Berner - Marcel Henry | Switzerland

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Berner - Marcel Henry | Switzerland
BZST V1
Seite 29
BZ-Rot
Schwarz
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FREITAG, 7. SEPTEMBER 2001 / ZEITUNG IM ESPACE MITTELLAND
KULTUR
H O L LY W O O D - F I L M E
BERNER TANZTAGE
5 Milliarden
in Kinokassen
Ein Wirbelsturm fegt durchs Büro
Dank eines Monsters,
einer Mumie und zweier
Polizisten schliesst Hollywood mit Rekordeinnahmen ab.
Brillantes modernes
Tanztheater: Die Compagnie Alias präsentierte an den Berner Tanztagen als Uraufführung
das Stück «L’odeur du
voisin», das intelligent
Privates mit Gesellschaftlichem verbindet.
Rekordsommer für Hollywood:
Die Kartenverkäufe für Filme
zwischen den US-Feiertagen
Memorial Day und Labour Day
(28. Mai bis 3. September) beliefen sich nach Angaben der Studios allein in den USA und Kanada auf insgesamt 5 Milliarden
Franken. Dieses Rekordergebnis
wurde mit einer deutlich geringeren Anzahl von Superstars als
in früheren Sommerkino-Zeiten
erreicht. Und selbst die wenigen,
die zu sehen waren, konnten
meist nicht für Supereinnahmen
sorgen. So blieb beispielweise
die
Komödie
«America's
Sweethearts» mit Oscar-Gewinnerin Julia Roberts und Katharine Zeta Jones hinter «Princess
Diaries» mit Nachwuchsdarstellerin Anne Hathaway zurück.
«Shrek» lässt nicht nach
Unangefochten an der Spitze
der Publikumsgunst lag – zur absoluten Überraschung der Filmbranche – das gemütliche grüne
Zeichentrickmonster «Shrek»
aus den DreamWorks-Studios.
Der Film spielte bislang in Nordamerika 450 Millionen Franken
ein. Das Fantasy-Abenteuer
«Die Mumie kehrt zurück»
brachte es auf 340 Millionen
Franken, dicht gefolgt von den
beiden prügelenden Polizisten
Jackie Chang und Chris Tucker
mit der actiongeladenen KrimiKomödie «Rush Hour 2».
Kalkulierte Hits floppten
Relativ enttäuschend schnitten dagegen Hollywoods sommerliche «Grosswerke» ab, die
mit enormem Reklameaufwand
in die Kinos gebracht worden
waren.
Die
monumentale
Kriegsromanze «Pearl Harbor»
spielte rund 329 Millionen ein
(bei geschätzten Produktionskosten von 234 Millionen). Zu
den grössten Flops des Sommers
2001 gehörte das Experiment eines Spielfilms mit ausschliesslich am Computer erzeugten lebensecht wirkenden Darstellern:
«Final Fantasy» nach dem
gleichnamigen Videospiel brachte denn lediglich 53 Millionen in
die Kassen.
sda/dpa
◆
hier ausschlaggebend zu sein,
sondern etwas Übergeordnetes,
dem sich alle unterwerfen müssen. Vielleicht hat Guilherme
Botelho hier an seine Heimat
Brasilien gedacht, in der die
Wirtschaftskrisen jeweils fast
wie Naturkatastrophen über die
Menschen hereinbrechen. Jedenfalls lässt er die ohnehin fragile, wenig kohärente Arbeitswelt auf der Bühne plötzlich von
etwas erzittern, das wie ein Wirbelsturm über die Menschen hinwegfegt.
Die Tänzerinnen und Tänzer
werfen sich unter die Bürotische
und halten einander an den Händen. Schuhe und Schreibutensilien werden durch den Raum geschleudert. Verzweifelt versuchen die Bürolisten standzuhalten. Aber auch das Publikum
wird vom tiefen, dröhnenden
Sound, der diese Szene begleitet,
durchgeschüttelt. Unwillkürlich
denkt man an alte Katastrophenfilme wie «Earthquake», bei denen die Zuschauer dank schlotternder Kinosessel die Wucht eines Erdbebens besonders intensiv erleben sollten.
Agathe Blaser
Es gibt Menschen, die brauchen
einen Raum nur zu betreten, und
schon ändert sich die Atmosphäre grundlegend. Zu diesen gehört
auch die Tänzerin Kylie Walters,
die in der Choreografie «L’odeur
du voisin» ein Restaurant betritt.
Kaum trippelt sie als schicke Dame über die Schwelle, wechselt
die Musik und alle Blicke ruhen
auf ihr.
Der Kellner, der eben noch alle Hände voll zu tun hatte mit einem streitenden Paar und einem
Tierfreund, der mit Mineralwasser einen toten Fisch zu reanimieren versuchte, lässt von seiner Kundschaft ab, um die Dame
in rauschendem Tanz zu ihrem
Tisch zu begleiten. Doch aufgepasst: Die Aufsehen erregende
Schöne hat ein kühles Herz. Ein
Herr, der sich galant an sie heranmacht, wird von ihr in einen
wilden Streit um ein Stück
Fleisch verwickelt und anschliessend gnadenlos mit einem
Selbstverteidigungsspray
aufs
Kreuz gelegt.
Düstere Arbeitswelt
Die Genfer Compagnie Alias
brachte mit diesen überraschenden und hervorragend getanzten
Szenen das Publikum in der Berner Dampfzentrale zum Lachen.
Die Choreografie «L’odeur du
voisin», die Guilherme Botelho
zusammen mit seiner Frau Caroline de Cornière inszeniert hat,
besticht aber auch durch ihren
eher ernsten und düsteren zweiten Teil. Dieselben Charaktere,
die zuvor im Restaurant mit
ihren Ticks und Marotten faszinierten, sind nun in einem äusserst nüchtern ausgestatteten
Grossraumbüro zu sehen.
Die Dame, die eben noch verbissen ihr Fleisch verteidigte,
entpuppt sich hier als brave Sekretärin, die so hektisch Briefe
tippt und am Telefon plappert,
dass sie bald einmal von Hitzewallungen überwältigt wird und
Mit wehender Krawatte Haltung bewahren: Das neuste Tanzstück der Genfer
Compagnie Alias handelt vom Überleben in der globalisierten Arbeitswelt.
sich hurtig sämtliche Kleider
vom Leib reisst. Den Kopf nach
hinten geworfen arbeitet sie fleissig weiter; niemanden kümmert
es, dass sie nun plötzlich aussieht wie ein beängstigend surrealer Torso von Francis Bacon.
Denn ihre adrett gekleideten
Kollegen haben nur Augen für
die vor ihnen aufgeschichteten
Papiere, die sie mit selbstvergessenen Gesichtern durcharbeiten
und einander hin und wieder
schlafwandlerisch zuschieben.
BILD MARC VANAPPELGHEM
Während im Restaurant die Persönlichkeit der Einzelnen und
kleine, skurrile Beziehungsdramen die Atmosphäre bestimmten, herrscht im Büro ein völlig
unpersönliches Klima. Nicht das
Zwischenmenschliche scheint
Überleben und vergessen
Heroisch, aber auch verblüffend unbekümmert wirken die
Bürolisten, wenn sie anschliessend wieder zu ihrem gewohnten
Alltagstrott übergehen, als ob
nichts geschehen wäre. Sie arbeiten auch ungerührt weiter, als
schliesslich vom Bühnenhimmel
fallende Papierblätter das Büro
in eine Schneelandschaft verwandeln.
Die Compagnie Alias hat die
hohen Erwartungen, die in sie
als Perle der Westschweizer
Tanzszene und als Lieblingskind
der Berner Tanztage gesetzt werden, einmal mehr erfüllt. Es ist
begeisternd, wie es den zwei
Tänzerinnen und drei Tänzern
gelingt, höchst komplexe Welten
auf die Bühne zu zaubern. Und
erfreulich, dass sie sich nicht damit zufrieden geben, das Publikum mit amüsanten Häppchen
abzuspeisen, sondern ihm mit
ihrer Sicht der Arbeitswelt auch
einen weniger leicht verdaulichen Brocken auf den Heimweg
mitgeben.
◆
Berner Tanztage: Für die beiden
Vorstellungen von Robyn Orlin, heute und morgen, sind noch Tickets erhältlich. Tel. 0848 800 800.
NEUES ARCHÄOLOGIEMUSEUM IN HAUTERIVE NE
K U LT O U R
Der uralte Alltag wird gegenwärtig
Forschung und Vergnügen unter einem Dach:
Das neue Archäologiemuseum «Latenium
parc et musée d’archéologie» bei Neuenburg
öffnet morgen seine
Pforten. Eine Reise in
die Vergangenheit.
◆
Marcel Henry
Die Palette der Ausflugsziele für
Familien und Wissensdurstige
wird um eine Attraktion reicher:
Das neue Archäologiemusem
«Latenium» in Hauterive bei
Neuenburg öffnet dieses Wochenende seine Pforten. Das 36
Millionen teure Projekt beherbergt über 3000 Fundobjekte aus
50 000 Jahren Zivilisationsgeschichte. Der Gang durch die
Ausstellung – konsequent zweisprachig beschriftet – ist eine
Reise in die Vergangenheit. Je
weiter man in der Ausstellung
voranschreitet, desto älter werden die ausgestellten Objekte.
Die Begründung dieses Ausstellungskonzepts liegt in der Arbeit
der Archäologen: Je tiefer gegraben wird, desto älter die Fundstücke. Die Reise beginnt im Mittelalter, führt über römische und
keltische Funde in die Eisenzeit,
dann in die Bronzezeit und
schliesslich in jene Epoche, in
der Menschen ihre ersten Spuren im Kanton Neuenburg
(45 000 v. Chr.) hinterlassen hatten. Weil bis zu dieser Phase in
der Geschichte eine Eiszeit dazwischen liegt, wird der Gang in
diesen letzten Ausstellungsraum
zu einem symbolischen Gang
durch die Eiszeit. Künstlich ist
Eis angelegt. Was folgt, ist ein
Raum, der eine Höhle darstellt.
Der Besuch wird zum Erlebnis.
Ein Ort mit Vergangenheit
Das Museum – das grösste und
modernste seiner Art in der
Schweiz – liegt herrlich gelegen
am Ufer des Neuenburgersees.
Es ist Teil des 20 000 m2 grossen
Archäologieparks, der bereits
letztes Jahr im Beisein von
10 000 Besuchern eingeweiht
wurde. Im Rahmen der Bauarbeiten der Autobahn A5 förderten Archäologen in diesem Gebiet zwischen den Jahren 1983
und 1989 archäologische Funde
zu Tage.
Ein Epochenbegriff
Und noch wichtiger: das Museum liegt nur zwei Kilometer
von «La Tène», einer keltischen
Fundstelle, die bei der ersten Juragewässerkorrektion zwischen
1868 und 1891 zum Vorschein
kam. «La Tène» ist für jeden Archäologen auf dem Globus ein
Begriff. Schon 1878 waren die
wichtigen Funde Thema eines
Kongresses in Stockholm. Damals wurde beschlossen, dass
der zweite Abschnitt der europäischen Eisenzeit als Latènezeit bezeichnet wird. Dieser Be-
griff wird auf die Zeitspanne von
etwa 500 v. Chr. bis zur römischen Besetzung des keltischen
Gebietes im ersten Jahrhundert
vor Christus angewendet.
Alles unter einem Dach
Mit dem Latenium ist nicht
nur ein neues Ausflugsziel entstanden, sondern auch ein wichtiger Ort für die archäologische
Forschung. Das Gebäude, das
von Architekt Laurent Chenu
konzipiert wurde, beinhaltet neben den 2500 m2 Ausstellungsfläche auch das archäologische
Institut der Universität Neuenburg und den archäologischen
Dienst des Kantons Neuenburg.
Unter dem selben Dach befindet sich zudem ein Restaurierungsatelier, das über die neusten Techniken der Konservierung verfügt. Denn Archäologie
ist nicht nur Vergangenheit. Die
Objekte sollen auch zukünftigen
Generationen erhalten bleiben.
Und der reiche Boden rund um
die drei Seen bringt dauernd
neue Funde hervor, wie letztes
Jahr: Etwa fünf Meter unter der
Erde wurde beim Bau der Standseilbahn, Fun’ambule, die den
Bahnhof Neuenburg mit der Arteplage der Expo 02 verbindet,
eine Pfeilspitze aus Kristall entdeckt. Das Fundobjekt ist eine
Rarität. Es stammt aus der Mittelsteinzeit und besteht aus reinem Bergkristall aus dem Wallis.
Michel Egloff, Direktor des Latenium und Professor an der
Universität Neuenburg, stellt die
völlig transparente Pfeilspitze
bewusst in den Eingangsbereich
des Museums, um die jährlich
40 000 erwarteten Besucher
auch mit der Gegenwart der archäologischen Forschung zu
konfrontieren.
◆
Ausstellung: Latenium, Espace Paul
Vouga, Hauterive NE. Di–So 10–17
Uhr.
Eröffnung: 8./9.September
10–17 Uhr. Informationen: 032
889 69 10 oder www.latenium.ch.
Moslems sind empört über
Roman von Houellebecq
Mit seinem Roman «Plateforme» hat der umstrittene
französische Autor Michel
Houellebecq Araber und Moslems in Europa gegen sich
aufgebracht. Sie wollen den
weiteren Verkauf des Buches
per Gerichtsbeschluss stoppen. Houellebecq stehe allem, was islamisch oder arabisch sei, feindselig gegenüber, erklärte die «Nationale
Föderation
der
Muslime
Frankreichs».
dpa
Französischer Ex-Minister
Dumas hat Ärger mit Justiz
Gegen den ehemaligen Aussenminister Roland Dumas
wurde im Zusammenhang mit
der Erbschaft des Bildhauers
Alberto Giacometti Anklage
erhoben. Dumas war Testamentsvollstrecker der 1993
verstorbenen Witwe Giacomettis und soll 600 000 Franken unterschlagen haben.
Sein Anwalt bezeichnete die
Anklage als «absurd».
sda