Topics Geo Jahresrückblick Naturkatastrophen 2004

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Topics Geo Jahresrückblick Naturkatastrophen 2004
Edition Wissen Topics Geo 2004
Bestellnummer 302-04320
Topics Geo
Jahresrückblick Naturkatastrophen
2004
Naturkatastrophen 2004
Große Naturkatastrophen seit 1950
Tsunamikatastrophe in Südasien
Hurrikansaison im Atlantik
Taifunsaison im Pazifik
Der Klimagipfel von Buenos Aires
Münchener Rück Munich Re Group
© 2005
Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft
Königinstraße 107
80802 München
Edition Wissen
1
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aktuelle Schadenfälle analysiert und interaktive
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Münchener Rück, Topics Geo 2004
Inhaltsverzeichnis
Seite
2
4
8
Naturkatastrophen 2004
Rückblick – Ausblick
Bilder des Jahres
Statistik
10
Bedeutende Technik- und Brandkatastrophen 2004
12
Große Naturkatastrophen 1950–2004
16
30 Jahre GeoRisikoForschung
22
26
Erdbebenberichte:
Das Erdbeben von Niigata in Japan
Tsunamikatastrophe in Südasien
34
35
42
44
46
Achtung Stürme!
Wirbelsturmserien und außergewöhnliche
Sturmereignisse rund um den Globus
Hurrikane im Atlantik – die Zeichen stehen auf Sturm
Weitere außergewöhnliche Sturmereignisse
Schadenbericht Property Claim Services
Taifunsaison im Pazifik – Japan im Fadenkreuz
der Wirbelstürme
50
Geokodierte Informationen ermöglichen
größere Schadentransparenz
53
Klimagipfel in Buenos Aires –
Durchbruch für den Klimaschutz?
Einlegeblätter
Weltkarte der Naturkatastrophen 2004
MRNatCatPOSTER Naturkatastrophen 2004
Titelbild
Die Hurrikane Charley, Frances, Ivan und Jeanne
fegten kurz hintereinander über die Karibik und
trafen dann auf Florida. Die versicherten Schäden
summierten sich auf fast 30 Mrd. US$; für die Versicherungswirtschaft war dies die teuerste Hurrikansaison aller Zeiten.
Bild links:
Das drittstärkste Erdbeben der letzten hundert
Jahre ereignete sich am 26. Dezember 2004 im
Indischen Ozean. Es löste einen gewaltigen Tsunami aus, der die Küstenlinien Sumatras, Thailands, Südindiens, Sri Lankas und der Malediven
verwüstete. 170 000 Menschen kamen ums Leben,
über 100 000 werden vermisst.
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Münchener Rück, Topics Geo 2004
Naturkatastrophen 2004
Rückblick – Ausblick
Kurz vor Jahresende ereignete sich in Südasien die verheerendste Naturkatastrophe der letzten Jahrzehnte.
Im Indischen Ozean vor der Westküste Sumatras löste ein
schweres Beben seismische Flutwellen (Tsunami) aus,
die auch noch sehr weit entfernte Küstenabschnitte verwüsteten. Diese menschliche Tragödie mit mehr als
170 000 Todesopfern löste auf der ganzen Welt Betroffenheit, tiefe Bestürzung und ohnmächtige Trauer aus. Sie hat
uns auf dramatische Weise die Gewalt und Unberechenbarkeit der Natur deutlich gemacht und gezeigt, wie dringend notwendig weltweite Vorsorgemaßnahmen sind.
störerischen Hurrikane in der Karibik und den USA sowie
das Niigata-Erdbeben in Japan vom 23. Oktober. Die
versicherten Schäden stiegen auf 44 Mrd. US$ (Vorjahr:
15 Mrd. US$). Damit ist 2004 das bisher teuerste Naturkatastrophenjahr der Versicherungsgeschichte.
Die Großkatastrophen des vergangenen Jahres bestätigen
eindringlich, dass sich die Versicherungswirtschaft auf
neue Schadendimensionen bei Naturkatastrophen einstellen muss.
Erdbeben, Tsunamis, Vulkanausbrüche
Bei der Anzahl der Ereignisse wie auch den monetären
Schäden dominierten 2004 aber die atmosphärischen
Extremereignisse bzw. Wetterkatastrophen. Das vergangene Jahr hat damit die Befürchtung bestätigt, welche die
Münchener Rück seit langem äußert. Die – mit hoher
Wahrscheinlichkeit vom Menschen verursachte – globale
Erwärmung führt nicht nur dazu, dass sich außergewöhnliche Wettereignisse häufen und intensivieren, sondern
dass auch neuartige Wetterrisiken entstehen; zudem
kommt es zu größeren Schadenpotenzialen:
– Vor der brasilianischen Küste bildete sich erstmals seit
Beginn der Beobachtungen ein Hurrikan – dieses Gebiet
galt bisher als hurrikanfrei.
– Hurrikan Alex intensivierte sich um den 40. nördlichen
Breitengrad – also ungewöhnlich weit außerhalb der
Tropen – zu einem Sturm der Saffir-Simpson-Kategorie 3.
Normalerweise schwächen sich tropische Wirbelstürme
in diesen nördlichen Breiten stark ab oder lösen sich
ganz auf.
– Innerhalb nur weniger Wochen trafen vier Hurrikane
Florida – für die Versicherungswirtschaft die teuerste
Hurrikansaison aller Zeiten.
– Japan wurde von 10 tropischen Wirbelstürmen getroffen –
eine Rekordzahl, wie sie im ganzen letzten Jahrhundert
nicht erreicht wurde.
Von den 650 analysierten und erfassten Ereignissen gingen
85 auf das Konto geologischer Gefahren (75 Erdbeben, die
Schäden verursachten; 10 Vulkanausbrüche). Die volkswirtschaftlichen Schäden betrugen rund 40 Mrd. US$, die
versicherten Schäden 1,5 Mrd. US$.
– Am 23. Oktober 2004 wurde die Präfektur Niigata auf der
japanischen Hauptinsel Honshu von einem Erdbeben der
Magnitude 6,6 erschüttert. Das Beben löste über tausend
Erdrutsche aus, die Straßen, Gleise und Brücken mit sich
rissen sowie einen Schnellzug zum Entgleisen brachten.
Die gesamten volkswirtschaftlichen Schäden – hauptsächlich Schäden an unversicherten Infrastruktureinrichtungen – beliefen sich auf knapp 30 Mrd. US$, die versicherten Schäden bezifferten sich auf etwa eine halbe
Milliarde US-Dollar.
– Ein Beben der Stärke 9,0 auf der Richterskala – das drittstärkste der letzten hundert Jahre – ereignete sich am
26. Dezember im Indischen Ozean vor der Westküste
Sumatras. Die Erdkruste verschob sich auf einer Länge
von rund tausend Kilometern um bis zu 20 Meter und
löste dadurch einen Tsunami aus. Dieser verwüstete die
teilweise dicht besiedelten Küstenlinien Sumatras, Thailands, Südindiens, Sri Lankas und der Malediven. Auch
Somalia, Kenia und Tansania in Ostafrika waren betroffen (siehe Dokumentation ab Seite 26).
Schadenbilanz
Stürme
Weltweit kamen 2004 deutlich mehr als 180 000 Menschen
bei Naturkatastrophen ums Leben; über 170 000 Menschen
werden bisher als Opfer der Tsunamikatastrophe in Südasien genannt, man befürchtet aber über 250 000 Todesopfer. Mit rund 650 Elementarschadenereignissen entsprach
die Zahl der analysierten und dokumentierten Naturkatastrophen dem Durchschnitt der vergangenen 10 Jahre. Die
volkswirtschaftlichen Schäden stiegen auf 145 Mrd. US$
(2003: 60 Mrd. US$). Zu Buche schlugen vor allem die zer-
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Knapp die Hälfte der 650 erfassten Ereignisse entfiel auf
Stürme; mit 96 % der versicherten Schäden dominieren sie
eindeutig die Naturkatastrophenbilanzen der weltweiten
Assekuranz. Besonders schlimm wüteten die tropischen
Wirbelstürme im Atlantik und im Westpazifik:
Münchener Rück, Topics Geo 2004
– Rekordschäden verursachten die Hurrikane Charley,
Frances, Ivan und Jeanne, die kurz hintereinander innerhalb nur weniger Wochen durch die Karibik fegten und
dann auf Florida trafen. Die gesamten volkswirtschaftlichen Schäden summierten sich auf über 60 Mrd. US$.
Für die Versicherungswirtschaft, die etwa 30 Mrd. US$
davon trägt, ist dies die teuerste Hurrikansaison aller
Zeiten. Ivan war einer der stärksten und zerstörerischsten
Hurrikane, seit es meteorologische Aufzeichnungen gibt.
Er verwüstete Grenada und die Caymaninseln und richtete auf seiner weiteren Zugbahn schwere Schäden an
den Ölplattformen im Golf von Mexiko an. Danach traf
er mit Windgeschwindigkeiten von 220 km/h auf Florida.
Seine Bilanz: 11 Mrd. US$ versicherte Schäden. Hurrikan
Jeanne löste vor allem auf Haiti und der Dominikanischen
Republik Rekordregenfälle aus; in den Fluten und Schlammmassen starben 2 000 Menschen.
– Japan wurde zwischen Juni und Oktober von 10 tropischen Wirbelstürmen getroffen. Allein die Taifune Chaba,
Songda und Tokage waren für insgesamt über 14 Mrd.
US$ volkswirtschaftliche Schäden verantwortlich; ca.
7 Mrd. US$ davon trägt die Assekuranz.
– In den letzten Novembertagen, schon fast am Ende der
Taifunsaison, wütete der tropische Sturm Winnie mit
sintflutartigen Regenfällen über den Philippinen. In den
Fluten und Erdrutschen verloren mehr als 750 Menschen
ihr Leben.
– Europa blieb glücklicherweise von großen Winterstürmen
und Unwettern verschont. Allerdings sorgten einige kleinere Tornados in Deutschland, Frankreich, Italien und
Großbritannien für Aufsehen; sie hinterließen aber nur
geringe Schäden.
– Tornados, die in den USA regelmäßig große Schäden
anrichten, schlugen auch dieses Jahr zu Buche: Im Mai
zog eine Unwetterfront mit starken Hagelschlägen und
85 Tornados über den Mittleren Westen der USA. Sie
führten zu mehr als 800 Mio. US$ versicherten und über
1 Mrd. US$ volkswirtschaftlichen Schäden.
Überschwemmungen
Knapp ein Viertel (150) aller Elementarschadenereignisse
2004 waren Überschwemmungen und Sturzfluten.
– Von Januar bis Mitte Februar erlebte Brasilien die
schwerste Überschwemmungskatastrophe der vergangenen 15 Jahre. Starke Regenfälle riefen im Norden
und Osten des Landes massive Überflutungen hervor, die
wichtige Infrastruktureinrichtungen zerstörten und über
160 Menschen in den Tod rissen.
– Im Mai sorgten Rekordniederschläge in Haiti und der
Dominikanischen Republik für großflächige Verwüstungen. 2 000 Menschen konnten sich vor den verheerenden
Fluten und Schlammlawinen nicht retten.
Naturkatastrophen 2004 – Rückblick – Ausblick
– Extreme Monsunüberschwemmungen erlebten von Juni
bis August Bangladesch, Indien und Nepal. Dort standen
weite Gebiete unter Wasser, in Bangladesch teilweise
zwei Drittel des Landes. Über 2 200 Menschen ertranken
in den Fluten und Millionen verloren ihr Zuhause. Der
volkswirtschaftliche Schaden wird auf über 5 Mrd. US$
geschätzt.
– Starke Regenfälle ließen von Juni bis September die
großen Flüsse Chinas über die Ufer treten. Hunderttausende Häuser wurden zerstört, 1 000 Menschen ertranken;
der volkswirtschaftliche Schaden belief sich auf knapp
8 Mrd. US$.
30 Jahre GeoRisikoForschung in der Münchener Rück
Seit 30 Jahren analysieren Dr. Gerhard Berz und das Team
der GeoRisikoForschung weltweit die Naturgefahren und
die Auswirkungen des Klimawandels. Sie schaffen so die
naturwissenschaftlichen Grundlagen für die Versicherungsexperten und Kunden der Münchener Rück. Was hat
sich in 30 Jahren Katastrophenforschung getan, welche
Erkenntnisse können gezogen werden und mit welchen
Herausforderungen müssen wir künftig rechnen? Kann
man die Kosten beziffern, die durch die Klimaänderung auf
uns zukommen? Nach 30 Jahren Leitung der GeoRisikoForschung zieht Gerhard Berz, der am 1. Januar 2005 in
den Ruhestand ging, sein Resümee (siehe Seite 16 ff.).
Sein Nachfolger Professor Peter Höppe betont: „In den
kommenden Jahren wird es erhebliche Veränderungen
bei der Einschätzung und Versicherung von Naturgefahren
geben, auf die wir mit neuen Ansätzen reagieren und für
die wir innovative Lösungen finden müssen.“ Der Biometeorologe erweitert mit seinem Wissen darüber, wie
sich der Klimawandel direkt auf den Menschen auswirkt,
das breite Spektrum des Geo-Teams.
Ausblick
2004 war das viertwärmste Jahr, seit es Temperaturaufzeichnungen gibt; neun der letzten zehn Jahre (Ausnahme:
1996) befinden sich unter den zehn wärmsten seit 1861.
Die Veränderung des globalen Klimas ist Realität – darüber
herrscht breiter Konsens in der Wissenschaft. Der außergewöhnliche Hitzesommer 2003 in Europa ist allen noch in
Erinnerung, aber er wird keine Ausnahme bleiben: Extreme
Wetterereignisse können vielmehr zum Normalfall werden.
Wissenschaftliche Erkenntnisse, die aus dem Hitzesommer
2003 gezogen wurden, stellen wir ab Seite 53 vor.
Die Verhandlungen auf dem 10. Weltklimagipfel im Dezember 2004 in Buenos Aires verliefen zwar schleppend, dennoch wurde das Kioto-Protokoll jetzt bindendes Völkerrecht. Erfreulich war, dass sich Indien und China dazu
bekannten, verstärkt erneuerbare Energien einzusetzen.
Der Klimaschutz kommt also doch voran, wenn auch nur
Schritt für Schritt.
Angelika Wirtz
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Das Jahr 2004 war mit 44 Mrd. US$ für die Versicherungswirtschaft das bisher teuerste Naturkatastrophenjahr aller
Zeiten. Die Wetterkatastrophen – allen voran die Stürme –
machten 97 % der gesamten versicherten Schäden aus.
Dies bestärkt uns in der seit langem geäußerten Annahme,
dass der Klimawandel zu einer Häufung und Intensivierung
außergewöhnlicher Wetterereignisse führen wird. Das
Bild wurde in Playa Cana im Westen Kubas aufgenommen;
Hurrikan Ivan zog mit Windgeschwindigkeiten von
250 km/h über die Insel.
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Münchener Rück, Topics Geo 2004
Bilder des Jahres
24. Februar 2004
Erdbeben, Marokko
Ein Erdbeben der Magnitude 6,4 erschütterte
am 24. Februar in den frühen Morgenstunden
Al Hoceima und Ait Kamara im Norden
Marokkos. Tausende Häuser, vor allem Lehmziegelbauten, stürzten ein. Im Hinterland wurden zahlreiche Dörfer vollkommen zerstört.
Mindestens 650 Menschen starben beim
schlimmsten Erdbeben in Nordmarokko seit
Jahrzehnten, hunderte wurden verletzt. Der
volkswirtschaftliche Schaden wird auf 400 Millionen US$ veranschlagt.
Februar–April 2004
Überschwemmungen, Neuseeland
Unwetter, Regenstürme und lang anhaltende
Niederschläge führten zu den schwersten
Überschwemmungen seit 100 Jahren auf der
Nordinsel Neuseelands. Die größten Schäden
waren an Infrastruktureinrichtungen, landwirtschaftlichen Gebäuden und Maschinen
zu verzeichnen, ebenfalls schwer betroffen
waren Ackerbau und Viehwirtschaft. Bei den
Versicherungsgesellschaften gingen tausende
Schadenmeldungen ein, insgesamt wurden
70 Millionen US$ ausbezahlt, der gesamte
volkswirtschaftliche Schaden belief sich auf
200 Millionen US$.
27.–29. März 2004
Tropischer Sturm/Hurrikan Catarina,
Brasilien
Ende März erreichte ein Hurrikan der Stärke 1
auf der fünfstelligen Saffir-Simpson-Skala den
Bundesstaat Catarina im Süden Brasiliens.
Dieses Gebiet wurde bisher aufgrund der
niedrigen Temperaturen im Südatlantik als
nicht hurrikangefährdet angesehen. Jenseits
der Frage, wie es zu diesem ungewöhnlichen
Sturm kommen konnte, steht aber seine
Schadenbilanz fest: 40 000 beschädigte Häuser
und enorme Schäden in der Landwirtschaft.
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Münchener Rück, Topics Geo 2004
Bilder des Jahres
7.–21. September 2004
Hurrikan Ivan, Karibik und USA
Auf seiner Zugbahn durch die Karibik und den
Süden der USA hinterließ Hurrikan Ivan ein
Bild der Verwüstung: Auf Grenada wurden
90 % der Häuser zerstört, Cayman verzeichnete Gebäude- und Infrastrukturschäden von
3 Milliarden US$, im Golf von Mexiko mussten
Ölplattformen ihre Produktion einstellen und
wurden schwer beschädigt, in Florida vernichtete der Sturm große Teile der Zitrusernte.
Die Bilanz: 23 Milliarden US$ volkswirtschaftliche Schäden, 11,5 Milliarden US$ versicherte
Schäden. Damit zählt Ivan zu den teuersten
Stürmen der Versicherungsgeschichte.
15.–19. September 2004
Hurrikan Jeanne, Karibik und USA
Hurrikan Jeanne fegte mit Windgeschwindigkeiten von 190 km/h über Haiti und die
Dominikanische Republik. Sintflutartige
Regenfälle ließen Flüsse über die Ufer treten
und lösten Erdrutsche und Schlammlawinen
aus. Ganze Dörfer wurden dem Erdboden
gleichgemacht. Allein auf Haiti starben 1 800
Menschen in den Fluten und Schlammmassen.
26. Dezember 2004
Tsunami, Südasien und Ostafrika
Kurz vor Jahresende ereignete sich die verheerendste Naturkatastrophe der letzten Jahrzehnte: Im Indischen Ozean vor der Westküste
Sumatras löste ein schweres Erdbeben der
Magnitude 9,0 einen Tsunami aus, der auch
sehr weit entfernte Küstenabschnitte verwüstete. Mehr als 170 000 Menschen starben in den
Fluten, zehntausende wurden verletzt und
Millionen verloren ihr Hab und Gut. Über
100 000 Menschen gelten noch als vermisst.
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Münchener Rück, Topics Geo 2004
Statistik der Naturkatastrophen 2004
Schadenereignisse und Todesopfer
Mit rund 650 Elementarschadenereignissen entsprach die Zahl der analysierten und dokumentierten Naturkatastrophen dem Durchschnitt der letzten 10 Jahre. Insgesamt dominierten die Wetterkatastrophen, die verheerendste Katastrophe 2004 löste jedoch ein Erdbeben im Indischen Ozean
aus: Ein Tsunami, dessen Wellen weit entfernt liegende Küstenabschnitte verwüsteten, hat über
170 000 Menschen in den Tod gerissen, 100 000 werden vermisst.
Anzahl der Schadenereignisse: 641
Afrika: 35
13 %
16 %
Amerika: 185
Asien: 245
Australien/Ozeanien: 52
Europa: 124
47 %
24 %
Weltweit: 641
Prozentuale Verteilung
weltweit
Anzahl der Todesopfer: 183 000
2%
Afrika: 1 322
3%
Amerika: 4 830
Asien: 176 515
95 %
170 254 Todesopfer
Australien/Ozeanien: 67
Europa: 371
Weltweit: 183 105
Prozentuale Verteilung
weltweit
170 911 Todesopfer
Verteilung nach Ereignisart
Ereignisse
300
170 906
Todesopfer
4 126 Todesopfer
Todesopfer
6 312 Todesopfer
3 000
2 500
250
Anzahl der Ereignisse
200
2 000
Todesopfer
8
Winterschaden,
Frost
Lawine
Erdrutsch
Waldbrand
Hitzewelle,
Dürre
Sturzflut
Überschwemmung
Lokale Stürme
0
Hagelsturm
0
Tornado
500
Unwetter
50
Wintersturm,
Blizzard
1 000
Tropischer
Sturm
100
Vulkanausbruch
1 500
Erdbeben,
Tsunami
150
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Statistik der Naturkatastrophen 2004
Erdbeben, Tsunami, Vulkanausbruch
Sturm
Überschwemmung
Sonstige Ereignisse (z. B. Hitzewelle/Dürre, Waldbrand)
Volkswirtschaftliche und versicherte Schäden
2004 war das bisher teuerste Naturkatastrophenjahr der Versicherungsgeschichte. Zu Buche schlugen vor allem Hurrikane in der Karibik und den USA sowie Taifune in Japan. Die volkswirtschaftlichen Schäden stiegen auf über 145 Mrd. US$. Knapp zwei Drittel davon gehen auf das Konto der
Stürme, ein Drittel wurde von geologischen Ereignissen verursacht, vor allem das Niigata-Erdbeben
in Japan und die Erdbeben- und Tsunamikatastrophe in Südasien waren hierfür verantwortlich.
Volkswirtschaftliche Schäden: 145 Mrd. US$
Afrika: 444
10 %
Amerika: 68 183
27 %
Asien: 72 706
63 %
Australien/Ozeanien: 343
Europa: 3 765
Weltweit: 145 444
Prozentuale Verteilung
weltweit
Versicherte Schäden: 44 Mrd. US$
1% 3%
Afrika: 0
Amerika: 34 585
96 %
Asien: 7 887
Australien/Ozeanien: 124
Europa: 1 218
Weltweit: 43 815
Prozentuale Verteilung
weltweit
Verteilung nach Ereignisart
38 Mrd. US$
82/38 Mrd. US$
14 Mrd. US$
Mrd. US$
9
8
7
Volkswirtschaftliche
Schäden in Mrd. US$
6
Versicherte Schäden in
Mrd. US$
5
4
3
2
1
Winterschaden,
Frost
Lawine
Erdrutsch
Waldbrand
Hitzewelle, Dürre
Sturzflut
Überschwemmung
Lokale Stürme
Hagelsturm
Tornado
Unwetter
Wintersturm,
Blizzard
Tropischer
Sturm
Vulkanausbruch
Erdbeben,
Tsunami
0
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Münchener Rück, Topics Geo 2004
Bedeutende Technik- und Brandkatastrophen 2004
Im Jahr 2004 ereignete sich eine Vielzahl technischer Katastrophen, von
Explosionen und Brandanschlägen. Im Folgenden stellen wir einige
signifikante Ereignisse vor.
19. Januar, Algerien, Skikda
Explosion in einem Petrochemiewerk
14. Februar, Russland, Moskau
Einsturz eines Hallenbaddaches
11. März, Spanien, Madrid
Bombenanschlag auf Pendlerzüge
22. April, Nordkorea, Ryongchon
Explosion im Bahnhof
23. Mai, Frankreich, Paris
Teileinsturz eines Flughafenterminals
30. Juli, Belgien, Ghislenghien
Gasexplosion in einem Industriepark
1. August, Paraguay, Asunción
Brand in einem Einkaufszentrum
26. August, Deutschland, Gummersbach
Unfall auf einer Autobahnbrücke
4. November, Dänemark, Kolding
Explosion in einer Feuerwerksfabrik
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Münchener Rück, Topics Geo 2004
Bedeutende Technik- und Brandkatastrophen 2004
Datum
Region
Schadenereignis
19. Januar
Algerien, Skikda
Explosion in einem Petrochemiewerk Im größten Petrochemiewerk Algeriens kam es in
einer Gasverflüssigungsanlage zu einer Explosion, bei der 23 Arbeiter ums Leben
kamen und Dutzende verletzt wurden. Verursacht wurde die Explosion wahrscheinlich
von einem defekten Gasbehälter. Die Wiederaufbaukosten werden auf 800 Mio. US$
geschätzt.
14. Februar
Russland, Moskau
Einsturz eines Hallenbaddaches Im gut besuchten Moskauer Erlebnisbad „Transvaal“
stürzte ein schneebedecktes Dach ein. Die Konstruktion aus Glas und Stahlbeton fiel
zwanzig Meter in die Tiefe und begrub 28 Menschen unter sich. Als Unglücksursache
werden Baumängel genannt.
11. März
Spanien, Madrid
Bombenanschlag auf Pendlerzüge Zehn Bomben explodierten mitten im Berufsverkehr
an den Bahnstationen Atocha – der wichtigsten Station im Stadtzentrum von Madrid –
sowie Pozo del Tío Raimundo und Santa Eugenia. Beim größten Terroranschlag, den es
jemals in Spanien gab, starben fast 200 Menschen, über 1 500 wurden zum Teil schwer
verletzt.
22. April
Nordkorea,
Ryongchon
Explosion im Bahnhof Die Bilanz einer Explosion im Bahnhof von Ryongchon: mindestens 150 Tote, mehr als 1 300 Verletzte und 8 100 zerstörte Wohnhäuser. Die Explosion
wurde verursacht durch einen elektrischen Kontakt beim Rangieren von Waggons, die
mit dem hochexplosiven Düngemittel Ammoniumnitrat beladen waren.
23. Mai
Frankreich, Paris
Teileinsturz eines Flughafenterminals Beim Einsturz des Terminals 2E im Pariser Flughafen Roissy-Charles-de-Gaulle, das erst vor einem knappen Jahr eröffnet wurde, starben 4 Passagiere, die auf ihren Flug warteten. Ein größeres Unglück konnte verhindert
werden, da man Risse an der Konstruktion entdeckte und den betroffenen Bereich teilweise räumte und absicherte. Der Gesamtschaden beläuft sich auf mehrere hundert
Millionen US-Dollar.
30. Juli
Belgien,
Ghislenghien
Gasexplosion in einem Industriepark 30 km südlich von Brüssel ereignete sich in einem
Industriepark die schwerste Gasexplosion in der Geschichte des Landes. Ausgelöst
wurde sie möglicherweise von einem Leck in einer Erdgasfernleitung. Drei benachbarte
Fabriken gerieten in Brand. 20 Menschen kamen bei dem Unglück ums Leben, 130 wurden verletzt. Der versicherte Schaden wird auf über 100 Mio. US$ geschätzt.
1. August
Paraguay,
Asunción
Brand in einem Einkaufszentrum Bei einem Großbrand in einem Einkaufszentrum
starben mindestens 400 Menschen, hunderte wurden teilweise sehr schwer verletzt.
Das Feuer brach im Verpflegungsbereich des Supermarkts aus. Danach wurden sämtliche Türen des Supermarkts geschlossen, um Diebstähle zu verhindern.
26. August
Deutschland,
Gummersbach
Unfall auf einer Autobahnbrücke Bei einem Verkehrsunfall auf der Autobahnbrücke
Wiehltal kollidierte ein Pkw mit einem voll beladenen Tanklastzug, der daraufhin von
der Brücke stürzte und ausbrannte. Der Fahrer des Lkw starb. Die Brücke wurde vom
Feuer schwer beschädigt. Der Schaden bewegt sich im zweistelligen MillionenDollar-Bereich.
4. November
Dänemark,
Kolding
Explosion in einer Feuerwerksfabrik 370 Häuser wurden durch Explosionen und Druckwellen völlig zerstört oder schwer beschädigt, als ein Lager mit 800 Tonnen Feuerwerkskörpern explodierte. Vermutlich begann der Brand, als die pyrotechnischen
Gegenstände auf einen Lastwagen verladen wurden. Ein Feuerwehrmann kam bei
Löschversuchen ums Leben, mehrere Personen wurden verletzt.
11
Schwere Monsunniederschläge verursachten zwischen Juni
und August großflächige Überschwemmungen in Bangladesch,
Indien und Nepal. In den Fluten und Schlammmassen kamen
2 200 Menschen ums Leben. Mehr als 2 Millionen Häuser
wurden zerstört, Industrie und Kleinbetriebe sowie die Landund Viehwirtschaft erlitten große Verluste. Der gesamte volkswirtschaftliche Schaden wird auf 5 Mrd. US$ geschätzt.
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Münchener Rück, Topics Geo 2004
Große Naturkatastrophen 1950–2004
Das Jahr 2004 liegt voll im langjährigen Trend steigender Naturkatastrophenschäden, den die GeoRisikoForschung bereits Anfang der 1990er-Jahre
prognostiziert hat. Die Großkatastrophen des Jahres bestätigen nachdrücklich, dass sich die Versicherungswirtschaft auf neue Schadendimensionen
einstellen muss.
Jahr für Jahr ereignen sich rund um den Globus hunderte
Elementarschadenereignisse. Mit etwa 650 Schadenereignissen, welche die GeoRisikoForschung 2004 analysierte
und dokumentierte, entsprach die Anzahl zwar dem Durchschnitt der letzten 10 Jahre – gemessen an den monetären
und humanitären Auswirkungen war das Jahr 2004 jedoch
von außerordentlichen und dramatischen Ereignissen
gekennzeichnet. Die Tsunamikatastrophe in Südasien, die
über 170 000 Menschen das Leben gekostet hat, sowie die
schadenträchtigen Hurrikane, die in der Karibik und den
USA enorme Sachschäden verursachten, haben dies eindringlich vor Augen geführt.
Definition
„Große Naturkatastrophen“
Neun Elementarschadenereignisse entsprachen 2004 der
Definition „Große Naturkatastrophen“:
Als „groß“ werden Naturkatastrophen in Anlehnung an
Definitionen der Vereinten Nationen bezeichnet, wenn die
Selbsthilfefähigkeit der betroffenen Regionen deutlich
überschritten wird und überregionale oder internationale
Hilfe erforderlich ist. Dies ist in der Regel dann der Fall,
wenn die Zahl der Todesopfer in die Tausende, die Zahl der
Obdachlosen in die Hunderttausende geht; oder wenn die
volkswirtschaftlichen Schäden – je nach den wirtschaftlichen Verhältnissen des betroffenen Landes – bzw. die versicherten Schäden außergewöhnliche Größenordnungen
erreichen.
– Überschwemmungen, Haiti und Dominikanische
Republik (Mai)
– Überschwemmungen, Bangladesch, Indien und
Nepal (Juni–August)
– Hurrikan Charley, Karibik und USA (August)
– Hurrikan Frances, Karibik und USA (September)
– Taifun Songda, Japan (September)
– Hurrikan Ivan, Karibik und USA (September)
– Hurrikan Jeanne, Karibik und USA (September)
– Erdbeben, Niigata, Japan (Oktober)
– Erdbeben/Tsunami, Südasien und Ostküste Afrika
(Dezember)
Dekadenvergleich 1950–2004
In den Tabellen sind die Zahlen der vergangenen Jahrzehnte aufsummiert und ins Verhältnis gesetzt. Vergleicht
man die letzten 10 Jahre mit denen der 1960er-Jahre, so
Dekade
Anzahl der
wird der Anstieg der Naturkatastrophen deutlich. Das
gilt sowohl für die Anzahl der Ereignisse als auch für das
Schadenausmaß.
1950 –1959
1960 –1969
1970 –1979
1980 –1989
1990 –1999
letzte 10 Jahre
20
27
47
63
91
63
44,9
80,5
147,6
228,0
703,6
566,8
–
6,5
13,7
28,8
132,2
101,7
Ereignisse
Volkswirtschaftliche
Schäden
Versicherte Schäden
Schäden in Mrd. US$ (in Werten von 2004)
14
letzte 10:60er
Vergleich
der letzten
10 Jahre mit
1960ern zeigt
dramatischen
Anstieg
2,3
7,0
15,6
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Große Naturkatastrophen 1950–2004
Anzahl der Ereignisse
Das Diagramm zeigt für jedes Jahr die Anzahl der Großkatastrophen, unterteilt nach Ereignistypen.
Anzahl
14
12
10
8
6
4
2
0
1950
1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
1995
Erdbeben, Tsunami, Vulkanausbruch
Überschwemmung
Sturm
Sonstige Ereignisse (z. B. Hitzewelle/Dürre, Waldbrand, Winterschaden/Frost)
2000
Volkswirtschaftliche und versicherte Schäden – absolute Werte und Langfristtrends
Das Diagramm gibt die – auf heutige Werte hochgerechneten – volkswirtschaftlichen und versicherten
Schäden an. Die Trendkurven dokumentieren die Zunahme der Katastrophenschäden ab 1950.
> 178 Mrd. US$
> 113 Mrd. US$
Mrd. US$
80
70
60
50
40
30
20
10
0
1950
1955
1960
1965
1970
1975
1980
1985
1990
Volkswirtschaftliche Schäden (in Werten von 2004)
Trend volkswirtschaftliche Schäden
Davon versicherte Schäden (in Werten von 2004)
Trend versicherte Schäden
1995
2000
Dekadenmittelwerte der volkswirtschaftlichen Schäden
15
16
Münchener Rück, Topics Geo 2004
30 Jahre GeoRisikoForschung bei der Münchener Rück
Aktuelle und künftige Risiken einzuschätzen und abzusichern ist unser
Geschäft. Doch gerade die Schäden aus Großkatastrophen werden immer
unberechenbarer. Dies ist eine Herausforderung, für welche die Münchener
Rück dank ihrer langjährigen Erfahrung mit Naturgefahren gut gerüstet ist.
GeoRisikoForschung als wissenschaftliche Bearbeitung dieses Themengebiets begann bei der Münchener
Rück im Juni 1974, als man den ersten
Geowissenschaftler einstellte. Aber
schon viele Jahre und Jahrzehnte
zuvor beschäftigten sich Kaufleute,
Mathematiker und Ingenieure des
Hauses damit, Naturrisiken weltweit
einzuschätzen. Dabei arbeiteten sie
intensiv mit einem Expertennetzwerk
zusammen, das auf dem aktuellen
Wissensstand der einschlägigen
Forschungsgebiete war. Denn die
Geschichte der Rückversicherungswirtschaft stand von Anfang an im
Zeichen der Naturkatastrophenrisiken.
Das galt ganz besonders für die
Münchener Rück: So hatte bereits
das Erdbeben von San Francisco 1906
die Münchener Rück mit dem enormen
Schaden von 12 Millionen Goldmark
getroffen. Gemessen am Prämienvolumen ist dies bis heute der größte
Naturkatastrophenschaden in der
Geschichte der Münchener Rück
geblieben. Ihr Gründer Carl Thieme
nützte diese kritische Situation, um
der Münchener Rück zu großem Vertrauen („Thieme is money“) und
damit international zum Durchbruch
zu verhelfen.
Nach einer langen Phase relativer
Ruhe meldeten sich in den 1950erund 1960er-Jahren die Naturkatastrophen gleich mit mehreren Paukenschlägen zurück: Holland-Flut 1953,
Erdbeben in Agadir 1960, Hamburger
Sturmflut 1962 und Hurrikan Betsy
1965.
16
Gleichzeitig entwickelte sich der internationale Rückversicherungsmarkt im
Zuge der beginnenden Globalisierung
rasant und die versicherten Schäden
bei Naturkatastrophen nahmen drastisch zu. Einen regelrechten Schock
lösten die unerwartet hohen Schäden
aus, die durch das Erdbeben von
Managua, Nicaragua, 1972, und den
Zyklon Tracy in Darwin, Australien,
1974, bei vielen Erst- und Rückversicherern entstanden.
Nicht so bei der Münchener Rück:
Sie hatte die Zeichen der Zeit längst
erkannt und bereits damit begonnen,
ihre Kunden mit einer Reihe von
Sonderveröffentlichungen wie
„Hochwasser – Überschwemmung“,
„Erdbeben“ und „Sturmschäden in
Europa“ eindringlich vor dieser Entwicklung zu warnen. Die positiven
Reaktionen auf diese Aufklärungskampagne bestärkten den Vorstand
der Münchener Rück in seinem Entschluss, den ersten Geowissenschaftler mit zwei Mitarbeitern auf diese
Themen anzusetzen. Kaum hatte die
kleine Gruppe im Juni 1974 ihre Tätigkeit aufgenommen, wurde sie mit
einer wahren Katastrophenflut konfrontiert: Hurrikan Fifi in Honduras,
Hagel in Bayern, Capella-Orkan, Erdbeben in Guatemala, Italien, China
und den Philippinen, die in zahlreichen
Veröffentlichungen und Schadenanalysen verarbeitet wurden.
Die Nachfrage nach geowissenschaftlichen Beratungen nahm intern wie
extern so stark zu, dass bereits im
Frühjahr 1977 der zweite Geowissenschaftler eingestellt wurde. Kurz
danach veröffentlichte die Münchener
Rück zum ersten Mal ihre „Weltkarte
der Naturgefahren“, die inzwischen
zu einem einzigartigen Markenzeichen
geworden ist. Sie stieß in aller Welt
auf große Resonanz und Anerkennung,
war es doch gelungen, die wichtigsten
Gefährdungskriterien übersichtlich
und nach einem selbst entwickelten
Zonierungssystem weltweit darzustellen. Die Weltkarte baut inzwischen auf
einem geographischen Informationssystem auf, das es erlaubte, sie zu
einem interaktiven Werkzeug umzugestalten (CD-ROM „Welt der Naturgefahren“) und mit vielen weiteren
Informationen anzureichern. Mit einer
Gesamtauflage von mehr als 50 000
Exemplaren ist diese CD-ROM das
erfolgreichste Produkt der geowissenschaftlichen Servicepalette, zu der
auch der „Globus der Naturgefahren“, der „Millenniumsrückblick
Naturkatastrophen“ und eine Vielzahl
weiterer Veröffentlichungen zählen –
einschließlich der zuletzt erschienenen „Sturmwarnung“, „Wetterkatastrophen und Klimawandel“, „Erneuerbare Energien“ und „Megastädte –
Megarisiken“.
Ende der 1980er-Jahre kamen nach
und nach weitere Geophysiker, Geographen, Hydrologen, Meteorologen,
Geologen, Umweltwissenschaftler
und technische Mitarbeiter hinzu. Die
Zahl der Mitarbeiter(innen) wuchs auf
heute 25. Der Ausbau wurde auch notwendig, weil Zahl und Schwere der
Naturkatastrophen fast explosionsartig stiegen – parallel dazu erhöhten
sich der Beratungsbedarf in der Versicherungswirtschaft und die Frequenz
der Vor-Ort-Untersuchungen von
Katastrophenschäden durch Geoexperten, Ingenieure und Versicherungsspezialisten.
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Unter den vielfältigen Gründen dafür,
dass die Katastrophen zunehmen,
rückten die folgenden Fragen immer
mehr in den Vordergrund:
Verändert die Menschheit Umwelt
und Klima? Wie stark sind die Veränderungen bei den Wetterextremen?
Welche Auswirkungen kann und wird
das auf die Versicherungswirtschaft
haben? Mit diesen Fragen beschäftigt
sich die Münchener Rück bereits seit
den frühen 1970er-Jahren. In dieser
Zeit ließ eine Serie schwerer Orkane,
die in immer kürzeren Abständen
West- und Mitteleuropa trafen, vermuten und befürchten, dass dies kein
Zufall, sondern ein Indiz für ein verändertes Klima war. In den 1980erJahren wurden die Anzeichen für die
Erwärmung stärker und Klimamodelle
lieferten plausible physikalischchemische Begründungen für die
beobachteten Trends. Als Erste ihrer
Branche konnten damals die Geowissenschaftler der Münchener Rück
den auffälligen Anstieg der Schadenbelastungen aus großen Naturkatastrophen belegen, die zum großen
Teil von extremen Wetterereignissen
ausgelöst wurden. Bei der Ursachenanalyse stellte sich heraus, dass die
Schäden überwiegend aufgrund
sozioökonomischer Veränderungen
stiegen, beispielsweise die Besiedlung stark risikoexponierter Gebiete
infolge des rasanten Bevölkerungswachstums oder eine höhere Wertekonzentration.
30 Jahre GeoRisikoForschung bei der Münchener Rück
Trotzdem zeigte sich schon damals:
Der Einfluss der überwiegend vom
Menschen verursachten Klimaänderung darf keinesfalls vernachlässigt
werden. Vor allem mit Blick auf die
Zukunft muss die globale Erwärmung
als ein kritischer Faktor betrachtet
werden, der die Gefährdung von
Mensch, Wirtschaft und Natur durch
Naturkatastrophen verstärkt. Wenn
wir diesen Veränderungen tatenlos
zusehen, statt energisch gegen ihre
Ursachen anzukämpfen, werden Trefferfrequenz und Schwere von Naturkatastrophen weiter zunehmen: In
zehn Jahren müssen wir mit durchschnittlich mehr als 800 Ereignissen
im Jahr rechnen, fast 90 % davon
Wetterkatastrophen. Die volkswirtschaftlichen Schäden werden pro
Jahr deutlich über 150 Mrd. US$ (in
heutigen Werten) liegen und der versicherte Anteil daran wird im Jahresdurchschnitt auf etwa ein Viertel, also
etwa 40–50 Mrd. US$ steigen. Einige
Größtkatastrophen können (und werden) noch weit über diese Marken
hinausschießen.
Trotz aller Befürchtungen im Hinblick
auf die weiteren Entwicklungen ist die
Münchener Rück dank ihres globalen
Weitblicks und ihres Expertenwissens
gut gerüstet, um die Herausforderungen der Zukunft meistern zu können. Allerdings wird die Zukunft auch
davon abhängen, ob der Mensch Vernunft walten lässt und die Natur nicht
außer Kontrolle gerät. Als Rückversicherer sehen wir unsere Aufgabe
nicht nur darin, Risiken zu erkennen
und Versicherungslösungen zu entwickeln, sondern unser Wissen und
mögliche Präventionsmaßnahmen
auch der breiten Öffentlichkeit zur
Verfügung zu stellen.
Dr. Gerhard Berz
Die Münchener Rück macht sich daher
seit langem für einen nachhaltigen
Umwelt- und Klimaschutz stark, den
sie selbst und ihre Partner in der Versicherungs- und Finanzwirtschaft
aktiv unterstützen. Zusammen mit
dem Umweltprogramm der Vereinten
Nationen (UNEP) leistet sie mit einer
Selbstverpflichtungserklärung dazu
ihren Beitrag, indem sie unter anderem ihre eigenen Umweltbelastungen
senkt und zahlreiche Klimaschutzprojekte fördert. Vor allem aber: Sie
berücksichtigt Nachhaltigkeitsaspekte
sowohl in ihrem Rückversicherungsgeschäft als auch bei ihren Vermögensanlagen und erweist sich hier
als Antrieb in der Finanzbranche.
17
Münchener Rück, Topics Geo 2004
30 Jahre GeoRisikoForschung bei der Münchener Rück
Wetterkatastrophen 1974–2004
1974
1974
1976
Hurrikan Fifi, Honduras
Zyklon Tracy, Australien
Wintersturm Capella, Europa
1984
1987
1988
Hagel, München, Deutschland
Wintersturm 87 J, Westeuropa
Hurrikan Gilbert, Karibik, Mittelamerika, USA
1989
1990
1991
Hurrikan Hugo, Karibik
Wintersturmserie, Europa
Oakland Fire, Kalifornien, USA
1991
1992
1993
Sturmflut, Bangladesch
Hurrikan Andrew, Florida, USA
Überschwemmung, Mississippi,
USA
18
Münchener Rück, Topics Geo 2004
30 Jahre GeoRisikoForschung bei der Münchener Rück
1995
1998
1998
Überschwemmung, Köln,
Deutschland
Hurrikan Mitch, Mittelamerika
Eissturm, Kanada und USA
1999
1999
2000
Hagel, Sydney, Australien
Wintersturm Lothar, Europa
Überschwemmung, Mosambik
2001
2001
2002
Erdrutsche, Italien und Schweiz
Tropischer Sturm Allison,
Houston, USA
Überschwemmungen, Europa
2002
2003
2004
Tornados, USA
Hitzewelle, Europa
Hurrikan Ivan, Karibik, USA
19
20
Die Tsunamikatastrophe vom 26. Dezember 2004 hat auf
dramatische Weise die Gewalt und Unberechenbarkeit der
Natur verdeutlicht und gezeigt, wie dringend notwendig
Vorsorgemaßnahmen sind.
21
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Erdbebenbericht:
Das Erdbeben von Niigata in Japan
Am 23. Oktober 2004 bebte die Erde in der Präfektur Niigata. Obwohl die
Region relativ dünn besiedelt ist, verursachte das Beben volkswirtschaftliche
Schäden von 30 Mrd. US$; damit ist es eine der weltweit teuersten Naturkatastrophen. Das Ereignis verdeutlicht, wie enorm groß die Schadenpotenziale in hochentwickelten Industrienationen sind.
Naturwissenschaftliche Aspekte,
Charakteristik des Bebens
Das Erdbeben der Magnitude Mw = 6,6 ereignete sich um
17.56 Uhr Ortszeit. Der Erdbebenherd befand sich in rund
13 km Tiefe nahe der Kleinstadt Ojiya, etwa 70 km entfernt
von Niigata mit seinen über 500 000 Einwohnern.
Weder die Stärke noch die Lage des Bebens überraschen:
Japan liegt an der Nahtstelle dreier großer tektonischer
Platten: der philippinischen, der eurasischen und der pazifischen. Ihre Bewegungen führen zu großen Subduktionsbeben vor der Küste Japans sowie zu Horizontalverwerfungen und Aufschiebungen im gesamten Land. Auch in der
Vergangenheit verzeichnete man in der Region mehrere
mittlere bis starke Erdstöße. Zuletzt wurde der Großraum
Niigata 1964 von einem schweren Beben heimgesucht, das
die Stadt stark verwüstete und 30 Menschen das Leben
kostete. 2004 ereignete sich das Beben an einer Aufschiebung im mittleren Teil der Präfektur Niigata. Auf der seismischen Gefährdungskarte für Japan ist diese Region der
Intensitätszone 3 zugewiesen; das entspricht einer erwarteten Erdbebenintensität von mindestens VIII im Zeitraum
von knapp 500 Jahren.
Ein Charakteristikum des Ereignisses war die extrem hohe
Bodenbeschleunigung: Mit circa 1,7 g (g = Erdbeschleunigung) betrug sie das Doppelte des Bebens von Kobe 1995 –
das ist weltweit einer der Spitzenwerte, die je gemessen
wurden. Glücklicherweise war der Bereich hoher Bodenbeschleunigungen sehr begrenzt. Dem Beben folgten ungewöhnlich viele starke Nachbeben, die teilweise ebenfalls
Magnituden von Mw > 6 erreichten und die Lage in der
Region noch verschlimmerten.
Schäden
Das Beben forderte 40 Todesopfer, über 4 500 Verletzte und
machte mehr als 50 000 Menschen obdachlos. In den Kleinstädten Ojiya und Nagaoka entstanden hohe Sachschäden.
Mehr als 12 500 Häuser wurden ganz oder teilweise zerstört, weitere 90 000 beschädigt. Glücklicherweise ist das
Hauptschadengebiet nur relativ dünn besiedelt und landwirtschaftlich geprägt. Trotzdem summierten sich die
volkswirtschaftlichen Schäden auf rund 30 Mrd. US$, vor
allem weil die lokale Infrastruktur großflächig zerstört
wurde. Kaum eine Straße der am schlimmsten betroffenen
Region blieb verschont. Unzählige Brücken, die Autobahn
und die Eisenbahnlinie wurden stark beschädigt, ebenso
die Trasse des japanischen Hochgeschwindigkeitszugs
Shinkansen. Zum ersten Mal entgleiste ein solcher Zug
wegen eines Erdbebens, noch dazu in voller Fahrt mit über
200 km/h. Obwohl er über 1,5 km dahinschlitterte, bis er
zum Stillstand kam, blieb die große Katastrophe aus; niemand wurde getötet.
Was aber führte in einem hoch entwickelten Land wie
Japan, das im Erdbebeningenieurwesen als Vorreiter gilt,
zu den enormen Infrastrukturschäden? Zum einen waren
es die extremen Bodenbewegungen des Erdbebens, die
alle Auslegungskriterien der Bauvorschriften weit übertrafen. Zum anderen steigerten unzählige Erdrutsche, die das
Beben auslöste, die Schäden maßgeblich. In der Region
hatte es im September und Oktober nach Taifunen (insbesondere nach Tokage kurz vor dem Beben) extreme Niederschläge gegeben; die Böden waren deshalb stark durchfeuchtet und instabil. Hunderte Berghänge rutschten ab,
verschütteten Häuser und Straßen und verwüsteten ganze
Landstriche. Überall in der Region setzte sich der Boden
stark, was Straßen, Brückenzufahrten und Flussdeiche zerstörte.
Obwohl die Schäden ungewöhnlich hoch waren, wird das
Beben von Niigata dennoch für die internationale Rückversicherungsindustrie im Vergleich zu den Sturmschäden
des Jahres 2004 eine Randnotiz bleiben:
22
Mehr als 100 000 Häuser wurden
bei dem Erdbeben am 23. Oktober
2004 in der Präfektur Niigata
beschädigt oder zerstört. Hunderte Berghänge rutschten ab
und verwüsteten ganze Landstriche.
23
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Das Erdbeben von Niigata in Japan
Wohngebäude sind in Japan nur selten und mit starken
Limitierungen gegen Erdbeben versichert; die Rückversicherung übernimmt teilweise der Staat. Nur wenn noch
mehr Häuser betroffen gewesen wären, hätten die Rückversicherer einen Teil der Wohngebäudeschäden getragen.
Auch die Infrastrukturschäden, allen voran die Streckenschäden am Shinkansen, waren zumeist privatwirtschaftlich unversichert. Die größte Belastung der Rückversicherung bei Erdbeben in Japan ist aus dem kommerziellen
und industriellen Sektor zu erwarten. Da es in der hauptsächlich betroffenen Region jedoch nur sehr wenige solcher Risiken gab, sind die Rückversicherer diesmal glimpflich davongekommen.
Fazit
Das Beben in der Präfektur Niigata verursachte mit rund
30 Mrd. US$ ungewöhnlich hohe volkswirtschaftliche
Schäden und forderte 40 Todesopfer. Im Gegensatz dazu
verwüstete ein Beben der gleichen Stärke vor Jahresfrist
im Iran 70 % der Kleinstadt Bam und tötete über 26 000
Menschen; trotzdem entstand damals nur ein geringer
volkswirtschaftlicher Schaden von 500 Mio. US$. Dies
demonstriert eindringlich den weltweit gültigen Zusammenhang zwischen niedrigem Entwicklungsstand und vielen Todesopfern auf der einen Seite und riesigen Schadenpotenzialen in hoch entwickelten Ländern auf der
anderen.
Mit moderner erdbebensicherer Bauweise wie in Japan
lässt sich zwar die Zahl der Todesopfer eindrucksvoll
begrenzen, Schäden können jedoch nur zum Teil minimiert
werden. Die Industriestaaten sind von einem komplexen
und dichten Infrastruktursystem durchzogen und besitzen
Wertekonzentrationen in kaum vorstellbarer Größenordnung. Schon ein Beben in einer ländlich geprägten, relativ
dünn besiedelten Region Japans kann zu riesigen Schäden
führen.
Bild oben: Die volkswirtschaftlichen Schäden addierten sich auf
rund 30 Mrd. US$. Vor allem die
lokale Infrastruktur wurde großflächig zerstört. Kaum eine Straße
der am schlimmsten betroffenen
Region blieb verschont.
Die teuersten Naturkatastrophen der Geschichte
(nach volkswirtschaftlichen Schäden)
Datum
Land, Region
Ereignis
Tote
Volkswirt.
Versicherte
Schäden
Schäden
Mio. US$*
Mio. US$*
17.1.1995
Japan, Kobe
Erdbeben
6 430
>100 000
3 000
17.1.1994
USA, Kalifornien
Erdbeben
61
44 000
15 300
1 000
Mai–Sept. 1998
China
Überschwemmungen
4 159
30 700
23.10.2004
Japan, Niigata
Erdbeben
39
28 000
450
23.–27.8.1992
USA
Hurrikan Andrew
62
26 500
17 000
Mai–Aug. 1996
China
Überschwemmungen
7.–21.9.2004
USA. Karibik
Hurrikan Ivan
3 048
24 000
445
125
23 000
11 500
Mai–Aug. 1993
USA
Überschwemmungen
48
21 000
1 270
11.–14.8.2004
USA. Karibik
Hurrikan Charley
36
18 000
8 000
12.–20.8.2002
Europa
Überschwemmungen
37
16 000
3 400
*Originalschäden
24
Bild unten: Zum ersten Mal entgleiste ein Hochgeschwindigkeitszug wegen eines Erdbebens. Er
schlitterte über 1,5 km dahin, bis
er zum Stillstand kam; glücklicherweise blieb die große Katastrophe
aus, niemand wurde getötet.
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Das Erdbeben von Niigata in Japan
Sendai
Fukushima
Niigata
Iwaki
Mito
Nagano
Kanazawa
Maebashi
Fukui
Tokio
Kofu
Nagoya
Tsu
Hamatsu
Lage des Epizentrums (Stern) und
der am stärksten betroffenen
Region. In Nagano sowie in
Niigata wurden kaum Schäden
registriert.
Trifft ein starkes Beben dicht besiedelte Gebiete, dann ist
die industrielle Gesellschaft anfällig und ein Großschaden
aufgrund der hohen Werte unvermeidlich, selbst wenn die
Gefährdung bekannt ist. Zu erwarten ist, dass die Industrieländer auch in Zukunft von gewaltigen Erdbeben mit
neuen Schadenrekorden heimgesucht werden. Fortschritte
in Seismologie und Erdbebeningenieurwesen werden das
nicht verhindern können; aber sie ermöglichen, dass wir
uns mit gezielten Präventionsmaßnahmen besser auf solche Katastrophen vorbereiten und so ihre Auswirkungen
abmildern. Lässt sich das Ausmaß künftiger Schäden einschätzen, so kann sich die Assekuranz mit einem funktionierenden Risikomanagement auf die Situation einstellen.
Dann können auch Länder wie Japan oder die USA
gewinnbringend Erdbebenversicherungen abschließen;
die Risiken bleiben kalkulierbar.
Alexander Allmann
25
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Erdbebenbericht:
Tsunamikatastrophe in Südasien
Die menschliche Tragödie, die das Seebeben im Indischen Ozean
westlich von Sumatra Ende des vergangenen Jahres verursachte, löste
weltweit Bestürzung aus. Die Konsequenzen, die Politik, Wissenschaft
und Versicherungswirtschaft daraus ziehen werden, liegen auf der Hand:
Prävention, Aufklärung und Kumulkontrolle sind jetzt gefragt.
Am Morgen des 26. Dezembers 2004 bebte die Erde im
Indischen Ozean westlich von Sumatra, in einer Region, in
der starke Erdbeben durchaus nicht überraschen; doch
diesmal waren die Erschütterungen weit stärker als erwartet. Es handelte sich um das größte Erdbeben seit 40 Jahren. Was diesem Beben aber eine unerwartete, nur schwer
fassbare Dimension verlieh, war die gewaltige Flutwelle,
die ihm folgte; sie löste die schlimmste durch ein Naturereignis bedingte humanitäre Katastrophe seit dem Erdbeben von Tangshan/China 1976 aus. Gemessen an der
Zahl der Todesopfer war dieser Tsunami weltweit der
größte in der dokumentierten Geschichte.
Aus den letzten Jahrhunderten sind noch weit stärkere
Beben bekannt. Diese haben häufig Tsunamis erzeugt, die
sich jedoch – soweit wir bisher wissen – nur an den näher
gelegenen Küsten auswirkten. Eine Ausnahme gibt es
möglicherweise: das Beben vor Zentral-Sumatra im Jahr
1833, das eine vergleichbare Magnitude wie jenes vom
26. Dezember 2004 aufwies. Für dieses Beben lässt sich
ebenfalls ein ozeanweiter Tsunami modellieren, allerdings
breitete er sich entsprechend der Herdlage des Bebens
mehr nach Süden aus.
Das betroffene Gebiet ist riesig, es dehnt sich über mehrere
tausend Kilometer aus – von Thailand und Malaysia im
Osten über Sri Lanka, Indien und die Malediven bis nach
Kenia und Somalia im Westen; dort, 5 000 km vom Epizentrum entfernt, waren noch annähernd 300 Tote zu beklagen.
Und dennoch konzentrieren sich Opfer und Schäden lokal:
auf einen ein bis zwei Kilometer breiten Küstenstreifen. Ein
sehr schmaler Bereich, der einer extremen Zerstörungskraft ausgesetzt wurde.
Das Hypozentrum des Bebens vom 26. Dezember 2004 lag
bei 3,3 °N, 95,8 °O in 10 km Tiefe, rund 250 km südlich der
Stadt Banda Aceh an der Nordspitze Sumatras. Mit einer
Magnitude von 9,0 war es das drittstärkste Erdbeben weltweit seit dem Beginn instrumenteller Aufzeichnungen
Ende des 19. Jahrhunderts. Seine Bruchfläche befand sich
nördlich derjenigen des Bebens von 1861 (Abb. 1). Der
Bruch breitete sich von Süden über 1 200 bis 1 300 km aus.
Entlang der Verwerfung entstand ein durchschnittlicher
Versatz von vermutlich 10 –15 m, stellenweise bis zu 20 m.
Dadurch kam es zu einem vertikalen Versatz des Meeresbodens um 3 – 4 m. Ganze Inseln, die über die Jahrzehnte zentimeterweise nach unten gezogen wurden, schnellten in
wenigen Sekunden nach oben.
Die Ursache des Bebens
Der Tsunami
Entlang des Sundabogens taucht die australisch-indische
Platte in nordnordöstlicher Richtung mit einer Geschwindigkeit von 5 bis 6 cm/Jahr unter die eurasische Platte. In
dieser Abtauchzone kommt es häufig zu Erdbeben. Auch
große Beben sind nicht selten, die letzten wurden am
4. Juni 2000 (M = 7,9; 58 Tote) und am 2. November 2002
(M = 7,4; 30 Tote) verzeichnet. Auch am 25. Juli 2004 ereignete sich ein Beben der Magnitude 7,3. Keines dieser Ereignisse fand ein intensives Echo in der Weltpresse.
Der vertikale Versatz des Meeresbodens über tausend Kilometer hinweg löste einen so genannten Tsunami aus, eine
seismische Flutwelle. Die schnelle Bewegung des Ozeanbodens nach oben hob die darüberliegende Wassersäule
an und erzeugte eine Welle, die sich nach Westen und
Osten ausbreitete. Die Größe eines Tsunami hängt ab von
der Stärke des Erdbebens, der Höhe der Wassersäule über
dem Epizentrum, der Geschwindigkeit und der Richtung,
mit der die Erdkruste bricht. In diesem Fall bestand der
Tsunami vermutlich aus Wellen mit einer Länge von rund
200 km. Seine drei bis vier Wellenberge waren auf dem
offenen Meer kaum höher als ein Meter. Die Welle eines
Tsunami hat gänzlich andere Eigenschaften als alle anderen
Wellen eines Ozeans: Sie ist sehr viel länger und erfasst die
gesamte Wassersäule. Ferner bewegt sie sich, ohne viel
Energie zu verlieren, mit hoher Geschwindigkeit; diese ist
abhängig von der Wassertiefe über den gesamten Ozean
Mitte Februar 2005 gehen die UN von mindestens 170 000
Toten und mehr als 1000 000 Obdachlosen aus.
26
Münchener Rück, Topics Geo 2004
0
250
Tsunamikatastrophe in Südasien
Bangladesch
500 km
Dhaka
Kalkutta Chittagong
Indien
Hanoi
Bhubaneshwar
Mumbai
Laos
Vishakhapatnam
Hyderabad
Rangoon
Vientiane
Thailand
Bangkok
Mangalore
Kambodscha
Madras
PortBlair
1:00 h
Cochin
Vietnam
2004
Madurai
Trivandrum
Phnom Penh
Khao Lak
Ko Phi Phi
Phuket
Sri Lanka
Colombo
Banda
Aceh
Galle
Ipoh
Male
Malaysia
Medan
0:30
h
1:00
Kuala Lumpur
Singapur
h
2:00
1861
Indonesien
h
3:00 h
1833
Jakarta
Das Ausbreitungsgebiet des
Tsunami: Betroffene Küstenabschnitte sind gelb gekennzeichnet, besonders stark betroffene
Abschnitte orange. Die schraffierten Flächen beschreiben die –
soweit möglich – rekonstruierten
Bruchflächen der größten Beben
(1833, 1861 und 2004). Das Epizentrum des Bebens vom 26. Dezember 2004 symbolisiert ein gelber
Stern; die roten Sterne kennzeichnen Beben mit einer Magnitude
über 7,0, die sich seit 1973 ereignet haben.
Epizentrum
Bruchflächen
2004
1861
Erdbeben > Magnitude
7,0 (seit 1973)
1833
Plattengrenze
Tsunamiauswirkung
stark betroffene
Küstenabschnitte
weniger stark
betroffene Küstenabschnitte
Tsunamiausbreitung
Die ungefähre Laufzeit des Tsunami ist durch halbstündige Isochronen schematisch dargestellt.
27
Münchener Rück, Topics Geo 2004
hinweg. Je nach Wassertiefe kann sie bei über 800 km/h
liegen. Auf dem offenen Meer ist ein Tsunami kaum wahrnehmbar – und auch ungefährlich. Gefährlich wird er erst,
wenn er in flachem Wasser abgebremst wird. Die Welle
„läuft auf“, wird kürzer und langsamer – sie erreicht 35 km/h
bei einer Wassertiefe von 10 m. Doch dementsprechend
steigt ihre Höhe. Plötzlich türmt sich vor der Küste eine 5 bis
10 m hohe Wasserwand auf, die in Extremfällen noch höher
sein kann. Besonders tückisch ist, dass sich das Meer häufig zuerst zurückzieht, bevor die erste Welle anlandet. Dieses ungewöhnliche Phänomen übt eine Attraktion aus und
forderte immer wieder viele Opfer.
Wie sich die Welle letztlich auswirkt, hängt entscheidend
von der lokalen Topographie an und vor der Küste ab. Ein
senkrechter Widerstand nimmt der Welle schnell einen
Großteil ihrer enormen Energie und lässt zugleich keinen
großen Raum, um eine hohe Welle aufzubauen. Ein Atoll
mit derartigen Eigenschaften wird also von einer relativ
flachen, langsamen Welle überschwemmt – das war beim
aktuellen Ereignis auf den Malediven der Fall. Ein gleichmäßig und flach ansteigender Strand lässt die Wellen
hingegen mit hoher Geschwindigkeit förmlich den Hang
hinauffließen. Die maximalen Wasserstände, die dann
erreicht werden (der so genannte Run-up), liegen bei
einem Vielfachen der eigentlichen Höhe der Welle.
Im Gegensatz zu Wellen, die von Stürmen erzeugt werden,
spielt die Höhe der ursprünglichen Welle für die Zerstörungskraft nicht die wichtigste Rolle – entscheidend sind
die Fließgeschwindigkeit, die Topographie der Küste, eine
mögliche Ausrichtung der Welle und ihr Laufweg.
Ein weiterer Effekt eines Tsunami ist seine Refraktion an
einer Grenzschicht. Dieses aus der Optik bekannte Phänomen lässt sich an einem Beispiel erklären: Einer der am
stärksten betroffenen Orte auf Sri Lanka ist Galle, obwohl
er nicht auf dem direkten Weg des Tsunami lag. Durch die
starke Topographie des Ozeanbodens wurde der Tsunami
südlich von Sri Lanka dort gebremst, wo er auf den kontinentalen Schelf traf. Der Teil der Flutwelle, der südlich
davon lag, wurde nach Norden abgelenkt und traf die Insel
an einer völlig unerwarteten Stelle. Er lief förmlich um die
Insel herum. Das alles gilt fernab der Entstehung eines Tsunami.
In der Regel entwickeln Tsunamis einen erheblichen
Teil ihres Zerstörungspotenzials jedoch nahe bei ihrem
Ursprung. Im langjährigen Durchschnitt entstanden mehr
als 90 % aller Schäden und Opfer auch bei großen Tsunamis in der Nähe des Epizentrums. Dort kommt es zu weit
höheren Wellen mit größeren Fließgeschwindigkeiten.
Filmaufnahmen aus Meulaboh, einer Stadt auf Sumatra
nahe des Epizentrums, bestätigen dies. Die Kraft, mit der
das Wasser in die Stadt floss, ist nicht mit der in anderen
Regionen vergleichbar. In weiten Teilen Sumatras hielten
selbst Bäume dieser Wucht nicht stand.
28
Tsunamikatastrophe in Südasien
Das Beben
Bei aller Aufmerksamkeit für den Folgeeffekt Tsunami (der
wohl mindestens 95 % des gesamten Schadens hervorgerufen hat) darf das eigentliche Erdbeben nicht völlig außer
Acht gelassen werden. Denn sehr bemerkenswert sind
auch die Schäden, die es nicht erzeugt hat: Bei einem so
schweren Erdbeben wären zumindest vereinzelte Schäden
gerade an höheren Gebäuden in weiter entfernten Metropolen wie Kuala Lumpur (500 km) oder Singapur (900 km)
zu erwarten gewesen. Tatsächlich waren die Erschütterungen dort jedoch geringer als bei den weit schwächeren
Beben der letzten Jahre. Nun muss sehr genau untersucht
werden, welche Effekte dafür verantwortlich sind und wie
diese Erkenntnisse auf andere Bebenszenarien, z. B. vor
der zentralen Küste von Sumatra 1833, übertragbar sind.
Schadenausmaß
Volkswirtschaftliche Schäden: Nach vorläufigen Schätzungen (Stand Februar 2005) belaufen sich die materiellen
Schäden der Katastrophe auf etwa 10 Mrd. US$. Dazu kommen außerordentliche indirekte Folgeschäden, insbesondere in den Touristenzentren Thailands, Sri Lankas und auf
den Malediven. Damit liegen die rein ökonomischen Auswirkungen absolut gesehen wohl deutlich unter denen des
Erdbebens von Niigata/Japan am 23. Oktober 2004 (siehe
Bericht Seite 22).
Selten hat eine Naturkatastrophe so dramatisch vor Augen
geführt, wie weit die humanitären und ökonomischen
Folgen einer Katastrophe auseinander klaffen können,
auch in den Volkswirtschaften der betroffenen Länder. Die
indonesische Wirtschaft etwa ist kaum in Mitleidenschaft
gezogen, obwohl man von über 100 000 Toten und weiteren 100 000 Vermissten ausgeht; das thailändische BIP wird
möglicherweise um 0,5 % weniger wachsen als vor dem
Beben erwartet. Ökonomisch sehr gravierend scheint sich
die Katastrophe nur auf den Malediven und auf Sri Lanka
auszuwirken, da deren Volkswirtschaften stark vom Tourismus abhängen. Aber selbst in Sri Lanka werden die Schäden lediglich auf 2 % des BIP geschätzt.
Versicherte Schäden: Eine wesentliche versicherungstechnische Lektion des Sumatra-Tsunamis ist, dass es sich um
ein wirklich globales Ereignis handelte. Es waren nicht
nur – wie bei anderen Ereignissen – lokale Gesellschaften
und weltweit zeichnende Konzerne betroffen, sondern
über die Tourismusbranche auch nationale Gesellschaften
in Ländern, die weit vom Schadengebiet entfernt liegen.
Der globale Aspekt kam also nicht wie bei anderen Katastrophen über die internationale Rückversicherung
zustande, sondern bereits über die Erstversicherung.
Damit verbunden ist der Mehrbranchenaspekt. Verschiedenste Branchen waren involviert, in einer Kombination,
die für ein Naturereignis eher untypisch ist.
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Tsunamikatastrophe in Südasien
IKONOS-Satellitenaufnahmen der
Region Banda Aceh vor (links am
10. Januar 2003) und nach dem
Tsunami (rechts am 29. Dezember
2004).
Wie hoch die versicherten Schäden sind, kann Anfang 2005
nur lückenhaft und sehr ungenau angegeben werden.
Wenn man die Unsicherheiten berücksichtigt, ist eine Größenordnung von bis zu 2 Mrd. US$ nicht auszuschließen.
Im Vergleich zum Ausmaß der humanitären Katastrophe
und angesichts des Zerstörungsgrades an den Küstenabschnitten erscheinen die versicherten Schäden jedoch
niedrig – aus diesen Gründen:
Die meisten Versicherungsfälle sind daher aus zwei Bereichen zu erwarten:
– Investitionen in touristische Objekte, vor allem Hotelanlagen und die angeschlossene Infrastruktur. Sie sind
oft (aber nicht immer) durch eine „Allgefahrenpolice“
gedeckt, die auch Betriebsunterbrechung umfassen kann.
– Lebens-, Unfall- und Reiseversicherungen von Touristen
– Die am schlimmsten betroffenen Regionen liegen überwiegend in Entwicklungsländern, in denen schon eine
normale Feuerdeckung keineswegs Standard ist. Darüber
hinaus ist die Gefahr Erdbeben – die Tsunami meist einschließt – nur über eine Zusatzversicherung zu Feuer
gedeckt.
– Lebensversicherungen sind in diesen Ländern ebenfalls
wenig verbreitet – teils aus kulturellen bzw. mentalen
Gründen, jedoch auch wegen des sozialen Status der
meisten einheimischen Todesopfer.
Ferner sind Autokaskoschäden zu erwarten, deren Volumen allerdings kaum ins Gewicht fällt; in einem Fall war
die Transportbranche über ein Autolager in einem Hafen
betroffen.
Inwieweit so genannte Mikroversicherungsprogramme,
die der Existenzsicherung von Privatpersonen und Kleinbetrieben in Entwicklungsländern dienen und in Indien und
Indonesien bereits relativ verbreitet sind, Schäden zu verzeichnen hatten, ist momentan nicht bekannt.
29
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Tsunamikatastrophe in Südasien
Frühwarnung und Prävention
Versicherungsaspekte
Wie jedes unerwartete Ereignis hat die Tsunamikatastrophe
bei der Risikowahrnehmung sowie im Hinblick auf Katastrophenprävention und -management drastische Lücken
offen gelegt. Dies darf aber nicht den Blick dafür verstellen,
dass es sich dabei in allen betroffenen Gebieten außer
Indonesien um ein singuläres, bisher nie beobachtetes
Ereignis handelte – mit der möglichen Ausnahme des
Bebens von 1833. Viele Stimmen aus Politik, Wissenschaft
und Wirtschaft wurden laut, die für den Indischen Ozean
ein ähnliches Frühwarnsystem fordern, wie es für den
Pazifischen Ozean bereits existiert. Erste Schritte hierzu
wurden auf der Weltkonferenz zur Katastrophenvorsorge
in Kobe im Januar 2005 unternommen.
Nach dem World-Trade-Center-Schaden zeigt diese Erdbebenkatastrophe erneut, dass Kumulabschätzungen sehr
seltener Ereignisse nicht aus der einfachen Extrapolation
normaler Ereignisse gewonnen werden können.
Die Bewertung der Münchener Rück: Richtig ist, dass genügend Zeit gewesen wäre, die Menschen an den Küsten
Sri Lankas, Indiens und Afrikas zu warnen und auch teilweise zu evakuieren, wenn ein Warnsystem existiert hätte.
Für Sumatra trifft dies allerdings nicht zu. Künftige Präventionsmaßnahmen müssen daher auf einer elementareren
Ebene ansetzen. Mit einigen ganz einfachen Mitteln hätte
bereits ein Großteil der Tragödie vermieden werden können: Wenn Bevölkerung und Touristen gewusst hätten,
dass ein Erdbeben mit einem Tsunami einhergehen kann,
dass ein schnell sinkender Wasserspiegel der Vorbote
eines Tsunami und keinesfalls eine bestaunenswerte
Kuriosität ist, dass nach einer ersten Welle mit Sicherheit
eine zweite und eine dritte Welle folgen und dass die einzig
sinnvolle Reaktion ist, sich möglichst schnell auf höher
gelegenes Gelände zu flüchten.
Nur wenn eine entsprechende Aufklärung gewährleistet ist
und die Organisations- und Kommunikationsstrukturen
geschaffen sind, um gegebenenfalls erfolgreich zu warnen
(die Warnung also Teil eines ganzheitlichen Risikomanagements ist), erscheint ein Frühwarnsystem angebracht. Solche Überlegungen müssen aber in Betracht ziehen, dass
sich ein Ereignis dieses Ausmaßes im Indischen Ozean seit
mindestens 171 Jahren nicht ereignet hat und sich vielleicht auch viele Jahrzehnte oder noch länger nicht wiederholen wird. Deshalb ist es extrem schwierig, das Risikobewusstsein selbst in stärker gefährdeten Gebieten zu
erhalten. In Indonesien ist zwar die Eintrittswahrscheinlichkeit von Tsunamis durchaus hoch, aber gerade dort ist der
Erfolg eines Frühwarnsystems zweifelhaft, weil die Entfernung zwischen Tsunamiherd und betroffener Küste sehr
gering ist. Und für die indische Ostküste sollten Präventionsmaßnahmen gegen die jährlich auftretenden Zyklone
höhere Priorität haben.
30
Schäden aus Erdbeben in Gebieten wie den Malediven und
dem südlichen Thailand wurden bei Kumulüberlegungen
aus begreiflichen Gründen bisher nicht berücksichtigt, von
einer Akkumulation der Schäden in beiden Ländern ganz
zu schweigen.
Wie ernst müssen Tsunamiszenarien als Kumulszenarien
genommen werden? Die Antwort auf diese Frage hängt
mit der Eintrittswahrscheinlichkeit zusammen, die Kumulereignissen zugrunde gelegt wird. So tragisch das
Sumatra-Erdbeben war, aus Versicherungssicht ist es bei
der derzeitigen Deckungspraxis angesichts des geringen
Ausmaßes versicherter Schäden noch kein relevantes
Kumulszenario. Wie steht es mit anderen Meeresbecken?
Große Tsunamis können im Pazifik, im Atlantik sowie in
der Karibik und im Mittelmeer auftreten. Ein Beispiel für
den Atlantik ist der Tsunami nach dem großen Erdbeben
von Lissabon 1755, der die gesamte westiberische und
Teile der nordafrikanischen Küste traf. Im Mittelmeer hat
der Tsunami eines Erdbebens im Jahr 365 n. Chr. (Epizentrum vermutlich vor Rhodos) praktisch die gesamte Küste
des östlichen Mittelmeers erfasst. Im Pazifik hat sich der
Tsunami des Chile-Bebens 1960 über den gesamten Pazifik
ausgebreitet und noch in Japan 132 Todesopfer gefordert.
Da die betroffenen Küstensäume sehr schmal sind, kommen als potenzielle Kumulszenarien tatsächlich nur Riesenereignisse in Betracht, die viele und ausgedehnte Küstenabschnitte betreffen, oder regionale Ereignisse, die
einen Ballungsraum signifikant treffen würden. Ferner
muss berücksichtigt werden, dass Tsunamis nicht nur
durch Erdbeben ausgelöst werden, sondern auch durch
Ereignisse wie Vulkanausbrüche (Krakatau 1883) oder vulkanische Flankenkollapse. Ein viel zitiertes Szenario für
eine Megakatastrophe ist ein Kollaps der Westflanke der
Cumbre Vieja auf La Palma – der dann möglicherweise
entstehende Tsunami könnte auch an der Ostküste der USA
noch eine beträchtliche Höhe erreichen. Die statistische
Wahrscheinlichkeit, dass ein solches Ereignis auf einer der
Kanarischen Inseln eintritt, liegt allerdings bei lediglich
einmal in rund 100 000 Jahren. Außerdem ist umstritten,
ob tatsächlich die gesamte Rutschmasse auf einen Schlag
ins Meer stürzen würde oder ob es zu mehreren kleineren –
für näher gelegene Küsten aber immer noch hochgefährlichen – Erdrutschen mit entsprechenden Tsunamis kommen würde.
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Tsunamikatastrophe in Südasien
Die größten Tsunamikatastrophen seit 1700
Datum
Tsunami ausgelöst von
Erdbebenmagnitude
Betroffene Regionen
27.1.1700
Erdbeben
9,0
USA*. Japan
1.11.1755
Erdbeben
8,7
Portugal*. Marokko
Mai–Juli 1815
Ausbruch des Tambora
24./25.11.1833
Erdbeben
26./27.8.1883
Ausbruch des Krakatau
15.6.1896
Erdbeben
31.1.1906
Indonesien
9,2
Todesopfer**
>30 000
>10 000 durch Tsunami
Indonesien*, Sumatra. Indien. Sri Lanka
unbekannt
Indonesien
36 400
8,5
Japan*, Sanriku
27 000
Erdbeben
8,2
Ecuador*. Kolumbien
27.11.1945
Erdbeben
8,3
Pakistan*. Indien
1.4.1946
Erdbeben
7,5
USA*, Hawaii
4.11.1952
Erdbeben
8,2
Russland*, Kamtchatka
9.3.1957
Erdbeben
8,3
USA*, Hawaii
22.5.1960
Erdbeben
9,5
Chile*, Hawaii. Japan
3 000
28.3.1964
Erdbeben
8,4
USA*, Alaska, Hawaii. Japan. Chile
3 000
26.12. 2004
Erdbeben
9,0
500
4 000
150
1 300
0
Indonesien*, Sumatra. Sri Lanka. Indien.
Thailand. Malediven. Ostafrika
>170 000
* Epizentrum des auslösenden Erdbebens.
**Todesopfer verursacht durch Erdbeben/Vulkanausbruch und Tsunami, wenn nicht anders vermerkt.
Auch wenn das Kumulrisiko näher beleuchtet werden
muss – die unmittelbaren versicherungstechnischen
Lehren des Sumatra-Tsunamis liegen woanders:
– Preis: Wenn das Risiko gedeckt ist, muss eine risikoadäquate Prämie erhoben werden, was mit Sicherheit in den
meisten der diesmal geschädigten Regionen nicht der
Fall war. Nicht auszuschließen ist, dass es einige wenige
Gebiete gibt, wo aufgrund der besonders hohen Exponierung ohne entsprechende Präventionsmaßnahmen keine
Versicherbarkeit gegeben ist.
– Beitrag zu Kumulschäden aus Erdbeben: Während eigene
Kumulszenarien für Tsunamis kaum gerechtfertigt
erscheinen, ist durchaus zu prüfen, ob sie einen signifikanten zusätzlichen Schaden bei Erdbebenszenarien in
Küstenräumen anrichten können.
– Deckung von Tourismusrisiken: Die weltweite, zum Teil
dynamische Entwicklung von Meeresküsten zu Tourismuszentren legt angesichts der eingetretenen Hotelschäden eine sorgfältige Risikoprüfung im Hinblick auf das
Tsunamirisiko nahe.
Das Problem von Megakatastrophen (wie das CumbreVieja-Szenario) kann nur über einen generellen Haftungsausschluss geregelt werden.
Fazit
Obwohl die versicherten Schäden vergleichsweise gering
waren, zeigt die Analyse Handlungsbedarf auf wissenschaftlicher sowie auf politischer und versicherungstechnischer Ebene. Folgende Ziele stehen im Vordergrund:
– Verbesserung des Verständnisses für die Entstehung von
Tsunamis und die Gefährdung der Küsten je nach ihrer
Offshore- und Onshore-Topographie
– verbessertes Risikobewusstsein bei der potenziell betroffenen Bevölkerung und den Entscheidungsträgern durch
Schulungen und gegebenenfalls regelmäßige Katastrophenübungen
– Definition und Umsetzung eines weltumspannenden
Frühwarnsystems
– Kommunikationsstrukturen schaffen, die gewährleisten,
dass auf Warnungen effizient reagiert wird
– Landnutzung insbesondere in hoch gefährdeten
Küstenstrichen regulieren
– Bestandsaufnahme und Überprüfung der Deckungspraxis in allen betroffenen Branchen
– Bewertung des Kumulschadenpotenzials oder Beitrags
zum Kumulschaden aus Erdbeben
– Überlegungen zur Kalkulation eines risikoadäquaten
Preises
Dr. Anselm Smolka, Dr. Michael Spranger
31
Die Hurrikansaison im Atlantik sowie die Taifunsaison im
Pazifik waren außergewöhnlich, in Bezug auf das Schadenausmaß und die meteorologischen Parameter: Vier Hurrikane in der Karibik und den USA führten im August und
September 2004 zu einem Rekordschaden für die Assekuranz; Japan wurde von 10 tropischen Wirbelstürmen getroffen, eine Anzahl, wie sie bisher nie erreicht wurde. Das Bild
zeigt einen Hangar in Punta Gorda, Florida, der von Hurrikan Charley schwer beschädigt wurde.
32
33
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Achtung Stürme!
Wirbelsturmserien und außergewöhnliche
Sturmereignisse rund um den Globus
Vier Hurrikane in der Karibik und den USA führten im August und
September 2004 zu einem Rekordschaden für die Assekuranz. Nahezu
zeitgleich wurde Japan von einer Serie von 10 tropischen Wirbelstürmen
heimgesucht, die in der jüngeren Vergangenheit so noch nicht beobachtet
worden war.
Seltene Ereignisse? – dieser Frage gingen wir in Topics
Geo 2003 nach. Gegenstand der Analyse waren damals die
Hurrikane Fabian auf Bermuda und Juan an der kanadischen Ostküste mit Landfall bei Halifax sowie der Taifun
Maemi in Südkorea.
globalen Klimaerwärmung vorbei. Das schließt auch ein,
Hurrikan- und Taifun-Risikomodelle kritisch zu überprüfen,
deren Simulationskern von einer stationären Gefährdungssituation ausgeht.
2004 wurden Regionen von seltenen und außergewöhnlichen Ereignissen getroffen, deren Exponierung in Bezug
auf tropische Wirbelstürme aus historischen Zeitreihen,
die teilweise über 150 Jahre zurückreichen, (vermeintlich)
gut bekannt war. Die Besonderheit des vergangenen Jahres war, dass regionale Häufigkeiten und – im Fall des
Hurrikans Ivan – Intensitäten von tropischen Wirbelstürmen beobachtet wurden, die innerhalb des mit meteorologischen Daten belegten Zeitfensters neu waren. Auf die
natürliche Variabilität der Sturmaktivität bei diesen Ereignissen zu verweisen ist nicht mehr ohne weiteres plausibel. Deshalb kommt die Versicherungswirtschaft immer
weniger an der Frage nach dem Änderungsrisiko bei
extremen Wetterereignissen als mögliche Folge der
Auf seiner Zugbahn durch Florida
hinterließ Hurrikan Charley ein
Bild der Verwüstung. Diese Tankstelle in Port Charlotte erlitt einen
Totalschaden.
34
Taifun Tokage fegte mit Windgeschwindigkeiten bis zu 200 km/h
über Japan. Vor allem in der
Region Okinawa verursachte er
schwere Gebäude- und Infrastrukturschäden.
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Achtung Stürme!
Hurrikane im Atlantik –
die Zeichen stehen auf Sturm
Im Atlantik entwickelten sich 2004 insgesamt 15 tropische Wirbelstürme,
9 davon erreichten Hurrikanstärke. Allein die Hurrikane Charley, Frances,
Ivan und Jeanne zerstörten versicherte Werte von 30 Mrd. US$ – ein
Rekordwert für die Versicherungswirtschaft.
Schadenbilanz der Hurrikanserie 2004 im Atlantik –
ein Überblick
Die versicherten Schäden aus den vier schadenreichsten
Hurrikanen – Charley, Frances, Ivan, Jeanne – mit Landfall
in der Karibik und den USA summieren sich auf fast 30
Mrd. US$ (Tab. 1). Damit markierte der versicherte Jahresschaden für die Assekuranz eine neue Spitzenbelastung
aus tropischen Wirbelstürmen im Atlantik. Das bisher teuerste Schadenjahr in dieser Region war 1992 mit 17 Mrd.
US$ durch Hurrikan Andrew. Wenn man heutige Werte in
Florida und Louisiana zugrunde läge, würde das Ereignis
nach Schätzungen der Münchener Rück knapp 30 Mrd. US$
kosten. Als „außergewöhnlich“ kann damit die Summe der
Einzelschäden aus den vier schweren Hurrikanen 2004
somit nicht wirklich bezeichnet werden.
Aber: Nach Hurrikan Andrew konzentrierten sich viele
Versicherer darauf, das Kumulschadenpotenzial eines
Ereignisses abzuschätzen; an die Möglichkeit hoher
Schadenkumule aus einer Serie von mehreren mittelgroßen Hurrikanen dachte man weniger. Das spiegelt
sich auch wider in den gewählten Rückversicherungskonstruktionen und einem Anteil der privaten Rückversicherer von voraussichtlich weniger als 25 % am
Gesamtschaden.
Abb. 1 Zugbahnen tropischer Wirbelstürme/Hurrikane
im Atlantik 2004
Abb. 2 Vier große Hurrikan-Schadenereignisse
in Florida innerhalb von sechs Wochen
Im Atlantik entwickelten sich 2004
insgesamt 15 tropische Wirbelstürme, 9 davon erreichten mit
Windgeschwindigkeiten von mehr
als 118 km/h Hurrikanstärke.
Die Zugbahnen der vier schadenreichsten Hurrikane in den USA
der Saison 2004. Alle vier Tropenstürme verursachten den größten
Schaden in Florida. Bemerkenswert ist die Zugbahn von Ivan, die
zu einem doppelten Landfall im
Golf von Mexiko führte.
< 100 km/h
100–150 km/h
150–200 km/h
200–250 km/h
> 250 km/h
< 100 km/h
100–150 km/h
150–200 km/h
200–250 km/h
> 250 km/h
35
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Hurrikane im Atlantik – die Zeichen stehen auf Sturm
Meteorologische Besonderheiten
Neue Schadenhöhen in der Karibik
Die vier schadenreichsten Hurrikane Charley, Frances, Ivan
und Jeanne verursachten die größten Schäden in Florida.
Im Zeitraum 1850–2004 gab es nur einmal eine ähnliche
Häufung von vier Hurrikantreffern in einem Bundesstaat,
nämlich in Texas 1886. In Florida lag der Maximalwert in
diesem Zeitfenster bei drei Schadenereignissen – 1886,
1896 und 1964.
Ein HDP-Rekordwert bedeutet aufgrund der Sturmdauer,
die in diesem Parameter enthalten ist, zugleich eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass Landmassen getroffen werden.
Daher war es nicht überraschend, dass Hurrikan Ivan auf
seiner Zugbahn durch die Karibik von Grenada über die
Cayman-Inselgruppe bis Alabama und Florida für die
Assekuranz mit einer Belastung von annähernd 12 Mrd.
US$ zum zweitteuersten Hurrikanschaden nach Andrew
1992 wurde.
Hurrikan Ivan: Rekord an Dauer und Intensität
Hurrikan Ivan formierte sich am 2. September 2004 im
Bereich des 10. nördlichen Breitengrades und 30. westlichen Längengrades als ein sich rasch verstärkendes Tropentief. Am 3. September erreichte Ivan Sturmintensität
und am 5. September Hurrikanstärke (Windgeschwindigkeiten > 118 km/h). Innerhalb der nächsten 18 Stunden
verstärkte sich das Sturmsystem weiter von Stufe 1 auf
Stufe 4 der 5-stufigen Saffir-Simpson-Skala (SS-Skala) und
erreichte Geschwindigkeiten von 210 bis 250 km/h. Diese
Intensität behielt Ivan für ca. 12 Stunden bei und
schwächte sich dann wieder auf SS2-Stärke ab. Das war
aber nur der Anlauf für einen Rekord: Am 8. September
wurde Ivan erneut zu einem SS4-Hurrikan und unterschritt
diese Intensitätsstufe bis zum Landfall in Alabama am
16. September nicht mehr, insgesamt also für etwa
200 Stunden. Während dieses Zeitraums intensivierte sich
Ivan dreimal jeweils mehrere Stunden auf SS5-Intensität.
Seine maximale Windgeschwindigkeit erreichte er am
12. September mit 330 km/h (in Böen).
Eine Maßzahl für den Spitzenwert an Dauer und Intensität
ist das Hurrikan-Zerstörungspotenzial (Hurricane
Destruction Potential, HDP), ein Index, der das Quadrat der
maximalen Windgeschwindigkeit je 6-Stunden-Zeitintervall über die gesamte Sturmdauer kumuliert. Der HDPWert von Hurrikan Ivan liegt bei 71 250. Zum Vergleich: Das
langjährige Mittel (1950–1990) aller tropischen Wirbelstürme einer gesamten Saison im Atlantik lag bei 70 600.
Hurrikan-Zerstörungspotenzial (HDP)
k
HDP = v 2i
i=1
v: maximale Böe in Knoten innerhalb eines 6-Stunden-Zeitintervalls
k: Anzahl der 6-Stunden-Zeitintervalle während der „Lebensdauer“
des Hurrikans
36
Grenada: Am 7. September 2004 erreichte Ivan mit SS3Intensität die Karibikinsel Grenada, die auf einen derartigen
Sturm völlig unvorbereitet war. Seit mindestens 50 Jahren
wurde in dieser Region nicht mehr eine solche Windgeschwindigkeit beobachtet. 39 Menschen verloren ihr Leben
und 90 % der Gebäude wurden beschädigt oder total zerstört. Der volkswirtschaftliche Schaden auf Grenada (Einwohnerzahl: 100 000) wird auf 900 Mio. US$ geschätzt, der
versicherte Schaden ist aufgrund der wenigen versicherten
Gebäude gering. In den folgenden Tagen forderte der
Hurrikan weitere 15 Todesopfer auf den Inseln Trinidad,
Barbados und Hispaniola.
Jamaika: Am 11. September befand sich das Zentrum von
Ivan nur wenige Zehnerkilometer südlich von Jamaika.
Nahezu alle zu diesem Zeitpunkt veröffentlichten Vorhersagen der Zugbahn prognostizierten, dass Jamaika mit
SS4-Intensität innerhalb der nächsten Stunden voll getroffen werden würde. Ivan änderte jedoch seine Richtung und
erreichte den südlichen und westlichen Teil der Insel nur
noch mit seinen Ausläufern. Die Schadenbilanz blieb deshalb relativ moderat: 17 Menschen starben; der volkswirtschaftliche Schaden betrug rund 575 Mio. US$, wovon
100 US$ Mio. von der Versicherungswirtschaft zu tragen
waren.
Die Windgeschwindigkeit v wird
in den USA üblicherweise in
Knoten angegeben. Die Summe
der Quadrate der maximalen
Windgeschwindigkeiten je Zeitintervall liefert ein Näherungsmaß
für die kinetische Energie des
Hurrikans.
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Hurrikane im Atlantik – die Zeichen stehen auf Sturm
Caymaninseln: Weniger Glück hatten am Tag darauf die
Einwohner der Caymaninseln, die mit voller Wucht getroffen wurden. In der ersten Phase des von Süden heranziehenden Hurrikans herrschte auf der Hauptinsel Grand Cayman östliche Windrichtung vor, die das Wasser aus dem
North Sound (Abb. 3) – eine Flachwasserlagune im Nordwesten der Insel – bis zum Seven Mile Beach drückte. Die
Sturmflut erreichte in einigen Bereichen eine Höhe von
1,5 Metern. Während das Zentrum von Ivan nur ca. 30 km
südwestlich an der Insel vorbeizog, drehte der Wind auf
südliche Richtung und der Sturm erfasste mit seiner ganzen Kraft und einer zweiten Sturmflut den Südteil von
Grand Cayman.
Das Schadenbild markierte einen neuen Rekord in der jüngeren Geschichte der Caymaninseln: Von den insgesamt
rund 5 Mrd. US$ versicherten Werten wurden fast 1,5 Mrd.
US$ zerstört. Das entspricht einem Schadensatz (Verhältnis aus Schaden zur Versicherungssumme) von etwa 25 bis
30 %.
Das Bild zeigt einen typischen
Wasserschaden. Auf Grand Cayman
führten zwei Sturmfluten zu
einem hohen Anteil an Gebäudeschäden.
Schäden im Segment „Offshore Marine“
Abb. 3 Grand Cayman
Noch vor seinem Landfall im Grenzbereich der Bundesstaaten Alabama und Florida in den USA brachte Ivan der
Versicherungswirtschaft einen weiteren Negativrekord.
Auf seinem nördlich gerichteten Kurs im Golf von Mexiko
streifte seine Zugbahn den östlichen Randbereich der
Offshore-Ölförderanlagen im Kontinentalschelf vor der
US-amerikanischen Festlandküste (Abb. 4).
Mit rund 2,5–3 Mrd. US$ versicherten Sach- und BU-Schäden aus „Offshore Marine“ übertrifft Ivan alle bisherigen
Großschäden in diesem Geschäftssegment. Zum Vergleich: Der Totalverlust der Piper-Alpha-Ölplattform 1988
kostete die Assekuranz 1,4 Mrd. US$; die versicherten
(Marine-)Schäden aus Hurrikan Andrew 1992 lagen bei
deutlich unter 1 Mrd. US$.
West Bay
North Side
Old Man
Village
Village
North Sound
Seven Mile
Beach
George Town
East End
Boddentown
Mit 40 000 Einwohnern zählen die
Caymans zu den bevölkerungsschwächeren Inseln in der Karibik.
Wegen ihrer großen Popularität
als Steueroase ist auf dieser Inselgruppe die Versicherungsdichte
im regionalen Vergleich aber überdurchschnittlich hoch.
Stadt
Hauptstraße
Hauptschadengebiet
Erste Sturmflut
Zweite Sturmflut
Höhe über
Meeresspiegel
<4m
4–8 m
8–12 m
12–16 m
> 16 m
Tab. 1 Schadenbilanz der Hurrikanserie 2004 im Atlantik
Datum
Ereignis
Betroffene Regionen/Inseln
Volkswirt.
Versicherte
Schäden
Schäden
Mio. US$*
Mio. US$*
9.–15.8.2004
Hurrikan Charley
Jamaika. Kuba. Florida
18 000
8 000
25.8.–9.9.2004
Hurrikan Frances
Bahamas. Florida
12 000
6 000
2.–24.9.2004
Hurrikan Ivan
Grenada. Jamaika. Cayman.
23 000
11 500
9 000
5 000
SO-Staaten USA
13.–28.9.2004
Hurrikan Jeanne
Puerto Rico. Dom. Republik.
Haiti. Bahamas. Florida
* Stand: Februar 2005
37
Münchener Rück, Topics Geo 2004
In der Marine-Schadensumme von 2,5–3 Mrd. US$ sind
Kosten nicht enthalten, die durch die erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen (Evakuierung, Drosselung und Stopp
der Produktion) als Folge der Hurrikanwarnungen entstanden sind.
Ein Blick auf die Karte mit der geographischen Verteilung
der Offshore-Einrichtungen im Golf von Mexiko zeigt, dass
bei einer weiter westlich gelegenen Zugbahn von Ivan das
Schadenpotenzial noch um ein Vielfaches höher gewesen
wäre.
Zunahme der Gefährdung durch tropische
Wirbelstürme im Atlantik
Keine der genannten „meteorologischen Besonderheiten“
oder die skizzierten Rekordschäden auf den Caymaninseln
und im Golf von Mexiko erlauben für sich Rückschlüsse
auf Veränderungen der Sturmgefährdung in den letzten
Jahren und Jahrzehnten in dieser Region. Sie liefern jedoch
Argumente dafür, meteorologische Daten sorgfältig nach
möglichen Trends oder Periodizitäten zu untersuchen.
Wenn man den zeitlichen Verlauf der jährlichen Anzahl
von tropischen Wirbelstürmen und Hurrikanen im Atlantik
genauer analysiert, zeigt es sich, dass die Zeitreihe im
Beobachtungszeitraum zwei unterschiedliche Merkmale
aufweist:
1. Zyklische Komponente: Parallel zu periodisch wiederkehrenden atlantischen Warm- und Kaltphasen nimmt
die Sturmhäufigkeit zu oder ab (vgl. Beitrag Klimawandel – Auswirkungen auf tropische Wirbelstürme,
S. 41).
2. Zunahmetrend: Generell ist in den letzten 150 Jahren
festzustellen, dass sich die Anzahl der tropischen Wirbelstürme und Hurrikane erhöht. Die stärkste Veränderung in der Häufigkeit ist hier bei den schweren Hurrikanen (major hurricanes) der Saffir-Simpson-Stärken
SS3–SS5 zu beobachten: Ihre mittlere jährliche Anzahl
hat sich verdreifacht (Abb. 5). Inwieweit dieser Zunahmetrend beeinflusst ist durch lückenhafte Daten in der Zeit
vor 1944, ist in der Forschung eine offene Frage.
Fazit
Die Ergebnisse von Klimasimulationsmodellen deuten
darauf hin, dass langfristig die Sturmgefährdung im Atlantik weiter wächst. Es ist wahrscheinlich, dass künftig mehr
Stürme auftreten und dadurch zyklische Tief- und Hochpunkte entsprechend der atlantischen Kalt- und Warmphasen auf einem höheren Niveau liegen werden.
38
Hurrikane im Atlantik – die Zeichen stehen auf Sturm
Schadenentwicklung in Florida unterschätzt?
Eine Veränderung der Sturmgefährdung bringt potenziell
eine Veränderung des Sturmrisikos mit sich. Abgesehen
von Jahren mit zufallsbedingt besonders wenigen bzw.
vielen Schäden ist zu erwarten, dass das Sturmrisiko
(Schadenerwartungswert, Kumulschadenpotenzial) bei
ansonsten gleichen Bedingungen der versicherten Risiken
(z. B. Schadenanfälligkeit) variiert (Abb. 6).
Es wird deutlich, dass in den vergangenen 25 Jahren in
Florida der Schadenerwartungswert nahezu stetig zugenommen hat, obwohl die Sturmschadenanfälligkeit
moderner Gebäude seit der Verschärfung der Bauvorschriften nach Hurrikan Andrew zurückgegangen ist.
Entscheidend für die Träger des Hurrikanrisikos: Kurzund mittelfristig (in den nächsten Jahren bis Jahrzehnten)
werden in Florida die Schadenwahrscheinlichkeiten und
-erwartungswerte unterschätzt, wenn man annimmt, dass
sich die Gefährdung nicht ändert (Mittelwert der vergangenen 150 Jahre).
Abbildung 7 zeigt, dass im Auswertezeitraum in Florida
nach Hochrechnung der Schäden aus früheren Jahren auf
heutige Werteverhältnisse die versicherten Schäden aus
Sturm und Überschwemmung gestiegen sind. Werden die
auf 2004 indizierten Schäden der letzten 25 Jahre über
abnehmende Zeitfensterlängen aggregiert, dann kann die
Schadenzunahme über die Analyse des mittleren jährlichen versicherten Schadens je Zeitfenster quantifiziert
werden.
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Hurrikane im Atlantik – die Zeichen stehen auf Sturm
Abb. 4 Offshore-Installationen im Golf von Mexiko und Simulation des Windfelds
Ölförderanlage
Zugbahn Hurrikan Ivan
Windgeschwindigkeiten
in km/h
100–109
110–119
120–129
130–139
140–149
150–159
160–169
170–179
180–189
190–199
200–209
210–219
220–229
230–239
240–249
250–259
260–269
≥ 270
Die Zugbahn von Hurrikan Ivan
streifte nur den östlichen Rand
des Ölfördergebiets, trotzdem
verursachte er die bisher teuersten Schäden in diesem Geschäftssegment.
Quelle: US Department of the
Interior – Minerals Management
Service; Windfeldsimulation:
Münchener Rück
Abb. 5 Jährliche Anzahl von tropischen Stürmen und Hurrikanen im Atlantik 1850–2004
25
Hurrikan und tropischer Sturm
Hurrikan
Hurrikan (SS 3, 4, 5)
Trend Hurrikan und trop. Sturm
Trend Hurrikan
Trend Hurrikan (SS 3, 4, 5)
20
15
10
5
0
1850
1875
1900
1925
Jahr
1950
1975
2000
Im Zeitraum 1850–2004 hat die
Häufigkeit tropischer Wirbelstürme zugenommen. Die auffälligste Veränderung gab es bei den
starken Hurrikanen der Intensität
SS3–SS5, deren mittlere jährliche
Anzahl sich verdreifacht hat. 2004
wurden im Atlantik sechs Hurrikane mit einer Intensität größer
oder gleich SS3 beobachtet. Ein
genereller Anstieg von Wirbelstürmen mit Landfall in den USA
ist allerdings bisher nicht zu beobachten. Für den Zeitraum bis
1944 können die Daten aufgrund
unvollständiger Beobachtungen
lückenhaft sein.
Quelle: NOAA
39
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Hurrikane im Atlantik – die Zeichen stehen auf Sturm
Entwicklung der versicherten
Einzelschäden und der Jahresschadensummen aus Sturm und
Überschwemmung (ohne National
Flood Insurance Program, NFIP)
in Florida im Zeitraum 1980–2004.
Schäden aus der Vergangenheit
wurden mit einem jährlichen
Anstieg von 5 % auf Werteverhältnisse von 2004 indexiert (Inflationsbereinigung und Bestandszuwachs). Die Schadenhöhen sind
logarithmisch aufgetragen.
Abb. 6 Versicherte Sturm- und Überschwemmungsschäden in
Florida 1980–2004 (Einzelschäden und Jahresschadensummen)
Mio. US$
100 000
10 000
1 000
100
10
Einzelschaden
(in Werten von 2004)
1
1980
1985
1990
1995
2000
Jahr
2005
Jahresschadensumme
(in Werten von 2004)
Quelle: Property Claims Service, Florida Office of Insurance Regulation, Munich Re NatCatSERVICE
Mittlerer jährlicher versicherter
Schaden aus Sturm und Überschwemmung (ohne NFIP) in
Florida in verschiedenen Zeitfenstern. Schäden aus der
Vergangenheit wurden mit einem
jährlichen Anstieg von 5 % auf
Werteverhältnisse von 2004
indexiert (Inflationsbereinigung
und Bestandszuwachs).
Abb. 7 Mittlerer jährlicher Schaden
Mio. US$
4 500
4 000
3 500
3 000
2 500
2 000
1 500
1 000
500
0
1980–2004
(letzten
25 Jahre)
1985–2004
(letzten
20 Jahre)
1990–2004
(letzten
15 Jahre)
1995–2004
(letzten
10 Jahre)
2000–2004
(letzten
5 Jahre)
Gewerbegebiete bergen sehr
hohe Schadenpotenziale, da auf
engstem Raum Warenhäuser und
Lager aneinander gereiht sind.
Das Bild zeigt einen Autoersatzteilemarkt in Port Charlotte
in Florida, der durch Hurrikan
Charley nahezu vollständig
zerstört wurde.
40
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Hurrikane im Atlantik – die Zeichen stehen auf Sturm
Klimawandel –
Auswirkungen auf tropische Wirbelstürme
großer Hurrikane pro Jahr ist in dieser aktuellen atlantischen Warmphase somit wesentlich größer als in der letzten. Könnte es also sein, dass die zyklische Struktur
wiederkehrender atlantischer Warm- und Kaltphasen von
einem Zunahmetrend überlagert wird, der den Einfluss der
Klimaerwärmung verrät? Nach neueren Studien mit Klimasimulationsmodellen wäre genau dies zu erwarten, nämlich dass die tropischen Zyklonen, die in einem wärmeren
Klima entstehen, sich intensiver entwickeln.
Wenn man genau beobachtet, wie sich die Wirbelsturmaktivität im Nordatlantik (längs der amerikanischen Ostküste
bis zur Südspitze Floridas und in der Karibik) entwickelt,
erkennt man: Die Zuordnung der atlantischen Hurrikanaktivität zu zyklisch wiederkehrenden atlantischen Warmund Kaltphasen – entsprechend dem „Atlantic Multidecadal Mode“, der in der Wissenschaft diskutiert wird – ist
sinnvoll (Abb. 8). Dabei handelt es sich um Phasen mit anomal warmen oder kalten Wasseroberflächentemperaturen,
die meist Jahrzehnte andauern und insbesondere in der
atlantischen Hauptentwicklungszone für Wirbelstürme
zwischen 10° N und 20° N auftreten. Sind die Wassertemperaturen ungewöhnlich warm, so verdunstet mehr
Wasser und die atmosphärische Schichtung wird labilisiert. Das steigert die vertikale Mächtigkeit des entstehenden Wirbels und macht ihn weniger verwundbar durch vertikalen „Versatz“. Letzterer kann dadurch zustande
kommen, dass der Wind zwischen bodennahen und hohen
Niveaus seine Stärke und Richtung ändert. Die vertikale
Änderung des Winds ist zudem über wärmeren Wasseroberflächen reduziert. Die Statistik zeigt: In der atlantischen Warmphase, die um 1926 begann und nach einer
sehr kurzen Unterbrechung Mitte der 1940er-Jahre bis
etwa 1970 dauerte, traten im jährlichen Mittel mit 2,6
erheblich mehr große Hurrikane (Saffir-Simpson-Kategorie
3–5) auf als in der atlantischen Kaltphase von 1971 bis 1994
(1,5). Seit 1995 herrscht erneut eine atlantische Warmphase
vor, die wiederum die jährlichen Häufigkeiten großer Hurrikane deutlich erhöht (im Mittel 3,8). Die mittlere Anzahl
Ein neues Klimasimulationsexperiment, das für die drei
Ozeanbassins des Nordatlantiks, des Nordwestpazifiks und
des Nordostpazifiks durchgeführt wurde, lässt für die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts intensivierte Wirbelstürme
erkennen; im Vergleich zum Gegenwartsklima werden sie
im Mittel um 6 % höhere Ein-Minuten-Bodenwinde und um
18 % höhere Niederschlagsraten in einem Radius von
100 km um das Zentrum aufweisen. Im Vergleich zu heute
würden die Wirbelstürme um eine halbe Saffir-SimpsonKategorie intensiver ausfallen. Zwar lässt sich nicht nachweisen, dass die Meeresoberflächentemperaturen im
Nordatlantik in den letzten Jahrzehnten bereits signifikant
gestiegen sind, jedoch nahm die Neigung zu konvektiven
Umwälzungen in der Atmosphäre, welche die Entwicklung
von Wirbelstürmen begünstigt, an vielen tropischen Stationen in den letzten Jahrzehnten signifikant zu.
Abb. 8 Jährliche Anzahl von tropischen Stürmen und Hurrikanen im Atlantik
Anzahl
25
Warmphase
Kaltphase
Warmphase
Kaltphase
Warmphase
20
15
13,7
10
Hurrikane und tropische
Stürme (SS 1–5)
Hurrikane (SS 1–5)
Hurrikane (SS 3, 4, 5)
Durchschnittliche Anzahl
Hurrikane und tropische
Stürme (SS 1–5)
Hurrikane (SS 1–5)
Hurrikane (SS 3, 4, 5)
9,9
8,5
7,8
6,2
5,0
5
3,8
3,1
1,5
0
1850
1875
1900
1925
Jahr
Quelle: NOAA, Landsea et al (1999)
1950
1944
1975
2000
Mittlere Anzahl tropischer
Zyklone pro Jahr entsprechend
den atlantischen Warm- und Kaltphasen (Atlantic Multidecadal
Mode). Der Beginn der Zeitreihe
(1944) markiert den routinemäßigen Einsatz von Flugzeugen zur
Beobachtung von Wirbelstürmen
über dem Atlantik.
41
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Achtung Stürme!
Weitere außergewöhnliche Sturmereignisse
Im Jahr 2004 nahm nicht nur die Sturmexponierung in bereits als gefährdet
bekannten Gebieten zu, sondern auch einzelne „außergewöhnliche“
meteorologische Ereignisse lieferten weitere Indizien für Änderungsprozesse in der Atmosphäre.
Hurrikan Alex (Atlantik): SS3-Intensität in 42° N
Die Hurrikansaison 2004 im Nordatlantik begann am
31. Juli mit einem meteorologisch für beinahe unmöglich
gehaltenen tropischen Wirbelsturm. Aus einem Tropentief
vor der Küste Georgias entwickelte sich im Laufe des
1. Augusts der Tropensturm Alex, der am 3. August Hurrikanstärke (mittlere Windgeschwindigkeit >118 km/h)
erreichte, wobei er sich fortlaufend verstärkte und nach
Nordosten verlagerte. Noch am gleichen Tag zog das Zentrum von Alex nur wenige Kilometer vor der Küste Cape
Hatteras (North Carolina) vorbei. Zu diesem Zeitpunkt
hatte Alex bereits SS(Saffir-Simpson)2-Intensität mit mittleren Windgeschwindigkeiten um 160 km/h, Spitzenböen
um 190 km/h und einen Kerndruck von 972 hPa.
So weit war Alex ein ganz normaler Hurrikan, der aus Sicht
der Versicherungswirtschaft auch aufgrund seiner Zugbahn ohne direkten Landfall an der US-amerikanischen
Küste beinahe ein Nicht-Ereignis war. Die Schäden blieben
auf den Küstenabschnitt zwischen Wilmington (North
Carolina) und Norfolk (Virginia) und im Wesentlichen auf
Stromversorgungsleitungen und lokale Sturmflutprobleme begrenzt. Die Belastung für die Assekuranz liegt bei
unter 50 Mio. US$.
Im Verlauf des 4. Augusts behielt Alex seine Intensität
zunächst bei und schwächte sich bis zum Nachmittag erwartungsgemäß über dem in höheren Breiten zunehmend
kühleren Wasser des Nordatlantiks auf SS1-Stärke ab.
Die weitere Entwicklung war meteorologisch jedoch ungewöhnlich: Innerhalb weniger Stunden fiel der Kerndruck im
Zentrum des Sturmwirbels auf 957 hPa und Alex verstärkte
sich zu einem schweren Hurrikan mit SS3-Intensität. Mit
Windgeschwindigkeiten um 240 km/h in Spitzenböen zog
er am 5. August weiter in nordöstlicher Richtung auf den
Nordatlantik. Alex behielt als voll ausgebildeter tropischer
Wirbelsturm seine SS3-Intensität mit einem Kerndruck von
957 hPa selbst über Gebieten mit Wassertemperaturen von
unter 26 °C bei (dieser Grenzwert ist eine der Voraussetzungen für die Bildung von tropischen Wirbelstürmen).
Die Vorwärtsgeschwindigkeit des Hurrikans war mit rund
40–45 km/h eher gering. Erst am Abend des 5. Augusts und
in einer geographischen Breite nördlich von 42° (etwa auf
der Höhe von Boston) begann sich Alex abzuschwächen,
um dann schließlich am Nachmittag des 6. Augusts und in
einer geographischen Breite von 47,5° (etwa auf der Höhe
von St. Johns/Neufundland) von „Hurrikan“ auf „tropischen Sturm“ herabgestuft zu werden.
Die Besonderheiten von Hurrikan Alex lassen sich wie
folgt zusammenfassen:
– Erhöhung der Windgeschwindigkeiten und Neuorganisation des Sturmwirbels nördlich von Norfolk. Bemerkenswert ist, dass Anfang August 2004 der Atlantik vor
den Neuenglandstaaten der USA und Kanadas eine deutlich positive Temperaturanomalie aufwies (im Vergleich
zum langjährigen Mittel um 3–4 °C zu warm).
– Beibehaltung der Merkmale eines voll ausgeprägten
SS3-Hurrikans mit Spitzenwindgeschwindigkeiten in
Böen um 240 km/h bis in eine geographische Breite nördlich von 42°
– Übergang zu einem außertropischen Sturmsystem erst
in einer Breite von 47,5°.
Abb. links: Alex am 4. August 2004
um 15.45 Uhr (UTC) als SS1-Hurrikan vor Virginia.
Abb. Mitte: Alex am 5. August 2004
um 6.15 Uhr (UTC) als SS3-Hurrikan auf der Höhe von New Jersey.
Abb. rechts: Alex am 5. August
2004 um 13.15 Uhr (UTC) mit
unverminderter SS3-Stärke. Erst in
den Abendstunden (UTC) begann
sich der Sturm abzuschwächen.
42
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Weitere außergewöhnliche Sturmereignisse
Hurrikan Catarina – oder eine „außertropische Zyklone
(Tiefdruckgebiet) mit tropischer Charakteristik“ –
im Südatlantik
Im März 2004 bildete sich vor der brasilianischen Küste ein
Sturmsystem (Catarina, in der Literatur auch als Aldonca
und 1-T Alpha bezeichnet), das in seinem weiteren Verlauf
viele Merkmale eines tropischen Wirbelsturms aufwies.
Bisher wurde der Südatlantik, vor allem wegen der für
die Wirbelsturmentstehung extrem ungünstigen starken
Änderung der Windgeschwindigkeiten zwischen oberflächennahen und hohen Niveaus der Atmosphäre, weitgehend als „hurrikanfrei“ betrachtet.
Bis Redaktionsschluss (Januar 2005) ist die meteorologische Bewertung dieses Ereignisses noch nicht abgeschlossen. So stufte am 26. März 2004 das U.S. National
Hurricane Center (NHC) in Miami (Florida) die Zyklone als
„tropisch“ ein und im weiteren Entwicklungsstadium dann
als Hurrikan der Stärke SS1. Der brasilianische Wetterdienst bewertete Catarina dagegen als eine „außertropische
Zyklone mit kaltem Kern“, wie sie typischerweise über
kaltem Wasser entstehen kann. Das Centro de Hidrografia
de Marinha verwendete dafür die Bezeichnung „außertropische Zyklone mit tropischer Charakteristik“. Bemerkenswert ist immerhin, dass gemäß einem Klimasimulationsexperiment (Hadley-Center) Catarina genau in der Zone
zwischen 20° und 30° Süd auftrat, in der in Zukunft
Wirbelsturmaktivität erwartet wird.
Jenseits der noch offenen meteorologischen Fragen zu
Catarina bleibt seine Schadenbilanz festzuhalten: 40 000
beschädigte Gebäude (von insgesamt 125 000) im Landfallgebiet von Catarina und Zerstörungen in der Landwirtschaft von 350 Mio. US$.
Im März bildete sich vor der
brasilianischen Küste ein Sturmsystem, das sich zu einem voll
ausgeprägten Saffir-Simpson-1Hurrikan verstärkte. Das Bild zeigt
das Sturmsystem bei Porto Alegre
im Südosten Brasiliens.
Die Schadenbilanz von Hurrikan
Catarina: 40 000 beschädigte
Gebäude, Schäden in der Landwirtschaft und an Versorgungseinrichtungen. 4 Menschen kamen
bei dem Sturm ums Leben, 40
wurden verletzt.
43
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Achtung Stürme!
Schadenbericht Property Claim Services
„Fab Four Hurrikane 2004“ – professionelle Schadenregulierung trotz
widriger Umstände. Ein Bericht von Property Claim Services ®
Der Südosten der Vereinigten Staaten erlebte 2004 die
schlimmste Hurrikansaison der jüngeren Vergangenheit:
Sechs Hurrikane – Alex, Charley, Frances, Gaston, Ivan
und Jeanne – sowie drei tropische Stürme trafen zwischen
Anfang August und Mitte Oktober die USA. Den größten
Schaden verursachten die so genannten „Fab Four“
Charley, Frances, Ivan und Jeanne. Die Schäden waren
bei keinem einzelnen Sturm außergewöhnlich, dennoch
war das Gesamtausmaß vergleichbar mit Hurrikan
Andrew 1992.
Welche Faktoren beeinflussten die Schadenregulierung?
Charley, Frances, Ivan und Jeanne richteten in 17 amerikanischen Bundesstaaten versicherte Schäden von 22,5 Mrd.
US$ an; dies sind die bisher höchsten Schäden eines dritten Quartals. Zum Vergleich: Die 22 Hurrikane aller dritten
Quartale seit 1992 kosteten insgesamt 50 Mrd. US$.
Auswirkungen der Bauvorschriften
Obwohl die Schadenausmaße der „Fab Four“ und von
„Andrew“ ähnlich waren, weisen die Schadendaten Unterschiede auf:
Durchschnittsschäden
Andrew durchzog 15 Bezirke (Countys) Südfloridas. Die
Schäden konzentrierten sich jedoch auf den Bezirk MiamiDade und in geringerem Ausmaß auf drei benachbarte
Countys. Trotz dieser kleinen räumlichen Verteilung
beschädigte Andrew unseren Schätzungen zufolge
625 000 versicherte Objekte (versicherter Gesamtschaden
in Florida: 15 Mrd. US$). Der durchschnittliche Schaden
betrug 24 000 US$, inflationsbereinigt entspricht dies
33 000 US$.
Charley, Frances, Ivan und Jeanne richteten Schäden in
fast allen 67 Bezirken Floridas an, 46 wurden sogar zu
nationalen Katastrophengebieten erklärt. Nach unseren
Ermittlungen waren 1,6 Millionen versicherte Objekte
betroffen, der versicherte Schaden in Florida lag bei
18,6 Mrd. US$, der durchschnittliche Schaden bei etwa
11 500 US$.
44
Die Schadenzahlungen nach Hurrikan Andrew wurden von
folgenden Faktoren beeinflusst: Arbeitskräftemangel,
Kostenexplosion bei Baustoffen, höhere Nachfrage nach
Bauleistungen und Antragsflut bei den örtlichen Behörden.
Die gleichen Probleme werden sich auch auf die Wiederherstellungskosten nach den Hurrikanen 2004 auswirken,
jedoch kann der genaue Anteil heute noch nicht abgeschätzt werden.
Dass die Bauvorschriften nur unzureichend eingehalten
wurden, war nach Andrew ein wichtiges Thema: Über ein
Viertel (4 Mrd. US$) der gesamten versicherten Schäden
(15 Mrd. US$) waren darauf zurückzuführen.
Bei den Stürmen im Jahr 2004 zeigte sich, dass neuere
Konstruktionen den Windlasten deutlich besser standhielten als Gebäude, die nach älteren Bauvorschriften ausgelegt waren. Zwar laufen die Untersuchungen hierzu noch,
gleichwohl kann man schon sagen, dass die neuen Bauvorschriften Wirkung zeigen.
Das Worst-Case-Szenario
PCS (Property Claim Services) diskutiert und untersucht
seit längerem die Auswirkungen und Konsequenzen einer
Megakatastrophe in den Vereinigten Staaten – für diese
schätzen wir vier Millionen Schadenfälle. Glücklicherweise
haben die Hurrikane 2004 diese Dimension nicht erreicht:
Die Assekuranz war „nur“ mit etwa der Hälfte der Schadenfälle des Worst-Case-Szenarios konfrontiert; trotzdem
erreichten die versicherten Schäden Rekordhöhen. Denn
wie sich Stürme auf die Versicherungswirtschaft auswirken, hängt sowohl von ihrer Stärke ab als auch von der
Anzahl der Landfalls. 2004 war nicht die erste Hurrikansaison mit mehreren Landfalls. 1964 und 1996 war dies viermal der Fall, 1999 fünfmal und 1985 sechsmal. Das Besondere 2004 war, dass die Hauptschadengebiete aller Stürme
in Florida lagen.
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Schadenbericht Property Claims Service
PCS Property Claim Services®
PCS ermittelt und schätzt für die amerikanischen Sachund Haftpflichtversicherer die versicherten Schäden aller
Katastrophen, unterteilt nach Privat- und Industrieschäden,
Betriebsunterbrechung, Terrorismus sowie Arbeiterunfall.
Das Unternehmen – eine Gruppe der ISO® – ist weltweit
führend bei der Ermittlung, Analyse und Bereitstellung von
Schadeninformationen in den USA. Über herausragendes
Fachwissen verfügt PCS vor allem im Bereich Naturkata-
strophen. Definition einer Katastrophe nach PCS: versicherter Schaden über 25 Mio. US$ sowie eine große
Anzahl betroffener Policen. Die Schwelle für Terrorismus
liegt bei 5 Mio. US$. ISO® Insurance Service Office ist der
führende Anbieter von Informationen für die Sach- und
Haftpflichtversicherer (Nichtleben) in den USA. Für die
Münchener Rück zählt Property Claim Services zu den
wichtigsten Informationsquellen.
Herausforderungen
Fazit
Die Bearbeitung der unzähligen Schadenmeldungen
in Florida behinderten teils ungewöhnliche Faktoren:
– Die Schadengutachter, die nach Charley bereits in Florida
waren, mussten wegen der folgenden Hurrikane das Einsatzgebiet verlassen. Nie zuvor mussten so viele Gutachter an einen sicheren Ort gebracht werden – und zwar
nicht nur einmal, sondern zweimal.
– Großflächige Stromausfälle und andere Unterbrechungen von Versorgungseinrichtungen verlangsamten die
Schadenregulierung in den ersten Wochen spürbar.
– Die Hurrikane, insbesondere Frances, erforderten die
größten Evakuierungen von Einwohnern Floridas in der
Geschichte. Problematisch war, dass viele Menschen aufgrund der enormen Schäden – speziell in den Küstenregionen – längere Zeit nicht in ihre Häuser zurückkehren
konnten und Hotelunterkünfte benötigten. Deshalb war
es für die Schadenregulierer schwierig, Übernachtungsmöglichkeiten in der Nähe der Einsatzorte zu finden, und
sie mussten oft weite Strecken zurücklegen.
– Benzin war knapp, stundenlanges Warten angesagt, die
Mobilität der Gutachter stark eingeschränkt.
– Einige Gebiete Floridas wurden mehrmals getroffen –
von Charley, Frances und Jeanne. Bereits beschädigte
Werte wurden von den folgenden Stürmen noch stärker
verwüstet. Für die Assekuranz war es sehr schwierig, die
Schäden dem jeweiligen Sturm zuzuordnen, um beispielsweise die Selbstbehalte korrekt zu ermitteln. Deshalb mussten die Schäden besonders ausführlich und
genau analysiert werden, was die Bearbeitung verlangsamte.
Die Versicherer und ihre Schadenregulierer erhielten viel
Anerkennung für die professionelle Arbeit, die sie trotz
widrigen Bedingungen in Florida leisteten. Der Wiederaufbau nach der schlimmsten Hurrikansaison seit langem
wird noch viele Monate dauern. Die amerikanische Versicherungswirtschaft setzt alles daran, die Erwartungen
der Versicherungsnehmer, der Aufsichtsbehörden sowie
der Mitarbeiter und Aktionäre zu erfüllen, um dieses
außergewöhnliche Jahr für alle Betroffenen bestmöglich
zu bewältigen.
Gary Kerny
Günstig hat sich auf die Schadenregulierung ausgewirkt,
dass die Schäden vor allem in einem Gebiet anfielen.
Somit konnten die Versicherungsgesellschaften ihre Gutachter auf Florida konzentrieren. Wären auch in anderen
Staaten stärkere Schäden aufgetreten, hätten die Versicherer notgedrungen an verschiedenen Standorten Regulierungsbüros einrichten müssen, was die Gesamtbearbeitung erschwert hätte.
45
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Achtung Stürme!
Taifunsaison im Pazifik – Japan im Fadenkreuz
der Wirbelstürme
Das Jahr 2004 brachte bei Stürmen nicht nur im Atlantik, sondern auch
im Westpazifik neue Rekorde. In Japan beobachtete man seit Beginn der
systematischen Erfassung von Zugbahndaten tropischer Wirbelstürme
eine nie da gewesene Anzahl von Landfalls.
Tokage
Ma
gi
e
M
on
s
Dian
mu
Ma
on
Na
on
C
Vor allem den Süden und Westen
Japans trafen 2004 mehrfach tropische Wirbelstürme. Von den insgesamt zehn Sturmereignissen
waren drei (Songda, Tokage,
Chaba) besonders schadenreich.
un
the
m
46
Meari
da
ng
So
Ch
aba
Die Frage nach der Notwendigkeit, ein mögliches Änderungsrisiko in der Risikosimulation zu berücksichtigen,
ist im Nordwestpazifik aufgrund der dünneren Basis an
meteorologischen und versicherungstechnischen Daten
mit größeren Unsicherheiten behaftet als im Atlantik und
deshalb schwieriger zu beantworten. Wird im Risikomanagement das Vorsichtsprinzip angewendet, so ist
auch im Nordwestpazifik zu erwarten, dass bei fortschreitender Klimaänderung mittel- und längerfristig die Sturmaktivität deutlich zunimmt. Der größere Pazifik könnte
dabei den Trend aufgrund der thermischen Trägheit
großer Wassermassen im Vergleich zum Atlantik zeitlich verzögern.
Abb. 1 Zugbahnen von tropischen Wirbelstürmen und
Taifunen im Nordwestpazifik mit Landfall in Japan 2004
lou
Die Zeitreihe von gut 50 Jahren ist noch zu kurz für eine
zuverlässige Aussage zu möglichen Trends bei der Häufigkeit von Sturmereignissen in Japan. Auffällig ist jedoch
auch in dieser Region, dass die aktivsten Sturmperioden
im Beobachtungszeitraum in der jüngeren Vergangenheit
lagen (Abb. 2). Noch kürzer ist in Japan der Zeitraum mit
Marktdaten zu versicherten Schäden aus tropischen Wirbelstürmen. Da die Sturmversicherung im Massengeschäft
erst in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre eingeführt
wurde, gibt es für eine aktuarielle Analyse der Ereignisschäden Daten nur für rund 15 Jahre. Zwar kam es in diesem Zeitraum zu signifikanten versicherten Schäden
(Tab. 1), Kumulschadenpotenziale fundiert zu bewerten ist
jedoch nur mit geeigneten Risikosimulationsmodellen
möglich, die auch seltene und schadenreiche Taifunereignisse einbeziehen (Abb. 3 + 4).
< 100 km/h
100–150 km/h
150–200 km/h
200–250 km/h
> 250 km/h
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Taifunsaison im Pazifik – Japan im Fadenkreuz der Wirbelstürme
Tab. 1 Die zehn größten versicherten Schäden
aus Taifunen in Japan 1990–2004
Taifun
Datum
Versicherter
Schaden
As-if-Schäden 2004, über die
Entwicklung der GNPI abgeschätzt
(Anstieg ca. 5 % p. a.) * Umrechnungskurs: 1000 Yen = 10 US$.
Quellen: NatCatService; General
Insurance Association of Japan;
Stand: Dezember 2004
in Mio. US$*
1
Mireille (Nr. 19/1991)
26.–28.9.1991
ca. 10 000
2
Songda (Nr. 18/2004)
3
Bart (Nr. 18/1999)
4
Vicki (Nr. 7/1998)
22.9.1998
1 650
5
Tokage (Nr. 23/2004)
19.–21.10.2004
1 250
6
Chaba (Nr. 16/2004)
30.–31.8.2004
1 100
7
Yancy (Nr. 13/1993)
2.–4.9.1993
1 000
8
Flo (Nr. 19/1990)
17.–20.9.1990
490
9
Pat/Ruby (Nr. 12, 13/1985)
30.8.–1.9.1985
480
10
Kinna (Nr. 17/1991)
14.–15.9.1991
430
6.–8.9.2004
4 700
22.–25.9.1999
3 900
Im Zeitraum 1950–2003 lag die
mittlere jährliche Anzahl von
Landfalls tropischer Wirbelstürme
in Japan bei 2,7. Spitzenwerte von
jeweils 6 Landfalls registrierte
man in den 1990er-Jahren (1990
und 1993). 2004 markiert mit insgesamt 10 tropischen Sturmereignissen einen Rekordwert.
Abb. 2 Jährliche Anzahl von tropischen Wirbelstürmen und Taifunen
mit Landfall in Japan 1950–2004
Anzahl Landfall
12
10
8
6
4
2
0
1950
1955
1960
1965
1970
1975
Jahr
1980
1985
1990
1995
2000
Quellen: Unisys, Japanese Meteorological Agency [JMA]
47
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Taifunsaison im Pazifik – Japan im Fadenkreuz der Wirbelstürme
Abb. 3 Windfeldsimulation Taifun Songda 2004
Anpassungsstrategien der Versicherungswirtschaft
Angesichts der Schadenpotenziale von Sturm- und Unwetterereignissen muss ein mögliches Änderungsrisiko frühzeitig berücksichtigt werden. Die Strategie des Abwartens
führt zunächst zu versicherungstechnischen Verlusten.
Gravierender könnte jedoch eine Veränderung der Schadenverteilungen bei den Großschäden sein. Folge: Die
Ruinwahrscheinlichkeit für die Versicherer steigt. Welche
Handlungsoptionen hat die Assekuranz?
Taifun Songda (27. August–7. September 2004) war mit 4,7 Mrd. US$
(Stand: Februar 2005) versicherten
Schäden der schadenreichste Taifun in Japan 2004.
Windgeschwindkeit in km/h
60–69
70–79
80–89
90–99
100–109
110–119
120–129
130–139
140–149
150–159
160–169
170–189
180–189
190–199
200–209
210–219
220–229
230–239
240–249
250–259
260–269
270–279
280–289
290–299
≥300
Zugbahn Taifun Songda
(Abb. 3), Taifun Vera/
Isewan (Abb. 4)
Abb. 4 Windfeldsimulation Taifun Vera/Isewan 1959
– Kurz- und mittelfristige Maßnahmen:
Dazu zählen die Analyse des Schadenkumuls aus Sturmund Unwetterereignissen mit Simulationsmodellen, die
auch das Änderungsrisiko sowie die finanziellen Reserven für Zahlungsverpflichtungen in Betracht ziehen.
Bei den Deckungszusagen müssen gegebenenfalls
Umfang und Preis der Leistungen angepasst werden.
Franchisen in der Sturmversicherung sind ein Weg, um
das Kumulschadenpotenzial zu reduzieren. Gleichzeitig
kann man so mögliche starke Prämienerhöhungen auf
ein akzeptables Maß begrenzen. Zudem sollten die Rückversicherungs- bzw. Retrozessionsinstrumente überprüft
werden, mit denen der Risikoausgleich optimiert wird.
– Längerfristige Maßnahmen:
Darunter fallen Maßnahmen, die (versicherte) Schäden
aus Sturm- und Unwetterkatastrophen (unter Beibehaltung sinnvoller Deckungszusagen) nachhaltig verringern
sollen. Die Bandbreite reicht von der Einführung bzw.
Umsetzung von Bauvorschriften, um die Sturmschadenanfälligkeit zu mindern, über Verbesserungen im Schadenmanagement der Assekuranz bis hin zur Frage des
klimarelevanten Verhaltens des eigenen Unternehmens.
Fazit
Das Jahr 2004 hat eindrucksvoll bewiesen, mit welchen
Schadendimensionen außergewöhnliche Sturmereignisse
einhergehen können. Die zunehmende Sturmaktivität und
das daraus resultierende Änderungsrisiko spielen für
unternehmenspolitische Entscheidungen der Versicherer,
allen voran für das Underwriting, eine zentrale Rolle –
unabhängig vom betrachteten Zeithorizont.
Dr. Eberhard Faust, Peter Miesen, Ernst Rauch
Taifun Vera/Isewan (22.–27. September 1959).
Aufgrund der höheren Windgeschwindigkeiten
und Wertekonzentrationen im Landfallgebiet
übertreffen die simulierten As-if-Schäden aus
diesem Ereignis die Belastung der Assekuranz
aus Songda um ein Vielfaches. Die damalige
Schadenbilanz aus Vera/Isewan: 5 098 Tote;
834 000 Gebäude mit Sturmschäden; 364 000
Gebäude durch die Sturmflut überschwemmt.
Windfeldsimulationen: Münchener Rück.
48
Mit Windgeschwindigkeiten bis zu 200 km/h
zog Taifun Songda Anfang September 2004
über Japan. Starke Regenfälle und zahlreiche
Erdrutsche verursachten in weiten Teilen des
Landes schwere Gebäude- und Infrastrukturschäden. Songda ist mit versicherten Schäden
von 4,7 Mrd. US$ nach Taifun Mireille (1991)
der zweitteuerste Sturm Japans.
49
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Geokodierte Informationen ermöglichen
größere Schadentransparenz
Effizientes Risiko- und Schadenmanagement setzt eine große Transparenz
beim Underwriting voraus. Geokodierte Informationen eignen sich hierfür
besonders gut. Sie können auch genutzt werden, um wiederkehrende
Schadenmuster zu erkennen und schwierige Versicherungsfälle zu lösen.
Viele Versicherungsexperten können mit dem Begriff
Geokodierung oder Georeferenzierung bisher noch wenig
anfangen. Dennoch ist gerade dieses Verfahren seit langem die Basis für Underwriter, um Risiken identifizieren
sowie bewerten zu können und damit erst versicherbar zu
machen.
im Dezember 1999 – durch die geographische Verbindung
des Windfelds (rote Farbabstufungen) und eines Wohngebäudebestands mit mehreren hunderttausend Einzelrisiken – alle Gebäude identifiziert werden, die Windgeschwindigkeiten von mehr als 80 km/h ausgesetzt waren (gelb
gekennzeichnet).
Im Topics – Jahresrückblick Naturkatastrophen 2002 wurden die Möglichkeiten der Geoinformationstechnologie
für das Underwriting ausführlich beschrieben. Grundlage
für das „Geographical Underwriting“ sind geokodierte
Bestands- bzw. Schadendaten der Erstversicherer, die insbesondere bei der Kumulkontrolle von großer Bedeutung
sind (siehe TOPICS geo – Jahresrückblick Naturkatastrophen 2003). Die Geokodierung, eine Verortung des Risikos,
setzt die Anschrift des Versicherungsnehmers oder den
Ort eines Schadens in geographische Länge- und Breitekoordinaten um. Sie erfolgt auf verschiedenen Genauigkeitsstufen. Bekannt ist die Risikozuordnung nach CRESTAZonen (www.cresta.org), die häufig in der Sachversicherung verwendet wird. Für ein präzises Schadenmanagement reicht sie jedoch oft nicht aus, da kleinräumige oder
räumlich konzentrierte Schäden und Schadenmuster nur
bei maximaler Betrachtungsgenauigkeit identifiziert werden können.
Wenn die Daten aktueller Unwetterereignisse gut sind,
können die immer detaillierteren Datenverknüpfungen
sogar helfen, eine schnelle und präzise Aussage über die
erwartete Schadenhöhe eines Portefeuilles zu machen.
Um die Schadenabwicklung zu optimieren, können zudem
die Schwerpunktgebiete mit den höchsten Schäden dargestellt werden.
Dieselben Informationen kann man auch statistisch weiterverarbeiten und zusammen mit weiteren Angaben – beispielsweise Wetterdaten oder historischen Schäden – für
komplexe Risikoanalysen heranziehen.
Schadenmuster sichtbar machen
Geokodierte Risikoadressen ermöglichen es, für Bestände
und Naturgefahren potenzielle Schadenmuster und -profile
abzuleiten; außerdem können damit Szenarien berechnet
werden. Sie dienen auch dazu, Fragen zu klären, wenn ein
Schadenfall eingetreten ist.
Schadenmuster durch Stürme
Um seine Sturmempfindlichkeit zu bestimmen, kann man
ein gesamtes Versicherungsportefeuille mit den Windfeldinformationen eines Sturmereignisses abgleichen. Im
Beispiel aus Abbildung 1 konnten nach dem Sturm Lothar
50
Schäden durch Blitze
Ähnliches gilt für den Blitz-Informationsdienst (BLIDS) von
Siemens. Er bietet schnell Informationen darüber, wo und
wann Blitzeinschläge auftreten, wie stark sie sind und wie
sich Gewitter entwickeln (Abb. 2). BLIDS (www.blids.de)
nutzt dafür ein Netz von Messstationen in Deutschland,
den Beneluxländern und der Schweiz. Blitzeinschläge werden bis auf 300 m genau lokalisiert. Auf der Grundlage
georeferenzierter Informationen können so vorbeugende
Maßnahmen zur Schadenminderung ergriffen werden. Für
Energieversorgungsunternehmen sind Erkenntnisse über
heraufziehende Gewitterfronten entscheidend für den
Betrieb ihrer Netze sowie dafür, das notwendige Personal
bereitzustellen. Nach einem Blitzschlag kann man die Ursachen von Störungen und Zerstörungen genau erforschen.
Das ist nicht zuletzt auch für die Versicherungswirtschaft
wichtig.
Auch Kriminelle werden geokodiert
Unter den Schlagworten „crime mapping“ oder „crime
analysis“ werden derzeit vor allem in den USA neue Möglichkeiten entwickelt, kriminelle Aktivitäten durch Geokodierung zu analysieren. Dabei nutzt man die Daten von
Tätern, Tatorten und Tatarten (z. B. Einbruchsdelikte, KfzDiebstähle), um räumliche Beziehungen zwischen den
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Geokodierte Informationen ermöglichen größere Schadentransparenz
Sturm Lothar
(km/h)
20
30
40
50
60
70
80
90
100
110
120
130
140
150
Wohngebäude, die Windgeschwindigkeiten < 80 km/h
ausgesetzt waren
Wohngebäude, die Windgeschwindigkeiten > 80 km/h
ausgesetzt waren
Abb. 1: Die Kombination von
Windfelddaten und adressgenauen Policeninformationen
erlaubt es, Schadenmuster zu
erkennen und die zu erwartenden
Schäden rasch abzuschätzen.
Abb. 2: Ausschnitt aus einem
BLIDS-Produkt, das Verlauf und
Übersicht eines Gewitters zeigt.
Die Punkte geben die verschiedenen Blitzstärken an. Derartige
Informationen können der Vorwarnung sowie der Schadenprüfung
dienen (www.blids.de).
Abb. 3: Einbruchsdelikte in München; Ausschnitt aus GLADIS,
dem Crime-Mapping-Werkzeug
der bayrischen Polizei, das seit
1999 in München im Einsatz ist.
51
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Geokodierte Informationen ermöglichen größere Schadentransparenz
Abb. 4: Beispiel für eine PalmEinheit mit integriertem GPSEmpfänger. Kartendaten und
Kundenadressen können nach
großen Katastrophenereignissen
vor Ort abgerufen werden
(www.garmin.de).
Tatorten und den Wohnsitzen von Tatverdächtigen zu
identifizieren oder um zu erkennen, wie organisierte
Banden vorgehen. Serien werden sichtbar und ermöglichen Brennpunktanalysen, die für präventive Strategien
und die Einsatzplanung der Polizei herangezogen werden
können (Abb. 3).
tengestützte Services und Analysen anbieten. Ernteerträge
sollen damit besser vorherzusagen sein; auch Ernteschäden
nach Hagel, Sturm, Dürren und Frost sollen genauer und
rascher abschätzbar sein.
Werden Daten von kriminalitäts- und sicherheitsrelevanten
Objekten (hot spots) wie Banken, Juwelieren oder Konsulaten in die Analyse integriert, verbreitert sich das Anwendungsspektrum noch einmal deutlich. Gleiches gilt, wenn
man soziodemographische und sozioökonomische Daten
einbezieht, die Auskunft über Einwohner, Strukturen und
Verhaltensweisen geben.
Die Transportversicherer, die besonders unter Versicherungsbetrug leiden, dürfen darauf hoffen, dass ihnen
gezielte Ortungsverfahren der GPS-Technologie (Global
Positioning System) und das künftige europäische GalileoSystem zu Hilfe kommen. Durch das „vessel tracking“ können dann die Aufenthaltsorte mobiler Risiken wie Schiffsund Fahrzeugflotten samt ihren wertvollen Ladungen
detailliert verfolgt werden.
In Deutschland setzt man solche Verfahren seit Ende der
1990er-Jahre in verschiedenen Geoinformations- und
Einsatzleitsystemen ein. Bekannt ist, dass sie vom Landeskriminalamt Niedersachen, von der Polizeidirektion in
Stuttgart und von der bayrischen Polizei (Abb. 3) verwendet werden. In Zukunft könnte auch die Assekuranz von
den daraus gewonnenen Erkenntnissen und Erfahrungen
profitieren.
Schadenerkennung und Betrugsabwehr aus dem All
Künftige Unterstützung aus dem All
Auch für die Schadenbearbeitung, insbesondere nach
großen Naturkatastrophen (z. B. Wirbelstürmen und Erdbeben), bietet sich in Zukunft der Einsatz einer kombinierten GPS- und Geodatenapplikation an. So wäre es schon
heute technisch machbar, die Schadenschätzer mit Palmoder PDA(Personal Digital Assistant)-Geräten auszustatten, die neben den wichtigsten geokodierten Kundendaten
auch eine kleine GPS-Einheit zur genauen Ortsanzeige
umfassen (Abb. 4).
Seit immer mehr Satelliten immer präzisere Bilder auf die
Erde funken, kommt Unterstützung zunehmend direkt vom
Himmel – so etwa für einen Versicherer, dem ein Schaden
auf dem Münchner Flughafen gemeldet wurde. Schnee,
der mit Split versetzt war und vom Sturm aufgewirbelt
wurde, soll mehrere Flugzeuge beschädigt haben. Anhand
von Satellitenaufnahmen zum Schadenzeitpunkt ließ sich
diese Ursache jedoch eindeutig ausschließen: Es befand
sich keine Schneedeponie in unmittelbarer Nähe der Flugzeuge.
Das würde es nicht nur erleichtern, Kunden- bzw. Schadenadressen zu finden, sondern könnte auch vor Betrügereien
schützen. Es wäre sichergestellt, dass das Objekt des Versicherungsnehmer begutachtet würde und nicht fälschlicherweise das am schwersten betroffene Objekt der
Straße. Dieses Beispiel wird immer wieder für Katastrophengebiete genannt, in denen sonst keinerlei Orientierung möglich ist.
Hauptprobleme der Beweismittel aus dem All sind derzeit
noch, dass Bewölkung viele Systeme „blind“ macht und
die Umlaufzeiten vieler Satelliten noch keine ständige
Beobachtung erlauben.
Rein technisch sind all diese Dinge heute schon Wirklichkeit. Es liegt an uns, den Versicherern, diejenigen Möglichkeiten auszuschöpfen, die das höchste Potenzial zur Schadenminimierung bergen.
Geokodierung, kombiniert mit speziell aufbereiteten und
hochaktuellen Satellitenbildern, wird auch für Kontrollen
in der Landwirtschaft eingesetzt. Die Firma RapidEye
(www.rapideye.de) will Agrarversicherern ab 2007 satelli-
Andreas Siebert
52
Fazit
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Klimagipfel in Buenos Aires –
Durchbruch für den Klimaschutz?
Im Dezember 2004 fand in Buenos Aires der zehnte Weltklimagipfel COP 10
statt. Trotz des anfänglichen Optimismus kamen die Verhandlungen über
das Kioto-Protokoll nur schleppend voran – obwohl sich die wissenschaftlichen Belege immer mehr verdichten: Der Klimawandel ist Realität!
Erwiesen ist: In einem wärmeren Klima muss mit mehr
Wetterextremen gerechnet werden. Insofern wirkte es wie
inszeniert, als sich – pünktlich zu Beginn des 10. Weltklimagipfels (5.–17. Dezember) – in Chaco, einem Staat im Nordosten Argentiniens, extreme Wolkenbrüche entluden. An
einigen Orten regnete es binnen drei Tagen 800 mm, also
fast die Menge, welche die Statistik für ein ganzes Jahr
vorsieht. Mehr als 6 000 km2 Fläche, darunter wertvolles
Ackerland, waren betroffen. Zeitgleich diskutierten in
Buenos Aires rund 5 000 Teilnehmer aus 189 Ländern darüber, wie man den Klimawandel im globalen Konsens eindämmen kann. Die zentrale Frage lautete: Wie geht es mit
dem Kioto-Prozess weiter?
Es sollte ein optimistischer Klimagipfel werden: Im
November 2004 hatte Russland das Kioto-Protokoll ratifiziert, das deshalb am 16. Februar 2005 endgültig in Kraft
treten konnte. Doch die Aufbruchsstimmung und der
Enthusiasmus der Delegierten wichen schon nach dem
ersten Verhandlungstag einem lähmenden politischen
Tauziehen zwischen der Europäischen Union (EU), den
Entwicklungsländern mit China und Indien sowie den
üblichen schwierigen Verhandlungspartnern USA und
Saudi-Arabien.
Dabei ging es vor allem um die Fragen, ob im nächsten
Jahr konstruktive Verhandlungen über die zweite Verpflichtungsphase nach 2012 beginnen können und wie das KiotoProtokoll in der Praxis umgesetzt werden kann. Während
die EU die „klimapolitische Zukunft” forcieren wollte,
weigerten sich China und Indien, über Verpflichtungen zu
Treibhausgassenkungen nach 2012 auch nur zu verhandeln.
Die aufstrebenden Entwicklungsländer argumentierten,
die Beschränkungen der Kohlendioxidemissionen könnten
ihr Wirtschaftswachstum bremsen.
Die Finanzinitiative der UNEP
(UNEP FI) brachte zum Klimagipfel
das vierte Positionspapier heraus,
diesmal zum Thema CDM. Darin
wird klar gemacht, dass Banken
und Versicherer langfristig bindende Abkommen brauchen, wenn
sie sich voll an der Finanzierung
von Lösungen beteiligen sollen.
Dennoch bekannten sich Indien und China zu erneuerbaren
Energien – eine der wichtigsten Erkenntnisse des Klimagipfels. Die Delegation der USA zeigte dagegen weniger
guten Willen und erschwerte die Gespräche. Trotzdem:
Obwohl die USA das Kioto-Protokoll nicht ratifizierten,
sollen sie weiter im Boot bleiben. So besteht Hoffnung, dass
sich die Vereinigten Staaten eines Tages am Kioto-Prozess
beteiligen werden, vielleicht wenn die US-Wirtschaft Druck
53
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Klimagipfel in Buenos Aires – Durchbruch für den Klimaschutz?
Politische Prozesse greifen –
Der europäische Emissionshandel begann am 1. Januar 2005
Ab sofort dürfen Industrieunternehmen bestimmter
Branchen Kohlendioxid nur noch in dem Umfang in die
Atmosphäre abgeben, der ihnen nach ihren Berechtigungen zusteht. Fehlende Emissionsrechte müssen zugekauft, überzählige können verkauft werden. Damit wird
die Emission klimaschädlicher Treibhausgase erstmals
in betriebswirtschaftliche Kosten übersetzt. Die EU hat
sich im Kioto-Protokoll zum Ziel gesetzt, ihre Treibhausgasemissionen bis 2012 um 8 % zu senken (verglichen
mit 1990). Deutschland will seine Emissionen um 21%
reduzieren.
Die deutschen Ziele für die Branchen, die am Emissionshandel teilnehmen, wurden auf 503 Mio. t bis 2007 und
auf 495 Mio. t bis 2012 festgesetzt (Jahresemission derzeit
ca. 505 Mio. t). Insgesamt beteiligen sich 1 849 Anlagen am
auf die politische Führung ausübt, weil sie neue KiotoMärkte erkennt. Schließlich entstehen durch das KiotoProtokoll auf schnell wachsenden Zukunftsmärkten
Möglichkeiten für neue Produkte, Leistungen und letztendlich auch Arbeitsplätze.
Finanzdienstleister fordern verbindliche Aussagen
für die Zeit nach 2012
Auch wenn die Ergebnisse der offiziellen Verhandlungen
insgesamt eher als dürftig angesehen werden, geschah
hinter den Kulissen einiges. Auf Rahmenveranstaltungen
meldeten sich die Finanzdienstleister (Banken und Versicherer), die in der UNEP-Finanzinitiative (UNEP FI)
zusammengeschlossen sind, zu Wort und vermittelten
die Sicht der Finanzwirtschaft. Die Botschaft an die Politik
war unmissverständlich: Politiker dürfen nicht Regelwerke
aufstellen, ohne die komplexen Vorgänge bei der Umsetzung zu berücksichtigen. Finanzdienstleister spielen eine
wichtige Rolle, vor allem bei den so genannten KiotoMechanismen, also den Instrumenten zur Umsetzung des
Kioto-Protokolls (Emissionshandel, Joint Implementation,
Clean-Development-Mechanismus).
Bestes Beispiel dafür ist der Clean-Development-Mechanismus (CDM), der 1997 in Kioto beschlossen wurde. Dabei
geht es um die umweltfreundliche Zusammenarbeit von
Industrie- und Entwicklungsländern. Will ein Projektträger
beispielsweise eine emissionsarme Windkraftanlage in
einem Entwicklungsland installieren, werden viele Dienstleistungen von Banken und Versicherern benötigt:
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Emissionshandel. Über zwei Drittel davon (1 236) gehören
zur Energiewirtschaft; den übrigen emissionsintensiven
Branchen (z. B. Keramik, Papier, Glas, Kalk, Zement, Eisen/
Stahl) sind 613 Anlagen zuzurechnen.
Auf europäischer Ebene haben zunächst 21 der 25 Mitgliedsstaaten pünktlich mit dem Handel begonnen. Durch
eine Ergänzung der EU-Handelsrichtlinie können auch solche Emissionsberechtigungen in das System einbezogen
werden, die aufgrund anerkannter Klimaschutzprojekte
in Entwicklungs- und Schwellenländern (z. B. Brasilien,
Indien, China) ausgegeben wurden. Dadurch findet Klimaschutz dort statt, wo er zu den geringsten Kosten realisiert
werden kann.
Anschubfinanzierung, Transport-, Montage- (CAR, EAR),
Kredit- und Haftpflichtversicherung sowie die ganz neue
Zertifikateversicherung (Versicherung für die Erwirtschaftung von Emissionszertifikaten). Politik funktioniert nur
nachhaltig, wenn die Rolle der Finanzwirtschaft erkannt
und anerkannt wird. Engagieren sich die Banken nicht, so
werden Anlagen zögerlich oder gar nicht gebaut; sind die
Versicherer nicht eingebunden, können sich Schadenbelastungen, z. B. bei Windkraftanlagen, so summieren,
dass die Wirtschaftlichkeit des Projekts infrage steht. Bei
Rahmenveranstaltungen und Presseterminen erläuterten
die Mitglieder der UNEP-FI-Klimaarbeitsgruppe, wie die
politischen Rahmenbedingungen für Finanzdienstleister
aussehen müssen, damit diese überhaupt CDM-Projekte
durchführen können und wollen. Dabei wurden besonders
die technischen Hürden mit Vertretern aus aller Herren
Länder diskutiert. Es bleibt zu hoffen, dass die Stimme der
Finanzindustrie ausreichend Gehör gefunden hat.
Münchener Rück, Topics Geo 2004
Klimarahmenkonvention – Wie geht es weiter?
Erst nach einer 24-Stunden-Sitzung am letzten Tag der
Konferenz in Buenos Aires einigten sich die Delegierten
auf einen „Buenos-Aires-Handlungsplan“. Im Mai 2005
soll in Bonn zügig weiterverhandelt werden. Gut denkbar,
dass dann wichtige Vereinbarungen getroffen werden,
welche die Klimazukunft nach 2012 maßgeblich beeinflussen.
Und noch etwas ist wichtig, auch wenn man heute kaum
noch darüber spricht: Auf dem Klimagipfel in Buenos Aires
wurden die letzten Formalitäten geklärt, damit das KiotoProtokoll tatsächlich am 16. Februar 2005 in Kraft treten
konnte. In Anlehnung an ein altes chinesisches Sprichwort
gilt auch für den globalen Klimaschutz: Das Kioto-Protokoll
ist zwar nur ein erster, kleiner Schritt, aber jede Reise
beginnt schließlich mit einem Schritt.
Klimagipfel in Buenos Aires – Durchbruch für den Klimaschutz?
– Schließlich liegen jetzt auch neue Untersuchungen
(NATURE Vol. 432, 2004) zum Hitzesommer 2003 in
Europa (vgl. Topics geo 2003) vor, besonders zur Frage
des vom Menschen verursachten Anteils. Ergebnis: Mehr
als die Hälfte des Risikos für einen solchen Hitzesommer
kann dem menschlichen Einfluss zugerechnet werden –
es könnten sogar drei Viertel sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass man sich bei dieser Analyse irrt, liegt bei nur
10 % oder weniger. Im Verlauf der nächsten vier Jahrzehnte könnte die Wahrscheinlichkeit für einen Extremsommer wie 2003 aufgrund der fortschreitenden Klimaerwärmung um das Hundertfache zunehmen. Diese
Untersuchung hat zentrale Bedeutung, denn der menschengemachte Klimatrend kann quantifiziert werden.
Fazit: Die Wahrscheinlichkeit, dass solche Ereignisse
auftreten, hat im Zuge der Klimaerwärmung deutlich
zugenommen.
Dr. Eberhard Faust, Thomas Loster, Claudia Wippich
Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zur Klimaänderung
Die jüngsten Forschungs- und Messergebnisse unterstreichen, dass rasches Handeln auf allen Ebenen dringend
angezeigt ist, um den Klimawandel zu bewältigen.
– 2004 fügt sich ganz oben in die Reihe der wärmsten Jahre
ein: Laut Aufzeichnungen der Weltmeteorologieorganisation (WMO) lag es 0,44 °C über dem Mittelwert der Klimavergleichsperiode (1961–1990: 14 °C). Seit 1861 war es
außerdem das viertwärmste Jahr, nur 1998, 2002 und
2003 wiesen im globalen Vergleich höhere Durchschnittstemperaturen auf. Zeigten sich in der Nordhemisphäre
die 1990er-Jahre als das bisher wärmste Jahrzehnt mit
einer mittleren Abweichung von +0,38 °C gegenüber der
Klimavergleichsperiode, so liegt das Mittel der letzten
fünf Jahre mit +0,58 °C schon wesentlich darüber. Die
Erde erwärmt sich also immer schneller.
– Aufgrund der zahlreichen und intensiven Hurrikane der
Saison 2004 wurden auch die Zusammenhänge zwischen
dem Klimawandel und der Entstehung von Hurrikanen
wissenschaftlich untersucht (siehe Beitrag auf Seite 41).
Neueste US-amerikanische Klimasimulationen von T. R.
Knutson und R. E. Tuleya (Journal of Climate 2004) lassen
für die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts intensivere
Wirbelstürme erwarten (im Mittel um 6 % höhere EinMinuten-Bodenwinde und um 18 % höhere Niederschlagsraten in einem Radius von 100 km um das Zentrum). Im Vergleich zu heute würden die Wirbelstürme
um eine halbe Saffir-Simpson-Kategorie intensiver ausfallen. Die Neigung zu konvektiven Umwälzungen in der
Atmosphäre, welche die Entwicklung von Wirbelstürmen
begünstigt, hat an vielen tropischen Stationen in den letzten Jahrzehnten nachweislich signifikant zugenommen.
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Bildnachweis
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Deckblatt Innenseite: Reuters, Berlin
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