Erziehungswissenschaftliche Fakultät Sonder

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Erziehungswissenschaftliche Fakultät Sonder
Universität Erfurt Postfach 900221 99105 Erfurt
Thüringer Landtag
Ausschuss für Bildung, Wissenschaft und Kultur
Jürgen-Fuchs-Straße 1
99096 Erfurt
Erziehungswissenschaftliche
Fakultät
Sonder- und Sozialpädagogik
Nordhäuser Straße 63
99089 Erfurt
Datum: 28.11.2011
Schriftliche Stellungnahme zum Anhörungsverfahren § 79 Geschäftsordnung des
Thüringer Landtags - Brief vom 05.10.2011
Sehr geehrte Damen und Herren des Ausschusses,
das Fachgebiet Sonder- und Sozialpädagogik der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät, Universität Erfurt, kommt Ihrer Bitte sehr gerne nach, eine schriftliche Stellungnahme zu verschiedenen
Aspekten der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) abzugeben und am entsprechenden Anhörungsverfahren teilzunehmen. Wir werden uns nur dem als Anlage 2 beigefügten
Fragenkatalog widmen, weil sich durch seine Bearbeitung auch die in den Anträgen der Fraktionen
Die Linke, FDP und CDU/SPD enthaltenen Fragen beantworten lassen.
I Allgemeines/Grundsätzliches/UN-BRK
Frage 1: Welche grundsätzlichen Erwartungen formulieren die Anzuhörenden an ein inklusives Bildungssystem hinsichtlich der Berücksichtigung von Artikel 7 und 24 der
UN-Behindertenrechtskonvention?
Das Recht auf Gleichberechtigung von Kindern mit Behinderungen (UN-BRK, Art. 7, Abs. 1) bedeutet, dass
sie das gleiche Recht wie Kinder ohne Behinderungen haben, ein inklusives Bildungssystem zu besuchen.
Juristisch wird aktuell geklärt, ob dieses Recht als Individualrecht des Kindes oder als staatliche Verpflichtung
aufgefasst werden soll. Das Ergebnis dieser Klärung tangiert aber nicht das in Art. 7, Abs. 2 formulierte Recht,
dass das Wohl dieser Kinder im Vordergrund zu stehen hat. Daher wird erwartet, dass der Besuch einer inklusiven Schule die Unterstützung und Hilfen vorhalten muss, die die erfolgreiche Bildung und bestmögliche
Entwicklung aller Kinder ermöglicht (Art. 24, Abs. 2 d-e).
Wir gehen ferner davon, dass ein Kind mit Behinderung wie jedes andere Kind das Bedürfnis hat, nicht von
seinen Altersgleichen getrennt und in besonderen Einrichtungen erzogen und unterrichtet zu werden, sondern
gemeinsam einen Kindergarten, eine Schule und berufliche Ausbildungseinrichtung zu besuchen. Soll dieses
Interesse der Kinder berücksichtigt werden (Art. 7, Abs. 3), wird erwartet, dass separate Einrichtungen, wie
Sonderkindergärten, Förderschulen und Sonderberufsschulen, abgeschafft werden und die dort gemachten
nützlichen Erfahrungen, Erkenntnisse und Methoden dem inklusiven Bildungssystem zugute und hier zur Anwendung kommen.
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Frage 2: Wie beurteilen die Anzuhörenden den aktueller Stand der Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention im Thüringer Bildungssystems im nationalen und
internationalen Vergleich?
Abb. 1: Vergleich der Inklusions-, Exklusions- und Förderquote in Deutschland
(Stand: Schuljahr 2009/10)
Quelle: Klemm (2010) und KMK (2010a,b) (eigene Berechnung)
Anmerkung:
- Förderquote: Gesamtanteil der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allen Schülern (Klasse 1 bis 10)
- Exklusionsquote: Anteil der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Sonderschulen
- Inklusionsquote: Anteil der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der allgemeinen Schule
- Gegenüber dem Vorjahr 2008/09 ist die Förderquote um 0,5 % gesunken, die Inklusionsquote gleich geblieben
Abb. 1 zeigt, dass die Inklusionsquote von Thüringen mit 1,6%, verglichen mit der Quote anderer ostdeutscher
Bundesländer, höher liegt als die von Sachsen (1,4%) und Sachsen-Anhalt (1,1%), aber erheblich niedriger als
die von Mecklenburg-Vorpommern (2,7%), Brandenburg (2,7%) und Berlin (2,6%). Angesichts der hohen
Exklusionsquote von 6%, verglichen mit Brandenburg (4,6%) und anderen westdeutschen Flächenstaaten,
muss Thüringen die Inklusionsquote massiv erhöhen, wenn man den aktuellen Stand der Umsetzung der UNKonvention in der gesamten Bundesrepublik zum Maßstab nimmt.
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Abb. 2: Rangreihe der Integrationsquoten bei der Unterrichtung von „pupils with SEN“ in
allgemeinen Schulen in Europa (Stand 2010)
100%
80%
60%
40%
20%
0%
Quelle: European Agency (2010) (eigene Berechnung)
Anmerkung:
Die Integrationsquote gibt die Summe aller Schüler/-innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SEN = Special Educational Needs) an, die in „fully inclusive settings“ und in Spezialklassen an allgemeinen Schulen unterrichtet werden.
Erläuterung:
* Referenzjahrgang: 2007/08
** Daten der "French" und "Flemish speaking community" summiert
Deutschland nimmt mit 18% den zweitletzten Rang hinsichtlich der Integrationsquote unter 30 europäischen
Staaten ein. Die Integrationsquote von 26 EU-Staaten liegt mindestens bei 50%, von 21 Staaten bei 60% oder
weit höher. Der aktuelle Stand der Umsetzung der UN-Konvention ist folglich sehr gering.
Abb. 3: Rangreihe der Inklusionsquoten bei der Unterrichtung von „pupils with SEN“
in allgemeinen Schulen in Europa (Stand 2010)
100%
90%
80%
70%
60%
50%
40%
30%
20%
10%
0%
Quelle: European Agency (2010) (eigene Berechnung)
Anmerkung:
Die Inklusionsquote gibt den Anteil von Schüler/-innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SEN = Special Educational Needs) an, der in „fully inclusive settings“ an allgemeinen Schulen unterrichtet wird.
Erläuterung:
* Referenzjahrgang: 2007/08
** Daten der "French" und "Flemish speaking community" summiert
*** keine Daten für Schüler mit SEN in “fully inclusive Settings” verfügbar
Auch der viertletzte Platz Deutschlands bei der Inklusionsquote, verglichen mit den Quoten von anderen Ländern, die Daten zur Verfügung gestellt haben, macht einen massiven Nachholbedarf im Hinblick auf schulische Inklusion deutlich.
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Frage 3: Welche materiellen, fachlichen und personellen Rahmenbedingungen sind für die angestrebte
Etablierung eines inklusiven Bildungssystems in Thüringen vonnöten?
Ein inklusives Bildungssystem hat Schulen mit multiprofessionellen Teams. Die Teams setzen sich nicht nur
aus Regel- und Sonderlehrkräften, sondern auch aus Beratern, Psychologinnen, Sozialarbeitern, Krankenschwestern und bei Bedarf aus anderen Berufsgruppen, etwa Therapeuten/-innen und Supervisoren/-innen,
zusammen.
Sonderpädagogische Grundversorgung sollte an jeder Schule vorhanden sein. International und national haben
sich eine zeitweise Doppelbesetzung bei der Inklusion von Kindern mit Förderschwerpunkten Lernen, Verhalten und Sprache, eine vollständige Doppelbesetzung bei Inklusion von Kindern mit schweren Behinderungen
bewährt. Klassenfrequenzen sollten in der Grundschule um die 20 (max. 22), in der Sekundarschule um 22
(max. 24) Schüler und Schülerinnen, inklusive 2-3 Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, betragen,
damit zieldifferente und individualisierte Förderung aller Kinder und kooperatives Lernen zwischen Kindern
mit und ohne Förderbedarf stattfinden kann. Das Letztere ist allerdings nicht nur von der Klassengröße abhängig, sondern von den Kompetenzen der Lehrkräfte, einen zieldifferenten, individualisierten und kooperativen
Unterricht durchzuführen. Insofern stellt sich hier prioritär ein Ausbildungsproblem. Auch wenn zur Frage von
Klassengröße national und international widersprüchliche wissenschaftliche Befunde vorliegen, erscheint es
bei kleineren Klassenfrequenzen eher wahrscheinlich, individuelle Förderung und kooperatives Lernen im
Unterricht zu realisieren, als bei höheren.
Frage 4: Welche Erkenntnisse gibt es über praktische Erfahrungen bei der Gestaltung (a) integrativen Unterrichts und (b) der jahrgangsgemischten Schuleingangsphase in anderen Bundesländern?
Zu a): Sofern entsprechende Rahmenbedingungen vorhanden waren (vgl. Frage 3), Lehrkräfte eine positive
Einstellung zur schulischen Inklusion hatten, sie auf die Herausforderungen des integrativen Unterrichts vorbereitet waren sowie bei Schwierigkeiten mit Unterstützung und Hilfe ihrer Schule und Schulleitung rechnen
konnten, lassen sich durchweg positive Erfahrungen in allen beteiligten Bundesländern verzeichnen. Lehrkräfte betrachteten dann Kooperation und Teamteaching verschiedener Professionen untereinander als Gewinn und
Heterogenität als Bereicherung. Ihre Berufszufriedenheit erhöhte sich. Ferner ergaben sich positive Erkenntnisse hinsichtlich der kognitiven und sozialen Entwicklung aller Kinder (vgl. Befunde aus den integrativen
Schulversuchen der 1980ger und 1990ger Jahre).
Waren notwendige Rahmenbedingungen nicht gegeben, stellte sich als Hauptproblem Kooperation und
Teamteaching zwischen verschiedenen Professionen heraus. Insbesondere die Frage nach den Zuständigkeiten
hinsichtlich der verschiedenen Aufgaben bot immer wieder Anlass für Aushandlungs- und Konfliktaustragung.
Darüber hinaus erwies sich der Umgang mit Heterogenität als schwierig. Es zeigte sich, dass es ein Bedarf an
Diagnosekompetenz und der Fähigkeit der Lehrkräfte gab, didaktisch-methodische Angebote für verschiedene
Entwicklungsniveaus der heterogenen Lerngruppe zu entwickeln und umzusetzen. Die Problemdarstellung
verweist ganz deutlich auf neue Herausforderungen für die Lehrerbildung: Kooperation, Teamteaching und
Umgang mit Heterogenität.
Zu b): Erfahrungen aus Berlin, Bremen und Niedersachsen zeigen, dass die jahrgangsgemischte Schuleingangsphase zu pädagogisch positiven Effekten führte, wenn Paten-, Tutoren- und Helfersysteme in den heterogenen Lerngruppen organisiert wurden, die die Kinder zu selbstbestimmtem Lernen anregten. Ältere Kinder
führten jüngere Kinder in das Schul- und Unterrichtsleben ein. Die Ersteren lernten vor allem Verantwortung,
sozial-kognitive Kompetenzen im Umgang mit Jüngeren, ihnen etwas zu lehren und eigenes Wissen zu festigen. Die Jüngeren profitierten kognitiv und sozial, indem sie neues Wissen erwarben und sich sozial-kognitive
Kompetenzen unter Peers aneigneten. Der pädagogische Nutzen der Jahrgangsmischung besteht folglich in der
Förderung des sozialen und kognitiven Lernens. Er ist an Rahmenbedingungen gebunden, etwa der zeitweisen
Doppelbesetzung der Lehrkräfte in einer Lerngruppe.
Es gab auch Stimmen, etwa in Berlin, die die Rücknahme der Jahrgangsmischung forderten. Dies wurde mit
unzureichenden Rahmenbedingungen begründet, die es nicht ermöglichten, die große Heterogenität der Lerngruppen zu bewältigen. Berliner Grundschulen steht es inzwischen frei, jahrgangsgemischte Schuleingangsphasen durchzuführen oder nicht.
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Frage 5: (a) Inwiefern wird das gegenwärtige Bildungswesen in Thüringen den Ansprüchen von Chancengerechtigkeit, Diskriminierungsfreiheit und den Forderungen abgeleitet aus der UN-Konvention über
die Rechte der Menschen mit Behinderungen gerecht?
(b) Welche Strukturen müssen insbesondere dazu verändert werden und wie soll der Umgestaltungsprozess organisatorisch und zeitlich aussehen?
(c) Wie werden die Förderquoten in einzelnen Förderbereichen im Freistaat bewertet?
Zu a): Das mehrgliedrige Schulsystem in Deutschland und Thüringen hat ein massives Gerechtigkeitsdefizit.
Soziale Herkunft und Migrationsstatus bestimmen darüber, welches Kind welche Schulart besucht und welcher Schulabschluss erreicht wird. Schon immer waren und sind Förderschulen - in den letzten Jahrzehnten
zunehmend Hauptschulen - Schulen für Kinder aus armen und bildungsbenachteiligten Milieus. Kinder aus
privilegierten, bildungsnahen Milieus haben eine fast dreifach größere Chance, das Gymnasium zu besuchen,
als Kinder aus armen, benachteiligten Milieus (Bos et al. 2004, 28). Insofern behandelt das mehrgliedrige
Schulsystem die Letzteren ungerecht und kann von Chancengerechtigkeit und Diskriminierungsfreiheit (vgl.
UN-BRK, Art. 5) des Thüringer Bildungswesens keine Rede sein. Die separaten Schularten tragen in entscheidendem Maß zur Verletzung von Menschenrechten benachteiligter, behinderter und mit Migrationshintergrund versehenen Gruppen von Kindern und Jugendlichen bei. Dadurch werden auch andere Rechte verletzt, wie die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft sowie die Achtung vor der Unterschiedlichkeit
der Menschen und die Akzeptanz vor Menschen mit Behinderungen (vgl. UN-BRK, Art. 3).
Zu b): Vor diesem Hintergrund sollte es von der Klassenstufe 1 bis 10 eine Schule für alle geben, eine nichtgegliederte Schule. Die Auflösung der historisch gewachsenen mehrgliedrigen Schulstruktur wird innerhalb
des Schulsystems zu erheblichen Irritationen führen, nicht zuletzt auch aufgrund materieller Einbußen, wenn
Schulleitungen zusammen gelegt und Lehrergehälter angeglichen werden. Sonderpädagogen müssen von Regellehrkräften als selbstverständlicher Teil eines jeden Kollegiums angesehen werden und sich selbst auch so
verstehen. Die UN-BRK fordert, den Umgestaltungsprozess durch permanente Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung zu begleiten (vgl. UN-BRK, Art. 8). Diese Maßnahmen sind im Rahmen der Aus-, Fort- und Weiterbildung aller Lehrkräfte mit dem Ziel der Schaffung einer gemeinsamen Verantwortung für schulische Inklusion umzusetzen. Die Existenz von Anreizsystemen für Schulen dürfte ihre Bereitschaft steigern, sich strukturell und organisatorisch in Richtung schulischer Inklusion zu entwickeln.
Allgemeine Zeitfenster für den Umgestaltungsprozess anzugeben, erscheint problematisch, weil es sich in
einer Schule um ein kurzen, in einer anderen um einen längeren Prozess handeln kann. Das Letztere zu gewähren, entspräche der Forderung nach autonomer Schulentwicklung, bei der die Akteure die Strukturveränderungen selber in die Hand nehmen. Die UN-Konvention sieht vor, dass nach 2 Jahren des Inkrafttretens des
Übereinkommens der erste Rechenschaftsbericht der Staaten einem UN-Sachverständigenausschuss vorgelegt
werden muss und danach alle vier Jahre, der zeigt, welche Fortschritte die Staaten hinsichtlich inklusiver Entwicklungen gemacht haben. Damit sind grobe zeitliche Anhaltspunkte für den Umgestaltungsprozess angegeben.
Zu c): Abb. 4: Förderquoten in den einzelnen Förderschwerpunkten in Thüringen und Deutschland:
50%
40%
30%
20%
10%
0%
Deutschland
Thüringen
Quelle: Statistisches Bundesamt (2010) und KMK (2010a) (eigene Berechnung)
Abbildung 4 zeigt, dass Thüringen eine niedrigere Förderquote in den Schwerpunkten Lernen, Sehen, Hören
und körperliche Entwicklung hat im Vergleich zu den entsprechenden Förderquoten in der Bundesrepublik.
Dagegen liegt die Förderquote im Schwerpunkt Sprache um 36%, im Schwerpunkt emotionale und soziale
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Entwicklung um 33% und im Schwerpunkt geistige Entwicklung um 32% höher, wenn man den Bundesdurchschnitt mit 100 Prozent ansetzt. Beim Vergleich dieser Förderquoten stimmt zweierlei bedenklich:
Erstens, warum sind die Förderquoten in den Schwerpunkten, Sehen, Hören und körperliche Entwicklung teils
erheblich niedriger als im Bundesdurchschnitt. Gerade bei diesen Förderschwerpunkten sollte man davon ausgehen, dass der Einsatz von medizinisch-objektiven Messverfahren zur Erstellung sicherer Diagnosen führt.
Zweitens, warum werden die Förderschwerpunkte Sprache, emotional-soziale Entwicklung und geistige Entwicklung um ca. ein Drittel und mehr in Thüringen häufiger diagnostiziert als im Bundesdurchschnitt.
Für die Förderschwerpunkte Sprache und emotional-soziale Entwicklung wird vermutet, dass die Feststellungsdiagnostik der Thüringer Lehrkräfte selektiver ist, weil besonders diese Kinder von den normativen Vorstellungen der Schule abweichen. Lehrkräfte und Schulleitungen gehen davon aus, dass sie den reibungslosen
Ablauf des Schulunterrichts hemmen und stören, dadurch die Lernfortschritte der anderen im Unterricht beeinträchtigen und nicht genügend vom allgemeinen Unterricht profitieren. Außerdem gehören die Kinder meist zu
den lern-/leistungsmäßig schwächeren Schülern, was mit dem Phänomen der Überlappung der Förderschwerpunkte Lernen, emotional-soziale Entwicklung und Sprache zusammenhängt. Die schärfere Feststellungsdiagnostik könnte also mit den hohen normativen Erwartungen an das kognitive Lern-/Leistungs-verhalten der
Thüringer Schule zusammenhängen. Nicht zuletzt verweist der drittbeste Rangplatz Thüringens bei PISA-E
darauf, dass es eine hohe Leistungserwartung der Lehrkräfte der allgemeinen Schule gibt.
Für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung nehmen wir an, dass ein Teil dieser Kinder und Jugendlichen nominell als geistig behindert diagnostiziert wird, aber faktisch Förderbedarf im Lernen hat. Dieser Tatbestand hängt vermutlich damit zusammen, dass die diagnostizierenden Lehrkräfte wissen, dass Heranwachsenden mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung rechtlich mehr Unterstützung und Hilfe während und
nach der Schulzeit zustehen als denjenigen mit Förderschwerpunkt Lernen.
II Förderzentren/ Schwerpunktschulen/ Förderschulen
Frage 6: (a) Welche Entwicklungsperspektiven haben Förderzentren und Gemeinsamer Unterricht und
(b) welche Eckwerte und Gelingensbedingungen sollten gelten?
Zu a) 1. Position: In einem inklusiven Bildungssystem sollten für die Förderschwerpunkte Lernen, Verhalten
und Sprache an jeder Schule sonder- und sozialpädagogische, ggf. auch therapeutische Kompetenzen vorhanden sein. Sonderpädagogische Arbeit hat subsidiäre Funktion und besteht in der Unterstützung schulischer
Inklusion im Sinne einer dezentralen, wohnortnahen und inklusiven Förderung. Ihr wesentlicher Auftrag besteht in der zieldifferenten Förderung von behinderten und von Behinderung bedrohten Kindern und Jugendlichen im inklusiven Unterricht und in der systembezogenen Beratungs- und Unterstützungsarbeit von schulischen Inklusionsprozessen. Dadurch würde sich die Einrichtung von Förder- und Beratungszentren für diese
Schwerpunkte erübrigen. Schulen, die sich in problembelasteten Sozialräumen etwa in sozialen Brennpunkten
befinden, brauchen eine höhere Zuweisung der genannten Kompetenzen als in unbelasteten Sozialräumen.
Indikatorenmodelle sind anzuwenden, um die unterschiedlich hohen Ressourcenzuweisungen zu legitimieren.
Für je einen der Schwerpunkte geistige Entwicklung, Sehen, Hören und körperliche Entwicklung bietet sich an, Förderzentren langfristig zu Beratungs- und Unterstützungszentren ohne Schüler und
Schülerinnen zu entwickeln. Die Einrichtung solcher überregionaler stufenübergreifender Zentren ohne Schüler/-innen sind Orte des multiprofessionellen Austausches der in inklusiven Schwerpunktschulen ambulant
tätigen Sonderpädagogen/-innen mit den entsprechenden Qualifikationen und dem nicht lehrenden Personal
(Personen mit sozialpädagogischer, psychologischer, therapeutischer und pflegerischer Ausbildung sowie Assistenzpersonal). Ferner sind sie Anlaufstellen für Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen,
die um Beratung nachsuchen. Solche Zentren könnten auch stationäre Angebote temporär bereit stellen, allerdings immer mit dem Ziel, die zeitweise exkludierten Kinder und Jugendlichen wieder in die allgemeine Schule zu inkludieren. Eine erzwungene Überweisung in additive und separierte Formen von Beratungs- und
Unterstützungszentren widerspricht der UN-Konvention.
Zu a) 2. Position: Förderzentren sind Bestandteil des inklusiven Bildungssystems und werden bestehen bleiben. Einige Mitarbeiterinnen des Fachgebiets sehen ihre Funktion darin, Kinder und Jugendliche auf die Teilnahme im Gemeinsamen Unterricht vorzubereiten. Insbesondere für die Förderschwerpunkte geistige Entwicklung, Hören, Sehen und körperliche Entwicklung wird die Einrichtung separater Förderzentren befürwortet.
Hier könne das Wohl der Kinder und Jugendlichen besser berücksichtigt werden, weil sie mit entsprechend
qualifiziertem Personal sowie materiell und sächlich angemessen ausgestattet sind.
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Zu b) Eckwerte und Gelingensbedingungen: Inklusive Beschulung hat wohnortnah stattfinden und ist unverzichtbarer Bestandteil eines jeden Schulprogramms. Lehrkräfte sind auf inklusive Beschulung vorzubereiten,
Eltern vorab zu informieren und in die Schularbeit einzubeziehen. Ferner sind an die Förderbedarfe der Kinder
angepasste räumliche, sächliche und personelle Rahmenbedingungen herzustellen. Entscheidend ist dabei die
Zuweisung zusätzlicher sonder- und sozialpädagogischer, zeitweise auch therapeutischer Kompetenz an jede
Schule, nicht zuletzt auch der Umbau von Schulgebäuden im Hinblick auf barrierefreien Zugang.
Inklusiver Unterricht muss von kooperierenden Sonder- und Regellehrkräften gemeinsam verantwortet werden. Teamteaching beider Professionen führt zu Absprachen über innere und äußere Differenzierungsformen
des Unterrichts, wobei der Schwerpunkt auf der vollen Teilhabe im regulären Unterricht besteht. Förderpläne
für Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf machen Aussagen zum Verhältnis des
Anteils der Teilhabe am inklusiven Unterricht und des Anteils an individualisierter Förderung. Wichtig ist die
Förderung kooperativen Lernens der Schüler und Schülerinnen mit und ohne Förderbedarf im Unterricht. Die
Lern-/Leistungsbeurteilung sollte norm- und kriterialbezogen vorgenommen werden. Weiterhin fördern klassenübergreifende Konferenzen zum Thema Gemeinsamer Unterricht, Fort- und Weiterbildungsangebote schulische Inklusion.
Frage 7: Wie wird die Einrichtung von regionalen inklusiven Schwerpunktschulen bewertet, um kurzfristig die
Einführung des Rechts auf inklusive Unterrichtung zu sichern? Welche Maßnahmen und welcher
Zeitplan werden dazu empfohlen?
1. Position: Durch kurzfristige Einrichtung regionaler, inklusiver Schwerpunktschulen besteht die Gefahr, dass
sich andere allgemeine Schulen kaum verändern. Die Schwerpunktschulen würden allgemeinen Schulen ein
Alibi verschaffen, sich nicht zu inklusiven Schulen zu entwickeln. Die Folge wäre eine Reduzierung der Inklusion auf Schwerpunktschulen, was den Vorstellungen der UN-Konvention dann widerspricht, wenn es eine
höhere Nachfrage nach Plätzen an inklusiven Schulen gibt, der Schwerpunktschulen nicht nachkommen können.
2. Position: Diese Einrichtung wird befürwortet, um spezifische Rahmenbedingungen für Unterrichtung und
Erziehung von Schülern mit Behinderungen zu schaffen. Sie könnten eine Vorbildfunktion haben, indem sie
Hospitationen für Schulen ermöglichen, die sich auf den Weg der Inklusion begeben wollen. Sie sollten aber
nur als eine Übergangslösung mit Pilotcharakter im Prozess der Herstellung inklusiver Strukturen angesehen
werden.
Frage 8: (a) Welche Funktionen, Aufgaben und Stellenwert werden Förderschulen im Rahmen eines inklusiven Bildungssystems erhalten? Welche konkreten Aufgaben erfüllen Förderschulen in einem inklusiven Bildungssystem?
(b) Wie werden zukünftige Neugründungen bzw. Grundsanierungen von Förderschulen bewertet?
Zu a) Um an den internationalen Entwicklungsstand schulischer Inklusion anzuschließen (vgl. Abb. 2 und
Abb. 3), sollten Förderschulen mit den Schwerpunkten Lernen und Sprache jahrgangsweise auslaufen. Handelt
es sich um alte Schulgebäude, könnten sie für andere kommunale Zwecke genutzt werden oder verkauft werden. Neue Schulgebäude sollten in inklusive Schulen umgewandelt werden, die Schüler/-innen mit und ohne
Behinderungen wohnortnah ab der ersten Klassenstufe aufnehmen.
Bevor sich bestimmte allgemeine Schulen längerfristig zu regionalen Schwerpunktschulen für die Förderschwerpunkte geistige Entwicklung, Hören, Sehen und körperliche Entwicklung entwickeln, sollten die existierenden Schulen bestehen bleiben. Sie sollten den Aufbau der regionalen inklusiven Schwerpunktschulen mit
initiieren, begleiten und unterstützen (vgl. Frage 6).
Zu b) Insofern erübrigen sich Neugründungen bzw. Grundsanierungen von Förderschulen.
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III Individuelle Entwicklung/ Frühkindlicher Bildungsbereich
Frage 9: Welche wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse liegen den Anzuhörenden über die individuelle
Entwicklung von Kindern im integrativen Unterricht hinsichtlich:
a) ihrer persönlichen Entwicklung, b) ihren Lernfortschritten, c) ihrem persönlichen Wohlbefinden
und d) ihrer gesundheitlichen Entwicklung vor?
Zu a) Bei den Schulversuchen im deutschsprachigen Bereich und in den meisten Untersuchungen im internationalen Bereich stehen (b) Lernfortschritte (gemessen als Schulleistung) und (c) persönliches Wohlbefinden
der Schüler und Schülerinnen mit und ohne Behinderungen (gemessen als soziometrischer Status oder Klassenklima) im Vordergrund. Unseres Wissens liegen keine Befunde direkt zur persönlichen Entwicklung vor.
Allerdings lassen sich Rückschlüsse von der Befundlage zu Lernfortschritten und zum persönlichen Wohlbefinden auf die Dimension persönliche Entwicklung ziehen.
Zu b) Zur Frage der Lernfortschritte im integrativen Unterricht besteht international und national ein weitgehender Konsens über die empirische Befundlage:
- Lernfortschritte von Förderschüler/-innen im integrativen Unterricht: Die meisten Studien im In- und Ausland zeigen, dass die Schulleistungen der Förderschüler im integrativen Unterricht eindeutig besser waren,
verglichen mit denen aus Förderschulen (Bless 1995; Haeberlin u. a. 1990; Klemm & Preuss-Lausitz 2008;
Wocken 2007). In mehreren Untersuchungen bleibt offen, welche Förderschwerpunkte genau gemeint waren;
es wurde nur zwischen Schülern mit und Schülern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf unterschieden. Für
den Förderschwerpunkt Lernen ist allerdings die Aussage empirisch evident: In integrativen Schulklassen
wurden bessere Schulleistungen als in Sonderschulen erzielt (Hildeschmidt & Sander 1996). Die Befunde
„sprechen gegen eine kompensatorische, rehabilitative Wirksamkeit der Förderschule“ (Wocken 2007, 55).
Preuss-Lausitz (2005) stellt fest, dass sich die Leistungen von Schülern mit Förderbedarf in der emotionalsozialen Entwicklung im Laufe der Zeit im integrativen Unterricht stabilisierten. Eine norwegische Untersuchung kommt bei älteren Schüler/-innen mit allen Arten und Schwergraden von Behinderungen zum Ergebnis:
Die Leistungen in Sonderklassen (= separate Klassen in Regelschulen, Sonderschulen in Deutschland) waren
durchweg schlechter als in Integrationsklassen (Myklebust 2006).
- Lernfortschritte von nichtbehinderten Schüler/-innen im integrativen Unterricht: Keine der vorliegenden
Untersuchungen stellte eine Schulleistungsbenachteiligung der nichtbehinderten Schüler/-innen fest, verglichen mit denen aus nichtintegrativen Klassen (Bless & Klaghofer 1991; Borchert & Schuck 1992; Dumke &
Schäfer 1993, Feyerer 1998). Nach Dumke & Schäfer (1993) lagen die Leistungen von Fünft- bis Siebtklässlern ohne Behinderungen in Integrationsklassen sogar leicht über denjenigen in nichtintegrativen Parallelklassen. Auch bei der Schulleistungsentwicklung besonders begabter Schüler/-innen (IQ > 117) ließen sich keine
Nachteile in Integrationsklassen nachweisen (Feyerer 1998). Fazit: „Es erfolgt also keine Nivellierung nach
unten, die sehr intelligenten Schüler/-innen werden in Integrationsklassen ebenso optimal gefördert wie in den
Parallelklassen.“ (Feyerer 1998, 178)
Zu c) Persönliches Wohlbefinden: Dieses Phänomen wird in der Integrationsforschung im Zusammenhang mit
dem soziometrischen Status der Schüler/innen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf sowie dem
Klassenklima untersucht. National kommen die Modellversuche ganz überwiegend zu positiven Ergebnissen
im Hinblick auf den soziometrischen Status der Schüler/-innen. Das heißt, Kinder mit sonderpädagogischem
Förderbedarf sind mehr oder weniger gut sozial inkludiert wie Kinder ohne Förderbedarf (vgl. Übersicht bei
Borchert & Schuck 1992; Dumke & Schäfer 1993). Das Wohlbefinden nichtbehinderter Schüler/-innen war
sogar größer als in nichtintegrativen Parallelklassen (Feyerer 1998). Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf waren zufriedener mit ihrer Schule als in nichtintegrativen Klassen (Preuss-Lausitz 1997). Ganz
wesentlich ist das auf das bessere Klassenklima und an Heterogenität angepasste Unterrichtsformen, zum Beispiel zieldifferenter Unterricht, individuelle Förderung und kooperatives Lernen, in den Integrationsklassen
zurückzuführen. Die nationalen Befunde zum Klassenklima und zu Formen von heterogenem Unterricht werden durch ein in sieben europäischen Ländern durchgeführtes Comenius-Projekt weiter empirisch belegt
(Improvement through research in the inclusive school 2011).
Entfallen entsprechende Rahmenbedingungen von Modellversuchen, kommen nationale Studien jedoch zu
einem anderen Befund: Festgestellt wurde ein niedrigerer soziometrischer Status der Schüler/-innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, vor allem in den Förderschwerpunkten Lernen und Verhalten. Das heißt,
diese Schüler wurden in Regelklassen eher abgelehnt oder ignoriert und fühlten sich dementsprechend nicht so
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wohl wie Vergleichsgruppen in Sonderschulen (Haeberlin u.a. 1990, Huber 2006). Dieses Ergebnis stimmt
ebenfalls mit dem internationalen Forschungsstand überein (Bless 1995, Huber 2008).
Diese Befundlage zeigt, dass das persönliche Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in entscheidendem Maße von den Rahmenbedingungen, wie Klassenklima und neue heterogene Unterrichtsformen, zeitweises und volles Zwei-Pädagogen-System sowie anderen Unterstützungsmaßnahmen abhängig ist, so wie es die Ergebnisse der Modellversuche deutlich machten.
Zu d): Zur Frage der gesundheitlichen Entwicklung liegen uns keine Erkenntnisse vor.
Frage 10: Wie soll der Zugang zu einem inklusiven Bildungswesen bereits im frühkindlichen Bildungsbereich
gestaltet werden?
(a) Inwiefern sollen bspw. die Schulvorbereitenden Einrichtungen (SVE) beibehalten werden?
(b) Welche Strukturen sind insbesondere in der Frühförderung im Sinne der Umsetzung des inklusiven Bildungswesens weiterzuentwickeln?
Zu a) Bisherige SVE an Förderschulen führten meist zur weiteren Beschulung in der Förderschule und nicht
zur Inklusion in die Grundschule. Dies widerspricht dem Recht des Kindes auf Nichtdiskriminierung, Gleichberechtigung und Teilhabe, wenn es inklusiv beschult werden will, und damit den grundlegenden Absichten
der UN-Konvention. Daher sollten die SVE nicht mehr weiter geführt werden.
Zu b) Wichtig ist, die Frühförderung an die Kita anzugliedern. Eine aufsuchende Frühförderung sollte bildungsbenachteiligte Familien dahingehend beraten, dass ihre Kinder Kindertagesstätten ab dem ersten Lebensjahr besuchen. Inklusion beginnt in der Krippe.
Ferner sollten Kitas materiell, sächlich und personell so ausgestattet sein, dass den Förderbedarfen der behinderten und von Behinderung bedrohten Kinder entsprochen werden kann. Das heißt, Kitas ermöglichen einen
barrierefreien Zugang und sind mit multiprofessionellen Teams (Heilpädagogin, Logopäde, Ergotherapeutin)
sowie Integrationshelfern ausgestattet. Ein Schwerpunkt von Kita und angegliederter Frühförderung ist die
Beratungsarbeit. Dies ist nur durch konsequente Weiterbildung der Erzieher/-innen und durch wissenschaftliche Unterstützung bei der Erstellung eines Kita-Konzeptes zu gewährleisten.
Im Übrigen sprechen auch wissenschaftliche Befunde für den hier beschriebenen Zugang im frühkindlichen
Bereich: Untersuchungen in Krippen und Kitas zeigen, dass die pädagogische Qualität von integrativen Kinderkrippen im Vergleich zu nichtintegrativen höher war (Heimlich & Behr 2008), sich die Sozialkontakte der
Kinder mit und ohne Behinderungen in integrativen Krippen und Kindertageseinrichtungen verbesserten (auch
bei schweren Behinderungen) und von Behinderung bedrohte Kinder durch einen dortigen Besuch Entwicklungsschritte aufholen konnten (Seitz & Korff 2011, Kreuzer 2011).
IV Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf
Frage 11: Wie soll der Bereich der sonderpädagogischen Diagnostik ausgestaltet werden? Für welche Förderbereiche sollte durch wen und wann die Feststellungsdiagnostik erfolgen?
Die mit bisher großem Ressourcenaufwand betriebene Feststellungsdiagnostik für die Förderschwerpunkte
Lernen, emotional-soziale Entwicklung und Sprache sollte abgeschafft werden. Diese Diagnostik enthält zu
selten Hinweise für didaktisch-methodische Konsequenzen und Veränderungen eines an den Förderbedarfen
anzupassenden Unterrichts. Ressourcen bisheriger Feststellungsdiagnostik sind in den Bereich der prozessorientierten Diagnostik in den Unterricht umzuwidmen. Erst die Letztere stellt die Voraussetzung für individuelle
sonderpädagogische Förderung dar. So kommen diese Ressourcen neben der Diagnosearbeit im Unterricht
auch der Förderung zugute.
Ferner erübrigt sich diese Diagnostik für die genannten Schwerpunkte, weil sie nicht mehr eine Ressourcenzuweisung pro Kind zu begründen hat. Wenn die allgemeine Schule eine sonderpädagogische Grundausstattung pro Gesamtschülerzahl bekommt, obliegt es der Schule, wie sie die Ressourcen verteilt. Wichtig erscheint
es, dass sich Sonderpädagogen/-innen wirklich ihren eigentlichen Aufgaben widmen können: Sie sind für Diagnose und individuelle Förderung im Klassenverband und systembezogene Unterstützung und Beratung zur
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Förderung der schulischen Inklusion einzusetzen (vgl. Frage 15), und nicht für andere Zwecke, etwa als Lehrkräfte für Vertretungsunterricht.
Die Auffassung zum weitgehenden Verzicht auf die Feststellungsdiagnostik schließt eine umfangreiche, auch
(test-)psychologische Kind-Umfeld-Diagnose im Einzelfall nicht aus. Diese dient allerdings nicht der administrativen Zuweisung eines Etiketts wie Lern-, Sprachbehinderung oder Verhaltensstörung, sondern der Bestandsaufnahme der lebensbiografischen Situation eines Kindes, seiner Lernausgangslage und seines schulischen Kontextes. Ziel ist die Identifizierung von beeinträchtigenden Bedingungen in Kind und Umfeld und vor
allem die Formulierung von präventiven und interventiven Empfehlungen für eine gute Entwicklung.
Auf die Feststellungsdiagnostik für die Förderschwerpunkte geistige Entwicklung, Hören, Sehen und körperliche Entwicklung kann nicht verzichtet werden. Sie ist Grundlage für die Bestimmung der Höhe der Ressourcenzuweisung, sei es für die Finanzierung der technischen Ausstattung, für den Einsatz von Integrationshelfern, persönlichen Assistenten und Lehrkräften. Sie ist von einem multiprofessionellen Team durchzuführen,
das sich aus medizinischen, psychologischen und sonderpädagogischen Experten/-innen zusammensetzt. Allgemeine Schwerpunktschulen sollten für diese Personenkreise entsprechend ausgestattet werden, die von Förderzentren ohne Schüler/-innen begleitet, beraten und unterstützt werden.
Frage 12: Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse liegen den Anzuhörenden über eine integrative Beschulung
von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufgrund eines förderpädagogischen Gutachtens ab Klasse 1 bezüglich ihrer weiteren Schullaufbahn vor?
Die vorliegende Datenbasis ist unbefriedigend. Um die Frage zu beantworten, bedürfte es Längsschnittstudien
über die Dauer von acht bis zehn Jahren, die national und international sehr selten sind. Uns liegen drei Studien vor, die im Kern zu vergleichbaren Ergebnissen kommen (Eckhart & Haeberlin u.a. 2011, Ernst 2003,
Ginnold 2009). Die empirisch gehaltvolle Studie zu den Langzeitwirkungen der schulischen Integration von
Eckhart & Haeberlin u.a. (2011) bezieht sich auf die soziale und berufliche Situation von jungen Erwachsenen
in der Schweiz. Aufgrund ihrer Erkenntnisse lassen sich Rückschlüsse hinsichtlich der Frage separater und
integrativer Schullaufbahn ziehen:
- Sonderschüler/-innen mit Lernbehinderung hatten signifikant weniger Chancen als vergleichbare integrierte
Regelschüler/-innen, in ein höheres Ausbildungsverhältnis einzutreten.
- Sonderschüler waren negativer gegenüber Kindern mit Migrationshintergrund eingestellt als vergleichbare
integrierte Regelschüler. Die Letzteren hatten mehr Möglichkeiten in der Schule, freundschaftliche Kontakte
mit Schüler/-innen mit Migrationshintergrund zu knüpfen. Dies trug zu positiveren Einstellungen der Regelschüler gegenüber Migranten im Erwachsenenalter bei.
- Junge Erwachsene mit einer Sonderschulkarriere wiesen eine negativeres allgemeines Selbstwertgefühl und
ein negativeres Fähigkeitskonzept auf als vergleichbare Erwachsene mit integrierter Regelschulkarriere.
- Jungen Erwachsenen mit Sonderschulbiografie standen kleinere soziale Netzwerke zur Verfügung als denjenigen mit integrativer Regelschulbiografie. Die Ersteren fühlten sich deutlich weniger in die Gesellschaft integriert.
Diese Langzeiteffekte weisen deutlich auf die Nachteile einer separierenden und die Vorteile einer integrativen
Schullaufbahn hin. Einmal mehr zeigt sich, dass ein Sonderschulbesuch das Postulat der Gleichberechtigung
und Nichtdiskriminierung, wie es die UN-BRK vorsieht, verletzt. Ein Sonderschulabschluss stigmatisiert ihre
Absolventen/-innen. Für Ausbildungsbetriebe ist das Etikett „Sonderschule bzw. Förderschule“ ein leicht zu
identifizierendes Auslesekriterium. Hiermit wird ein Teil der Schulabgänger von Zugängen qualifizierterer
Ausbildung und höheren sozialen Positionen exkludiert. Daher trägt ein mehrgliedriges und separierendes
Bildungssystem zur Reproduktion und Legitimation gesellschaftlicher Ungleichheit bei (Bourdieu 1983).
Nicht zuletzt deswegen, plädieren die Schweizer Forscher/-in für die Abschaffung von Sonderklassen und
Sonderschulen für Lernbehinderte. Fazit: Erst ein inklusives Schulsystem stellt mehr Gleichberechtigung und
Nichtdiskriminierung im Bildungsbereich her.
Frage 13: Wird eine integrative Beschulung als ausreichend erachtet, um den individuellen Bedürfnissen der
Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufgrund eines förderpädagogischen Gutachtens
gerecht zu werden, ohne Schüler ohne sonderpädagogischen Förderbedarf zu vernachlässigen?
Angesichts des Erkenntnisstands ist bei dieser Frage entscheidend, ob integrativer Beschulung die notwendigen materiellen, sächlichen und personellen Ressourcen zur Verfügung stehen, die es braucht, um den Förder-
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bedarfen aller Schüler/-innen gerecht zu werden. Die Beantwortung der Frage 9 hat gezeigt, dass weder eine
Leistungsbenachteiligung der Schüler/-innen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf noch eine Benachteiligung im Wohlbefinden empirisch nachweisbar war, wenn die entsprechenden Rahmenbedingungen
vorhanden waren (vgl. Frage 9). Daher ist die Frage 13 ausdrücklich zu bejahen.
Frage 14: Garantiert eine integrative Beschulung eine optimale individuelle Weiterentwicklung von
a) Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufgrund eines förderpädagogischen Gutachtens und b) Kindern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf?
Unserer Auffassung nach können generell keine Effekte bei Bildungsprozessen „garantiert“ werden. Was beantwortet werden kann, ist die Frage, ob sich integrative Beschulung und optimale individuelle Weiterentwicklung aller Kinder ausschließen. Dies ist aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse zu verneinen. Sie weisen darauf hin, dass Kinder vor und in der Schulzeit in integrativen Settings besser gefördert werden als in
separaten Settings (vgl. Frage 9 und 12).
V Förderpädagogen
Frage 15: (a) Welche konkreten Aufgaben erfüllen Förderpädagogen in einem integrativen Bildungssystem
und (b) wie wird die gegenwärtige Situation bezüglich der Förderpädagogen in Thüringen eingeschätzt?
Zu a) Förderpädagogen/-innen sind erstens zuständig für die individuelle Förderung von Schüler/-innen mit
sonderpädagogischem Förderbedarf im integrativen Unterricht, was nicht ausschließt, dass sie auch Schüler/innen ohne Behinderung und Benachteiligung individuell fördern oder den Klassenunterricht übernehmen;
zweitens für die institutionalisierte systembezogene Unterstützung und Beratung von inklusionsförderlichen
Prozessen an der Schule. Entscheidend ist es, dass Sonder- und Regellehrkräfte den inklusiven Unterricht gemeinsam verantworten.
Sehen beide Professionen ihre Aufgabe in gemeinsamer Verantwortung für die optimale Entwicklung aller
Schüler/-innen, ergeben sich folgende umfangreichen Aufgabenschwerpunkte für die Förderpädagogen/-innen:
Erstens widmet sich der Förderpädagoge, wie gesagt, der Aufgabe individueller Förderung. Dazu bedarf es der
Erstellung einer Eingangsdiagnose und eines Förderplans, der Durchführung direkter Förderung und prozessbegleitender Diagnose, der Weiterentwicklung des Förderplans und der Herstellung einer förderlichen Lernumgebung.
Im Förderplan müssen bei der Bestimmung der nächsten Lern- und Entwicklungsziele Eltern, Kind und Regellehrkräfte einbezogen werden. Diese Ziele müssen mit allen Beteiligten einvernehmlich und verbindlich beschlossen werden, ihre Zielerreichung muss geprüft werden. Der Förderplan muss das Verhältnis von Anteilen
der Teilnahme am inklusiven Unterricht zu den Anteilen der individuellen Förderung ausweisen.
Zweitens ist die Förderpädagogin für die Durchführung systembezogener Unterstützung und Beratung zuständig. Sie wird in einer inklusiven Schule die Beraterrolle für Fragen und Probleme der Inklusion übernehmen.
Hinsichtlich des Unterrichts bedeutet es, in der Rolle der Ansprechpartnerin und Expertin für ihre Regelkollegen wirksam zu werden, wenn die Letzteren bei Unterrichts- und Erziehungserschwernissen nachfragen. Als
Expertin für Interaktion und Kommunikation mit schwierigen Schülern strebt sie im Beratungsprozess das
Verstehen und Lösen von Handlungsproblemen gemeinsam mit den Regelkollegen/-innen an. Für Beratung
bedarf es an jeder inklusiven Schule eines institutionalisierten Rahmens.
Zu b) Bisher sind 50% der allgemeinen Schule (Grund-/Regel-/Gesamtschulen, Gymnasien) mit ca. einer halben Stelle, 13% mindestens mit einer Vollzeitstelle ausgestattet. Ab Schuljahr 2011/12 bekommt jede Thüringer Grund- und Regelschule pauschal eine halbe Sonderpädagogik-Stelle für die Schwerpunkte Lernen, Verhalten und Sprache. Ferner bestimmen Schulgröße und Anzahl der Schüler/-innen mit sonderpädagogischem
Förderbedarf die Zuweisung weiterer Sonderpädagogik-Stellen (Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur 2011).
Die pauschale Zuweisung einer halben Sonderpädagogik-Stelle für die genannten Förderschwerpunkte an jede
Grund- und Regelschule ist zu begrüßen und begründet. Auch Schulen mit Schülern aus privilegierteren Familien haben heutzutage oft einen besonderen Bedarf an Förderung und Beratung. Insofern ist auch von einem
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erhöhtem Prozentsatz von Schülern auszugehen, die zumindest vorübergehend besondere Hilfe und Unterstützung brauchen, als vom durchschnittlichen Satz von 4 Prozent, der für die Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Lernen, Verhalten und in Sprache veranschlagt wird.
Ob die dauerhafte Zuweisung einer halben Sonderpädagogik-Stelle für Grund- und Regelschulen bis zu 100
Schüler/-innen in sozialen Brennpunkten ausreicht, hängt von der Höhe des Quotenschlüssels ab. Hier lediglich von 4% auszugehen ist, ist unrealistisch. Andere Staaten wie die USA oder Finnland gehen von insgesamt
ca. 20% einer Alterskohorte mit vorübergehender und dauerhafter besonderer Förderung aus. Insofern müsste
in die Berechnung neben der allgemeinen Schülerzahl auch die Berücksichtigung sozialer Indikatoren eingehen.
Für die übrigen 2% der Schüler/-innen mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, Hören, Sehen und körperliche Entwicklung müsste von höheren Anteilen an Sonderpädagogik-Stellen und zusätzlichen Ressourcen
für pflegerisches, therapeutisches und sonstiges Personal ausgegangen werden. Diese Zuweisung muss aber
nur an einzelne Schwerpunktschulen erfolgen.
Neben der quantitativen Einschätzung ergeben sich infolge von Erfahrungsberichten schulatmosphärische
Einschätzungen: Förderpädagogen/-innen befinden sich noch zu oft in der Situation, personalisierte additive
Förderung erbringen zu müssen: Sie gehen mit den Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf aus dem
Klassenzimmer, fördern individuell oder in Kleingruppen und das oft ohne Anbindung an den regulären Unterricht. Dabei geraten sie in die Rolle von Nachhilfelehrern.
Gelegentlich wird auch davon berichtet, dass Förderpädagogen/-innen zu wenig in das Kollegium der allgemeinen Schule integriert sind. Von Mobbingprozessen ist zu hören, die wohl darauf zurückzuführen sind, dass
Regellehrkräfte, wie generell Lehrkräfte, gewohnt sind, allein zu unterrichten und sich ungern in die „Karten
schauen lassen“. Als Folge werden dann Förderpädagogen eher als Störenfriede angesehen und nicht als Helfer und Ressource für eine verbesserte Förderung aller Kinder. Schließlich machen Förderpädagogen/-innen
die Erfahrung von „Heimatlosigkeit“ an der allgemeinen Schule.
Diese aufgezeigten Phänomene sind Folge von Problemkonstellationen, die sich ergeben, wenn sich ein komplexes System wie die Schule grundlegend verändert. Dazu braucht es viel Zeit und Dialog. Dies muss beim
TMBWK, bei Schulämtern und Schulleitung auf Wohlwollen und Akzeptanz stoßen im Wissen, dass sich
effektive Veränderungen sozialer Systeme nicht durch top-down-Strategien erreichen lassen. Die Entwicklung
und Etablierung institutionalisierter Formen, durch die inklusionsförderliche Bildungsprozesse unterstützt,
begleitet und beraten werden, wären sichtbarer Ausdruck für bildungspolitische Unterstützung.
Frage 16: Wie ist die Aus-, Fort- und Weiterbildung für Förderpädagogen, Erzieher und Lehrkräfte der unterschiedlichen Schularten zu gestalten und sonstige beteiligte Professionen zur gemeinsamen
Umsetzung eines inklusiven Bildungssystems in Thüringen auszugestalten und zu verändern und wie
bewerten Sie diesbezüglich die aktuelle Situation?
Bei dieser Frage beschränkt sich das Fachgebiet Sonder- und Sozialpädagogik aufgrund seines universitären
Aufgabenbereichs auf Antworten, die die Aus- und Fortbildung von Förderpädagogen/-innen und Lehrkräften
der unterschiedlichen Schularten betreffen:
Stellt die inklusive Schule das Zukunftsmodell von Schule dar, ist auf die bisherige entsprechend der unterschiedlichen Schularten getrennte Lehrerbildung zu verzichten. Schulische Inklusion fügt die bisher getrennten
Studiengänge der Lehrerbildung zusammen und schafft im Sinne eines Querschnittthemas eine Klammer für
alle Studiengänge.
Für die Lehrerausbildung der Klassenstufen 1 bis 10 erscheint es überlegenswert, Studierende aller Lehrämter
auf sechssemestrigem BA-Niveau zunächst gemeinsam auszubilden. Studierende wählen ein Erstfach Primarstufe oder Sekundarstufe I mit entsprechender erziehungswissenschaftlicher, fachdidaktischer und psychologisch-soziologischer Akzentuierung sowie ein entsprechendes Zweitfach cross-kategoriale Sonderpädagogik
für die Förderschwerpunkte Lernen, Sprache und Verhalten. Für diese Förderschwerpunkte besteht heute
schon ein hoher Bedarf an besonderer pädagogischer Förderung in der allgemeinen Schule, der sich in den
nächsten Jahrzehnten angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung noch erhöhen wird. Studieninhalte für das
Zweitfach Sonderpädagogik beziehen sich auf Module wie Inklusion, Heterogenität, Teamarbeit, Kooperation
und Förderdiagnostik.
Erst auf der Basis eines grundständigen Lehramtsstudiums für alle hinsichtlich des Erst- und Zweitfachs, sollten die folgenden viersemestrigen Masterstudiengänge aufbauen und differenzieren: Diese sehen Vertiefungsmodule für den Bereich Primarstufe, Sekundarstufe I und Sekundarstufe II sowie Sonderpädagogik vor, je
nachdem welcher Abschluss angestrebt wird.
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Hinsichtlich einer inklusiven Ausbildung für die Förderschwerpunkte geistige Entwicklung, Hören, Sehen und
körperliche Entwicklung bedarf es eines besonderen auszuarbeitenden Konzepts, dass an der Universität Erfurt
nur hinsichtlich des Förderschwerpunkts geistige Entwicklung relevant wird. Für die übrigen Förderschwerpunkte müssen aus anderen Bundesländern universitär ausgebildete Förderpädagogen/-innen eingestellt werden.
Diese grundlegenden Veränderungen der Lehrerbildung werden nicht in naher Zukunft realisiert werden. Was
kurzfristig möglich erscheint, ist die Einbeziehung eines Pflichtmoduls „Inklusionspädagogik“ in die Ausbildung aller Lehrämter. Hier sollten vor allem Fragen zu den Bedingungen des inklusiven Unterrichts und zum
pädagogischen Umgang mit heterogenen Lerngruppen im Vordergrund stehen. Damit können jedoch lediglich
grundlegende Erkenntnisse vermittelt werden. Ferner sollte der Vorbereitungsdienst ein entsprechendes
Pflichtmodul aufnehmen, das didaktisch-methodische Aspekte des heterogenen Unterrichts enthält.
Für die bereits in der Praxis tätigen oder mit Inklusion beginnenden Lehrkräfte hat sich in Thüringen wie in
anderen Bundesländern eine prozessbegleitende Fortbildung an der Einzelschule bewährt, die schwerpunktmäßig fortgesetzt werden sollte. Prozessbegleitende Fortbildung ist weiterhin, wie bisher, auf regionaler Ebene
durch Fort- und Weiterbildung, organisiert von Schulämtern, und auf Landesebene, organisiert von Lehrerfortbildungsinstituten, zu ergänzen.
Frage 17: (a) Wie können wirksame Verbesserungen in der ressortübergreifenden Zusammenarbeit für Beratung, Informations- und Konfliktmanagement erreicht werden? (b) Wie kann insbesondere eine
Stelle für alle Fragen für Betroffene, Eltern und Akteure geschaffen werden? Welche Beratungsund Unterstützungsstellen sind dazu einzubeziehen?
Einzurichtende Stellen sollten sich am Prinzip „von unten nach oben“ orientieren:
Zu (a) Ein Vorschlag zielt auf die Einrichtung einer regionalen Beratungs- und Konfliktstelle Inklusion. Sie
sollte Eltern, Kindertagesstätten und Schulen Informationsmaterial darüber anbieten, welche Möglichkeiten
inklusiver Erziehung und Unterrichtung in der Region bestehen. Ihre wesentliche Aufgabe könnte in der Beratung sowie in der Moderation von Konflikten bestehen.
Zu (b) Pro Kreis bzw. kreisfreier Stadt wird ein Inklusionsbüro eingerichtet, das Eltern behinderter Kinder bei
der Beantragung von Geldern berät und unterstützt. Das Büro erleichtert den Eltern die Beantragung, indem es
sich vor allem der Aufgabe der Koordination zwischen verschiedenen Kostenträgern, z. B. Sozialamt, Krankenkasse und Schulamt, widmet. Es verhindert damit, dass die Eltern von einem Kostenträger zum anderen
geschickt werden.
Frage 18: Wie kann eine sinnvolle wissenschaftliche Begleitung bei der Umgestaltung zu einem inklusiven
Bildungswesen gestaltet werden?
Unserer Auffassung nach sind weitere Schulversuche zur Frage inklusiver Beschulung überflüssig. Es liegen
national und international genügend Erkenntnisse zur Beantwortung dieser Frage vor. Seit Jahrzehnten wird
inklusive Bildung in vielen Staaten Europas und der Welt sowie in mehreren Bundesländern praktiziert. Entscheidend ist also nicht mehr die Frage, ob inklusive Bildung umgesetzt werden soll, sondern wie gute inklusive Bildung gestaltet wird und welchen Beitrag wissenschaftliche Begleitung dazu beisteuern kann. Das macht
deutlich, dass es sich dabei in erster Linie um prozessorientierte wissenschaftliche Inklusionsbegleitung handelt. Dazu stellt sich eine Vielzahl von Aufgaben in der wissenschaftlichen Begleitung von inklusiven Bildungsprozessen in Kindergarten, Schule und beruflichen Ausbildungsgängen. Formative Evaluationsforschung, die auf die Umsetzung und Verbesserung von Maßnahmen setzt, muss klären, welche Bedingungen
zum Gelingen und Scheitern inklusiver Bildungsprozesse führen. Solche Evaluationsforschung ist über mehrere Jahre angelegt und ohne Zuweisung finanzieller Ressourcen nicht zu leisten.
Wissenschaftliche Inklusionsbegleitung muss ferner mit der Frage nach der Qualitätssicherung in pädagogischen Institutionen verknüpft werden. Qualitätsstandards sollten mit den Akteuren gemeinsam ausgehandelt
und vereinbart und ihre Realisierung überprüft werden. Bei der Aushandlung über die Standards darf die
Priorisierung eines rein kognitiven Leistungsbegriffs und eines marktgängigen Bildungsbegriffs nicht leitend
sein. Vielmehr sollte sie an einem pädagogischen Leistungsbegriff festgemacht werden, der Kompetenzen zur
Selbstbestimmung, Teamfähigkeit, demokratischer Mitbestimmung und Solidarität sowie Akzeptanz von Viel-
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falt umfasst. Wissenschaftliche Inklusionsbegleitung in Verbindung mit Qualitätssicherung ist dann in der
Lage, Ergebnisse in Ausbildung, Fort- und Weiterbildung verschiedener pädagogischer und anderer Professionen zur Verfügung stellen.
Im Schulbereich hat sich wissenschaftliche Begleitung zukünftig besonderen Herausforderungen in der Sekundarstufe I und II stellen. Die Heterogenität der Jugendlichen stellt besondere Anforderungen an Fachunterricht, Unterrichtsformen und Lehrerprofessionalität. Hier muss es um eine Entwicklung von inklusionsbezogenen Fachdidaktiken gehen, die in Deutschland kaum existieren. Dazu wäre auch eine Auseinandersetzung
mit international vergleichender Forschung sehr hilfreich, um deren Ergebnisse für den deutschsprachigen
Raum fruchtbar zu machen.
Der Blick auf internationale Forschung ist ebenfalls geboten, wenn es um die Verbesserung von Klimas in
inklusiven Kindergärten, Schulen und beruflicher Ausbildungsgängen geht. In vielen internationalen Studien
hat sich herausgestellt, dass die Qualität des Klimas, die mit Hilfe von Messungen zum Sichwohlfühlen, zur
Wertschätzung und zum Angenommensein sowie zu guten Beziehungen aller Akteure untereinander ermittelt
wird, die entscheidende Variable für den Erfolg inklusiver Bildungsprozesse darstellt. Wissenschaftlicher Inklusionsbegleitung eröffnen sich hier bisher wenig erforschte Aufgabenfelder im nationalen Raum.
Wissenschaftliche Begleitung kann sich nicht nur auf oben genannte Prozesse innerhalb pädagogischer Institutionen beschränken, sondern hat, soll der umfassende gesellschaftliche Anspruch der UN-BRK auf Inklusion
umgesetzt werden, auf mehreren Ebenen stattzufinden. Der Mehrebenenansatz zielt darauf ab, zum Beispiel
regionale inklusionsorientierte Bildungslandschaften zu entwickeln, in denen Probleme der Organisation und
Finanzierung verschiedener Dienste in Zusammenhang mit pädagogischen, partizipativen und informativen
Aspekten erörtert und gelöst werden. Die „Thüringer Forschungs- und Arbeitsstelle für den Gemeinsamen
Unterricht“ könnte hier eine Vorreiterfunktion übernehmen, indem sie ihr Aufgabenfeld hinsichtlich der Frühförderung, der Kindertagesstätten und der beruflichen Ausbildung ausweitet. Ohne erhebliche Zuweisung zusätzlicher finanzieller und personeller Ressourcen ist allerdings ein solches Vorhaben nicht durchzuführen.
Im Auftrag des Fachgebiets Sonder- und Sozialpädagogik der Universität Erfurt
Prof. Dr. Rainer Benkmann, Sprecher
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Literaturverzeichnis
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