Das Geheimnis der schülerzentrierten Aufbereitung und

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Das Geheimnis der schülerzentrierten Aufbereitung und
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25.02.2004
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Das Geheimnis der schülerzentrierten Aufbereitung und Bearbeitung literarischer
Ganzschriften liegt meines Erachtens in der Bereitschaft zu Flexibilität und Kreativität,
mit deren Hilfe auch unkonventionellere Arbeitsaufträge gefunden und in den Unterricht einbezogen werden können. Das mutige Experimentieren mit und an dem Text
schließt Fehler nicht aus, jedoch darf die Fehlervermeidung nicht als ausschließliches
Kriterium für die Auswahl von Aufgaben, Übungen und Verstehenshilfen angesetzt
werden. Vielmehr muss darauf geachtet werden, dass Formen des ganzheitlichen
Lernens bevorzugt und ausschließlich verkopftes Lernen so weitgehend wie möglich
vermieden wird, um der Monotonisierung des Unterrichtsprozesses entgegenzuwirken.
7.5.3. Happy birthday, Türke! – die selbstständige Bearbeitung einer Ganzschrift
Meine Erfahrungen bei Schulbesuchen und Fortbildungsveranstaltungen im In- und
Ausland haben leider immer wieder bestätigt, dass im fremdsprachigen Deutschunterricht in den oberen oder Abiturklassen vieler ausländischer Schulen auch heute
noch fast ausschließlich die bekannten Klassiker Berücksichtigung finden, die schon
vor Jahrzehnten „in“ waren – nur selten findet sich ein anderer Titel unter den akribisch aufgelisteten Werken von Goethe, Schiller, Kafka, Dürrenmatt, Böll oder Ödön
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Rainer E. Wicke: Aktiv und kreativ lernen Projektorientierte Spracharbeit im Unterricht Deutsch als Fremdsprache
ISBN 3-19-001751-4 © Max Hueber Verlag 2004
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von Horváth, um nur einige zu nennen. Die Verwendbarkeit dieser Literatur soll keineswegs in Frage gestellt werden, eine routinemäßige jährliche (Wieder-) Verwendung
von „Standardwerken“ kann jedoch dem Anspruch eines offenen Curriculums kaum
genügen.
Bei dem Einsatz von Jakob Arjounis Kriminalroman Happy birthday, Türke!, einem
Buch, das eigentlich der sog. Trivialliteratur zugeordnet werden kann, ging es gerade
darum aufzuzeigen, dass auch diese im DaF-Unterricht Verwendung finden kann,
wobei nicht unerwähnt bleiben darf, dass das Buch von der Frankfurter Allgemeinen
Sonntagszeitung zu den fünfundzwanzig neuen Klassikern gezählt wird.72
Es muss an dieser Stelle deutlich erwähnt werden, dass die projektorientierte und
schülerzentrierte Textarbeit, wie sie der Rahmenlehrplan der KMK für DaF bei der
Vorbereitung auf das Deutsche Sprachdiplom II empfiehlt, vielen ausländischen, aber
auch den bundesdeutschen Lehrern (noch?) große Schwierigkeiten bereitet, die sich
häufig nur zögerlich auf neue Wege einlassen. Daher war es ein weiteres Ziel, die
Bearbeitung dieser Lektüre, die im Mittelpunkt einer Fortbildungstagung aller tschechischen DSD-Schulen gestanden hatte, erfolgreich durchzuführen und die Ergebnisse
im Rahmen einer weiteren Tagung zur Diskussion zu stellen.
Der Roman wurde in zwei Lerngruppen der Jahrgangsstufe 13 eines
Brünner Gymnasiums in den Mittelpunkt der Unterrichtsarbeit gestellt,
wobei den Schülern von den beiden
an dem Unterrichtsversuch beteiligten Lehrern mit Hilfe von (auch
selbst gestalteten) Aufgaben, Übungen, Verstehenshilfen und Bearbeitungstechniken ein Freiraum für
persönliche Wahrnehmungen, Deutungen und Urteile bei der Lektüre
eingeräumt wurde.
72 Arjouni, Jakob: Happy birthday, Türke!, Diogenes, Zürich 1987.
besprochen in: Weidermann, Volker: Die neuen Klassiker, Ein kleiner Kanon für die Gegenwart: Die wirkungsvollsten deutschen Bücher der letzten zwanzig Jahre, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 11, 17.03.
2002, S. 21 ff.
Der Roman beschreibt einen rätselhaften Mord im Frankfurter Bahnhofsmilieu, der von dem Deutsch-Türken
Kemal Kayankaya aufgeklärt werden soll. Dabei stößt der Privatdetektiv jedoch auf Informationen, die auch für
ihn selbst nicht ungefährlich sind, da die städtische Polizei eine zwielichtige Rolle spielt.
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Sein Korrekturverhalten ändert sich völlig, indem er nicht bei jeder Gelegenheit in den
Unterricht eingreift und ggf. sogar darauf wartet, direkt um Hilfe gebeten zu werden,
denn Misserfolge gehören ebenfalls zum offenen Lernen. Dies darf jedoch nicht
bedeuten, dass der Lehrer geduldig zusieht, wie eine Gruppe mit einem Thema oder
einer Aufgabe kämpft, jede angebotene Lösungsmöglichkeit – vielleicht sogar aus
berechtigten Gründen – verwirft und bei der Bearbeitung nur Misserfolge verzeichnet.
Hier ist seine Hilfe dringend geboten, indem er neue Perspektiven eröffnet und
Lösungswege anbietet, diese jedoch nicht dogmatisch vertritt, sondern Modifikationen
durch die Schüler zulässt.
9.4.
Der Lernzirkel in Schule und Fortbildung
Im Folgenden wird durch zwei Beispiele nachgewiesen, dass das Lernen an Stationen
sich sowohl in der täglichen schulischen Arbeit wie auch in Fortbildungsseminaren
leicht umsetzen lässt. Exemplarisch wird hier aufgezeigt, dass bei der Konzeption und
Durchführung die oft gefürchtete überintensive Vorbereitungsarbeit nicht investiert
werden muss, sondern dass sich ein Lernzirkel auch mit wenig Arbeitsaufwand einrichten lässt. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis nützlich, dass es sich bei dem
Stationenlernen lediglich um eine methodische Variante handelt, mit der der fremdsprachige Deutschunterricht im Rahmen einer möglichen Methodenvielfalt bereichert
werden kann.
9.4.1. Die Ergänzung der Lehrbucharbeit durch den Lernzirkel
Das Thema „Liebe“ findet in vielen DaF-Lehrwerken für Jugendliche Berücksichtigung, da es die Jugendlichen anspricht, ihre persönlichen Erfahrungen einbezieht und
ihre Interessen in den Vordergrund der Unterrichtsarbeit stellt.96 Natürlich spricht
nichts dagegen, dass man sich bei der Behandlung des Themas auf die im Lehrwerk
angebotenen Texte und die im Schülerarbeitsbuch zugeordneten Aufgaben und Übungen beschränkt, aber gerade hier kann das Stationenlernen Anwendung finden, indem
zusätzliche Bearbeitungsmöglichkeiten angeboten werden, mit deren Hilfe das Thema
kreativ und relativ frei vertieft werden kann.
In einem Unterrichtsversuch in einer neunten Klasse eines Gymnasiums in Brno/
Tschechische Republik wurden fünf Stationen ergänzend zu einem Lehrbuchtext angeboten. Bei der Konzeption des Aufgabenangebots wurde berücksichtigt, dass die
Schüler zum ersten Mal mit dem Lernzirkel konfrontiert wurden; daher wurden die
96 vgl. Ein Liebesbrief, in: Funk, Hermann u.a.: Sowieso 2, Deutsch als Fremdsprache für Jugendliche,
Kursbuch, Langenscheidt, München 1997, S. 41.
s. auch: Themenkreis 6: Liebe, in: Bieler, Karl-Heinz / Weigmann, Jürgen: Konzepte Deutsch. Deutsch als
Fremdsprache für Fortgeschrittene 1, Cornelsen, Berlin 1994, S. 80–88.
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Arbeitsaufträge relativ einfach gehalten. Für die Anfertigung der Arbeiten und die
Evaluation standen insgesamt eine Doppelstunde zur Verfügung. Schüler und Lehrer
einigten sich auf eine maximale Bearbeitungszeit von fünfzehn Minuten pro Station,
damit die Schüler am Ende der Doppelstunde noch Zeit hatten, sich alle Ergebnisse
anzusehen:
Station 1: Assoziationen zu Liebe
Suche dir ein oder mehrere Wortherzen aus. Du kannst natürlich auch eigene
Wörter verwenden.
Liebe
Freund
Freundschaft
Träumen
Sehnsucht
$$ $ $$
Schreibe die Buchstaben deiner Wörter untereinander und benutze die Anfangsbuchstaben für Begriffe oder kurze Sätze, die du mit dem Wort verbindest.
Beispiel:
L achen (oder: Liebe macht stark.)
I…
E…
B…
E…
Entscheide, ob du allein oder mit einem Partner arbeiten willst.
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12. Wahrnehmungstraining und Perspektivenwechsel durch
projektorientiertes Lernen im DaF-Unterricht
Verstehen entwickelt sich erst aus einer Frage, die sich auf das Eigene
und das Fremde zugleich richtet.
Deshalb nimmt eine zukunftsorientierte Didaktik das Vorwissen der
Lernenden ernst und provoziert ihre Fragehaltung.136
Das folgende Konzept demonstriert, wie Schüler, die nur über geringe Erfahrungen im
Bereich des projektorientierten Lernens verfügen, behutsam zur Anwendung dieser
Methoden in sog. Großprojekten angeregt werden können.
Bei der Planung und Durchführung der im Folgenden beschriebenen Projekte wurde
nach den von Hans Hunfeld entwickelten Prinzipien des hermeneutischen Fremdsprachenunterrichts vorgegangen.137 Hunfeld geht davon aus, dass der Lerner – bevor
er sich mit den Aspekten des Fremden befasst – zunächst erst einmal über das Eigene
Bescheid wissen und dieses fremdsprachlich präsentieren, kommentieren und differenzieren können muss, um sich dann auch dem Fremden zuwenden und individuell
Bedeutung aushandeln zu können.138
In zwei aufeinander folgenden Schuljahren wurde am Gymnasium Brno/Tschechische
Republik jeweils ein größeres Projekt angeboten, wobei die beiden Unterrichtsvorhaben nach den oben genannten Prinzipien aufeinander aufbauten. Diese werden
hier in Auszügen vorgestellt.
136 Autonome Provinz Bozen / Südtirol, Italienisches Schulamt: Entwicklungsrichtlinien für Deutsch als
Zweitsprache an den italienischen Oberschulen, Bozen 2001, S. 15.
vgl. auch: Hunfeld, Hans: Zur Normalität des Fremden: Voraussetzungen eines Lehrplanes für interkulturelles
Lernen, in: BMW-AG: LIFE, Ideen und Materialien für interkulturelles Lernen, München 1997, 1.1.1.
137 Hermeneutik (=Verstehenslehre) ist seit jeher das Bemühen, die Rede eines fremden Anderen richtig zu
verstehen.
s. Hunfeld, Hans / Lott, Helga / Weber, Alois: Hermeneutischer Zweitsprachunterricht, Erläuterungen, Beispiele
und Materialien zu den Entwicklungsrichtlinien, Autonome Provinz Bozen / Südtirol 2001; zu: Autonome Provinz
Bozen / Südtirol, Italienisches Schulamt: Entwicklungsrichtlinien für Deutsch als Zweitsprache an den italienischen Oberschulen, Bozen 2001, S. 8.
138 s. Hunfeld, Hans: Begegnung mit Sprachen in der Grundschule, in: Landesinstitut für Schule und
Weiterbildung des Landes NRW (Hsg.): Lehrerfortbildung in Nordrhein-Westfalen 1994, S. 19.
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13:40 Uhr
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Es zeigte sich deutlich, dass die Bilder und Collagen die Fantasie der Schüler besonders stark angeregt und sie zum sprachlichen Experimentieren ermuntert hatten.142
Dabei konnte erfreulicherweise registriert werden, dass auch einige lernschwächere
Schüler, die sich in den bisherigen Stunden bei der Beteiligung am Unterricht sehr
zurückgehalten hatten, bereitwillig ihre Arbeiten zur Diskussion stellten. Im Rahmen
der Textvielfalt entstanden eine Reihe interessanter Märchen, Werbeanzeigen, Tagebucheintragungen, Interviews und Kurzgeschichten, von denen hier lediglich eine
kleine Auswahl präsentiert werden kann.
Eine Schülerin aus einer dreizehnten Klasse
hatte sich zu diesen Bildern für ein Märchen
entschieden, nachdem sie mir aufgeregt mitgeteilt hatte, dass sie die seltene Gelegenheit
gehabt hätte, gerade in dieser Kuppel durch
eines der runden Fenster über die Stadt zu
blicken.
Ein Märchen
In diesem Kuppeldach wohnte eine wunderschöne junge Frau, die den Sommer sehr
liebte. Und darum hatte sie diesen Turm mit
der Kuppel gewählt, um dort zu leben. Sie
wollte jeden Tag näher bei der Sonne sein.
Sie liebte die Sonne so sehr, dass sie die kleinen Fenster kaputt machte, um die Sonnenstrahlen auf ihrem Körper zu spüren.
Dann kam aber der Winter mit viel Schnee,
und weil sie die Fenster nicht zumachen
konnte, war die kleine Kuppel ganz voll von
Schnee. Die junge Frau fror und jetzt sagt
man, dass der Regen nur darum existiert,
um junge und naive Frauen zu warnen.
Kristyna Pesakova, 8 BV GML
Besonders interessant war, zu welchen Assoziationen das Gebäude des tschechischen
Staatsfernsehens in Brno einen Schüler einer dreizehnten Klasse angeregt hatte:
142 vgl. Akinro, Bettina: In ein Bild „eintauchen“, in: GIIN u.a.(Hsg.): Fremdsprache Deutsch, Zeitschrift für die
Praxis des Deutschunterrichts, Heft 17: Kunst und Musik im Deutschunterricht, Klett, München 1998, S. 17.
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