Ablauf - ETC Graz

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Ablauf - ETC Graz
1.)Einleitung:
Die Erfahrungen, die ihr als Jugendliche im Umgang mit Euren Eltern macht, speziell die Art
der elterlichen Erziehung, und vor allem die von den Eltern selbst geäußerten Einstellungen
und Überzeugungen formen die Sichtweisen der Söhne und Töchter mit. Also Eure
Sichtweise.
Ob jetzt die Schule gezielt, über die direkte Instruktion im Fachunterricht, Jugendliche in ihrer
Toleranz oder Intoleranz erreicht, ist eine zumindest offene Frage. Dass Schule auf anderen
Wegen Einfluss nimmt, ist indessen anzunehmen. Wichtig scheint hier nicht zuletzt die
Erfahrung von Demokratie und Toleranz im Miteinander zu sein.
Deswegen sind wir hier, um mit Euch über dieses Thema zu sprechen.
(http://www.familienhandbuch.de/cmain/f_Fachbeitrag/a_Jugendforschung/s_1307.html)
Toleranz steht auf dem Paravent, hinter dem sich Bequemlichkeit, Faulheit und Feigheit
verstecken. Toleranz ist die preiswerte Alternative zum aufrechten Gang, der zwar gepredigt
aber nicht praktiziert wird.
Falls Sie der Meinung sind, dass ich von unserem Thema abgewichen bin: Wir reden über
Toleranz. Nicht über Toleranz gegenüber Minderheiten, die um ihre Rechte kämpfen, sondern
gegenüber vielen kleinen Gegebenheiten, die tagtäglich passieren und unsere Gesellschaft
beeinflussen – oder?
Möchtest du nicht auch von allen so akzeptiert werden, wie du bist? Wahrscheinlich will
das jeder Mensch genau so gerne wie du! In allen Ländern der Erde haben die Menschen den
Wunsch nach Anerkennung und Achtung. Damit das jedoch möglich ist, muss auch jeder
tolerant dem Anderen gegenüber sein.
Ohne Toleranz wäre es nicht möglich, in Frieden miteinander zu leben. Gerade in der
heutigen Zeit, in der so viele verschiedene Kulturen und Religionen zusammenrücken und eng
nebeneinander leben, gewinnt Toleranz zunehmend an Bedeutung. Hier ist jeder einzelne
gefragt, denn Toleranz beginnt bereits in der eigene Familie. Und du weißt, wie schwer es
manchmal sein kann, tolerant gegenüber den Geschwistern, den Eltern oder auch den
Großeltern zu sein. Manchmal ist es sogar schwer, sich selber gegenüber tolerant zu sein!
Wie schwierig ist es dann, Toleranz gegenüber Mitschülerinnen und Mitschülern, Lehrerinnen
und Lehrern oder gar fremden Personen – die vielleicht noch anders aussehen als du - zu
haben?
Was brauche ich, um zu klären, wie tolerant ich bin? – Einleitung in Punkt 2
2.) Fragebogen für Jugendliche: „Wie cool bist du wirklich?“
Für diese Frage haben wir einen kleinen Fragebogen mitgebracht, der erstens zeigt, wie groß
gefächert unser heutiges Thema ist und zweitens euch einmal darauf einstimmen will.
Fragebogen
austeilen,
auswerten
lassen
…..ca
10-15
Minuten.
1
Wie cool bist du wirklich?
Kreuze nur ein Feld je Frage an!
1. Cool ist...
2. Bei einer Klopperei auf dem Schulhof...
A wer die besten Sprüche drauf hat
A gehe ich weg, weil ich nichts damit zu tun habe
B wer sich von anderen nicht ärgern lässt
B versuche ich zu vermitteln
C wer am besten ankommt in der Klasse
C feuere ich meinen Favoriten an
3. Wenn ich von jemand als Hurensohn beschimpft
werde...
4. Von meinen Klassenkameraden werde ich...
A oft bewundert
A ist eine Entschuldigung oder Prügel fällig
B meist akzeptiert
B interessiert mich das nicht
C auch mal gehänselt
C bekommt der eine passende Antwort
5. Das Uncoolste ist...
6. In den letzten 6 Monaten...
A ständig auszurasten
A bin ich öfter mal verprügelt worden
B rumzuheulen vor allen
B hab ich mich zwar geprügelt, aber danach entschuldigt
C überhaupt keine Markenklamotten zu haben
C hab ich mich nicht geprügelt
7. Seinen Freund mit "Na, du Arsch" zu begrüßen...
8. Bei Streit oder Konflikten...
A ist eine Beleidigung
A halte ich mich zurück
B ist witzig und kommt gut an in der Gruppe
B vertrete ich trotzdem meine Interessen
C ist o.k. Ist ja der Freund
C gewinne ich (fast) immer
9. Werden wir bei Blödsinn erwischt, ist mein Kommentar...
10. Daß ich auch mal weine,...
A Wieso ich? Ich stand doch nur dabei
A bekommen meine Freunde mit
B Alle anderen machen auch solche Sachen
B kommt nicht vor
C Ja, war wohl Blödsinn
C bleibt geheim
Übertrage nun deine Kreuze in die Tabelle und zähle zusammen, wie viele Kreuze du in jeder Zeile hast. Bist du
eher Typ I, II oder III?
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
A
C
A
A
C
B
C
C
B
B
I
B
B
C
B
A
C
A
B
C
A
II
C
A
B
C
B
A
B
A
A
C
III
2
Typ I: Du hälst es für cool, mit Sprüchen um dich zu werfen und beurteilst andere eher nach
Äußerlichkeiten. Du kannst dich meist durchsetzen, aber wie? Für Prügeleien hast du gerne
eine Entschuldigung, natürlich in einen coolen Spruch verpackt. Wahrscheinlich kommst du
ganz gut an, aber bist das wirklich du? Trau dich doch mal, dein wahres Gesicht auch zu
zeigen, wenn es mal nicht strahlt. Du kannst es dir doch leisten! Sei ehrlich zu dir. Falls du
mehr
als
6
Kreuze
hier
hast,
wiederhole
den
Test
ehrlich.
Typ II: Cool sein hat für dich was mit cool bleiben zu tun. Du prügelst dich (fast) nie, kannst
aber trotzdem deine Interessen durchsetzen, ohne die Grenzen anderer zu verletzen. Du fällst
nicht auf jeden Spruch rein, sondern guckst, was dahinter steckt. Und wenn du mal Mist
gemacht hast, kannst du wenigstens dazu stehen. Falls du mehr als 6 Kreuze hier hast: Was
machst du mit Frust, Wut und Ärger? Frag mal einen Freund oder eine Freundin?
Typ III: Du rennst gerne den Gruppentrends hinterher, was dich aber nicht unbedingt beliebt
macht. Bei Konflikten ziehst du dich schnell zurück, egal, ob du beleidigt wirst oder ob es um
unterschiedliche Interessen geht. Aber du bist ganz schön ehrlich. Da solltest du ansetzen, und
das, was dir wichtig ist, versuchen, ohne Prügelei durchzusetzen. Bei mehr als 6 Kreuzen: Du
läufst Gefahr, zum Prügelknaben zu werden. Ducken hilft jetzt nicht mehr. Hol dir notfalls
Hilfe, denn Cool sein kann man lernen.
Dieser Coolnesstest wurde freundlicherweise von der Ruhrwerkstatt e.V. in Oberhausen zur
Verfügung
gestellt.
Verfasser
des
Textes
ist
Stefan
Melulis.
Entstanden ist der Test im Rahmen des Projektes Gewalt ans Licht, dass vom Kinder- und
Jugendbereich
der
Ruhrwerkstatt
im
letzten
Jahr
durchgeführt
wurde.
Das Projekt wurde im Dezember 2001 mit dem Initiativenpreis des paritätischen Jugendwerks
ausgezeichnet. Mehr Infos hierzu findet ihr unter www.gewalt-ans-licht.de
3
3.1 Einführende Worte
Unser 21. Jhdt. begann mit der Öffnung von Grenzen, mit Globalisierung und globaler
Migration – dies bleibt nicht ohne Folgen für die Menschen. Ebenso bedeutsam ist der
Begriff der Toleranz auch deswegen, da die Bevölkerungsdichte auf der Welt zunimmt – wir
uns immer mehr mit „den anderen/dem anderen“ auseinandersetzen müssen. Die
Auseinandersetzung mit dem „anderen/fremden“, mit anderen Kulturen, Einstellungen,
Ansichten ist in unserer Zeit eine Notwendigkeit, ohne die wir nicht in einer globalisierten
Gesellschaft leben könnten.
Markantes Datum für den Umgang Europas mit fremden Menschen bildet das Jahr 1492, die
Entdeckung Amerikas. Über die Fremden in Übersee hinaus wurden auch einheimische
Gruppierungen mit dem Fremden identifiziert, so zum Beispiel Juden, Sinti und Roma,
Hexen, Irre, Behinderte, und sogar so große Gruppen wie Arme, Frauen, alte Menschen und
vor allem Kinder.
Fremdheit ist in Politik und Gesellschaft schwer belastet durch Entwertung und Zerstörung
der Fremden. Zwar wurde Fremden in der Geschichte natürlich auch vielfach mit
Gastfreundschaft begegnet – aber: das Etikett „fremd“ wurde historisch und wird
gegenwärtig denen angeheftet, die gedemütigt, ausgebeutet und vernichtet werden. Eine
falsche Logik - „weil der andere anders ist, ist er eigentlich gar kein Mensch, darum darf ich
ihn verletzen und vernichten“ – wurde und wird benutzt um extreme Aggressionen gegen
andere zu legitimieren. Brennpunkte der Auseinandersetzungen zwischen Fremden bilden
aus europäischer Sicht seit zwei Jahrtausenden die Konflikte zwischen den drei
monotheistischen Religionen Judentum, Christentum, Islam.
Der Bedeutung von Toleranz kommt hinsichtlich der Beachtung von Menschenrechten
besondere Bedeutung zu. Auch vor dem Hintergrund der Konflikte in der Weltordnung und
rund um die Diskussion von Terrorismus gewinnt der Begriff Toleranz immer mehr an
Bedeutung.
Heute ist der adäquate Umgang mit Fremden ein zentrales Thema demokratischer Ethik.
Diese Ethik impliziert eine Entscheidung gegen alle Spielarten von Menschenverachtung,
Missachtung, Entwürdigung, Erniedrigung, Intoleranz und Ausbeutung.
4
3.2 Begriffsdefinitionen
Frage: Was versteht ihr unter dem Begriff Toleranz – wie würdet ihr Toleranz definieren?
Kärtchen austeilen -> Diskussion
1. Definition: Wenn man nach einer kurzen und bündigen Definition nach Toleranz sucht ist
diese nur im technischen Bereich anzutreffen: Hier bedeutet Toleranz
„die zulässige Abweichung von vorgegebenen Sollwerten“ (vgl. Falkner 2005, S. 1ff).
Frage: Kann man diese Definition auch auf den zwischenmenschlichen Bereich übertragen?
Nein, da kein objektiver Sollwert für alle Menschen gelten kann. Normen werden von
Menschen „konstruiert“ und festgelegt. Aber selbst Normen gelten nicht überall – sie sind
kulturabhängig. Denn: Niemand besitzt in der Demokratie bei normativen Fragen den
Anspruch auf eine „absolute Wahrheit“ (eines der drei allgemein verpflichtenden
Grundelemente der politischen Toleranz -> demokratische Rechtsordnung).
Zudem stellt sich die Frage welche Abweichung von einem bestehenden Sollwert erlaubt
sein soll bzw. wann die Grenzen der Funktionsfähigkeit eines Gesellschaftssystems erreicht
sind.
2. Definition: Im ersten Brockhaus aus dem Jahre 1841 wurde Toleranz folgendermaßen
definiert:
„Toleranz nennt man die stillschweigende (!) Gestattung der Übung einer Religion, die in
einem Lande gesetzlich nicht anerkannt ist.“
Toleranz beruhte danach auf der Anerkennung des „allgemeinmenschlichen Rechts auf
Religions- und Gewissensfreiheit, und im Christentum findet sie durch die Liebe, womit
dasselbe gegen jeden Menschen….Achtung und Wohlwollen gebietet, die vollste Geltung“.
Religion erscheint in den säkularisierten europäischen Gesellschaften vielen als eine
Kategorie, welche schwindet.
Wie wir aber anhand der „Kruzifix- und Kopftuch Diskussionen“ entnehmen können ist das
doch nicht so. Arnold Gehlen hat schon vor 30 Jahren darauf hingewiesen, dass die Religion
auch in der modernen Welt eine unverändert große, ja wachsende Bedeutung habe,
insbesondere dort, wo sie neue kampfbereite Fronten schafft.
3. Definition: Die folgende Definition stammt von Francois Voltaire (1694-1778):
5
„Toleranz ist die notwendige Folge der Einsicht, dass wir fehlbare Menschen sind. Irren ist
menschlich und wir alle machen dauernd Fehler. So lasst uns denn einander unsere
Torheiten verzeihen! Das ist das Fundament des Naturrechts.
In der Gegenwart trifft man auf eine verwirrende Vielzahl von Auffassungen, was Toleranz
sei:
wie beispielsweise
- ein Ausdruck wechselseitigen Respekts unter Menschen, die sich bei allen Unterschieden in
relevanten Hinsichten als Gleiche achten
- ein Gebot der Nächstenliebe
- eine Notwendigkeit angesichts der Tatsache, dass Überzeugungen nicht erzwingbar sind
und die Gewissensfreiheit nicht einzuschränken ist
- eine notwendige Bedingung für den Wettstreit von Ideen und die Durchsetzung der
Wahrheit
- eine herablassende Geste von Individuen, Gruppen oder Autoritäten, die andere dulden,
welche von ihnen nicht geachtet, aber auch nicht als gefährlich angesehen werden
- eine repressive soziale Praxis, die zur Neutralisierung von Differenzen und der
Beherrschung von Minderheiten dient (vgl. Falkner 2005, S. 2ff)
Aus dieser kurzen Aufzählung lässt sich schon erkennen, dass der Begriff Toleranz sowohl
positiv als auch negativ besetzt sein kann:
Positiv, wenn Toleranz als Wertschätzung und Respekt für den Anderen/die Andere
verstanden werden kann.
Negativ, wenn sie lediglich als Ertragen einer nicht gleichwertigen Minderheit aufgefasst
wird.
6
4.) Angst vor dem Fremden – Wilden
Dieses Kapitel erfolgt in Form eines Rollentextes. Wobei hier zwei Sprecher/innen vorne
sitzen und die dritte, als „Stimme aus dem Hintergrund“ weiter hinten.Diskussion bitte erst
nach dem Text.
Textvorlage:
-
Frau oder Herr Sascha (kann aus vielen Ländern der Welt kommen, definiert eines)
-
Die Frau von der Caritas
-
Die Stimme aus dem Hintergrund
7
Frau/Herr Sascha
Ich habe am 29.01.2005 mein Heimatland … verlassen um nicht verfolgt zu werden.
Frau von der Caritas:
Er ist geflohen, da er in seinem Heimatland keine Zukunft mehr sah, aber bei uns fühlt er sich
auch ausgegrenzt. Bis jetzt hat ihn noch niemand angegriffen, aber einige seiner Freunde
haben von solchen Attacken oder ähnlichem berichtet.
Frau/Herr Sascha
Das Leben im Asylantenheim ist nicht fein. Wir leben in einem Zimmer mit 5-8 Personen und
sollen dafür um die 170 Euro zahlen. Klo gibt es am Gang. Ich möchte Deutsch lernen, darf
aber keinen Unterricht besuchen, erst wenn mein Antrag um Asyl durch ist. Ich darf nicht
arbeiten und meine Anwältin mag mich nicht. - Ich nehme an, weil ich nicht von da bin.
Ich würde gerne nach …. zurückkehren, zu meiner Familie. Für euch bin ich doch nur eine
Nummer, die in ein Boot will, dass voll ist.
Die Stimme aus dem Hintergrund:
Wo kommt die Feindseligkeit wohl her??
Frau/Herr Sascha
Ich bin fremd für euch, das weiß ich. Aber ich weiß auch, dass man vor dem Fremden Angst
hat und deshalb Abstand nimmt.
Hier sollten wir gemeinsam etwas tun.
Frau von der Caritas:
Wir können in fremden Gesichtern nicht so gut lesen, wie bei unseren. Es hat auch damit zu
tun, dass jede Kultur auch ihre Umgangsformen hat, wie man Mimik und Gestik ausdrückt.
Bei „Fremden“ Gesichtern sind wir einfach unsicherer. Das muss man wissen um damit
umgehen zu lernen.
Hier müssen wir aufpassen. Nur weil wir unterschiedlich sind, sind wir nicht von der „Natur“
her unterschiedlich. Wir sind nur unterschiedlich aufgewachsen.
Die Stimme aus dem Hintergrund:
Gibt es nicht überall auf der Welt ethnische Feindseligkeiten. Sie wächst aber nicht mir der
Zahl der Zuwanderer. Hier gibt es keinen Grenzwert. Sie ist einfach da. Warum?
Frau von der Caritas:
Wenn jetzt nicht die Zahl der Fremden dafür zuständig ist, woher kommen dann die
Anfeindungen. Heitmeyer hat in Studien herausgefunden, dass die fremdenfeindliche
Einstellung in Deutschland zugenommen hat. Warum?
Frau/Herr Sascha
Wenn wir Angst haben und uns bedroht fühlen, sind wir anfällig dafür, dass wir uns andere
suchen, auf die wir herabschauen können.
Die Frau von der Caritas:
8
Ja und am besten eignen sich Gruppen, die als solche klar erkennbar sind. Schau auf die
Obdachlosen, die Schwulen, die Migranten.
Aber damit sie für uns fremd werden, schreiben wir ihnen Merkmale zu. Dann werden sie für
uns wirklich minderwertig und fremdartig sind.
Als Beispiel hört man in Graz auch in der Straßenbahn: „Die Jugos stinken ja alle“.
Die Stimme aus dem Hintergrund:
Die Bezeichnung „Mulatte“ kommt vom spanischen Namen für das Maultier.
Frau/Herr Sascha
Schon die alten Gelehrten unserer Zeit haben sich im 18. Jahrhundert sehr darum bemüht, die
Menschen in Klassen einzuteilen. Das ist auch mit dem Kapitel der „dunklen Aufklärung“
gemeint.
Bei der Rassenfrage endete die Gleichheit. Viel dazu beigetragen hat auch Karl Linee´, der
das Ordnungssystem für Pflanzen erstellte.
Dann hat er zwischen Europäern, Amerikanern, Asiaten und Afrikanern. Er meinte auch, dass
mit dieser Reihenfolge Geist und Moral abnehmen würden.
Die Frau von der Caritas.
Auch die großen Philosophen Kant und Hume haben sich gegen „andersartige“ gestellt.
Aber Rousseau und später auch Hummbold waren schon damals Sprecher für diejenigen, die
sich hier nicht wehren konnten.
Stimme aus dem Hintergrund:
Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts dauerte es, bis die Wissenschaft feststellen konnte, dass
es keinen „Natürlichen“ Unterschied zwischen uns Menschen gibt.
Literatur:
 Christian Delacampagne: Die Geschichte des Rassismus. Düsseldorf 2005.
 Wilhelm Heitmeyer: Deutsche Zustände. Frankfurt 2002-2006 .
9
5.) Wie entsteht Intoleranz?
Der Intoleranz gehen bekanntlich Vorurteile voraus. Sie sind Urteile über Personen und
Personengruppen, die falsch, voreilig, verallgemeinernd und klischeehaft sind. Sie werden
nicht an der Realität überprüft und sind daher meist extrem negativ konnotiert. Da sie durch
neue Informationen nur schwer oder kaum zu modifizieren sind, zeichnen sie sich somit
durch eine bemerkenswerte Stabilität aus und gelten als stark änderungsresistent.
„Es ist einfacher, ein Atom zu zertrümmern, als Vorurteile
abzubauen!“ (Albert Einstein)
Vorurteile sind „selektive Filter“. Walter Lippmann sagt: „Wir definieren, ehe wir sehen – wir
sehen nicht, ehe wir definieren.“ Wir greifen also aus der Vielfalt unserer Beobachtungen das
heraus, was unseren Vormeinungen entspricht und was wir sehen wollen.
Aufgrund unserer eigenen Lebenserfahrung, erworben und geformt durch Familie, Freunde,
Schule, Beruf und Gesellschaft – unser soziales Umfeld – haben wir ein „genaues“ (oft von
Vorurteilen geprägtes) Bild (=Stereotypen) von einem Menschen oder einer Gruppe
entwickelt, das stark vereinfachten Klischeevorstellungen entspricht. Begegnen wir anderen
Mitgliedern dieser Gruppe, die unseren Klischeevorstellungen nahe kommen, werden diese
dann automatisch eingeordnet: Sie sind dann eben so, wie wir sie sehen wollen! Wir
verhalten uns dementsprechend, finden sie sympathisch oder lehnen sie ab. Dieses Werten
aufgrund des ersten Eindrucks gehört zum menschlichen Zusammensein. Es hat für uns eine
Ordnungsfunktion, die uns hilft, uns in unserer vielfältigen Umwelt zurechtzufinden.
Vorurteile sind nicht in jedem Land gleich: In den USA gelten z. B. die Chinesen als
abergläubisch, hinterlistig, konservativ, dumm und betrügerisch; bei den Engländern
dagegen als fleißig, höflich, familientreu und intelligent. Über die Italiener scheint es
dagegen in beiden Ländern Übereinstimmung zu geben: Die Italiener „sind“: faul,
künstlerisch begabt, musikalisch, fromm, redselig, aufbrausend, impulsiv, rachsüchtig,
unzuverlässig, schmutzig und zänkisch. Wenn man
aber einmal einen Italiener findet, der nicht diese Eigenschaften besitzt, sagen wir: „Er ist
gar kein richtiger Italiener“ oder: „Er ist eine Ausnahme“ oder: „Der ist ganz anders als ...!“
Wie entstehen Vorurteile?
Zahlreiche Untersuchungen haben ergeben, dass es bis etwa ins vierte Lebensjahr, und in
einer toleranten Umgebung auch noch viel später, bei Kindern keine Rassenvorurteile gibt.
Wolfgang Metzger (ehem. Direktor des Psychologischen Institutes Münster i. W.) berichtet
aus seiner eigenen Kindheit:
10
„In den engen Gassen alter süddeutscher Kleinstädte lebten vor dem Ersten Weltkrieg, ohne
dass dies auffiel, zwischen den deutschen auch jüdische Familien. Wir Kinder wussten, dass
unsere Spielgefährten zum Teil Juden waren. Wir interessierten uns sehr für ihre eigenartigen
Gottesdienste. Wir gingen vor Ostern mit ihnen nach Hause, um dort die köstlichen Mazzes
zu essen; und sie kamen zu uns, um „etwas vom toten Schwein“, das heisst, ein Schinkenbrot
zu bekommen. Jedenfalls fanden wir es aufregend, aber selbstverständlich, dass es, zwischen
die anderen zerstreut, auch Menschen mit abweichenden Lebensformen gib t. Auf den
Gedanken, sie abzulehnen, kamen wir nicht.“
Wie die Ergebnisse eingehender Untersuchungen zeigen, hat im Allgemeinen das fünf bis
sechs – jährige Kind die etwa bestehenden sozialen Vorurteile seiner erwachsenen
Umgebung schon übernommen. Man kann nach allem also nicht von einer davon sprechen,
dass es eine Anfälligkeit für Vorurteile gibt, sondern eine Anfälligkeit für Vorurteile von
Respektspersonen.
Frage: Was glauben Sie, könnten die Ursachen dafür sein, dass Menschen vorurteilsanfällig
sind?
Hier kann man, nach Metzger, folgende Unterscheidungen vornehmen:
- Die Leichtgläubigkeit und Kritiklosigkeit, besonders natürlich gegenüber Respektspersonen
- Das Angleichungsbedürfnis
- Der beschränkte Horizont und das Bedürfnis nach Einfachheit (bzw. eine Beunruhigung
durch allzu große Komplexität des Weltbildes)
- Das Bedürfnis nach Selbsterhöhung und Selbstrechtfertigung, woraus unter Umständen das
Bedürfnis nach Sündenböcken hervorgeht
- Die Bevorzugung fragwürdiger Quellen (populärwissenschaftliches -> siehe G-Unterschiede)
- Die Bequemlichkeit.
Diese Liste kann natürlich noch erweitert werden.
Ein Modell der Übernahme von Vorurteilen stammt von Allport: Er bezeichnet diesen
Prozess als dreistufigen Lernprozess.
In der frühen Kindheit (3-7Jahre) übernehmen Kinder kategoriale Differenzierungen
(Sprachmuster wie Gastarbeiter, Zigeuner...) von ihren Mitmenschen, können die Bedeutung
dieses stereotypen Wissens jedoch kaum richtig einschätzen, d.h. sprachliche Bezeichnungen
weder sich selbst noch fremden Personen zuordnen.
In der späten Kindheit (7-12) werden die mit den Sprachkategorien zum Ausdruck
gebrachten positiven bzw. negativen Inhalte (Eigenschaften) nicht nur bewusst sondern auch
gelebt, weil zwischen Eigen- und Fremdgruppe unterschieden werden kann.
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Für die Jugendzeit (12-19) und die darauffolgende Adoleszenz (-30) gilt: der Mensch wird
sich des Widerspruchs zwischen dem ‚Anspruch zum Handeln und der Wirklichkeit im
Handeln
bewusst. Sein Urteil gegenüber anderen Gruppen wird offener, bewusster und
differenzierter.
Verschärft ausgedrückt könnte man sagen, dass Vorurteile auf einem Defekt in der
Entwicklung in der Persönlichkeit beruhen.
Allport (Psychologe) weist ebenso darauf hin, dass bei jenen Personen, die widerstandslos
mit den Wölfen heulen, auch viele Vorurteile zu finden sind, einfach, weil es die Vorurteile
seiner Gruppe sind – Vorurteile, die ihm also gar nichts besonderes bedeuten und
einbringen, aus denen er keine Befriedigung zieht, außer die, mit seiner Umgebung einer
Meinung zu sein.
Die Allport-Skala ist eine von ihm in seinem Werk "Die Natur des Vorurteils" 1954
begründete Skala zur Erfassung von Vorurteilen in einer Gesellschaft in einer Unterscheidung
der Diskriminierung nach Stufen.
1. Verleumdung: Die meisten Menschen mit Vorurteilen reden auch darüber.
Gleichgesinnten und gelegentlich auch Fremden gegenüber lassen sie ihren feindseligen
Gefühlen freien Lauf.
2. Vermeidung: Wenn das Vorurteil bei einem stärker wird, wird er die Berührung mit
Mitgliedern der abgelehnten Gruppe vermeiden, sogar wenn er dafür beachtliche
Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen muss.
3. Diskriminierung: Der Voreingenommene möchte alle Mitglieder der abgelehnten Gruppe
von bestimmten Berufen, von bestimmten Wohngegenden, von politischen Rechten,
Erziehungs- und Erholungsmöglichkeiten und anderen sozialen Einrichtungen fernhalten.
Rassentrennung ist die institutionalisierte Form der Rassendiskriminierung.
4. Körperliche Gewaltanwendung: Unter der Bedingung von gesteigerter Emotionalität führt
das Vorurteil zu verschiedenen Arten von Gewaltanwendung. Grabsteine auf jüdischen
Friedhöfen werden geschändet. Die italienische Gang aus dem Nordviertel liegt auf der
Lauer, um die irische Gang aus dem Südviertel zu überfallen.
5. Vernichtung: Lynchjustiz, Pogrome, Massenmorde und das Hitler-Programm des
Völkermordes kennzeichnen den höchsten Grad von Gewalt, durch den sich das Vorurteil
ausdrückt.
Nach Metzger weist eine Reihe von Befunden darauf hin, dass ein beschränkter Horizont die
Anfälligkeit für Vorurteile erhöht.
Die Vorurteils-Anfälligkeit sinkt, mindestens statistisch, mit zunehmenden Bildungsgrad
(höhere und Hochschule), mit dem beruflichen Erfolg, bei Soldaten mit dem Dienstgrad,
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außerdem allgemein mit der Menge der unverbindlichen, gleichberechtigten Begegnungen
mit Angehörigen der benachteiligten Gruppe (aber nicht von solchen in bestimmten starren
Funktionen).
Crutschfield fand heraus, dass es gerade selbstunsichere Personen sind, die in einer Gruppe
die Rolle jener Person übernehmen, welche die Gruppennorm verteidigen, um dadurch
zusätzlichen Halt und Selbsterhöhung zu gewinnen.
Starre Vorurteile sind niemals nützlich und wünschenswert – gleich worauf sie sich beziehen.
Sie können als abwertende und feindselige soziale Vorurteile Unmenschlichkeiten zur Folge
haben.
Niemand kann Vorurteilen ganz entrinnen, weder eigenen Vorurteilen noch den Vorurteilen
anderer. Aber nicht alle Bedingungen unter denen sie entstehen sind unserem Eingriff
entzogen.
Pause: ¼ Std.
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6.) Gruppenarbeit: „Du Jugo du“
Wie mache ich Toleranz spürbar?:
Die Gruppenarbeit besteht darin, die Toleranz für uns begrifflich zu machen. Es wird
versucht, Negierungen der Toleranz gegenüber anderen sichtbar zu machen.
Dadurch kann diese erlebbar gemacht werden, indem sie in einer praktischen Übung und
„Am eigenen Leib“ erfahrbar wird.
Die Übung geht folgendermaßen – alle sitzen im Sesselkreis
1.) Einleitende Worte
Erst mal möchten wir euch hier keine Anleitung geben, wie wir vorgehen möchten. Da
möchten wir euch bitten, euch einzulassen.
Wenn wir vorweg schon sagen, was wir vorhaben, würde es die Übung erschweren.
Wir möchten mit Euch versuchen sichtbar zu machen, wo es bei und Toleranz gibt und wo
die Schwellen dieser überschritten werden.
Für diese Übung gibt es vorher keine Übersicht, da sollt Ihr Euch einlassen können und
mit mir ein Stück weit in unsere Gesellschaft schauen.
- Es wird nun ein Flipchart hingestellt. In der Gruppe wird nun versucht, Sachen zu
finden, wo wir tolerant sind. Diese werden auf das Flipchart geschrieben.
- Danach gibt es eine kurze Denkpause und jede/jeder kann für sich die Seite reflektieren
- Nun wird versucht, die Sachen zu finden, wo wir nicht tolerant sind. Hierfür werden
kurze Sätze aufgeschrieben, die diese Sequenz beschreibt. Z.b. „du Jugo du“.
Aus diesen wird der zurzeit zutreffendste Satz gewählt.
- aus dem Sesselkreis setzt sich nun eine/einer in die Mitte und jede/jeder aus der runde
sagt zu ihr/ihm den Satz, den alle ausgearbeitet haben. Z.b. alle sagen: „du Jugo du“
- so kann diejenige/derjenige in der Mitte am „eigenen Leib“ erfahren, wie sich der Satz
anfühlt, mit dem man ausgegrenzt wird.
- Wichtig: Nachdem die Runde fertig ist, reflektiert zuerst diejenige/derjenige aus der
Mitte, wie es ihr/ihm dabei gegangen ist. Dazu gibt es anschließend eine Hilfestellung
von Phase 1-8.
- danch kommt die/der Nächste in die Mitte usw.
- Wenn diese Übung fertig ist, sollen bitte alle aufstehen und sich die Hände schütteln.
- Danach wird in der Gruppe reflektiert, wie es mir dabei gegangen ist und
- wo kann ich ansetzen, damit dieser Satz vielleicht in zehn Jahren nicht mehr zu hören ist.
2.) Hilfestellung für die Reflexion
1.Phase:
Darstellung eines Gruppenmitglieds:
Ein Gruppenmitglied stellt ihre/seine Perspektive dar. Wie wars aus ihre/seiner Sicht
beschimpft zu werden.
(Subjektiver Blickwinkel, spontan und assoziativ). Die anderen Gruppenmitglieder hören
zu,
beobachten, registrieren eigene Reaktionen, Gedanken und Gefühle.
2. Phase:
Rückmeldung aus der Gruppe:
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Wie wirkte der Satz auf die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer (Erweiterung des
Blickwinkels durch die "Brille" der anderen)? Die Eindrücke und Sichtweisen werden
kurz
geschildert; es gibt keine Bewertungen und Diskussionen darüber.
3. Phase:
Mitteilung äußerer Wahrnehmungen und Beobachtungen:
Was fiel den anderen während des Berichtens auf (Beschreibung äußerer Umstände, z. B.
Erzählweise, Stimme, Gestik)? Gab es schon vom äußeren Eindruck her Phasen größerer
Stimmigkeit mit emotional aufgeladenen Momente oder Unstimmigkeiten zwischen
Inhalt und Symbolisierung (eigener Ärger wird mit einem Lachen kommentiert).
4. Phase:
Mitteilung innerer Wahrnehmungen:
Wie haben die anderen die Darstellung selbst erlebt (Beschreibung der eigenen "Bilder"
und
Phantasien)? Die anderen Gruppenmitglieder berichten, wie sie den Fall erlebt haben, wie
sie
selbst innerlich beteiligt sind.
5. Phase:
Rückmeldung des berichtenden Gruppenmitglieds:
Wie haben die äußeren und inneren Wahrnehmungen auf die berichtende Person gewirkt
(Zustimmung, Ablehnung, Bejahung von Teilaspekten, Auslösung von bestimmten
Gefühlen)?
Die Person, die den Fall eingebracht hat, äußert sich zu den Mitteilungen aus der Gruppe.
6. Phase:
Durcharbeiten des Satzes:
Was kann konkret getan werden (Vertiefung von Einzelaspekten, Zusammenhänge mit der
eigenen Person, institutionelle, gesellschaftliche und politische Zusammenhänge)? Die
Gruppenmitglieder geben Hilfestellungen zu einer vertieften Selbstexploration, erarbeiten
aber
auch gemeinsam mit dem Falleinbringenden, welche Möglichkeiten er zur Bewältigung
der
Probleme sieht und gehen möchte.
7. Phase:
Klärung und Einübung (fakultativ):
Was kann in der Gruppe getan werden, um das Problem als "vorweggenommene
Handlung"
zu lösen
8. Phase:
Abschluss:
Wie hilfreich hat das berichtende Gruppenmitglied die Arbeit in der Gruppe erlebt, was
möchte es noch mitteilen? Abschließend erfolgt ein sog. "Blitzlicht"
Pause: ¼ Std.
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7.) Außenseiter und die Handhabe von Normen
Wie „entstehen“ Außenseiter?
Wenn es darum geht tolerant zu sein, bedeutet dies auch die Normen und Werte anderer zu
tolerieren. Wie heute schon erwähnt:
Niemand besitzt in der Demokratie bei normativen Fragen
den Anspruch auf eine „absolute Wahrheit“
(eines der drei allgemein verpflichtenden Grundelemente der politischen Toleranz ->
demokratische Rechtsordnung).
Normen sind konstruiert und von Menschen erdacht/erprobt – sie erweisen sich als nützlich
im gesellschaftlichen Zusammenleben, sie geben uns Orientierung und Struktur.
Wir verwenden sie aber auch, um andere auszuschließen und unsere Intoleranz zu
rechtfertigen – sie zu begründen. Phänomene, wie Aggression gegen Menschen, die nicht
dem Durchschnitt entsprechen, oder deren Ausgrenzung werden damit begründet, dass sie
ja nicht der Norm entsprechen würden.
Ich möchte diese Thematik ein wenig ausführen und zeigen, wie unterschiedlich die
Handhabe von Normen und deren Ausführungen sein können.
Dazu habe ich die Ausführungen von Howard S. Becker (einen Soziologen) über den Begriff
des „Außenseiters/der Außenseiterin“ herangezogen und seine Ergebnisse, die erklären, wie
jemand zum Außenseiter „abgestempelt“ wird, wie Handlungen als abweichende definiert
werden.
(Howard S. Becker) Alle gesellschaftlichen Gruppen stellen Verhaltensregeln auf und
versuchen sie durchzusetzen. Dabei werden manche Verhaltensweisen/Handlungen als
falsch – andere als richtig bezeichnet. Ein Mensch, der eine Regel verletzt – also nicht der
Norm entspricht – gilt als Außenseiter. Er wird als eine besondere Art von Mensch
betrachtet – als jemand, der keine Gewähr dafür bietet, nach jenen Regeln zu leben, auf die
sich die Gruppe geeinigt hat.
Doch der Mensch, der so als Außenseiter abgestempelt wird, kann darüber durchaus anderer
Ansicht sein. Er könnte die Regel, nach der er verurteilt wird, nicht akzeptieren und den
Menschen, die über ihn urteilen Kompetenzen und Berechtigung absprechen: Der
Regelverletzer kann seine Richter als Außenseiter empfinden.
Regeln müssen nicht immer anhand eines Gesetzes festgemacht werden – sie können auch
die Folge der Tradition oder das Ergebnis eines Konsens sein.
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Viele Regeln werden nicht durchgesetzt – sie sind zwar festgeschrieben, werden aber nicht
durchgeführt (puritanische Moralgesetze).
Andere informelle Regeln verlieren aufgrund mangelnder Durchsetzung an Bedeutung.
Es ist leicht zu beobachten, dass verschiedene Gruppen verschiedene Dinge als abweichend
beurteilen.
Die simpelste Auffassung von abweichendem Verhalten ist ihrem Wesen nach statistisch: Sie
definiert alles als abweichend, was sich zu weit vom Durchschnitt entfernt. So wird alles, was
sich vom Gewöhnlichen unterscheidet als Abweichung bezeichnet.
Unter diesem Aspekt ist es abweichend linkshändig oder rothaarig zu sein, weil die meisten
Menschen rechtshändig und braunhaarig sind.
So gesehen, erscheint das statistische Verfahren einspurig und trivial. Aber genau so
handhaben wir, meiner Meinung nach, den Umgang mit dem Fremden. Das Fremde
entspricht nicht dem Mittelwert, also ist es abweichend.
Was haben nun Menschen gemeinsam, deren Verhalten als abweichend bezeichnet wird?
Zumindest die gleiche Bezeichnung und die Erfahrung als Außenseiter abgestempelt zu sein.
Howard S. Becker betrachtet abweichendes Verhalten als Produkt einer Transaktion, die
zwischen einer gesellschaftlichen Gruppe und einer von dieser Gruppe als Regelverletzer
angesehenen Einzelperson stattfindet. Er beschäftigte sich mit dem Prozess, der dazu führt,
dass sie für Außenseiter gehalten werden und den Reaktionen auf dieses Urteil.
Malinowski hat schon vor vielen Jahren bei seinem Studium der Trobriand-Inseln die
Brauchbarkeit dieser Auffassung für das Verständnis der Natur abweichenden Verhaltens
entdeckt.
Textpassage:
„Eines Tages sagte mir ein Ausbruch von lautem Wehgeschrei und allgemeiner Erschütterung
im Dorfe, dass sich irgendwo in der Nachbarschaft ein Todesfall ereignet haben müsse. Ich
erfuhr, dass Kima’i, ein junger Bursche von ungefähr 16 Jahren, den ich selber kannte, von
einer Kokospalme gefallen sei und dabei den Tod erlitten habe… Ich erfuhr, dass durch ein
mysteriöses Zusammentreffen ein anderer junger Bursche schwer verwundet worden war.
Und bei den Begräbnisfeierlichkeiten herrschte eine offensichtliche Erregung, eine Stimmung
der Feindschaft zwischen dem Dorf, in welchem der Bursche gestorben war, und
demjenigen, in dem er zu Grabe getragen wurde.
Erst viel später kam ich in die Lage, die wahre Bedeutung dieser Ereignisse aufzuklären. Der
Bursche hatte Selbstmord begangen. Die Wahrheit war die, dass er die Gesetze der
Exogamie übertreten hatte. Die Partnerin in diesem Verbrechen war seine Base
mütterlicherseits, die Tochter der Schwester seiner Mutter. Dies war allgemein bekannt und
wurde missbilligt, aber man unternahm nichts - bis der verlassene Liebhaber des Mädchens,
der sie hatte heiraten wollen und der sich persönlich schwer verletzt fühlte, die Initiative
ergriff. Erst drohte er, die schwarze Magie gegen den schuldigen Burschen anzuwenden,
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aber das hatte keine Wirkung. Eines Abends beschimpfte er den Verbrecher vor allem Volk,
indem er ihn in Gegenwart des ganzen Dorfes des Inzests beschuldigte und ihm einige
Ausdrücke zuschrie, die für einen Eingeborenen untragbar sind.
Daher gab es nur mehr ein Mittel für den unglücklichen Jungen, nur einen einzigen Ausweg:
Am nächsten Morgen zog er sein Festkleid an, schmückte sich, erkletterte eine Kokospalme,
versammelte die Gemeinde, hielt inmitten der Palmblätter eine Ansprache an die
Versammelten und nahm von ihnen Abschied. Er erklärte die Gründe für seine verzweifelte
Tat und erhob eine verschleierte Anklage gegen den Mann, der ihn in den Tod getrieben und
an dem ihn zu rächen die Pflicht seiner Klan-Leute war. Dann wehklagte er laut, wie es der
Brauch erfordert, sprang von der Palme etwa 60 Fuß tief hinunter und war augenblicklich
tot. Darauf folgte ein Kampf im Dorf, in welchem der Rivale verwundet wurde, und der Streit
wiederholte sich während der Begräbnisfeier…
Wenn man die Verhältnisse unter den Trobriandern erforscht, so ergibt sich…, dass die
eingeborenen den Gedanken, die Regeln der Exogamie zu übertreten, verabscheuen und
dass sie glauben, dass Unheil, Krankheit und sogar der Tod die Folgen eines Klan-Inzests sein
können. Das ist die Idee des Eingeborenenrechts, das Ideal. Und in moralischen Dingen ist es
leicht und angenehm, einem Ideal strikte Folge zu leisten, wenn es gilt, das Verhalten der
anderen zu beurteilen oder seine Meinung über ein grundsätzliches Verhalten zu äußern.
Wenn es aber auf die Anwendung der Moral und der Ideale im praktischen Leben ankommt,
so nehmen die Dinge allerdings ein anderes Aussehen an. Im beschriebenen Falle war es
offensichtlich, dass die Tatsachen mit den Idealen des Verhaltens nicht im Einklang standen.
Die öffentliche Meinung war durch die Kenntnis von dem Verbrechen weder besonders
verletzt, noch reagierte sie direkt darauf – sie musste durch eine „offizielle“
Bekanntmachung des Verbrechens und durch die Beschimpfung des Verbrechers von Seiten
der Gegenpartei mobilisiert werden.
Malinowski begab sich noch tiefer in das Problem und fand heraus, dass der Bruch der
Exogamie (was den Verkehr – nicht die Heirat betrifft) in keiner Hinsicht etwa ein seltenes
Vorkommnis ist und dass die öffentliche Meinung wohl ein Auge zudrückt, aber entschieden
heuchlerisch ist. Wenn das Verhältnis mit einer gewissen Diskretion unterhalten wird, und
wenn niemand ein besonderes Aufheben macht, so wird die „öffentliche Meinung“ wohl im
stillen kritisieren, aber keine strenge Bestrafung verlangen; wenn aber, im Gegenteil Skandal
ausbricht, dann stürzt sich alles auf das schuldige Paar.
Ob eine Handlung abweichend ist, hängt also davon ab, wie andere Menschen auf sie
reagieren.
Die Handlung selbst ist demnach nie abweichend – erst die Reaktion anderer auf sie macht
sie dazu.
Deswegen gilt es ganz genau hinzuschauen und darüber nachzudenken, ob eine Handlung
„der Anderen“ vielleicht auch deswegen für uns als „abweichend“ gilt, weil sie so von der
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Gesellschaft bereits definiert wurde. Und möglicherweise wurde dieser Handlung des
anderen nur deswegen das Etikett „abweichend“ aufgetragen, um eine
Diskriminierung/Ausgrenzung rechtzufertigen.
Nur weil jemand gegen eine Regel verstoßen hat, heißt das noch nicht, dass andere so
reagieren werden, als sei dies geschehen. Tagtäglich verstoßen Menschen gegen Regeln und
es wird nicht darauf reagiert – wenn man bspw. an Kindes-Missbräuche denkt; die
Ausgrenzung „anderer“, Massen-Vergewaltigungen und noch vieles mehr.
Und umgekehrt heißt es nicht, dass jemand, nur weil er keine Regel verletzt hat, nicht unter
Umständen so behandelt wird, als hätte er dies getan.
Menschen reagieren auf eine von ihnen als abweichend betrachtete Handlung graduell
sehr unterschiedlich. Einfluss auf die Reaktion der Menschen hat auch der Kontext der Zeit.
Eine Person, von der angenommen wird, dass sie eine abweichende Handlung begangen hat,
kann zu einem bestimmten Zeitpunkt erheblich nachsichtiger behandelt werden, als dies zu
einem andern Zeitpunkt der Fall wäre.
Zu bestimmten Zeiten können Sicherheitsbeamte bspw. zu dem Entschluss kommen,
durchgreifende Maßnahmen gegen bestimmte Arten abweichenden Verhaltens wie
Glücksspiel, Rauschgiftsucht oder Homosexualität zu ergreifen. Eine dieser Aktivitäten zu
entfalten ist dann weit gefährlicher wenn ein Feldzug im Gange ist, als zu irgendeiner
anderen Zeit.
Bis zu welchem Grade eine Handlung als abweichend behandelt wird, hängt auch davon ab,
wer sie begeht und wer das Gefühl hat, von ihr geschädigt worden zu sein. Regeln scheinen
auf einige Menschen unnachgiebiger angewandt zu werden als auf andere.
Studien über jugendliches abweichendes Verhalten zeigen dies ganz deutlich. Jungen aus
Mittelschicht-Vierteln werden nicht so weit in rechtliche Vorgänge verwickelt, wenn sie
festgenommen werden, wie Jungen aus Slum-Vierteln.
Bei einem Jungen aus der Mittelschicht ist es weit weniger wahrscheinlicher, dass er zur
Polizeistation mitgenommen wird, wenn die Beamten ihn aufgegriffen haben.
Wenn der doch mitgenommen wird, ist es wahrscheinlich, dass seine Personalien
aufgenommen werden; und es ist höchst unwahrscheinlich, dass er verurteilt und bestraft
wird. Diese unterschiedliche Behandlung ist selbst dann zu beobachten, wenn der Verstoß
gegen die Regeln in beiden Fällen gleich ist.
In ähnlicher Weise wird das Gesetz auf Schwarze und Weiße unterschiedlich angewandt. Es
ist bekannt, dass ein Schwarzer, von dem angenommen wird, er habe eine weiße Frau
angegriffen, mit größerer Wahrscheinlichkeit bestraft wird als ein Weißer, dem das gleiche
Vergehen zur Last gelegt wird.
Es ist kaum weniger bekannt, dass ein Schwarzer, der einen anderen Schwarzen ermordet,
mit geringerer Wahrscheinlichkeit bestraft wird als ein Weißer, der einen Mord begeht.
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Abweichendes Verhalten ist keine Qualität, die im Verhalten selbst liegt, sondern in der
Interaktion zwischen einem Menschen, der eine Handlung begeht und Menschen, die darauf
reagieren.
8.) Wo endet die Toleranz?
a.) In unserer Kultur ist ein eindeutiges Manifest, dass wir in der Kunst, Politik, Mode
und Wissenschaft ständig von einem Extrem in das andere fallen.
Das ist wie ein Pendel und schwingt in eine Richtung, aber stehen bleibt es nicht. So haben
wir Menschen gerne eine Meinung und dadurch werden wir ja erst zum Menschen. Das
macht uns aus und gibt uns einen Platz in der Gesellschaft.
b.) Beispiel - die Raucherkampagne
Dadurch grenze ich mich aber vom Anderen ab und bewerte. Ich möchte hier als Beispiel die
Raucherkampagne hernehmen.
Hier möchte ich eine provokante These herstellen: Erst jetzt, wo die Personen, die man
ausgrenzen will langsam ausgehen, kümmert man sich um die Raucher - weil sonst
keiner mehr da ist zum ausgrenzen.
Heute bist du als Raucher schon fast „Stigmatisiert“ und das Pendel schwingt hier noch in
diese Richtung und wird den Rauchern noch das Stigma des „Nicht dazugehörenden“
aufdrücken.
Man weiß seit Jahren, dass passiv rauchen schädlich ist, aber so richtig hat es keinen
gekümmert.
Es wird ein generelles Rauchverbot gefordert und die Nichtraucher zählen sich hier zur
„gehobenen“ Kategorie, welche über die andere „mindere“ bestimmen darf. Wenn jetzt bei
uns in Österreich sich das Rauchverbot in den Lokalen durchsetzt, gibt es in kurzer Zeit ein
Rauchverbot auf öffentlichen Plätzen, in öffentlichen Räumen..und ..und..
Wenn ich diese Verordnung aber anschaue, sehe ich dahinter, dass die Politik die Intoleranz
annimmt und auch unterstützt.
Denke an die Gettos in Amerika, wo sich die RaucherInnen in kleine Lokale in wüsten
Gegenden zurückziehen um dort ungestört „paffen“ zu können. In der Öffentlichkeit werden
sie als „minderwertig“ abgestempelt.
www.widerdieschereimkopf.com
Ich habe hierzu aus dem Forum einige kurze Statements abgeschrieben, wobei ich natürlich
die Namen geändert habe.
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1.)Rudolfine die Große:
„Wer nach Toleranz schreit, muss selbst erst einmal eine solche an den Tag legen. Jeder
Nichtraucher hat die Freiheit, sich von diesen ach so schlimmen Rauchern zu
separieren, indem er einfach woanders hingeht. An die frische Luft z.B., die ja scheinbar
zum von Knappheit gekennzeichneten Gut gemacht wird. Wer zwingt euch denn, euch
neben Raucher zu stellen?“
2.)Konstantine die Unbezwingbare
„Liebe Theresia, Sie haben völlig Recht. Wer nach Toleranz schreit, muss selbst erst
einmal eine solche an den Tag legen.Also sollten Sie als militante Raucherin mal ganz
still sein. Wer ermordet denn hier jedes Jahr 3300 Nichtraucher und kleine Kinder, die
asozialen Raucher oder die Normalmenschen?
Übrigens, dass Raucher stinken ist ja noch das harmloseste an ihnen. Wussten Sie schon,
dass ihr Hirn geschrumpft ist? Ist wissenschaftlich bewiesen, die kriminelle Tabaklobby
hat ihnen das natürlich verschwiegen.“
3.) Rudolfine die Große
„Liebste Konstantine. Also erstens finde ich es eine bodenlose Frechheit, Raucher
generell als Mörder hinzustellen. Ist der Rest der Welt denn nur gesund? Autoabgase?
Umweltverschmutzung? Schon mal davon gehört? Aber nein. Auto fahren finden ja
auch die Nichtraucher toll, das kann bleiben. Und die Abgase? Who cares…? Waren ja
Nichtraucher…“
„Wo habe ich denn geschrieben, dass ich in Gegenwart von kleinen
Kindern/Jugendlichen rauche? Mache ich nämlich nicht.“
„Außerdem sind Raucher nicht unnormal. Die Menschen haben schon vor
Jahrhunderten geraucht, ebenso wie sie Alkohol trinken oder sonstigen Vergnügungen
erfreuen. Nur, weil Rauchen im Moment ziemlich unmodisch zu sein scheint, heißt das
nicht, dass es der Norm widerspricht.“
4.)Konstanines Freundin
„Wann gehen wir Raucher endlich gegen diese absolute Frechheit an. Ich jedenfalls
werde kein Restaurant mehr besuchen. Wenn sich keiner wehrt, wird sich auch nichts
ändern.“
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8.) Was zeigt sich hier?
Nur Totalitäre Staaten, Fundamentalisten und Fundamentalistinnen kennen ein
eindeutiges Gut und Böse.
«So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich
des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.» (Adolf Hitler)
Schon im Märchen gibt es „Das Gute“ und „Das Böse“. Aber auch hier gibt es Positionen,
die dazwischen stehen. Letztendlich kann kein Mensch mit Bestimmtheit sagen, was Gut und
Böse ist. In einer freien Gesellschaft muss dies zwangsläufig umstritten bleiben. Und viele
Dinge sind beides gleichzeitig, sowohl gut als auch böse. Häufig kommt es nur auf die
Perspektive an. Umso komplizierter unsere Gesellschaft wird um so mehr gilt dies. Die
Menschen sind weder gut noch böse, sie sind einfach Menschen. Das heißt, Menschen
zeichnen sich durch ihre Uneindeutigkeit aus
Der Präsident der USA, George W. Bush, hat diese Charakterformierung sehr bildhaft
vorgeführt, als er nach dem Attentat vom 11. September 2001 formulierte, alle Länder
müssten sich nun entscheiden, ob sie für die USA oder für den Terrorismus wären, als gäbe es
hier ein eindeutiges Gut und Böse.
Diese Beispiele sollen zeigen, dass wir eine Ausweichstrategie nutzen, um uns nicht mit
unseren realen Problemen auseinander zu setzen.
Mit der Angst, die aus zunehmend unsicheren Arbeitsverhältnissen resultiert, mit den
Schwierigkeiten, die neue offenere Beziehungsformen mit dem Partner bzw. der Partnerin mit
sich bringen, mit der Angst, mit der gesellschaftlichen Entwicklung nicht mehr mithalten zu
können, mit den Gefahren für die Gesundheit durch industrielle Lebensmittelproduktion und
Umweltvergiftung. All dies wird bei Seite geschoben und die ganze Angst auf einige
Punkte ausgerichtet, die dann mit zum Teil menschenfeindlichen Fanatismus verfolgt
werden können.
Zum Ende des Mittelalters fokussierten sich derartige Ängste vor der Neuzeit auf die
Sexualität und führten zum grausamen Massenmord an Frauen, die als Hexen verfolgt
wurden. Heute finden wir die gleichen Ängste in unterschiedlichen Projektionen irrationaler
Bedrohungsfantasien wieder, die ich teilweise schon genannt habe. In der Massenfurcht vor
Kriminalität, die nur wenige real betrifft, in den Angstszenarien der Medien bei
Sexualmorden an Kindern, in der Fremdenfeindlichkeit.
Aber auch die manische Verfolgung von Raucherinnen und Rauchern gehört in diesen
Bereich. Und gerade weil diese Stigmatisierung des Rauchens relativ harmlose
Auswirkungen hat, und dabei im Vergleich zu den anderen Problemen niemanden
existenziell bedroht wird, scheint sie auch für viele ansonsten eher rational denkende
und argumentierende Menschen eine willkommene Projektionsfläche zu sein. Außerdem
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lassen sich in ihr verschiedene Bereiche verknüpfen, der Sauberkeitswahn, die zwanghafte
Körperkontrolle und die Suchtfeindlichkeit.
Der quasi-religiöse Fundamentalismus einiger Antirauchorganisationen, seien es nun
Therapiegruppen ehemaliger Raucherinnen und Raucher oder ärztliche ‘Fach’kreise, zeigt
sich dabei vor allem in ihrem Anspruch, dass sie die allein seligmachende, in ihren Augen die
einzig objektive Wahrheit verkünden würden. Totalitäre Glaubenssysteme glauben immer die
Wahrheit gepachtet zu haben. Sie sind nicht bereit andere Meinungen als gleichwertig gelten
zu lassen. Das Ideal absoluter Suchtfreiheit ist solch ein fundamentalistisches religiöses
Relikt. Ein sinnvoller Umgang mit Süchten, eine offene Auseinandersetzung über den
Umgang mit Tabak, Alkohol und anderen Rauschmitteln wird durch dieses Tabu
absichtlich verhindert
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9.) Wie kann man Toleranz „erlernen“?
Der Ansatz von Annedore Prengel: Pädagogik der Vielfalt
Abschließend möchte ich einen Ansatz von Annedore Prengel – Pädagogik der Vielfalt –
vorstellen, bzw. dessen Kerngedanke, für uns ein gutes Beispiel darstellt, wie die
Vielfältigkeit des Lebens betrachtet werden kann. Nämlich nicht als etwas, das es zu
bekämpfen gilt, weil Angst besteht, dass es unser Leben negativ beeinflusst, sondern als
eine Möglichkeit, unser Leben zu bereichern, neugierig auf anderes/andere zuzugehen.
Wir haben Lebenswünsche. Wir möchten unser Leben so gestalten, dass es uns entspricht.
Dazu gehören die Wünsche, gesund, körperlich unversehrt, mit ausreichend Nahrung, Schlaf,
Wärme versorgt, glücklich, anerkannt und selbstbestimmt zu leben.
Jedes Leben, jeder Augenblick erscheint kostbar, denn jede und jeder hat nur dieses eine
Leben! Es ist ein Kerngedanke der Pädagogik der Vielfalt, dass jede und jeder so leben kann,
wie es ihm/ihr entspricht. Daraus folgt, dass vielfältige Lebensweisen als Reichtum
empfunden werden.
Vielfalt wertschätzen meint nicht eine Beschreibung dessen, was sowieso (in unserer
Gesellschaft) vorhanden ist, sondern bezeichnet die Entscheidung für einen Wert/eine
Grundhaltung.
In verschiedenen Begriffen ist dieser Wert formuliert worden: „Gleichberechtigung der
Verschiedenen“, „es ist normal verschieden zu sein“, „egalitäre Differenz“. Alle diese
Ausdrücke enthalten aus der Sicht Annedore Prengels zwei Dimensionen: die Dimension der
Gleichheit und die Dimension der Verschiedenheit.
Beide Dimensionen sind unverzichtbar, denn Verschiedenheit ohne Gleichheit zu betonen
hat Hierarchie zur Folge und Gleichheit ohne Verschiedenheit zu betonen hat
Gleichschaltung zur Folge.
Daran zeigt sich, dass Pädagogik der Vielfalt auf einem sehr einfachen gedanklichen Kern, auf
der Gleichberechtigung der Verschiedenen beruht.
Um den Gedanken einer Vielfalt auf der Basis von Gleichheit weiterentwickeln zu können,
hat sich Annedore Prengel in den letzten Jahren mit Perspektivitätstheorien
auseinandergesetzt.
In unterschiedlichen historischen Epochen finden sich Theorien der Perspektivität. Prengel
stützt sich vor allem auf den Psychologen Carl F. Graumann, der dieses Phänomen in
heutiger Zeit umfassend erforscht hat.
Er hat u. a. folgendes herausgearbeitet: Wir nehmen immer nur eine Perspektive von vielen
möglichen ein – und alles, was wir wahrnehmen, nehmen wir nur innerhalb unseres
Erkenntnishorizonts wahr.
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Annedore Prengel führt ein Buch von Ed Young an, welches ich Ihnen nicht vorenthalten
möchte. Dieses Buch möchte Kindern, aber auch erwachsenen das Problem der
Perspektivität nahebringen und ich möchte gerne eine Passage davon vortragen:
Sieben blinde Mäuse entdeckten eines Tages etwas Seltsames in der Nähe ihres Teiches.
»Was ist das?«, fragten sie sich und trippelten nach Hause.
Am Montag lief die rote Maus als erste los, um das Etwas zu erkunden.
»Das ist eine Säule«, stellte sie fest, aber keiner ihrer Freunde glaubte ihr.
Somit zog die zweite, grüne Maus am Dienstag aus, um das Geheimnis zu lüften. Sie meinte,
eine Schlange vor sich zu haben. »Nein«, entgegnete ihr die gelbe Maus am Mittwoch und
behauptete, sie hätte einen Speer entdeckt. Wieder einen Tag darauf lief die Lilafarbene
hinaus und war davon überzeugt, eine große Klippe erkundet zu haben. Das orangene
Nagetier meinte am Freitag: »Es ist ein Fächer! Er hat sich bewegt!«
Nun wollte am Samstag auch die sechste Maus ihr Glück versuchen. Sie war blau. Ihrer
Meinung nach handelte es sich bei dem geheimnisvollen Etwas um ein Seil.
Ein Streit entstand unter den Mäusen und jede von ihnen bestand auf ihrer Entdeckung:
»Eine Schlange!« – »Ein Seil!« – »Ein Fächer!« – „Eine Klippe!«
Am letzten Tag der Woche ging nun auch die weiße Maus zum Teich. Als sie bei dem
Seltsamen ankam, lief sie es ganz ab – von vorne nach hinten und von oben nach unten.
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»Ah«, sie verstand und verband all das, was ihre Freunde vor ihr entdeckten: »Es ist fest wie
eine Säule, geschmeidig wie eine Schlange, weit wie eine Klippe, scharf wie ein Speer, luftig
wie ein Fächer, faserig wie ein Seil, aber alles in allem ist es...«, und brachte endlich Licht ins
Dunkel, »…ein Elefant!«.
Auch die Anderen liefen jetzt kreuz und quer über den Dickhäuter und gaben ihrem weißen
Freund Recht, jetzt verstanden auch sie.
Der letzte Satz, »die Mäuse-Moral«, fasst das zusammen, was die Absicht und Hauptaussage des Buches ist: »Wissen in Teilen macht eine schöne Geschichte, aber Weisheit entsteht,
wenn wir das Ganze sehen.« Oftmals ist die eigene Erkenntnis allein nicht ausreichend,
sondern erst die Anschauung aus verschiedenen Blickwinkeln führt zur Erkenntnis des
Ganzen. Diese philosophische Betrachtung ist das Hauptanliegen des Buches, dem man auch
durch die genaue Betrachtung der Farben auf die Spur kommen kann.
Möglicherweise erkennen hier einige von Ihnen die Verbindung zum Konstruktivismus:
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Demnach gibt es keine objektive Realität – jede/jeder einzelne von uns hat seine eigene
Subjektivität. Jede/jeder nimmt ihre/seine Umwelt anhand seines eigenen
Erkenntnisapparates auf unterschiedliche Art und Weise wahr. Wenn ich von einem Apfel
spreche – so haben sie alle eine unterschiedliche Vorstellung davon, wie dieser Apfel
aussieht. Ebenso betrachtet jeder Mensch die Welt durch seine eigene Perspektive.
Wenn man aber den Kopf nur leicht dreht eröffnen sich vielfältige wechselnde
Weltausschnitte.
Deutlich wird beim Nachdenken über Perspektivität auch, dass wir nie alles wissen, denken
oder fühlen können. Alles zu wissen – so der Philosoph Gert König in seinem
philosophischen Grundsatzartikel zum Thema Perspektivität – wäre die Gottesperspektive,
denn aus menschlicher Sicht könnte nur Gottes Auge alles sehen.
Das Fazit aus der Auseinandersetzung mit Perspektivitätstheorien lautet: Alles was ich weiß
und tue hängt davon ab, wie und auf welcher Ebene mein Zugang zur Welt angesiedelt ist
und welches Erkenntnisinteresse ich habe. Stets kann ich jeweils nur einen Ausschnitt der
Welt wahrnehmen und beeinflussen. Mein Standpunkt bedingt, welchen Ausschnitt ich in
den Blick bekomme.
Zudem dürfen wir aber auch nicht vergessen, dass das, was wir wahrnehmen, auch von
gesellschaftlich-kulturellen Konventionen abhängig ist.
Aus Forschungen zur Körpergeschichte und aus ethnologischen Forschungen wissen wir
bspw., dass anatomische und medizinische Vorstellungen von ihrem historischen Kontext
abhängig sind. Das, was wir wahrnehmen und was nicht, ist also immer abhängig vom
jeweiligen Weltbild und der sozialen Verfasstheit der Gesellschaft.
In einem medizinischen Text aus dem 18. Jhdt. lesen wir z. B.:
„Warum ist ein Mensch nüchtern schwerer als nach dem Essen? Weil durch die Speisen die
Geister vermehrt werden, welche wegen ihrer luftigen und feurigen Natur den menschlichen
Cörper erleichtern, denn Feuer und Lufft machen insgemein leicht. Dahero ist auch ein
fröhlicher mensch viel leichter, als ein trauriger, weil ein fröhlicher Mensch mit mehreren
Geisterlein begabt ist als ein betrübter. Auch ist ein Todter weit schwerer, als ein noch
Lebendiger; weil dieser voller Geisterlein ist, jener aber derselben beraubt ist (Odilon
Schreger, 1755).
Mit diesem Zitat möchte ich verdeutlichen, dass es nicht immer der Realität entspricht, was
wir zu erkennen/wahrzunehmen glauben; auch im Mittelalter glaubten die Menschen, sie
würden Hexen durch die Lüfte ziehen sehen; Kinder gaben an, bei ihrer Mutter beide
Geschlechter zu sehen; als der Mensch erstmals anatomisiert wurde, sahen die Menschen
keinen Unterschied zwischen den aufgeschnittenen Leibern beider Geschlechter.
Für die Pädagogik der Vielfalt (und für uns) lässt sich aus der Perspektiventheorie folgern:
1.) Aus universeller Perspektive eröffnet sich die Frage nach dem, was allen Menschen
gemeinsam ist, z. B. nach Nationalität, Mortalität, nach der Fähigkeit Schmerz und Glück zu
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empfinden; nach der universellen Menschenwürde, nach gleichen Rechten und lässt darüber
hinaus die Beeinträchtigung der universellen Gleichheitsrechte deutlich werden.
2.) Eine andere Perspektive eröffnet die Frage nach kollektiven Verschiedenheiten, nach
Aussagen, die für Gruppierungen von Menschen getroffen werden können.
Dabei können die Verschiedenheit der Kulturen selbst als perspektivische Verschiedenheiten
begriffen werden: Angehörige verschiedener Kulturen nehmen tendentiell verschiedene
Weltausschnitte in den Blick und nehmen sie mit aufgrund ihrer kulturellen Tradition anders
geformtem Blick wahr. Kollektive Perspektiven können neben kulturellen Gruppierungen
zum Beispiel unsere Geschlechts- und Altersgruppe, unsere ökonomischen Schicht, unsere
Berufsgruppe, unserer Region usw. betreffen. Wir können uns klar machen, dass wir alle
mehreren Gruppierungen angehören und so von vielfältig sich überschneidenden
Differenzen geprägt sind.
3.) All diese vielfältig sich überschneidenden Perspektiven tragen bei zur Formung unserer
individuell je einzigartige Perspektive. Die Frage nach der Individualität bildet dabei eine
zentrale Frage.
In dieser Perspektive kann der Philosoph Volker Gerhardt (2000, S. 147) sagen: „Alles ist
individuell. Jedes Sandkorn, jede Schaumkrone, jeder Flügelschlag und jeder Wassertropfen
– alles kommt so, wie es an dieser Stelle ist, nur einmal vor.
Wieviel mehr kann man sagen, dass Menschen, Kinder, Jugendliche und Erwachsene,
einzigartige Wesen sind!
Perspektivitätstheorien machen auch folgendes bewusst: Alle unsere Erkenntnisse und
unsere Handlungsmöglichkeiten sind perspektivengebunden. Bei unseren Einsichten und
unseren Aktionen ist uns einiges möglich und anderes nicht. In Wissenschaft, Politik und
Alltag können wir unsere Perspektive vertreten, ohne die Perspektive anderer abwerten zu
müssen. Denn es ist unumgänglich, dass wir nie alles begreifen können und dass es andere
gibt, die von ihrem anderen Standpunkt aus mit gleichem Recht ihre Perspektive mit je
anderen Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten einnehmen. Darin liegt ein wichtiger
Erkenntnisgewinn aus Perspektivitätstheorien für die Pädagogik der Vielfalt und für die zu ihr
gehörende Toleranzerziehung.
Ich möchte euch nun einige Handlungsperspektiven von Annedore Prengel vorstellen, die
zu einer Pädagogik der Vielfalt führen können.
Sie haben noch einen Bildungsweg in unserem System vor sich – möglicherweise regen Sie
einige der Handlungsperspektiven dazu an hinsichtlich Studium und Bildung eine andere
Perspektive einzunehmen, sensibilisiert zu werden. Möglicherweise finden sich unter Ihnen
angehende Lehrkräfte und Sie können ihrer künftigen Praxis bereits etwas davon umsetzen.
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1.) Schülerinnen und Schüler erfahren individuell eine von Lehrkräften erzeugte Atmosphäre,
in der sie die Chance haben, sich selbst achten zu lernen, ihre Bedürfnisse artikulieren zu
können, ihre eigenen Leistungen wertzuschätzen und gut für sich zu sorgen.
2.) In dieser von Achtung geprägten alltäglichen Atmosphäre haben Schülerinnen und
Schüler ebenso die Chance, zu lernen andere individuell anzuerkennen.
3.) Rituale im Klassenleben ermöglichen, dass demokratische Beziehungsformen inszeniert
und praktiziert werden können.
4.) Rituale im Schulleben verdeutlichen und symbolisieren Zugehörigkeit jedes Kindes und
jedes Jugendlichen zur Schulgemeinde.
5.) In ausgewählten Unterrichtseinheiten in verschiedenen Fächern oder fächerübergreifend
können Schülerinnen und Schüler kognitives Wissen über Menschenrechte und
demokratisches Zusammenleben erwerben.
6.) Konfliktbearbeitung ist erforderlich in Fällen von Schülergewalt und in Fällen von
Lehrergewalt. Beide Täterseiten müssen beachtet werden, Gewalt auf beiden Seiten muss
untersucht, benannt und bearbeitet werden. (Es gibt inzwischen zahlreiche Ansätze der
Toleranzerziehung, wie zum Beispiel „peaceful school“, „faustlos“ oder
Mediatorenprogramme.)
7.) Didaktik fördert die Selbsttätigkeit und Selbständigkeit und Kooperationsfähigkeit.
(Reformpädagogische Schulen, die selbständiges Lernen in Freiarbeit und Projekten fördern,
wie die Laborschule Bielefeld oder die Helene Lange Schule Wiesbaden, haben im PISA-Test
besonders gut abgeschnitten)
8. Institutionelle Strukturen, die Vielfalt fördern, finden sich in integrativen Schulformen, die
das Miteinander der Verschiedenen ermöglichen.
9.) Bildungspolitik, Schulaufsicht, Schulträger außerschulische Jugendarbeit bilden ein
Netzwerk für Gewaltfreiheit, das alle Ebenen des Bildungswesens einschließt, um den
Pädagoginnen und Pädagogen in der Praxis den Rücken zu stärken.
10.) Die Leistungsbewertung bildet einen Dreh- und Angelpunkt der Pädagogik der Vielfalt.
Benötigt wird ein mehrperspektivischer Leistungsbegriff. Die Perspektive der individuellen
Lernausgangslage und Lernfortschritte und die Anerkennung der individuellen Leistung ist
grundlegend. Erst auf dieser Basis kommt als zweite Perspektive der Vergleich mit einer
Altersnorm in Frage. Es hat keinen Sinn auf eine der beiden Perspektiven zu verzichten, denn
die Auseinandersetzung mit Stärken und Schwächen, auch im Vergleich mit anderen, gehört
zur Selbsteinschätzung. Sie darf aber, wie immer sie ausfällt, keine Entwertung der Person
nach sich ziehen.
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Literatur:
Becker, H. S. (1973) : Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Frankfurt a.
Main: S. Fischer Verlag.
Falkner, J. (2005): Toleranz im Rechtsstaat der Gegenwart. Die Theorie von Rainer Forst.
Diplomarbeit an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Karl Franzens Universität Graz.
Metzger, W. (1976): Vom Vorurteil zur Toleranz. Darmstadt: Steinkopff
Prengel, A. (1993/95): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in
Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Opladen: Leske+Budrich.
Prengel, A. (2002): „Ohne Angst verschieden sein“? – Mehrperspektivische Anerkennung
von Schulleistungen in einer Pädagogik der Vielfalt. In: Hafeneger, B./ Henkenborg, P./
Scherr, A. (Hrsg.): Pädagogik der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder.
Schwalbach: Wochenschau Verlag, S. 203-221.
Prengel, A. (l997): Perspektivität anerkennen - Zur Bedeutung von Praxisforschung für
Erziehung und Erziehungswissenschaft. In: Friebertshäuser, B./Prengel, A.(Hrsg): Handbuch
Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim und München:
Juventa, S. 599-627.
Prengel, A. (l999): Vielfalt durch gute Ordnung im Anfangsunterricht. Opladen:
Leske+Budrich.
Prengel, A./Geiling, U. /Carle, U. (200l): Schulen für Kinder. Flexible Eingangsphase und
feste Öffnungszeiten in der Grundschule. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Rendtorff, B. (1998): Geschlecht und différance. Die Sexuierung des Wissens.
Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag.
Rüthers, B. (2005): Toleranz in einer Gesellschaft im Umbruch. Konstanz: UVK
Universitätsverlag Konstanz GmbH.
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