Eiskalt und schattenstill - Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte
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Eiskalt und schattenstill - Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte
K U LT U R U N D K R I T I K Ulrich Baron Eiskalt und schattenstill Neue Gesichter der Armut I n ihrem Buch Poor Economics liefern die Wirtschaftswissenschaftler Esther Duflo und Abhijit V. Banerjee ein »Plädoyer für ein neues Verständnis von Armut«. Armut erscheint in solchen Studien vor allem als Problem der Entwicklungsländer. Die jüngste Weltwirtschaftskrise aber hat gezeigt, dass Armut und Reichtum dichter beieinander liegen als Erste und Dritte Welt. Auf die alten Armen, die trotz harter Arbeit arm blieben, sind neue Arme gefolgt, die sich kurz zuvor noch für reich gehalten hatten. »Too much exposure, hard work, old age«, resümierte Roscoe Holcomb vor gut einem halben Jahrhundert sein Arbeitsleben. Jahre als »construction worker«, Kohleminen und Sägemühlen hätten ihm den Rücken gebrochen: »I was not much account after that« – auf dem Konto seines Lebens sei danach nicht mehr viel übrig gewesen. Wollte man der Armut ein Gesicht geben, wäre Holcomb kein schlechter Kandidat. 1912 in Daisy, Kentucky geboren, hätte man ihn für einen rüstigen 70-Jährigen halten können, als es den New Yorker Musiker und Filmemacher John Cohen Ende der 50er Jahre auf der Suche nach Banjo-Spielern ins Hinterland verschlug. Mit seiner hageren Gestalt, dem schmalen, von tiefen Furchen durchzogenen Gesicht, dünnen Lippen, dicken Brillengläsern und seinem wie festgewachsenen Hut wirkte er wie ein Onkel Samuel Becketts. Erschreckend mager ist auf den alten Schwarzweißaufnahmen auch sein Nachbar, der mit bloßem Oberkörper auf der Holzterrasse von Holcombs Haus zu dessen Banjoklängen zu tanzen beginnt. Beide wirken nicht so, wie man sich Schwerstarbeiter vorstellt, sondern wie das, was Schwerstarbeit – »too much exposure, hard Ulrich Baron (*1959) ist Literaturwissenschaftler und arbeitet als Kritiker und freier Publizist in Hamburg. [email protected] work, old age« –, vom Menschen übrig lässt. Aber da ist die Farm, auf der Mais und Hühner, ein dickes Ferkel, ein Kleinkind und schlaksige Mädchen scheinbar wild durcheinanderwachsen. In Daisy ist die Wertschöpfungskette noch so kurz, dass viele Dinge, auch mancher Kohlebrocken, gar nicht erst auf den Markt kommen, sondern an Ort und Stelle verbraucht werden. Und noch etwas gab es hier, was man für alles Geld der Welt nicht hätte kaufen können: Roscoe Holcombs musikalisches Talent. Steif wie ein Knotenstock wirkte er, als er in Pete Seegers Fernsehshow Rainbow Quest die Songs »Little Birdie« und »Graveyard Blues« vortrug. Aber seine Hände vollführen auf den Saiten von Banjo und Gitarre einen Tanz, dem man eher mit den Ohren als mit den Augen folgen kann. Seine Stimme ist gepresst und hoch, einsam, ungeheuer oben. Menschen wie er dächten nicht an künstlerischen Erfolg oder gar an die Nachwelt, hat Cohen einmal über Holcomb gesagt. Nach New Yorker Maßstäben bitterarm, besaßen sie etwas, was für sie kein ökonomisches Äquivalent hatte. Wir müssen uns Roscoe Holcomb deshalb als glücklichen Menschen vorstellen – reich an Dingen, die man für Geld nicht kaufen kann. Aber das war in einer anderen Zeit, in einer anderen Welt. Roscoe Holcomb starb N G | F H 3 | 2 0 13 71 K U LT U R U N D K R I T I K 1981. The High & Lonesome Sound heißt Cohens Bildband über ihn, der mit einer Film-DVD und einer Musik-CD im internationalen Programm des Göttinger SteidlVerlags erschienen ist. Es ist eine Reise in eine gar nicht so ferne Zeit, in der Arbeit und Lebensunterhalt enger, wenn auch in ökonomischer Sicht unproduktiver miteinander verbunden waren. Ihr filmisches Nachleben aber verdankt jene Zeit der New Yorker Großstadtkultur, die den Blick ins Hinterland wagte. Holcombs Entdeckung fiel in jene Phase der amerikanischen Popkultur und Bürgerrechtsbewegung, die man mit den Songs der Seegers, der Guthries, des frühen Bob Dylan verbindet. Die Ortsschilder, die auf Cohens Filmaufnahmen aus dem Jahre 1962 den Weg in Holcombs Heimatort markieren, könnten einem Protestsong der Zeit entnommen sein: »Happy«, »Defiance«, »Viper« und gar »Lynch«. Anorganische Verwesung Heute kann man diesen Wegmarken andere Namen zur Seite stellen: In Broken Harbour, Hesteyri, und Eskifjörður hat sich eine neue Armut breitgemacht. Es sind die Namen eines fiktiven Ortes an der weiten Peripherie Dublins und zweier realer Orte in den isländischen West- und Ostfjorden, die unlängst Schauplätze zweier Kriminalromane und einer Gespenstergeschichte geworden sind. Als Mischung aus Musikerporträt und Krimi kommt ein Bildband daher, für den der isländische Musiker Orri Jónsson in verlassenen Bauernhäusern seiner Heimat fotografiert hat. Wind und Wetter, Kälte und Feuchtigkeit haben den leeren Gehäusen zugesetzt. Tapeten und Holzvertäfelungen lösen sich, Waschbecken und Wasserleitungen scheinen in anorganischer Verwesung zu zerfallen. Jónsson hat diese »Interiors« mit einer Plattenkamera ohne Kunstlicht fotografiert. Bei den langen Belichtungszeiten seien manche Aufnahmen 72 N G | F H 3 | 2 0 13 verschwommen – wenn der Wind ein Haus in eine sonst gar nicht wahrnehmbare Bewegung versetzt habe. Wo die Häuser liegen oder lagen, die Jónsson zwischen 1999 und 2010 fotografiert hat, ließe sich heute schwer ermitteln – wie der Titel sagt, hat er sich auf Innenansichten beschränkt. Doch so wie man in Cohens Film aus dem fernen Kentucky überrascht ist, wenn junge HinterwäldlerMädchen zu den Klängen eines Radios plötzlich zu twisten beginnen, so finden sich zwischen den Blumenmotiven, den Schimmel- und Wasserflecken in Jónssons Interieurs unerwartete Art déco-Motive. Auch die karge, so authentisch wirkende Vergangenheit, die ferne Provinz, ist einst »mit ihrer Zeit gegangen« – vielleicht liegt gerade darin ein Grund für den Verfall. Mit neuen Kommunikationstechniken und wachsender Mobilität wuchsen die Möglichkeiten, Vergleiche anzustellen. Armut ist relativ. Nun war sie wahrnehmbar. Wer auf dem Land mit schwerer Arbeit fast ohne Geld ausgekommen war, sah die Chance, in der Stadt mit mehr Geld, weniger Arbeit und ohne Land zu leben. Als dann die Hexenmeister der Finanzwelt vorführten, wie man scheinbare Wertschöpfung aus dem Nichts betreibt und Immobilienkredite aus deren Wertsteigerung finanziert, erlebten Irlands und Islands hoffnungsvolle Landflüchtige rasante Aufschwünge. Luxusautos und Immobilien machten sich dort auch in Kriminalromanen breit. Dann kam der Rückschlag. Preise fielen, Jobs gingen verloren, Schulden blieben. »Diese Familie hat versucht, alles richtig zu machen«, sagt Detective Kennedy in Tana Frenchs Roman Broken Harbour (deutsch: Schattenstill) über die Spains, die einem brutalen Mord zum Opfer gefallen sind. Ihr wenig Glück bringendes Heim hatten sie in Zeiten des Booms gekauft – in einer jener vielversprechenden Neubausiedlungen Irlands, die nun Geisterstädte sind. Dort waren sie gefangen, als ihr Geld K U LT U R U N D K R I T I K knapp wurde. Um wirklich »alles richtig zu machen«, hätten sie früher kaufen und verkaufen müssen, aber das eben unterscheidet den Spekulanten von einer Familie, die mit kurzlebigen Geschäften ihr dauerhaftes Glück begründen will. Allein 2006 seien in Irland 93.419 solcher Häuser gebaut worden, hielt die Daily Mail fest: »The building didn’t stop, but the good times have.« Welcher Horror sich im von Bauruinen umgebenen Heim der Spains eingenistet hatte, braucht nicht verraten zu werden. Von Irlands Wohlstandruinen bis in Islands abgelegene Fjorde aber ist der Weg nicht mehr weit. Schneller noch als Irland hatte das weit dünner besiedelte Island den Sprung in die Zeit der Luxusrestaurants geschafft. Man kann dies in den Romanen Yrsa Sigurðardóttirs und ihres Landsmanns Arnaldur Indriðason nachverfolgen. Gegen Ende seiner Serie mit dem Reykjaviker Kommissar Erlendur hat Indriðason seinen Helden in die heimatlichen Ostfjorde zurückkehren lassen, wo die jahrzehntelange Suche nach seinem verschollenen kleinen Bruder nun in »Eiseskälte« ihren Abschluss findet. Tage- und wochenlang hat Erlendur dabei in der Ruine seines Elternhauses campiert, das die Familie nach jenem tragischen Ereignis verlassen hatte, um nach Reykjavik zu ziehen. Nun sieht es darin aus wie auf Jónsson Fotos. Armut als Geistergeschichte Erlendurs Rückzug aus der Hauptstadt führt ihn auch an die Baustelle einer Aluminiumhütte: »Es war ihm vollkommen unbegreiflich, wie eine skrupellose Firma im fernen Amerika es geschafft hatte, einen friedlichen isländischen Fjord und die unberührte isländische Bergwelt in Besitz zu nehmen und völlig umzukrempeln.« Viele Menschen, die hier seit Generationen gelebt hätten, seien jedoch froh über diese rasante Veränderung: »Hier ging doch al- les den Bach hinunter, sagten sie, jetzt brechen neue, bessere Zeiten an. Neue auf jeden Fall, hatte er geantwortet.« Nicht gut getan haben die neuen Zeiten den jungen Leuten, die in Yrsa Sigurðardóttirs Roman Geisterfjord ein altes Haus in einem verlassenen Dorf der Westfjorde renovieren wollen. Bald schlägt das Wetter um, bricht die Handy-Verbindung ab, sucht ein Poltergeist die Städter heim. Plötzlich ist ihre Existenz in erschreckender und bedrohlicher Weise auf wenige Grundlagen reduziert: Heizung, Nahrung, Licht und hoffentlich wieder Kontakt zu Außenwelt. Yrsa Sigurðardóttir versteht es, auf raffinierte Weise scheinbar einfach zu erzählen. Zur Ironie gehört hier, dass ihre Helden das Haus aus einer Laune heraus gekauft hatten, als es ihnen materiell noch sehr gut ging; nunmehr müssen sie sich überlegen, wie sie von dessen Vermietung leben könnten. Vom Traum zur Notwendigkeit geworden, wird ihr Landleben zur Gruselgeschichte, denn sie sind nicht die ersten, denen dieses Haus zur letzten Zuflucht geworden ist, vor der es kein Entkommen mehr gibt. Von der guten alten Zeit, in der Armut ihren stillen Zauber hatte und das Fehlen einer Telefonverbindung keine Katastrophe war, sind hier nur noch leere Gehäuse geblieben. Einen vernichtenden Fall vor Augen, gewinnen die Mühen der Ebenen wieder an Anziehungskraft, doch den Mühlen der Geldwirtschaft entkommt man so nicht. Schulden, die man in Reykjavik gemacht hat, ließen sich nicht durch die Einkünfte aus einem Wandererheim in der Provinz bedienen. Die Geisterstädte und Häuser der neuen Armen sind nicht dafür eingerichtet, dort Mais anzubauen und Hühner zu halten. Es geht nicht voran, doch zurück geht es auch nicht mehr. »Er begriff nicht, was er in der Stadt sollte, und er bekam nie eine Verbindung zu den Zeiten, in denen er lebte«, schreibt Indriðason über seinen Hel- N G | F H 3 | 2 0 13 73 K U LT U R U N D K R I T I K den am Grab der Eltern: »Er wusste nun eins, nämlich dass irgendwann auf seinem Lebensweg die Zeit zum Stillstand gekommen war und dass es ihm nicht gelungen war, sie wieder in Gang zu setzen.« John Cohen: The High & Lonesome Sound. The Legacy of Roscoe Holcomb. Steidl, Göttingen 2012, 263 S., zahlreiche Schwarzweißaufnahmen, 1 DVD, 1 CD, € 48,00. – Esther Duflo und Abhijit V. Baner- jee: Poor Economics. Plädoyer für ein neues Verständnis von Armut. Knaus, München 2012, 384 S., € 22,99. – Tana French: Schattenstill. Scherz, Bern 2012, 731 S., € 16,99. – Arnaldur Indriðason: Eiseskälte. Bastei Lübbe, Köln 2012, 396 S., € 19,99. – Orri Jónsson: Interiors. Steidl, Göttingen 2012, 144 S., € 48,00. – Yrsa Sigurðardóttir: Geisterfjord. Fischer Taschenbuch, Frankfurt/Main 2011, 358 S., € 8,99. Jürgen Stark Comeback eines Gefühls Der Blues im 21. Jahrhundert »Der Blues existiert, seit die Welt existiert. Der Blues ist die Wurzel der Musik, der Ursprung von Rock'n'Roll und Punk oder was sonst noch. Blues und Kirche – alles ist darum herumgebaut, und alles hat seinen Ursprung dort: Blues ist die Geschichte von Mann und Frau. Der Beginn der Welt. Adam und Eva im Paradies.« (John Lee Hooker, amerikanischer Bluesmusiker und -sänger; 1917-2001) Jürgen Stark (*1957) ist Autor, Journalist und Musiker und Mitbegründer des Instituts für kulturelle Kommunikation an der Hochschule Offenburg. Er ist Erfinder der »SchoolTour« und Mitglied im Bundesfachausschuss Popularmusik beim Deutschen Musikrat. Zuletzt erschien: Wem gehört die Popgeschichte? (zus.mit Gerd Gebhardt). [email protected] A ls einst in Amerika afrikanische Musikkultur auf Elemente des europäischen Jazz traf, war der Weg frei. Frei für eine bis dahin nie gekannte permanente Fusion aus pulsierenden Rhythmen, ekstatischen oder melancholischen Gefühlen, einer Poesie des Alltags, kurz: einer alles reflektierenden Musikkultur für das einfache Volk. Die Dynamik der sich daraus formenden Black Music erzeugte Gospel, Rock’n’Roll, Rhythm & Blues, Soul und Funk, später auch Rap und Hip Hop. Die 74 N G | F H 3 | 2 0 13 Spuren führten zurück nach Afrika, erinnern noch heute an Sklaverei und Verschleppung ganzer »Negerstämme« nach Amerika – eines der dunkelsten Kapitel US-amerikanischer Geschichte. Dennoch erwuchs daraus eine erfolgreiche Kulturgeschichte, brachten die so eingeführten Rhythmen und Rituale schließlich auch den Weißen nie gekannte Erlebniswelten, die voller Magie blieben. »Es gibt Berichte über Bessie Smith, wie sie ihr Publikum bei Liveauftritten förmlich hypnotisierte und in einem Fall einen Zuschauer nur mit ihrer Stimme über die Bühne ›geführt‹ habe wie einen Zombie«, schreibt der Blues-Experte Elijah Wald in seinem neuen Buch. Bessie Smith kam aus ärmsten Verhältnissen – und nahm bis zu ihrem frühen Tod im Jahr 1937 mehr als 150 Schallplatten auf, was noch heute als rekordreif gilt und auf eine enorme Schaffenskraft im Namen