussion No. 7 bei der Science-­‐Ficiton-­‐Convention „Hamacon2“ 2007 in Yokohama. Aus Gründen des Umfangs kann aber in dieser Arbeit nicht auf slash einge-­‐
gangen werden. Für weitere Informationen siehe z.B. Kustritz 2003.
10
retischen und methodischen Herangehensweise soll die Perspekti-­‐
ve der Mediennutzungsforschung bzw. der Unterhaltungsfor-­‐
schung dienen. Diese werde ich im dritten Kapitel behandeln.
Das vierte Kapitel ist dem empirischen Teil meiner Untersuchung gewidmet. Hier stelle ich die gewählte Interviewmethode, die Art der Auswertung und die Ergebnisse vor. Letztgenannte werden mit den Konzepten des dritten Kapitels in Beziehung gesetzt. Zusätz-­‐
lich enthält dieses Kapitel eine entsprechende Auswertung von Fremdinterviews, die von Yoshinaga Fumi oder Kaneda Junko und anderen mit Praktikern des Genres durchgeführt wurden.
Der Schluss umfasst ein Fazit meiner Untersuchung und soll einen Ausblick für einen fortschreitenden Dialog in der Forschung bieten.
An den Hauptteil schließt sich mehrere Anhänge an: der Glossar, bisher in der Forschung verwendete Bedürfnistypologien und die Zusammenfassungen und Ergebnisse der Interviews. Auch ein Ex-­‐
kurs über Pornographie in Japan ist enthalten.
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