Der Kamm`sche Kreis –

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Der Kamm`sche Kreis –
Fahrphysik und Verkehr
Der Kamm’sche Kreis –
Wie stark kann man beim Kurvenfahren Bremsen
M. R. Risch
1 Maximale Bremsverzögerung und maximale
Beschleunigung bei radgetriebenen Fahrzeugen
Bei Laien herrscht die Vorstellung vor, dass man umso
schneller mit einem radgetriebenen Fahrzeug beschleunigen
kann, je stärker der Antrieb ist. Jeder Fahrer macht jedoch
die Erfahrung, dass bei „zu starkem“ Beschleunigen (oder
„zu starkem“ Bremsen) die Räder durchdrehen. Die physikalische Grenze für dieses Durchdrehen kann man durch Betrachtung des Kräftegleichgewichtes am Rad finden. Sowohl
Beschleunigen als auch Bremsen sind durch die Physik auf
Maximalwerte begrenzt, die durch die Haftreibungskraft der
Reifen gegeben sind [1 – 5]. Das Kräftegleichgewicht am Rad
wird zunächst für den Fall der Beschleunigung betrachtet, da
dieser Fall bei nur einer angetriebenen Achse sich mit einigen Annahmen stark vereinfachen lässt, siehe Abb. 1.
Aufstellung aller Kräfte bei Vernachlässigung der Luftströmungskräfte mit Gleichgewicht (nach d`Alembert) [6 – 8]:
• Die Beschleunigung a ist nach vorn gerichtet und wird
im Schwerpunkt S angetragen
• Die Beschleunigung a ist, von außen gesehen, mit der
Beschleunigungskraft F = m a verbunden, innerhalb des
Systems (Fahrzeuges) mit der Trägheitskraft Ft = m a,
diese wirkt am Schwerpunkt S.
• Die Schwerkraft FG = m a wirkt am Schwerpunkt S und
addiert sich mit der Trägheitskraft Ft = m a zur Gesamtkraft Fges.
• Die Gesamtkraft Fges wirkt unter einem Winkel von bis
zu 45° gegen die Senkrechte. Im Winkel von 45° findet
sich auch im vereinfachten Fall der Auflagepunkt der
Hinterachse auf die Unterlage (Fahrbahn) bezüglich
des Schwerpunktes. Ziel dieser Vereinfachung ist eine
Vorderachse ohne Last, was die Rechnung auf die Hinterachse beschränkt.
• Die Gesamtkraft Fges wird entlang der Wirklinie (gestrichelt) unter einem Winkel von 45° an die Auflagepunkt der Hinterachse auf die Fahrbahn verschoben.
• Die Gesamtkraft Fges wird am Auflagepunkt in einen
Schwerkraftanteil FG = m g und einen Trägheitskraftanteil Ft = m a aufgespalten.
• Kräftegleichgewicht: Der Schwerkraftanteil FG = m g ist
mit der Normalkraft FN = m g, welche die Reifen zusammendrückt, und der Trägheitskraftanteil Ft = m a ist
mit der Haftreibungskraft der Reifen F’R = µ’ m g im
Gleichgewicht.
Die Haftreibungskraft beträgt
S
a
Ft = ma
Fges
FG = mg
FN
FR′
Ft = ma
FG = mg
Abb. 1: Kräfte am Fahrzeug beim Beschleunigen, vereinfachter Fall
höhten Abriebs kurzfristig ein etwas höheres µ’ erreicht
werden, was aber nur im Rennsport und nicht in der Fahrpraxis Bedeutung hat. Die Begrenzung für die Haftreibungskraft beträgt also in der Praxis:
F’R
max
= µ’ m g
Die Gleitreibungskraft beträgt F’R = µ g mit dem Gleitreibungskoeffizienten µ, der erfahrungsgemäß etwa 15% geringer ist als der Haftreibungskoeffizient µ’, also µ ≤ µ’, µ
= 0,85 µ’ [1, 10]. Durch die Begrenzung der Haftreibungskraft ist auch die mit ihr im Kräftegleichgewicht befindliche Trägheitskraft begrenzt.
Kräftegleichgewicht in horizontaler Richtung:
F’R = Ft = m a
Begrenzung der Haftreibungskraft:
F’R ≤ µ’ FG = µ’ m g
Abb. 2: Anfahren mit maximaler Beschleunigung
F’R ≤ µ’FG = µ’ m g
mit dem Haftreibungskoeffizienten µ’, der durch die Begrenzung µ’ ≤ 1 beschränkt ist [9, 10]. Im Sonderfall extrem
weicher (klebriger) Reifen kann mit der Folge stark erPdN-Ph. 5/51. Jg. 2002
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Physik
Einsetzen:
FR’ = Ft = m a ≤ µ’ m g
In der gewonnen Ungleichung kürzt sich m:
a ≤ µ’ g
Damit ist die maximal mögliche Beschleunigung in radgetriebenen Fahrzeugen durch den Haftreibungskoeffizienten Reifen – Fahrbahn gegeben:
amax = µ’ g
Für den Fall idealer Haftreibung Reifen – Fahrbahn
(trockener, neuer Asphalt, µ’ = 1) erhalten wir:
amax = g
Kein radgetriebenes Fahrzeug kann auf realen Fahrbahnen
und mit haltbaren Reifen schneller beschleunigen als mit
der Erdbeschleunigung g.
Dies gilt nur bei moderner Fahrzeug-Technologie und bei
günstiger Lage des Schwerpunktes. Bei sehr hohen Geschwindigkeiten verschiebt sich diese Grenze durch das zusätzliche Wirken von Luftströmungskräften (Auf- und Abtriebskräfte durch die Fahrzeugoberfläche).
Im Folgenden sollen einige praktische Schlussfolgerungen
betrachtet werden.
Wenn durch größere Kräfte die maximal mögliche Beschleunigung zu überschreiten versucht wird, so wird die
maximal mögliche Haftreibungskraft überschritten und die
Reifen haften nicht mehr, sondern gleiten (rutschen) auf
der Unterlage und übertragen dabei die Gleitreibungskraft
(so genannte quietschende Reifen [11, 12]). Das führt zu
einer um ca. 15% verminderten Beschleunigung und, da
das Rad dabei nicht rollt, sondern rutscht, zu einem instabilen, nicht lenkbaren Fahrzeugen (so genanntes Schlingern). Die überschüssige Energie wird im Reifen in Wärme
umgewandelt, was zu einer starken Erwärmung der Reifen
führt (so genanntes „heißen Reifen fahren“).
Bei maximal möglicher Beschleunigung kann im Fall von
Zweiradfahrzeugen (Motorrad und Fahrrad) der Schwerpunkt durch Gewichtsverlagerung tatsächlich in die günstigste Lage unter einem Winkel von 45° (der Verbindungslinie Schwerpunkt mit dem Auflagepunkt der Hinterachse
auf der Unterlage gegen die Senkrechte) gebracht werden.
In diesem Fall findet sich dann auch der Auflagepunkt der
Hinterachse auf die Fahrbahn unter diesem Winkel von 45°
bezüglich des Schwerpunktes. Dann wird, wie aus Abb. 1
ersichtlich, die Vorderachse kraftfrei. Dadurch kann der
Fahrer von Zweiradfahrzeugen durch relativ geringen
Kraftaufwand die Vorderachse hochheben, wovon Motorrad-Fanatiker und Kunstrad-Fahrer Gebrauch machen und
damit ihre (der Physik unkundigen) Zuschauer verblüffen
(Abb. 2). Beim Bremsen (statt Beschleunigen) kehren sich
die Kraftverhältnisse um (Abb. 3).
Die Gesamtkraft Fges wirkt am Schwerpunkt S und addiert
sich aus Schwerkraft FG = m a und Trägheitskraft Ft = m a.
Die Wirklinie (gestrichelt) durchbricht die Fahrbahn zwischen den Auflagepunkten der Vorderachse und der Hinterachse, sonst würde das Fahrzeug umkippen.
Gemäß Hebelgesetz mit den Hebelarmen β und 1 – β (markierte Abstände zwischen den verschobenen gestrichelten
Wirklinien) wird diese Kraft in einen größeren Anteil β auf
die Vorderachse und einen kleineren Anteil 1 – β auf die
Hinterachse aufgeteilt [3, 5, 7].
Im günstigen Fall der Lage des Schwerpunktes wird β etwa
0,75. Bremskraftverteiler bringen etwa diesen Anteil der
Bremskraft auf die Vorderachse [7, 8, 11]. Bei rutschiger
Strasse regelt bei moderner Fahrzeug-Technologie das
ABS-System (Anti-Blockier-System) die Bremskräfte am
Rad so ein, dass an jedem Rad der zur Verfügung stehende Reibbeiwert voll ausgenutzt wird.
Die Gesamtkräfte mit Anteil β auf die Vorderachse und
Anteil 1 – β auf die Hinterachse können nun wieder in Anteil Schwerkraft
β FG = β m g
auf die Vorderachse und Anteil Trägheitskraft
β Ft = β m a
auf die Vorderachse sowie entsprechende Anteile auf die
Hinterachse aufgeteilt werden: Anteil Schwerkraft
(1 – β ) FG =(1 – β ) mg
auf die Hinterachse und Anteil Trägheitskraft
(1 – β ) Ft = (1 – β ) ma.
Addiert man jetzt die horizontal wirkenden Anteile des
Kräftegleichgewichtes von Vorderachse und Hinterachse, so
ergeben sich gleiche Verhältnisse wie beim Beschleunigen.
Kräftegleichgewicht:
β F’R + (1– β) F’R = β m a + (1– β ) m a
Abb. 3: Kräfte am Fahrzeug beim Bremsen
und addiert:
1 F’R = 1 m a
S
Ft = ma
a
Fges
bFR′
bFges
(1–b)FN
bFt = bma
bFG = bmg
F’R ≤ µ’ FG = µ’ m g
FG = mg
1–b
bFN
Begrenzung der Haftreibungskraft:
b
(1–b)FR′
(1–b)Fges
(1–b)Ft =
(1–b)ma
(1–b)FG =
(1–b)mg
Einsetzen:
F’R = Ft = m a ≤ µ’ m g
In der gewonnen Ungleichung kürzt sich m:
a ≤ µ’ g
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PdN-Ph. 5/51. Jg. 2002
Fahrphysik und Verkehr
Damit ist die maximal mögliche Bremsverzögerung in radgetriebenen Fahrzeugen durch den Haftreibungskoeffizienten Reifen – Straße gegeben:
der Haftreibungskraft am Rad. Durch die Begrenzung der
Haftreibungskraft ist auch FW auf einen Maximalwert
FW, max begrenzt:
amax = µ’ g
2
FW max = A cW ρ vmax
/2 = F’R max = µ’ m g
Für den Fall idealer Haftreibung Reifen – Straße (trockener, neuer Asphalt µ’ = 1) erhalten wir:
amax = g
Fazit:
Kein radgetriebenes Fahrzeug kann auf realen Fahrbahnen
und mit dauerhaft haltbaren Reifen stärker durch Bremsen an den Rädern verzögern als mit dem Wert der Erdbeschleunigung g.
Dies gilt bei optimalen Verteilung der Bremskraft auf die
Vorderachse und Hinterachse durch Bremskraft-Verteiler
oder bei ABS-Bremssystemen [3, 5, 7, 8, 11]. Bei sehr
hohen Geschwindigkeiten verschiebt sich diese Grenze
durch das zusätzliche Wirken von Luftströmungskräften
(Auf- und Abtriebskräfte durch die Fahrzeugoberfläche).
Wenn durch größere Kräfte die maximal mögliche Bremsverzögerung zu überschreiten versucht wird, so wird die maximal mögliche Haftreibungskraft überschritten und die Reifen haften nicht mehr, sondern gleiten (rutschen, erhöhter
Schlupf der Reifen) auf der Unterlage und übertragen dabei
die Gleitreibungskraft (so genannte quietschende Reifen
[12]). Das führt zu einer um ca. 15% verminderten Bremsverzögerung (so genanntes Blockier-Bremsen). Da das Rad
dabei nicht rollt, sondern rutscht, führt das zu einem instabilen, nicht lenkbaren Fahrzeugen mit tangentialer Bahnfortsetzung. Die überschüssige Energie wird im Reifen statt
in der Bremsanlage in Wärme umgewandelt, was zu einer
starken Erwärmung der Reifen führt.
2 Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit
Die bisher angestellten Überlegungen ergeben auch eine
absolute Grenze für die Höchstgeschwindigkeit unabhängig von der Motorleistung. Dazu wird bei Abb. 1 die Luftwiderstandskraft FW statt der Trägheitskraft m a angetragen (am Schwerpunkt der Fahrzeugfrontfläche statt im
Massenschwerpunkt), ansonsten ist im Prinzip das gleiche
Kräftegleichgewicht gegeben. Die bei sehr hohen Geschwindigkeiten zusätzliche wirkenden Luftströmungskräfte (Auf- und Abtriebskräfte durch die Fahrzeugoberfläche)
sind hier vernachlässigt.
Die vom Fahrzeug zu überwindende Luftwiderstandskraft
FW ist
FW = A cW ρ v 2 /2
A Fahrzeug-Stirnfläche; cW Luftwiderstands-Beiwert; ρ Luftdichte, v Fahrzeuggeschwindigkeit. Die vom Fahrzeug zu
aufzubringende Motorleistung PW ist:
Maximalwert der Fahrzeuggeschwindigkeit:
2
vmax
= 2 µ’ mg /(A cW ρ)
Beispielwerte:
• Fahrzeug-Stirnfläche:
A = 2 m2
• Luftwiderstandsbeiwert:
cW = 0,5
• Luftdichte:
ρ = 1 kg/m3
• Fahrzeugmasse:
m = 1000 kg
• Haftreibungskoeffizient Reifen – Straße im Fall idealer
Haftreibung:
µ’ = 1
Mit diesen Beispielwerten soll der Maximalwert der Fahrzeuggeschwindigkeit berechnet werden:
2
vmax
= 2·1000 kg·9,81m/s2 /(2 m2 ·0,5 ·1 kg/m3) = 19620 m2/s2
vmax = 140 m/s = 504 km/h
Bei diesem Maximalwert der Fahrzeuggeschwindigkeit ist
die Vorderachse kräftefrei, das Fahrzeug ist damit instabil
und nicht lenkbar. Erreichen oder Überschreiten dieser
Fahrzeuggeschwindigkeit ist nur möglich, wenn der Luftwiderstandsbeiwert deutlich erniedrigt wird (Raketenform) und/oder auf nicht radgetriebene Antriebe (Raketenantrieb) ausgewichen wird. In der praktischen Fahrzeugkonstruktion wird angestrebt, die bei sehr hohen Geschwindigkeiten zusätzliche wirkenden Luftströmungskräfte (Auf- und Abtriebskräfte durch die Fahrzeugoberfläche), die hier zunächst vernachlässigt wurden, so zu gestalten, dass das Fahrzeug auch bei sehr hohen Geschwindigkeiten stabil und gut lenkbar bleibt und keine auftriebsbedingte Entlastung der Räder eintritt.
3 Begrenzung der Geschwindigkeit beim Fahren
von Kurven
Die bisher angestellten Überlegungen ergeben auch eine
absolute Grenze für die Höchstgeschwindigkeit beim Fahren von Kurven. Bei Abb. 4 (siehe unten) wird dafür die
Zentrifugalkraft FZf statt der Trägheitskraft m a (bei
Abb. 1) senkrecht zur Zeichenebene angetragen, ansonsten
ist das entsprechende Kräftegleichgewicht senkrecht zur
Zeichenebene gegeben. Das Kräftegleichgewicht lässt sich
somit sinngemäß übertragen [1, 2, 4, 5, 10, 13].
Kräftegleichgewicht quer zur Fahrtrichtung bei einem
kurvenäußeren Rad:
FR’ ≤ FZ = m aZ = m v2 /r
Begrenzung der Haftreibungskraft:
PW = v F W
PW = A cW ρ v3/2
Bei radgetriebenen Fahrzeugen wird FW am Rad auf die
Fahrbahn übertragen und ist im Kräftegleichgewicht mit
PdN-Ph. 5/51. Jg. 2002
F’R ≤ µ’ FG = µ’ m g
Einsetzen:
F’R = FZ = m v 2 /r ≤ µ’ m g
In der gewonnen Ungleichung kürzt sich m:
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Physik
4 Begrenzung der Beschleunigung (Bremsen)
beim Fahren von Kurven
Fz
FG
ab Tangentialbeschleunigung
durchdrehende
Reifen
a = mg
–az negative
Zentralbeschleunigung
ab max
az Zentralbeschleunigung
blockierende
amax = m′g Bremsen
a = mg
az = v 2/r
–ab negative Tangentialbeschleunigung „Bremsen“
Abb. 4 (oben): Kräfte am Fahrzeug beim Kurvenfahren: FG Schwerkraft
und FZf Zentrifugalkraft greifen am Schwerpunkt an und addieren sich
zur Gesamtkraft, die vorwiegend auf das kurvenäußere Rad wirkt.
Für Beschleunigungen in Fahrtrichtung und senkrecht dazu
gelten also jeweils Grenzen, für den Fall idealer Haftreibung jeweils die Erdbeschleunigung g.
Bei gleichzeitiger Wirkung von Beschleunigungen (und
damit Trägheitskräften) in Fahrtrichtung und senkrecht
dazu (beim Fahren von Kurven) addieren sich die Beschleunigungen vektoriell zur Gesamtbeschleunigung und
damit die Trägheitskräfte zur Gesamtträgheitskraft. Bei
radgetriebenen Fahrzeugen wird diese Gesamtträgheitskraft am Rad auf die Unterlage übertragen und ist im
Kräftegleichgewicht mit der Haftreibungskraft. Durch die
Begrenzung der Haftreibungskraft ist diese Gesamtträgheitskraft auf einen Maximalwert (und damit Gesamtbeschleunigung) begrenzt.
Die vektorielle Addition wird in einem Koordinatensystem
dargestellt, der Maximalwert für die Gesamtbeschleunigung gilt in jeder Richtung im Koordinatensystem und wird
damit zum Kreis wie man aus Abb. 5 ersieht.
Dieser Kreis wird nach dem ersten Anwender, dem Entwicklungsleiter eines süddeutschen Automobilbauunternehmens, der Kamm’sche Kreis genannt. Er trennt mögliche (innerhalb des Kreises) von unmöglichen Fahrzuständen (außerhalb des Kreises) [1, 6, 9, 11, 13, 14].
Der Mittelpunkt des Kreises entspricht a = 0 , also v = konstant. Vertikal wird die Tangentialbeschleunigung (Bremsen = negativ), horizontal die Zentralbeschleunigung (beim
Kurven fahren) aufgetragen. Die Beschleunigungen addieren sich vektoriell zur Gesamtbeschleunigung. Durch die
Begrenzung der Haftreibungskraft ist diese Gesamtbeschleunigung auf einen Maximalwert µ’ g (und damit einen
Wert kleiner gleich g) begrenzt. Das Gebiet innerhalb des
Kreises stellt also die Menge möglicher Fahrzustände dar,
das Gebiet außerhalb des Kreises die Menge unmöglicher
Fahrzustände. Beim Kurven fahren ist die Zentralbeschleunigung durch
a2Z = v 2/r
Abb. 5 (unten): Kamm’scher Kreis für radgetriebene Fahrzeuge, Bereich
der möglichen Fahrzuständen innerhalb des Kreises, Bereich der unmöglichen Fahrzuständen außerhalb des Kreises.
gegeben, die damit noch maximal erreichbare Tangentialbeschleunigung (Bremsen) wird durch eine Subtraktion der
Vektoren amax minus aZ gebildet. Da diese Vektoren senkrecht aufeinander stehen, gilt:
v2 /r ≤ µ’ g
a2b max = a2max – a2Z
Damit ist die maximal mögliche Geschwindigkeit beim
Fahren von Kurven in Fahrzeugen durch den Haftreibungskoeffizienten Reifen – Fahrbahn gegeben:
a2b max =( µ’g)2 – (v2 /r)2
2
/r = µ’ g
aZ max = vmax
Für den Fall idealer Haftreibung Reifen – Fahrbahn (trockener, neuer Asphalt µ’ = 1) erhalten wir:
2
aZ max = vmax
/r = g
Kein Fahrzeug kann in Kurven auf realen Fahrbahnen und
mit haltbaren Reifen mit Zentripetalbeschleunigungen
größer als die Erdbeschleunigung g fahren.
Dies gilt nur im günstigsten Fall der Lage des Schwerpunktes in einer Höhe kleiner als die halbe Spurweite,
sonst kippt das Fahrzeug.
10
In der Praxis ist dieser Wert nur mit ABS-Systemen erreichbar. Wenn durch größere Kräfte die maximal mögliche Gesamtbeschleunigung zu überschreiten versucht wird,
so wird die maximal mögliche Haftreibungskraft überschritten und die Reifen haften nicht mehr, sondern gleiten (rutschen) auf der Unterlage und übertragen dabei die
Gleitreibungskraft (so genannte quietschende Reifen).
Das führt zu einem der beiden durch Kreuze gekennzeichneten Punkte im Koordinatensystem (beim Beschleunigen
den oberen, beim Bremsen den unteren, der eine um ca.
15% verminderten Bremsverzögerung beim so genanntes
Blockier- Bremsen darstellt). Da das Rad dabei nicht rollt,
sondern rutscht, wird in diesem Fall das Fahrzeug instabil,
nicht lenkbar und zum Verlassen der Kreisbahn mit tangentialer Bahnfortsetzung gezwungen.
PdN-Ph. 5/51. Jg. 2002
Fahrphysik und Verkehr
6 Auswirkungen der Höchstgeschwindigkeit beim
Fahren von Kurven auf das Fahrverhalten
Heckantrieb → übersteuerndes Fahrverhalten
Kreisbahn der nicht angetriebenen Räder
Tangentialbahn der
angetriebenen Räder
Bahngeschwindigkeit
Fahrzeug
Kurvenradius
Vorderradantrieb → untersteuerndes Fahrverhalten
Kreisbahn der nicht angetriebenen Räder
Tangentialbahn der
angetriebenen Räder
Im Folgenden sollen einige praktische Schlussfolgerungen
für die Technik von Fahrzeugen betrachtet werden. Durch
Antriebs- oder Bremskräfte in schnell gefahrenen Kurven
befindet sich ein Straßenfahrzeug in der Nähe des
Kamm’schen Kreises. Durch die übertragenen Antriebsoder Bremskräfte kommt das angetriebene kurvenäußere
Rad durch Inhomogenität der Straßenoberfläche dann kurzzeitig über die Grenze des Kamm’schen Kreises hinaus und
gerät ins Rutschen, dabei wird die Kreisbahn tangential verlassen. Das hat bei Hinterachsantrieb entgegengesetzte Auswirkungen als bei Vorderachsantrieb, siehe Abb. 6.
Beim Hinterachsantrieb verlässt das angetriebene Hinterrad wegen der zusätzlich wirkenden Antriebskräfte dabei
die Kreisbahn tangential, so dass sich das Fahrzeug in das
Kurveninnere dreht. Das wird „übersteuerndes Fahrverhalten“ genannt, siehe Abb. 6.
Entsprechende Überlegungen führen bei Vorderachsantrieb zu entgegengesetzte Auswirkungen als bei Hinterachsantrieb, siehe Abb. 7.
Beim Vorderachsantrieb verlässt das angetriebene Vorderrad wegen der zusätzlich wirkenden Antriebskräfte
dabei die Kreisbahn tangential, so dass sich das Fahrzeug
in das Kurvenäußere dreht. Das wird „untersteuerndes
Fahrverhalten“ genannt, siehe Abb. 7.
Anmerkung
Ich danke den Kollegen am Inst. f. Fahrzeugtechnik an der FH Augsburg
für Diskussionen und Anregungen.
Bahngeschwindigkeit
Fahrzeug
Kurvenradius
Abb. 6 (oben): Fahrverhalten von heckgetriebenen Fahrzeugen
Abb. 7 (unten): Fahrverhalten von frontgetriebenen Fahrzeugen
5 Beispiele der Höchstgeschwindigkeit beim
Fahren von Kurven
Ein Motorrad fährt mit 50 km/h auf feuchter Straße (gegeben µ’ = 0,5) eine Kurve mit einem Radius von 50 m.
Wie stark darf der Fahrer bremsen, ohne aus der Kurve zu
rutschen?
Fahrzeuggeschwindigkeit: v = 50 km/h = 14 m/s
Zentralbeschleunigung: aZ = v2/r = (14 m/s)2 /50 m = 4 m/s2
Maximalwert ab max der Beschleunigung (Bremsen):
a2b max = (µ’g)2 – aZ2
a2b max = (5 m/s2)2 – (4 m/s2)2 = (3 m/s2)2
Literatur
[1] Rauno Aaltonen: Revolution am Steuer, PC Moderner Verlag, München (1987)
[2] J. Maretzke, B. Richter: Traktion und Fahrdynamik bei allradgetriebenen Personenwagen, ATZ Automobiltechnische Zeitschrift Jg. 88
(1986), Teil 1, S. 463, Teil 2 S. 581
[3] W. Maisch, W.-D. Jonner, A. Sigl: Die Antriebsschlupfregelung ASR
– Eine konsequente Erweiterung des ABS, Automobiltechnische Zeitschrift 90 (1988), S. 57
[4] H. J. Förster: Das Automobil im zweiten Jahrhundert (Teil 2), Automobiltechnische Zeitschrift 90 (1988), S. 395
[5] W. Peter: Aktive und passive Sicherheit im Automobil (Teil 1), Automobiltechnische Zeitschrift 90 (1988), S. 633
[6] H. Otto: Lastkraftwechselreaktion von Personenwagen bei Kurvenfahrt, Automobiltechnische Zeitschrift 91 (1989), S. 195
[7] A. Weidele, B. Breuer: Technik, Fahrdynamik und Sicherheit moderner Motorräder, Automobiltechnische Zeitschrift 91 (1989), S. 494
[8] P. Ruge: Das Tangentialkraftdiagramm in der Fahrdynamik des Gelenkomnibusses, Automobiltechnische Zeitschrift 92 (1990), S. 208
[9] A. Dreyer: Das Fahrverhalten von PKW bei gleichzeitigem Lenken
und Bremsen, Automobiltechnische Zeitschrift 95 (1993), S. 144
[10] T. Bachmann, C. Bielaczek, B. Breuer: Der Reibbeiwert und dessen
Inanspruchnahme durch den Fahrer, Automobiltechnische Zeitschrift 97
(1995), S. 658
[11] J. Präckel. M. Schmieden, A. Weidele, B. Breuer: Zusammenwirken
von Fahrer, Bremsanlage, Reifen und Fahrbahn hinsichtlich der Bremssicherheit von Krafträdern, Automobiltechnische Zeitschrift 98 (1996), S. 36
[12] X. Shi, M. Mitschke: Entstehungsmechanismus des Bremsenquietschens, Automobiltechnische Zeitschrift 99 (1997), S. 666
[13] H. Fennel: ABS plus und ESP – Ein Konzept zur Beherrschung der
Fahrdynamik, Automobiltechnische Zeitschrift 100 (1998), S. 302
[14] C. Bielaczek: Die Auswirkung der aktiven Fahrerbeeinflussung auf
die Fahrsicherheit, Automobiltechnische Zeitschrift 101 (1999), S. 714
ab max = 3 m/s2
Dies ist der Maximalwert der Beschleunigung (und für
Bremsen), er ist nur durch ASR- bzw. ABS-Regelung erreichbar.
PdN-Ph. 5/51. Jg. 2002
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. Matthias Risch, Fachhochschule Augsburg, Baumgartnerstr. 16,
86161 Augsburg, E-Mail: [email protected]
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Physik
Der Kamm’sche Kreis – Wie stark kann man beim Kurvenfahren
Bremsen
M. R. Risch
Die Möglichkeiten und Grenzen für maximale Beschleunigung und
Kurvengeschwindigkeit radgetriebener Fahrzeuge werden diskutiert.
Die begrenzte Haftreibungskraft zwischen Rad und Fahrbahn führt
in allen Fällen zu physikalischen Grenzen und bestimmt das Fahrverhalten in Grenzsituationen. Dies wird an Beispielen erläutert.
PdN-PhiS. 5/51, S. XX
12
PdN-Ph. 5/51. Jg. 2002

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