Der Kleine Prinz von Mantes-la-Jolie

Transcription

Der Kleine Prinz von Mantes-la-Jolie
Der Kleine Prinz von Mantes-la-Jolie
(Isolde Heine)
Mantes-la-Jolie liegt eine halbe Autostunde westlich von Paris und ist eine Stadt mit allen
Problemen, die Satellitenstädte von Ballungszentren an sich haben: Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, hoher Ausländeranteil, Drogen, Gewalt. Die Schule dort trägt den Namen des
französischen Schriftstellers Saint-Exupéry.
Dies wusste ich schon vor meiner Lesereise, denn die jüngsten gewalttätigen Ausschreitungen in der Stadt waren wenige Wochen zuvor auch durch deutsche Medien bekannt geworden. Trotzdem machte mich die Atmosphäre dieser Stadt betroffen. Wohnsilos, Hochhäuser, deren Türen und Fenster wegen Einsturzgefahr zugenagelt waren, eine riesige
Schule aus Beton, kümmerliches Grün, dafür Grau überall. Die dürftigen Reste der ursprünglichen Stadt mit der Kirche muteten an wie der rührende Versuch, den abweisenden
Eindruck dieser Betonlandschaft zu mildern.
Einladend war das alles nicht gerade, eher abweisend. Zumal mir die Lehrkräfte noch Einzelheiten erzählten, was die beängstigende Gewaltbereitschaft Jugendlicher betraf. Aber
sie zeigten mir auch eine weiss gekalkte Wand, auf die in schwarzer Farbe eine Art Demonstrationszug gesprüht worden war. Die Geschichte dazu war folgende: Die Polizei hatte Jugendliche festgenommen, die sich an Krawallen und Vandalismus beteiligt hatten. Es
war eine grosse Aktion und langwierige Verhöre folgten. Einer der jugendlichen Täter benötigte dringend sein Asthmamedikament, das ihm die Eltern ins Untersuchungsgefängnis
brachten. Es wurde ihm nicht ausgehändigt. Der Junge starb bei einem Anfall.
Die Graffitiwand war von den Schülern zur Erinnerung gestaltet worden. Sicherlich auch
als Mahnung. Kein einziger Farbtupfer lockerte die Darstellung auf. Zwischen den Betonwänden wirkte sie beklemmend. Und so aussichtslos.
Und doch hatte diese Schule noch ein zweites Gesicht, das sich mir erst in einer Pause zwischen den Lesungen offenbarte. Ein kleines begrüntes Geviert, eine Art Hof innerhalb dieser Betonmauern. Diagonal einander gegenüber standen eine Büste von Antoine de SaintExupéry und eine Statue seiner literarischen Figur, des Kleinen Prinzen. Beide nicht gerade gross, und wer wollte, konnte sie auch übersehen. Sicher wurden die beiden meistens
auch nicht mehr bewusst wahrgenommen, so wie man sich an einen Tisch gewöhnt oder an
einen Schrank, der im Zimmer steht.
Aus irgendeinem Grund war die Schule an diesem kalten Dezembertag nicht geheizt. Ich
hatte zwischen meinen Lesungen eine Pause, und so stellte ich mich an einer Mauer in die
Sonne, um mich etwas aufzuwärmen. Vor mir lag der kleine Rasenplatz mit seinen beiden
Figuren. Ich hatte Zeit, auch zum Nachdenken über alles, was mir über die Stadt und die
Schule bekannt geworden war. Wie schon so oft dachte ich: Warum bauen sie solche Betonklötze für Kinder? Eine Schule sollte ein zweites Zuhause sein, wo man gern hingeht,
sich wohl fühlt, schöne Erinnerungen daran für sein Leben lang behält…
Da sah ich ihn. Er war klein und schmächtig. Die Jeanshose schlotterte um seine Beine,
das blonde Haar hing ihm verschwitzt ins Gesicht. Von der Unterlippe lief eine dünne
Blutspur, die das Sweatshirt beschmutzte. Das Kerlchen, es war sicher älter, als es wirkte,
rührte mich an. Man sah auf den ersten Blick, dass ihn andere zusammengeschlagen hatten.
Ich hielt ihn an der Schulmappe, die er hinter sich herschleifte, fest. »Was ist passiert?«
Er blieb stehen und schaute mich an. In seinen Augen glänzten Tränen, um seinen Mund
zuckte noch die Angst. »Sie wollten Madame Dufours Auto umkippen.« Ich erinnerte mich
an das, was ich über Gewalttätigkeiten, auch Lehrkräften gegenüber, gehört hatte. Umgekippte und danach ausgebrannte Autos gehörten dazu. »Und das wolltest du verhindern?«
Der Kleine nickte. Ich nahm ein Papiertaschentuch und wischte ihm das Blut vom Kinn.
5
10
15
20
25
30
35
40
45
»Wer ist Madame Dufour? Deine Lehrerin?«
Wieder nur ein Nicken.
»Du magst sie, nicht wahr? Sonst hättest du dich ja nicht für sie eingesetzt.«
»Sie ist ein guter Mensch«, sagte der Kleine. »Aber das nutzen sie aus. Man muss sie beschützen.«
Ich lächelte sicher ein wenig ungläubig, denn der Junge beteuerte: »Sie ist wirklich gut. Ihr
Herz ist gut. Ich kann nicht zulassen, dass sie ihr weh tun.«
»Haben sie denn das Auto umgekippt?«, fragte ich.
»Nein!« Das blasse Gesicht färbte sich ein wenig rosa. »Ich habe mich vorn draufgesetzt,
und sie mussten mich mit Gewalt runterzerren. Dadurch vergassen sie, was sie vorhatten.«
Das war mutig. Ob Madame Dufour jemals davon erfahren würde, was ihr Schüler für sie
getan hatte? Sie war um ihren Beschützer zu beneiden.
»Wie heisst du?«, fragte ich ihn.
»Antoine. Merci, Madame.« Er drückte das Papiertaschentuch gegen seine blutende Lippe.
Dann bückte er sich und nahm die Schultasche vom Boden auf. Ich sah, dass auch seine
Hände zerschrammt waren. Er hatte sich wehren müssen.
Ich schaute ihm nach, als er davonging. Die Schultasche schleifte er wieder auf dem Boden
hinter sich her, die Schultern hingen nach vorn. Er wirkte zerbrechlich und traurig.
Was hatte er gesagt? Man muss sie beschützen. Ihr Herz ist gut. Ach, du kleines Kerlchen,
dachte ich. Nicht jeder Mensch, der ein gutes Herz hat, kann beschützt werden. Mir fielen
Sätze aus Saint-Exupérys Erzählung ein: »Du weißt – meine Blume – ich bin für sie verantwortlich… sie ist so schwach … Sie hat vier Dornen, die nicht taugen, sie gegen die
Welt zu schützen…«
Es war wohl, weil ich zu lange in die Sonne geschaut hatte, dass Antoines Gesicht verschwamm und mit dem des Kleinen Prinzen von der Statue eins wurde. Ich dachte: Das ist
das andere Gesicht dieser Stadt, die voller Gewalt ist. Man muss auch die unsichtbaren
Dinge sehen, wie das gute Herz von Madame Dufour, für das der kleine Antoine sich gegen die Grossen gestellt hat. Sicher hatte er sehr viel Angst dabei. Und seine Lehrerin wird
nie erfahren, wie mutig er war…
»Es geht weiter!« Monique, die mich während meines Aufenthalts betreute, holte mich zur
nächsten Lesung ab. Ich ging mit ihr triste eintönige Gänge entlang, in denen ich mich bestimmt nach Monaten noch verlaufen würde. Schülerinnen und Schüler kamen uns entgegen, eilig das Klassenzimmer suchend, in dem sie die nächste Unterrichtsstunde hatten.
»Gibt es bei Ihnen eine Lehrerin mit dem Namen Dufour?«, fragte ich, noch etwas atemlos
vom Treppensteigen. »Sie unterrichtet sicher bei den Kleineren.«
Monique überlegte. »Nein, kenne ich nicht«, sagte sie. »An dieser Schule arbeiten fast
zweihundert Lehrkräfte.« Es erübrigte sich, nach einem Schüler zu fragen, der Antoine
heisst.
Schade, dachte ich. Vielleicht hatte ich das alles auch nur geträumt, einen Tagtraum in der
winterlichen Sonne gehabt. Zwischen Betonmauern und vor einem Rasengeviert, angesichts einer kleinen Statue, die den Kleinen Prinzen darstellt.
Und vielleicht hatte ich mir das alles auch nur gewünscht. Ich werde manchmal gefragt,
warum ich Geschichten schreibe und wovon sie erzählen. Ich sage dann: »Meine Geschichten handeln oft von denen, die sich nicht wehren können …«
Ich bin mir nicht sicher, ob das noch stimmt. Man kann sich wehren. Aber es gehört viel
Mut dazu. Und manchmal nützt auch der nichts. Wehren aber muss man sich.
50
55
60
65
70
75
80
85
90