Und was ist mit den Helfern? Umgang mit sekundärer Traumatisierung

Transcription

Und was ist mit den Helfern? Umgang mit sekundärer Traumatisierung
UndwasistmitdenHelfern?
Umgangmitsekundärer
Traumatisierung
Dr.med.RainerJung
KlinikfürAllgemeinpsychiatrieundPsychotherapie
TraumaNetzwerkNiedersachsen|FachtagunginKönigslutteram30.Juni2011
Kasuistik1:EigeneErfahrung
Bevor ich Psychiater und Psychotherapeut wurde, arbeite ich mehrere Jahre in der
Anästhesieabteilung einer Universitätsklinik. Zu unserem Aufgabengebiet gehörte auch die
notärztliche Versorgung der Region. Ein Kollege kam eines Tages von einem dieser Einsätze zurück:
Ein kleines Kind war in ein Auto gelaufen und noch am Unfallort nach längerer Reanimation
gestorben. Nach diesem Ereignis konnte mein Kollege, selber Vater kleiner Kinder,
keine
Kindernarkosen mehr durchführen. Er begann in solchen Situationen stets zu zittern und hörte
dann, wie er mir einmal im Vertrauen erzählte, immer wieder die Schreie der entsetzten Mutter
des Kindes, das er vergeblich zu retten versucht hatte. Unsere Vorgesetzten reagierten bereits
nach wenigen Tagen, sogar öffentlich in den Klinikbesprechungen, mit Unverständnis, kränkendem
Spott und zunehmender Verärgerung. Von mangelnder fachlicher Eignung und von Unkollegialität
wegen der liegen gebliebenen Arbeit war die Rede. Der Kollege verließ später nach längerem
Krankenstand die Klinik. Die Geschichte wurde noch über einige Semester von meinem Chef, bei
dem ich Vorlesungsassistent war, im Hörsaal als „abschreckendes Beispiel für mangelnde
Belastbarkeit“ erzählt.
2
Kasuistik2:ErfahrungeinesKollegen
„Hinter mir lag ein langer Arbeitstag. Ich hatte Klienten gesehen, die sich in intensiven
Therapiestunden mit schmerzhaften Teilen ihrer Lebensgeschichte auseinandersetzten. Unter den
angesprochen und bearbeiteten Problemen waren Einsamkeit in der Kinderzeit, Quälereien und
sexueller Missbrauch. Nachdem der letzte Klient gegangen war, wollte ich einfach noch eine Weile
vor dem Weg nachhause innehalten. Es war ganz still im Haus. Es bemächtigte sich meiner ein
Gefühl unendlich tiefer Trauer. Ich bemerkte plötzlich, dass die Tränen aus meinen Augen rannen.
Mir war klar, dass meine Seele weinte – berührt von all dem Leid, das ich heute gehört hatte.“
Mit diesen Worten beschreibt der psychologische Psychotherapeut Jürgen Lemke ein persönliches
Erlebnis in seinem 2006 erschienen Buch über „Sekundäre Traumatisierung“.
3
AufDauergehtdasnichtgut…!
4
www.thomasplassmann.de
OpferhilfeNetzwerk:ProfessionelleundLaien
ƒ ProfessionelleHelfer
ƒ AkutmedizinischekörperlicheVersorgung
ƒ PsychotherapeutischeVersorgung,
spezielleTraumaTherapie
ƒ PsychosozialeInstitutionen(Behörden,
Beratungsstellen)
ƒ Seelsorge
ƒ ErmittlungsbehördenundGerichte
ƒ Gutachter
ƒ Rechtsanwälte
ƒ Verwaltungsbehörden
ƒ Medien
ƒ undandere…
ƒ Laienhelfer
ƒ Familie
ƒ Freundeskreis
ƒ Arbeitskollegen
ƒ spezifischesFachwissenaufunterschiedlichemNiveau
ƒ UnterschiedlichintensiverKlientenkontakt
ƒ EventuellkeindirekterKlientenkontakt
5
Gefahrenkette
Belastung
Überlastung
Burn-out
Sekundärer
traumatischer
Stress
allgemeineRisikenspezielleRisiken
6
Burnout
ƒ WesentlicheMerkmale
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
Freudenberger(1974)
Beruflichund/oderfamiliärbedingteschronisches Belastungssyndrom
Voranschreitendekörperliche,emotionaleundgeistigeErschöpfung
AnhaltendehoheArbeitsbelastung,meistaufmehrerenEbenen
UnerfüllteBedürfnisseundErwartungen
Desillusionierung,GefühlderUnlösbarkeit
ErhöhteReizbarkeitundNeigungzuZynismus
Oft:hoheLeistungsbereitschaft,hoherIdealismus,engeVerbindungvonLeistung
undSelbstwert
ƒ Nichtberufsgruppen undaltersspezifisch
ƒ VerlaufinStufen:hoherEinsatzreduziertesEngagementZusammenbruch
ƒ BisheutekeineeinheitlichewissenschaftlicheDefinition
ƒ KeineeigenständigeDiagnoseinICD10undDSMIVTR
Burisch(2006)
7
SpektrumSekundäreTraumatisierung(ST)
A AllgemeineDefinition(sieheKasuistik1)
ƒ BelastungdurchdasWissenübereintraumatischesEreignis,daseineranderen
Personwiderfährtoderwiderfahrenist
ƒ Helferistunmittelbaroderzeitnahanwesend(z.B.Augenzeugeoder
Rettungsdienst)
ƒ HelfertritterstnacheinigerZeitinErscheinung(z.B.Psychotherapeut)
B SpezielleDefinition(sieheKasuistik2)
ƒ AusbildungeinerübertragenenTraumatisierung,diezustandekommt,obwohl
derHelfermitdemtraumatischenEreignisnichtselbstkonfrontiertwurde
ƒ KeinedirektensensorischenEindrücke desPrimärtraumas
ƒ BeschäftigungmitdemEreignisistprinzipiellplanbarundsteuerbar
ƒ Beispiele:MitarbeiterinBeratung,Psychotherapie,Verwaltung,Justiz,u.v.m.
8
SpektrumSekundäreTraumatisierung(2)
ƒ UnübersichtlicheTerminologieinderFachliteratur:
ƒ SekundäretraumatischeBelastungsstörung(STBS)
ƒ Compassion Fatigue (Mitgefühlserschöpfung)
ƒ Vicarious Traumatization (StellvertretendeoderinduzierteTraumatisierung)
ƒ Traumatoid States
ƒ undvieleandere…
ƒ BislangkeinumfassendesKonstruktinSicht
ƒ KeineRepräsentanzinICD10bzw.DSMIVTR
Übersichtbei:Lemke(2006)
9
SpektrumSekundäreTraumatisierung(3)
ƒ SekundäretraumatischeBelastungsstörung(STBS)
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
Figley(1995)
HelferentwickelnposttraumatischeBelastungssymptomewiediePrimärOpfer
AnalogesReaktionsmusterwiebeiderPTBS:Intrusion,VermeidungundErregung
EreignisKriteriumAderPTBSnachDSMIVbeziehtsichexplizitauchauf
anwesendeBeobachteroderHelfer
ƒ Begriffentbehrlich:STBSistPTBS
ƒ Mitgefühlserschöpfung,CompassionFatigue
ƒ Figley(1995),Stamm(2002)
ƒ „Thereisacosttocaring“(Figley)
ƒ Biologische,psychischeundsozialeErschöpfungderHelferdurchnicht(mehr)
adäquatsteuerbareEmpathiefähigkeit
ƒ Kumulativer,schleichenderProzessodersprunghaft
ƒ UnscharfeGrenzezumBurnout
10
SpektrumSekundäreTraumatisierung(4)
ƒ StellvertretendeTraumatisierung,Vicarious Traumatization
ƒ McCann,Pearlman,Saakvitne (1990,1995)
ƒ LangfristigenegativeVeränderungkognitiverSchematabeiHelferninden
BereichenIdentität,SichtderWeltundSinndesLebens,betreffend:
ƒ GlaubeandieeigenepersönlicheUnverletzbarkeit
ƒ SichtderWeltalseinigermaßensichererundgeordneterOrt
ƒ VertrauenindieVerlässlichkeitderMenschen
ƒ Kumulativer,schleichenderProzessodersprunghaft
ƒ Traumatoid States
ƒ WilsonundThomas(2004)
ƒ IntegrationderKonzeptevonCompassion Fatigue undVicarious Traumatization
11
SpektrumSekundäreTraumatisierung(5):VereinfachtesModell
Überlastung
Burn-out
Sekundärer
traumatischer
Stress
Unmittelbare TraumaKontamination: PTBSnahe Symptome
Langfristige
Veränderungen
kognitiver Schemata
• Intrusion
• Selbstbild
• Vermeidung
• Weltbild
• Übererregung
• Menschenbild
12
ST:SymptomvielfaltaufunterschiedlichenEbenen(1)
ƒ EmotionaleEbene
ƒ Niedergeschlagenheit,Depressionen
ƒ AngstundBeklemmung
ƒ InnereAnspannung,erhöhteReizbarkeitundSchreckhaftigkeit
ƒ KognitiveEbene
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
Konzentrationsstörungen
Vermeidungsverhalten
Intrusionen
ErschütterungdesSelbst undWeltbildes
VeränderunginnererWerteundEinstellungen
13
ST:SymptomvielfaltaufunterschiedlichenEbenen(2)
ƒ KörperlicheEbene
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
Erschöpfungszustände
Schlafstörungen
Appetitverlust
ReduziertesSexualleben
GesteigerteInfektanfälligkeit
Schmerzzustände
ƒ GesundheitsschädigendeCopingstrategien
ƒ Alkohol,Rauchen,Koffein
ƒ Schlaf undSchmerzmittel
ƒ Ggf.weiterepsychotropeSubstanzen
14
ST:SymptomvielfaltaufunterschiedlichenEbenen(3)
ƒ BeruflicheEbene
ƒ Überengagement,Überidentifikation
ƒ Unterengagement,Empathierückgang
ƒ SozialeEbene
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
KonflikteinPartnerschaft,FamilieundamArbeitsplatz
ErhöhteStreitbereitschaft,Zynismus
Sichnichtausreichendverstandenundunterstütztfühlen
LeugnenvonÜberlastungszeichen(!)
15
ST:NeuropsychologischeHypothesen
ƒ Empathie
ƒ FähigkeitzurPerspektivenübernahmeundzurEmotionsübernahme
ƒ BedeutungderSpiegelneurone:NeuronaleResonanzzwischen„Sender“und
„Empfänger“durchBeobachtenoderdurchZuhören
ƒ Kindling
ƒ ZunehmendeSensibilisierungbestimmterHirnareale(Amygdala)durch
wiederholteAktivierung(hier:kumulativeBelastungdurchwiederholte
BeschäftigungmitTraumaMaterial)
ƒ Dissoziation
ƒ SchutzmechanismusderSeelebeiReizüberflutung:extremunangenehmeoder
bedrohlicheErfahrungenwerdenzeitweiligabgespalten(dissoziiert),indemsie
zumBeispielnichterinnertoderalsunwirklicherlebtwerden:jenachKontext
physiologischbishochpathologisch!
Daniels(2007);Kolassa etal.(2009)
16
DastäglicheABCderSelbstfürsorgeundPsychohygiene
ƒ „Achtsamkeit“:
ƒ AchteaufDichselbst,aufDeineeigenenBedürfnisse,GrenzenundRessourcen!
ƒ „Balance“:
ƒ AchteaufeinGleichgewicht zwischenArbeit,Freizeit undRuhe!
ƒ „Connection“:
ƒ BleibeinVerbindungmitDirselbst,mitanderenMenschenundmitderNatur!
Pearlman(1999);HaakundUdolf(2008)
17
ABCaufunterschiedlichenEbenen
ƒ persönlichePsychohygiene
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
Körperlich:Schlaf,Ernährung,Bewegung
Seelisch:Entspannung,Meditation,Musik,Kreativität,Naturkontakt
HeilsameKontakte:Menschen,Tiere
SchöneUmgebung,schöngestalteterArbeitsplatz
UnnötigBelastendesimAlltagmöglichstvermeiden(Nachrichten,aufregende
Filme,usw.)
ƒ professionellePsychohygiene
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
ƒ
Aus undFortbildung,Selbsterfahrung(auchimBereicheigenerTraumata)
Intervision,Supervision,eventuelleigeneTherapie
Ggf.spezifischeDistanzierungstechniken,Imaginationsübungen,EMDR
VerantwortungderVorgesetzten,Grenzenachten,Erholungszeiten
Arbeitsplatzatmosphäre,kollegialeUnterstützung
Netzwerke,Fachgesellschaften
Reddemann(2001,2003)
18
Psychohygiene:„Theoretischja,aber…“
ƒ Neurobiologie
ƒ ChronischernegativerStressreduziertimGehirndieFähigkeit,neuegute
Erfahrungendauerhaftabzuspeichern.
ƒ Symptomeleugnenundverstecken:vorsichundvorden
anderen
ƒ Betroffensindimmernurdieanderen.
ƒ Selbstbild:StolzundScham
ƒ HalbsatzdeschristlichabendländischenHelferideals:„LiebedeinenNächsten.“
ƒ KlassischesPsychotherapeutenEthos:ContainingumjedenPreis
(Reddemann,2003)
ƒ Deutschland:mglw.unbewussteAuswirkungenunverarbeiteterKriegs und
Nachkriegserfahrungen(Reddemann,2003)
ƒ MangelndesFachwissen
ƒ UnkenntniskritischerSymptome
ƒ NichtnurEinsatzkräfteundPsychotherapeutenkönnenbetroffensein!
19
Zusammenfassung
F
Alle Menschen,dietraumatisiertenPersonenhelfen,steheninderVerantwortung,
sichvorgefährlicherÜberlastungschützen.
F
BurnoutodersekundäreTraumatisierungzuerleiden,istaberprinzipiellniemandes
Schuld,sondernAusdruckunsererEmpathiefähigkeit.Essind„normale“Reaktionen
auf„unnormale“Informationen.
F
Alle professionellenHelferbenötigenWissen,ErfahrungundsozialeNetzwerke.
F
HelfernhilftdastäglicheABCderSelbstfürsorgeundPsychohygiene.
F
SelbstfürsorgeundPsychohygienesindÜbungssache.
F
Darandenken!
20
ZumAbschluss
Esistnichtgenug,zuwissen,manmussauchanwenden;
esistnichtgenug,zuwollen,manmussauchtun.
JohannWolfgangvonGoethe:
WilhelmMeistersWanderjahre(1821,1829)
21
LiteraturinAuswahl
Burisch,Matthias(2006):DasBurnoutSyndrom.TheoriederinnerenErschöpfung.Berlin,Heidelberg.
Daniels,Judith(2006):SekundäreTraumatisierung.KritischePrüfungeinesKonstruktes.Univ.,Diss.,Bielefeld
Fengler,Jörg(2008):Helfenmachtmüde.ZurAnalyseundBewältigungvonBurnoutundberuflicherDeformation.7.Aufl.Stuttgart:Klett
Cotta(Lebenlernen,77).
Figley,CharlesR.(1995):Compassionfatigue.Copingwithsecondarytraumaticstressdisorderinthosewhotreatthetraumatized.NewYork:
Taylor&FrancisRoutledge (Brunner/Mazelpsychosocialstressseries,23).
Figley,CharlesR.(2002):Compassionfatigue:psychotherapists'chroniclackofselfcare.In:JClin Psychol 58(11),S.1433–1441.
Jurisch,Florentine;Kolassa,IrisTatjana;Elbert,Thomas(2009):TraumatisierteTherapeuten?EinÜberblickübersekundäreTraumatiserung.
In:ZKlin Psychol Psychother 38(4),S.250261.
Lemke,Jürgen(2006):SekundäreTraumatisierung.KlärungvonBegriffenundKonzeptenderMittraumatisierung.Kröning:Asanger.
Pearlman,LaurieAnne;Saakvitne,KarenW.(1995):Traumaandthetherapist.Countertransferenceandvicarioustraumatizationin
psychotherapywithincestsurvivors.NewYork:Norton(ANortonprofessionalbook).
Reddemann,Luise(2003):EinigeÜberlegungenzurPsychohygieneundBurnoutProphylaxevonTraumatherapeutInnen.Erfahrungenund
Hypothesen.In:ZPPM(2003)Heft1,S.7986.
Rösing,Ina(2003):IstdieBurnoutForschungausgebrannt?AnalyseundKritikderinternationalenBurnoutForschung.Heidelberg:Asanger.
Saakvitne,KarenW.;Pearlman,LaurieA.(1996):Transformingthepain.Aworkbookonvicarioustraumatization.NewYork:W.W.Norton&
Company.
Stamm,BethHudnall (2002):SekundäreTraumastörungen.WieKliniker,ForscherundErziehersichvortraumatischenAuswirkungenihrer
Arbeitschützenkönnen.Paderborn:Junfermann (Reihe "Konzepte derPsychotraumatologie",1).
Thomas,RhiannonB.;Wilson,JohnP.(2004):Issuesandcontroversiesintheunderstandinganddiagnosisofcompassionfatigue,vicarious
traumatization,andsecondarytraumaticstressdisorder.In:Int JEmerg Ment Health 6(2),S.81–92.
22
Dr.med.RainerJung
LeitenderOberarzt
AWOPsychiatriezentrum
VordemKaiserdom10
38154Königslutter
Mail:[email protected]
23