Inwiefern sind professionelle Prostituierte Opfer sexualisierter Gewalt?

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Inwiefern sind professionelle Prostituierte Opfer sexualisierter Gewalt?
Modul: Heterogenität und Individualisierung
Seminar: Heterogenität und Individualisierung
Leuphana Universität Lüneburg
Dozentin: Dr. Gundula Müller
Semester: SS 2015
Abgabetermin: 30.08.2015
Inwiefern sind professionelle Prostituierte Opfer sexualisierter
Gewalt?
Verfasserin:
Madeleine Eggers
Inhalt
1 Einleitung ................................................................................................................................ 1
2 Die Frau in der Prostitution ..................................................................................................... 3
2.1 Forschungsstand ............................................................................................................... 3
2.2 Sexuelle Doppelmoral der Frau und geschlechtsspezifische, sexuelle Ungleichheit ....... 5
3 Sexismus und sexualisierte Gewalt ......................................................................................... 6
4 Sind professionelle Prostituierte Opfer sexualisierter Gewalt? ............................................... 8
4.1 Die Sicht der Freier........................................................................................................... 8
4.2 (Sexualisierte) Gewalterfahrungen von Prostituierten ................................................... 12
4.2.1 Statistische Daten ..................................................................................................... 12
4.2.2 Die Sicht der Prostituierten ...................................................................................... 14
5 Fazit ....................................................................................................................................... 17
Schlusswort .............................................................................................................................. 19
Literaturverzeichnis
Anhang
Eidesstattliche Erklärung
Anhang
Anhang 1: Interview „Ohne Werbung kommen sie nicht aus“ mit Stephanie Klee
(05.03.2014)
Anhang 2: Offener Brief „Über das Schweigen“ von Huschke Mau (20.11.2014)
Anhang 3: Offener Brief von Huschke Mau an Manuela Schwesig (21.04.2015)
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1 Einleitung
Prostitution und Frauenhandel gilt neben dem Drogen- und Waffenhandel als das älteste und
ertragsreichste Gewerbe der Welt. Nach Schätzungen der Berliner Prostitutionsberatungsstelle
Hydra e.V. liegt die Zahl der weiblichen Prostituierten in Deutschland bei 400.000 und der
Jahresumsatz bei etwa 15 Milliarden Euro (vgl. BMFSFJ 02.01.2010). Täglich sollen über 1
Millionen Männer die sexuellen Dienstleistungen in Anspruch nehmen (vgl. Kohnen
04.08.2015). Hinzu kommt, dass Zuhälter vor allem mit dem Frauenhandel aus Osteuropa
Höchstgewinne, die mit den Einnahmen aus dem Drogenhandel zu vergleichen sind, erzielen
(vgl. BMFSFJ 2004: 4).
Prostituierte sind einer erhöhten sexualisierten Gewalt ausgeliefert. 41 Prozent der Prostituierten haben in ihrem beruflichen Kontext bereits körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren
(vgl. ebd.: 23). Das Dunkelfeld verbirgt weitaus mehr.
Die strafrechtliche Verfolgung der Prostitutionsnachfrage ist bisher nur in Schweden gesetzlich geregelt. Deutschland wird derzeit – durch die Legalisierung infolge des Prostitutionsgesetztes (ProstG), in Kraft seit 2002 – in den Medien, in Freierforen und Bordellen als Prostitutionshochburg Europas gefeiert. Sogar Bordelle gehen an die Börse. Das ProstG ermöglicht es
Prostituierten beispielsweise ihren Lohn einzuklagen und ihre Arbeit in einem Angestelltenverhältnis auszuüben, wodurch sie kranken- und sozialversichert sein können (vgl. ebd.: 4f.).
Gleichzeitig ermöglicht es Bordellbetreiber/innen sogenannte „Flatrate-Bordelle“ (zum Beispiel Pussy-Club, Flat-99 in Hamburg) legal zu führen und dabei Frauenkörper zu Pauschalpreisen anzubieten („30 Minuten mit einer Dame – 30 Euro“, Flat-99). Nebenbei verdient der
Staat durch die Vergnügungsteuer ebenso an den Frauen, die sich prostituieren. Berlin erhält
bei 2000 Prostituierten in der Hauptstadt und 30 Euro Steuern pro Frau am Tag 14 Millionen
Euro im Jahr (vgl. Louis 2013: 71). Ein neuer Referentenentwurf „Entwurf eines Gesetzes zur
Regulierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen“ (29.07.2015) soll Mitte 2016 in Kraft treten und Prostituierte vor Fremdbestimmung
und Ausbeutung schützen. Bisher fehlt es jedoch an Mindestvorgaben für die Einhaltung von
persönlicher Freiheit, sexueller Selbstbestimmung, Schutz und Gesundheit für Prostituierte.
Die Legalisierung der Prostitution hat nach Huschke Mau, einer ehemaligen Prostituierten,
„ihr wahres Wesen offenbart: Gewalt. Völlige Verfügbarkeit von Frauenkörpern. Das hemmungslose Ausleben von Männermacht. Und: sexualisierte Folter“ (Mau 2014 Anhang 2, Z.
71-73).
1
In dieser Arbeit wird folgende Fragestellung thematisiert: „Inwiefern sind professionelle Prostituierte Opfer sexualisierter Gewalt?“. Diese Frage ist vor dem Hintergrund der andauernden
Debatte über Prostitutionsgesetzesänderungen von besonderer Bedeutung. Die komplexe Fragestellung kann dabei nur exemplarisch, anhand ausgewählter Aspekte beleuchtet werden,
wobei auf die Perspektive der Zuhälter sowie Bordellbetriebe, Zwangsprostitution, Menschenhandel, Kinder-, Drogen- und Tourismusprostitution in diesem Rahmen verzichtet werden muss. Vorliegend wird auf eine der häufigsten Erscheinungsformen der Prostitution eingegangen: weibliche Prostituierte, die ihre Dienste gegenüber Männern anbieten. Diese Arbeit
beschränkt sich auf die „freiwillige“ Prostitution, dabei sei dahingestellt, ob diese in den
Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Frau, Freier und Zuhälter als freiwillig bezeichnet werden kann.
Den Prostitutionsdiskurs, der aus verschiedenen Perspektiven wissenschaftlich diskutiert
wird, gilt es in Hinblick auf sexualisierte Gewalt an Frauen und geschlechterbedingte Machtverhältnisse im Sexgewerbe zu reflektieren. In welchem Ausmaß der Prostitutionsdiskurs bisher thematisiert wurde, wird im Forschungsstand (2.1) behandelt, wobei folglich die sexuelle
Doppelmoral der Frau und sexuelle Ungleichheit (2.2) in der Gesellschaft beleuchtet wird. Im
Kapitel Sexismus und sexualisierte Gewalt (3) wird nach einer Begriffsdefinition ein Beispielkatalog über sexualisierte Gewalt vorgestellt. Dies dient als Basis für die Diskussion der
Frage „Sind professionelle Prostituierte Opfer sexualisierter Gewalt?“ (4). Eine Verflechtung
von Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen in der Prostitution sowie unterschiedliche Wahrnehmungen von Freiern und Prostituierten gilt es hierbei aufzudecken. Dabei wird zunächst
die Sicht der Freier (4.1) fokussiert und folgend die weibliche Perspektive von zwei (ehemaligen) Prostituierten, in der der Diskurs um (sexualisierte) Gewalterfahrungen von Prostituierten (4.2) hervorgehoben wird, vertieft. Den Abschluss der Arbeit bildet zunächst das Fazit
(5), in dem der Themenkomplex resümiert und auf einen Forschungsausblick hingewiesen
wird und abschließend ein Schlusswort.
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2 Die Frau in der Prostitution
Die Stellung der Frau in der Prostitution sollte sich durch das ProstG (2002) erheblich verbessern, indem ihnen mehr Rechte für eine selbstbestimmte Ausführung ihrer Dienstleistungen
gewährt werden. Die Ziele wurden jedoch – dies wurde auch durch den Referentenentwurf
des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2007 bestätigt – nicht erfüllt (vgl. BMFSFJ 2015: 1). Prostituierte sind immer noch erhöhter, sexualisierter Gewalt
durch Freier, Zuhälter oder Beziehungspartner, (gesellschaftlicher) Diskriminierungen und
einer allgemeinen sexuellen Doppelmoral ausgesetzt. Dabei verzeichnen die Hilfsvereine
(z.B. Hydra), die gegen die Marginalisierung und für die Selbstbestimmung der Frauen arbeiten, folgende Problemfelder: „die Überschuldung der Frauen“, „die Isolation der Frauen“,
„die Obdachlosigkeit und das Fehlen eigener Privaträume“ sowie „die Gesundheit“ (BMFSFJ
2004: 5).
Im Folgenden wird der Forschungsstand dieses Themenkomplexes kurz erläutert, um einen
Überblick der aktuellen und bisherigen Forschung im Prostitutionsdiskurs zu erhalten.
2.1 Forschungsstand
Die aktuelle Forschung bezieht sich weitgehend auf die häufigste Form von Prostitution:
weibliche Prostituierte und männliche Freier. Im Kontext des ProstG (seit 2002) wird über
negative Entwicklungsverläufe zum Beispiel in Bezug auf Zwangs-, Drogen- und Kinderprostitution sowie Menschenhandel diskutiert. Thematisiert wird dabei oft die Marktöffnung für
internationale Prostitutions- und Menschenhändler vor allem aus Osteuropa. Erfahrungsberichte und Biographien von Frauen, die als Mädchen oder Frau in Deutschland zur Prostitution gezwungen wurden oder „freiwillig“ in das Prostitutionsgewerbe eingestiegen sind, vertiefen die gesellschaftspolitischen Forschungen, decken Hintergründe des Gewerbes auf, alarmieren zur Veränderung des ProstG und zur Veränderung der gesellschaftlichen Haltung gegenüber Prostituierten in Deutschland. Gewalt wird bei dieser „Berufsgruppe“1 jedoch nicht
schwerpunktmäßig erforscht.
1
Den Begriff „Berufsgruppe“ in diesem Kontext sollte man nur bedingt gebrauchen, da sich Zahlen von
Zwangs- und Kinderprostitution nicht klar ermessen lassen und ggf. die Trägerinnen der „Berufsgruppe“ keine
„freiwillige“ Wahl des „Berufes“ hatten und somit eine diskriminierende Kategorisierung vorgenommen wird.
Ebenso bewirkt der Begriff „Prostituierte“ eine Kategorisierung und Marginalisierung. Hiermit wird darauf hingewiesen, dass es Mädchen und Frauen gibt, die mit dieser Bezeichnung tituliert werden, obwohl sie nicht „freiwillig“ im Prostitutionsgewerbe sind.
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Im Diskurs begegnen sich unterschiedliche Lager. Zum einen die (ehemaligen) Prostituierten
und Hilfsorganisationen, die Ausstiegsberatung für Prostituierte anbieten zum anderen die
Prostitutionslobby, die Einstiegsberatung anbietet. Diese unterschiedlichen Haltungen werden
im Kapitel 4.2 anhand zweier (ehemaliger) Prostituierten deutlich. Interessant ist, dass viele
Artikel darauf verweisen, die Perspektive der Freier näher zu erläutern, da diese bisher nur
sehr einseitig im Hinblick auf die „Prostituierte als Opfer“ und „Freier als Täter“ diskutiert
wurde. In diesem Zusammenhang ist Sabine Grenz, tätig am Zentrum für transdisziplinäre
Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Berlin, mit ihrer Forschung, die sie in ihrem
Buch „(Un)heimliche Lust. Über den Konsum sexueller Dienstleistungen“ (2007) erläutert, zu
erwähnen. In der Studie mit 19 heterosexuellen, männlichen Prostitutionskunden untersucht
die Autorin, inwieweit die Geschichten, die Freier über sich erzählen, dem Ideal pluraler, sexueller Lebensstile oder der traditionellen patriarchalen Geschlechterordnung folgen. Die Rezeption dieser Studie dient dazu, die Perspektive der Freier auf das Prostitutionsgewerbe und
deren Wahrnehmung von weiblichen Bedürfnissen zu beleuchten sowie deren moralische,
gesellschaftliche und traditionelle Werte zu hinterfragen.
Während der Recherche zeigte sich, dass gewaltvolle sowie höchstdiskriminierende, perverse
und sexualisierte Kommunikationsformen, die zu einer Objektwerdung der Frau führen, besonders in Freierforen und Zuhälter-Interviewausschnitten erkennbar sind. Gewaltvolle Aussagen über perverse Wünsche von Freiern wurden jedoch in der Studie von Sabine Grenz –
auf die sich ein Großteil von Kapitel 4.1 bezieht – nicht thematisiert. Um diesen Aspekt auszugleichen, dienen Berichte aus Freierforen, der offene Brief von Huschke Mau, eine ehemalige Prostituierte, und die Untersuchung „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von
Frauen in Deutschland“ (2004) in Bezug auf Prostituierte des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Ein wichtiger Bezugspunkt dieser Arbeit sind ebenso Internetquellen wie Dokumentationen
über Prostitution, (Edel-)Bordelle und Berichte in Freierforen, welche kritisch hinterfragt
werden, um ein umfassendes Bild der Thematik zu erlangen. Kurzfilmdokumentationen über
Bordelle berichten häufig von der Prostitution als profitables Geschäft, indem die Prostituierte
„schnelles Geld“ macht. Dabei wird oft nicht erwähnt, dass sie eine Tagesmiete von über 100
Euro zahlen müssen („Das macht bei 30 Euro pro Verkehr hundert Freier pro Monat allein für
die Miete“, Louis 2013:103).
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Ausgehend von Erfahrungsberichten wie Interviewausschnitten zweier (ehemaliger) Prostituierten und Freiern sind die zentralen Ziele dieser Arbeit, sexualisierte Gewalt im Prostitutionsalltag anhand unterschiedlicher Personengruppen (Prostituierte, Freier) zu thematisieren,
gesellschaftliche Aufklärung über die Bedingungen als Frau in der Prostitution zu erreichen
und gesellschaftlich-traditionelle Geschlechtervorstellungen zu enthüllen, wodurch die Frau
letztlich als Person mit eigenen Bedürfnissen, Rechten und Gefühlen respektvoll geachtet und
behandelt werden soll.
2.2 Sexuelle Doppelmoral der Frau und geschlechtsspezifische, sexuelle Ungleichheit
Die sexuelle Doppelmoral bedeutet die Zweideutigkeit der Frau als „Heilige“ oder „Hure“ in
Bezug auf ihre Sexualität. Einerseits hat sie als „Heilige“ scheinbar keine eigenen, sexuellen
Bedürfnisse und handelt als trieblose Frau, andererseits befriedigt sie als „Hure“ das Begehren
und die sexuellen Triebe des Mannes. Diese widersprüchliche, sexuelle Vereinigung von
„Heilige“ und „Hure“, die schon seit Jahrhunderten in der Gesellschaft verankert ist, spielt in
der Prostitution eine besondere Rolle.
Sabine Grenz bezieht sich auf ihre narrative Interviewstudie, die ergab, dass diese traditionelle Geschlechterordnung und das Ideal pluraler, sexueller Lebensstile in den Denkstrukturen
der Freier noch vorherrschend ist (vgl. Grenz 2007: 122). Nach Grenz kommt es zu einer Objektwerdung der Frau beim sexuellen Akt, wobei sie selbst völlig asexuell ist. Diese Verdrängung des weiblichen Begehrens und der weiblichen Sexualität führt zu einer geschlechtlichen
Ungleichheit, die den Männern ein Privileg und somit eine Machtvorstellung zukommen lässt,
stets ihre Triebe durch die Frauen befriedigt zu bekommen. Die Frau diene nur als „Medium
der Zivilisierung des Mannes“ (ebd.: 123 ff.). Hervorzuheben dabei ist, dass nicht nur in der
Befriedigung sexueller Wünsche, sondern auch im Begehren selbst, sexuelle Macht zum Ausdruck kommt.
Die geschlechtsspezifische, sexuelle Ungleichheit, die unter anderem auf der traditionellen,
sexuellen Doppelmoral der Frau gründet, ist geprägt von einer unterschiedlichen (sexuellen)
Machtstellung der Geschlechter. Die Frau ist dabei eine Dienerin der Sexualität des Mannes
ohne eigene, sexuelle Wünsche. Das dualistisch konstruierte Geschlechterverhältnis ist laut
Annedore Prengel, Erziehungswissenschaftlerin, darin zu begründen, dass es im Kontext der
„monistische[n] 2 Theorie der Geschlechter […] nur ein Wert [gebe]. Menschlichkeit als
2
Monogamie bedeutet eine Einehe und häufig nur der Geschlechtsakt mit einer Person (vgl. Lexikon der Psychologie in Spektrum. 2000).
5
Männlichkeit […], während Weiblichkeit nur in Ableitungsformen quasi als Sonderfall des
Menschlichen diesem kontrastiert und subsumiert wird“ (Prengel 2006: 102). Dieses Geschlechterverhältnis und die scheinbar selbstverständliche, sexuelle Verfügbarkeit von Frauen
findet vor allem in der Prostitution ihren Ausdruck. Die Politik hat bewusst oder unbewusst
das bestehende ungleichmäßige Geschlechterverständnis, wobei die Frau als „Heilige“ oder
„Hure“ und der Mann als mächtiger und triebhafter Mensch in der Gesellschaft definiert wird,
durch die Legalisierung der Prostitution in Deutschland verstärkt. Die Sexualität und Weiblichkeit der Prostituierten gilt als „abhängige Ware“, die ohne feste Zukunftsvereinbarungen
käuflich ist und somit nur dem Mann und dessen Sexualität dient. Damit ist sie in der Machtstellung dem Mann unterworfen, da sie ebenso finanziell von ihm abhängig ist. Die Frau als
Mensch ist in diesem Diskurs in unterschiedliche Rollen wie Ehefrau oder Prostituierte zu
differenzieren. Die Ehefrau ist laut Simone de Beauvoir, französische Schriftstellerin und Philosophin, in der Ehe unterdrückt, doch geachtet, während die Prostituierte keine eigenen
Rechte als Person besitzt: „in ihr finden sich alle Formen der Unterdrückung und Sklaverei“
(De Beauvoir 1992: 701). Die Objektivierung der Frau beeinflusst ebenso das gesellschaftliche Bild über die Ungleichheit der Geschlechter, da „selbst die Männer, die es - [zu einer
Prostituierten gehen] - nicht tun, wissen, dass sie es tun könnten“ (Schwarzer 2000: 145).
Neben der geschlechtsspezifischen, sexuellen Ungleichheitsperspektive kann auch die bestehende, strukturelle Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern ökonomisch durch den
„unbereinigten Gender Pay Gap“ bewiesen werden. Laut Statistischen Bundesamt verdienten
im Jahr 2013 Frauen 22 Prozent weniger als Männer. Berechnungen aus 2010 zeigen, dass
selbst bei „formal gleicher Qualifikation und Tätigkeit“ Frauen schlechter entlohnt wurden
(bis zu 7 Prozent). Eine Ursache sieht das Statistische Bundesamt unter anderen in den Erwerbsbiografien, die bei Frauen oft aufgrund von Kindererziehung zu einem geringeren Verdienst führen (vgl. Statistisches Bundesamt 2013).
3 Sexismus und sexualisierte Gewalt
Sexismus ist ein politischer Begriff, der vor allem durch die Frauenbewegung in den 1970er
Jahren in den USA eingeführt wurde und Unterdrückung, Diskriminierung sowie Benachteiligung des biologischen Geschlechts bedeutet (vgl. Meier 2012: 8).
Nach Thomas Eckes, Psychologe, ist Sexismus eine Zusammenkunft unterschiedlicher
„kategoriegestützte[r] Kognitionen (Stereotype), Affekte (Vorurteile) und Verhaltensweisen
6
(Diskriminierung) […], die auf einen ungleichen sozialen Status von Frauen und Männern
hinwirken“ (Eckes 2010: 183). In diesem Zusammenhang gibt es laut Eckes zwei duale Bedeutungskerne: der hostile Sexismus (HS), welcher sich auf die feindseligen Einstellungen
bezieht und der benevolente Sexismus (BS), der „subjektiv positiv, wohlmeinende“ Einstellungen beinhaltet. Dabei sei zu beachten, dass „strukturelle Macht von Männern […] hostilen
Sexismus [schürt und die] Abhängigkeit der Männer von Frauen in engen, interpersonellen
Beziehungen
[den]
benevolenten
Sexismus
[begünstigt].“
(ebd.:
184).
Weitere
Sexismustheorien unterscheiden sich nach ihrem jeweiligen Kontext und Berufszweigen und
können hier nicht weiter vertieft werden.
„Sexualisiert“ bedeutet, dass Sexualität missbraucht wird, um anderen Menschen gegenüber
Macht und Überlegenheit zu demonstrieren. Die sexuelle Lust und Bedürfnisse des Gegenübers sind dabei nicht relevant. Sexualisierte Gewalt kann unabhängig vom Geschlecht begangen beziehungsweise erfahren werden und beinhaltet, dass die Bedürfnisse nach Macht,
Kontrolle und Demütigung, sexuelle Belästigung, Vergewaltigung und non-/verbale sowie
körperliche Grenzverletzungen schüren. Es werden persönliche Grenzen überschritten und
eigene Wünsche nicht beachtet. Die häufigste Form ist die sexualisierte Gewalt von Männern
an Frauen (vgl. Arbeitskreis gegen sexuelle Belästigung und andere Formen sexualisierter
Gewalt an der Uni und FH Münster (Hg.) 2004: 6). Sexualisierte Gewalt kann unter anderem
in Worten, Verhalten, Gesten, in der Werbung, im Internet oder im direkten Gegenüber ausgeübt werden. Der folgende Beispielkatalog zeigt Aspekte von unterschiedlichen Grenzverletzungen sexualisierter Gewalt:

verbale Grenzverletzungen: „Anzügliches Reden über körperliche Merkmale, Aussehen, Kleidung; Abfällige Bemerkungen mit sexuellem Inhalt; Diskriminierende Witze;
Indiskretes "Ausfragen" über die Lebensführung“

nonverbale Grenzverletzungen: „Verteilen, Aufhängen und Zeigen von Darstellungen
sexistischen oder pornographischen Inhalts; Provozierendes und ungebührliches Verhalten, sexuell herabwürdigende Gesten; Wiederholtes und anhaltendes Anstarren;
Unerwünschte Geschenke“

körperliche Grenzverletzungen: „Erzwingen sexueller Handlungen; sexuelle Nötigung,
Vergewaltigung; Aufforderung zu sexuellen Handlungen; Unerwünschte Berührungen
und Übergriffe; Nicht erwünschte körperliche Nähe“ (ebd.: 6).
Es gibt weltweit keinen einheitlichen Moralkodex, wo die Grenzen zur Gewalt sind oder wie
diese genau definiert wird. Die Weltgesundheitsorganisation (2003) definiert Gewalt wie
folgt:
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„Der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang
oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe
oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt.“ (6).
Ob und inwiefern Prostituierte einem erhöhtem (sexualisiertem) Gewaltpotential ausgeliefert
sind, wird in Kapitel 4.2 anhand empirischer Untersuchungen und Erfahrungsberichte reflektiert.
4 Sind professionelle Prostituierte Opfer sexualisierter Gewalt?
Dieses Kapitel dient der gleichnamigen Fragestellung, um zu untersuchen, inwiefern Prostitution ein Ort ist, an dem sexualisierte Gewalt ausgeübt und erlebt wird. Im vorherigen Kapitel
wurde sexualisierte Gewalt definiert und ein Beispielkatalog aufgelistet, um im weiteren Verlauf diese Aspekte aus Perspektiven des Freiers (4.1) und (ehemaliger) Prostituierten (4.2.2)
zu beleuchten.
Durch den Begriff „professionell“ wird das Umfeld dieser Ausarbeitung eingegrenzt. Straßen, Kinder-, Drogen- sowie Zwangsprostitution und Menschenhandel können in diesem Zusammenhang nicht erläutert werden. Mit „professionellen“ Prostituierten sind Frauen gemeint,
die hauptberuflich in einem Bordell arbeiten, selbstständig sind oder in einem Arbeitsverhältnis mit einem Zuhälter stehen.
4.1 Die Sicht der Freier
In diesem Abschnitt gilt die Aufmerksamkeit der männlichen Perspektive auf ausgewählte
Aspekte der Prostitutionsthematik hinsichtlich der Interviewauswertung von Sabine Grenz
und Freierforenberichte.
Grenz thematisiert in ihrer Studie folgende Doktrin im Freier-Diskurs: „Sex ist männlich,
wichtig, hat mit Liebe nichts zu tun und kann von Männern konsumiert werden“ (Grenz 2007:
241). Diese Doktrin unterstreicht die sexuelle Doppelmoral der Frau (Kapitel 2.2) und die
geschlechtsspezifische Ungleichheit, in der der Mann seine Sexualität ausleben kann und die
Frau diese nur unterwürfig bedient. Emotionen wie Liebe werden nach dieser Doktrin ausgeklammert und durch Macht, Kontrolle und Konsumfreiheit ersetzt.
Ein Proband der Studie meint: „Als Mann bist du sowieso fast immer sexbesessen. Das ist bei
Frauen anders, denke ich, vielleicht nicht bei allen, aber trotzdem“ (ebd.: 104). Er bewertet
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die Sexualität und das sexuelle Begehren der Geschlechter unterschiedlich, wobei sexbesessen
und asexuell gegensätzlich betrachtet werden können.
Die Prostitution als Ort, um diesen Konsum auszuleben und damit eine gesellschaftliche
Funktion zu erfüllen, beschreibt ein weiterer Proband der Studie: „Ja und das, [dass es Prostitution] gibt hat doch nicht nur eine biologische Funktion. Das hat doch auch eine gesellschaftliche Funktion. Überlegen Sie mal, wie die Vergewaltigungen steigen würden, wenn es das
nicht gäbe“ (Grenz 2007b: 12). Dieser Aspekt der angeblichen Schutzfunktion der Prostitution für die Gesellschaft verzeichnete Grenz auch bei anderen Probanden (vgl. ebd.: 12 f.).
Die Beziehung zwischen Freier und Prostituierten ist laut Grenz ambivalent, da einerseits der
Freier auf die Prostituierte Macht ausübe, andererseits beide miteinander verhandeln oder aber
die „Bedürftigkeit der Männer“, eine Abhängigkeit von den Prostituierten bedeutet (Grenz
2007: 234). Die Verflechtung zwischen Macht und Abhängigkeit ist verbunden mit einer
identitätsstiftenden Wirkung des Sexual-Aktes beim Mann (vgl. ebd.: 242).
Er sucht „das Natürliche, Echte und die emotionale Ressource“ und ist enttäuscht, wenn die
Frau dies nur als Geschäft abrechnet (ebd.: 234). Das „Geschäft“ ist geprägt von dem Geld als
ein besonderes Machtmittel. Nach Alice Schwarzer kaufen Männer bei Prostituierten keinen
Sex, sondern Macht: „Er zahlt, sie liefert“ (2000: 147). Über das Geld wird die Frau zu einer
Ware objektiviert. Zu unterscheiden ist dabei, ob die Frau
„Ware oder Verkäuferin ihrer Schönheit ist, und ob sie Verkäuferin im Sinne einer
Lohnarbeiterin oder einer Unternehmerin ist. Ist sie Ware, wird sie von jemand anders
verkauft und ist dementsprechend machtlos. Ist sie Verkäuferin als Lohnarbeiterin,
nutzt jemand anderes ihre Arbeitskraft, um an ihr zu verdienen [...]. Ist sie aber Unternehmerin, so nutzt sie die gegebenen Verhältnisse und schlägt daraus Kapital" (Grenz
2007: 157).
Aus dieser Perspektive manifestieren sich die vielfältigen Machtstrukturen, die durch Zuhälter
– je nachdem, ob die Prostituierte eine „Lohnarbeiterin“ oder „Unternehmerin“ ist - und Freier beeinflusst werden.
Das folgende Zitat betont – aus Sicht eines Freiers – die Position der Frau als „Ware“: „Und
da ist auch so dieses Machtgefühl dabei. Du hast die Kohle. Und dann kannst du das ganz
einfach machen. Kaufst dir jemanden. Das ist schon sehr verführerisch“ (Grenz 2007b: 16).
Dabei erlebten Probanden laut Grenz diese Käuflichkeit von sexuellen Dienstleistungen und
die Reduzierung auf die kommerzielle Sexualität auch als „unerotisch“ (vgl. ebd.: 17). Die
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Autorin schlussfolgert, dass das Geld zwar ein Machtmittel ist, dies allein für die Befriedigung der Bedürfnisse jedoch nicht ausreiche, da – wie weiter oben bereits erläutert – eine Abhängigkeit zur Frau besteht, und der Wunsch sich fortsetzt, begehrt zu werden sowie sexuelle
Lust bei der Prostituierten auszulösen. Diese beiden letzteren Aspekte liegen jedoch nicht im
Machtbereich der Männer, da selbst durch Geld oder Gewalt die Gefühle von Menschen nicht
erzwungen werden können. Dadurch entsteht ein Widerspruch zwischen der „Anziehungskraft des Mannes und der Macht des Geldes“, die oft mit einer schlechten Dienstleistung der
Frau entschuldigt wird (vgl. ebd.: 18).
Zusätzlich wird ein Konflikt in den Interviews erkennbar, der „zwischen sexueller Permissivität […] und dem Desinteresse, die Perspektive des Gegenübers einzunehmen und Grenzüberschreitungen wahrzunehmen“ besteht (ebd.: 8). Dies begründet Grenz auf die Fragen der Probanden bezüglich des sexuellen Kontakts zur Autorin selbst (vgl. ebd.). Dabei ist ebenso ein
ambivalentes Verhalten der Männer zu erkennen: „Einerseits zeigen sie Respekt, andererseits
berufen sie sich auf traditionelle Privilegien männlicher Sexualität“ (ebd.). Freier nehmen die
Perspektive der Prostituierten meist nicht ein, sondern berichten über eine bezahlte Leistung,
in der sie die Anforderungen stellen. Einige Freier versuchen die Prostituierte zwar als gleichberechtigte Geschäftspartnerin und Person anzuerkennen, dabei sind sie jedoch durch ihre
traditionell-geprägte Sichtweise der geschlechtshierarchischen Rollen geprägt und können
diese in ihrer eigenen Beurteilung und in ihrem Verhalten nicht bewusst wahrnehmen (vgl.
ebd.: 19).
Das Bedürfnis eine Prostituierte aufzusuchen und für Sex zu bezahlen, scheint, obwohl Freier
in Deutschland keine rechtlichen Konsequenzen drohen und die Prostitution gesellschaftlich
als Männerdomäne toleriert wird, jedoch oft Scham auszulösen. Grenz begründet dies damit,
dass die Angst über die negative Beurteilung der jeweiligen Sexualität, ihrer Person und ihres
Lebensstils in den Probanden vorherrschte (vgl. Grenz 2007b: 4 f.). Sie manifestiert: „Einige
empfanden es als nicht „männlich“, für Sex zu bezahlen, statt ohne Geld bei Frauen erfolgreich zu sein. Männer, die in festen Partnerschaften lebten, scheuten sich aus Angst vor Konflikten, ihren Partnerinnen davon zu berichten“ (ebd.: 5).
Um eine erweiterte Perspektive des Freier-Diskurses zu erhalten, werden im Folgenden zusätzliche männliche Stimmen zur Prostitution beschrieben. Besonders die Berichte aus
Freierforen sollen Aspekte sexualisierter Gewalt gegen Frauen aufzeigen. Als eine Plattform
für eine exzessive Lustkultur können die internationalen Freierforen, in denen sich Männer
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über ihre sexuellen Erfahrungen mit Frauen austauschen und darüber hinaus auf die besten
Sex-Hotels, Bordelle und Frauen verweisen, bezeichnet werden. Das folgende Zitat gibt einen
ersten Einblick:
„To all the men who enjoy the fruits of Latin America, I highly recomend Colombia especially Medellin... the most beautiful women in the World are here! At Club La Isla
[by the Hotel Intercontinental], I enjoyed the strip show for 3 hours and never saw the
same girl twice!“ (Jose 16.11.2005)
Die Forenberichte beinhalten abwertende und unmenschliche Bezeichnungen für Frauen. Die
Existenz solcher Foren und der damit verbundene Austausch über Frauen als zu „konsumierende Waren“, zeigen ein gesellschaftlich akzeptiertes, geschlechterhierarchisches Rollenverständnis und die Abwertung der Frau zur Ware. Folgendes Zitat soll diese These präzisieren:
„The women in Bogota, as elsewhere in Colombia, are very attractive, and it isn't difficult for a foreign man wherever he might be to pick-up a woman casually, in a store
or on the street etc., and hopefully fuck her brains out - without resorting to nightclubs
with working women. All the man needs is a bit of skill. But such it is all around the
world, as we all know that women in general are sluts, whores, and fuckers at heart,
and thank God for them being at least sluts and fuckers“ (Anonym 28.07.2007)
Dieses Zitat zeigt wie sexualisierte Gewalt, Sexismus und Grenzverletzungen in Denkstrukturen verankert sein können. Dieser Autor spricht der Frau die Weiblichkeit, ihre Sexualität,
ihre Wünsche und ihr Sein als Person ab, indem er letztlich Gott dafür dankt, dass sie ja
„sluts, and fuckers“, frei übersetzt „Schlampen“ sind und somit nur das Begehren der Männer
befriedigen können. Die Frau wird zum Lust-, Macht-, Wett- und Sex-Objekt des Mannes und
in ihrer Person nicht als gleichwertig zum Mann wahrgenommen. Diese Thesen lassen sich
ebenfalls durch das folgende Zitat eines Freiers unterstreichen:
„Ich zog ihr die Arschbacken auseinander und schob ihr langsam meinen Schwanz in
den Arsch, was sie mit leisen Jaulen quittierte […]. Als ich mich dem Ende näherte
und sie immer heftiger fickte, wollte sie dass ich aufhöre und sie lieber in die Muschi
ficken sollte. Unter normalen Umständen hätte ich das mir war nun mal nicht danach…sorry Vanessa. Nach ein paar weiteren Stössen, schoss ich meine Ladung in die
Tüte und schob ihn ihr nochmal bis zum Anschlag rein. AV3 + FO4 50 Euro“ (Anonym, Freiersblick Forum)
Diese Aussage macht deutlich, dass erhebliche Machtverhältnisse und ein vorgeprägtes Geschlechterverständnis, in dem die Frau dem Mann untergeordnet ist, das Verhalten des Freiers
steuern. Sexualität wird als Gewaltform genutzt, um dieses Machtverhältnis herzustellen. Jeg3
4
Analverkehr
Fellatio (orale sexuelle Erregung des Penis) ohne Kondom
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liche körperliche, non-/verbale und psychische Grenzverletzungen, die in einen hostilen Sexismus übergehen, werden deutlich. Die Ignoranz der weiblichen Bedürfnisse und ihr
Schmerz werden dabei sogar als männliche Machtsteigerung und möglicherweise als erotisierend empfunden.
Die männlichen Perspektiven werden im Folgenden durch Erfahrungsberichte von weiblichen
ergänzt, um ein umfassendes Verständnis des komplexen Themenfeldes – sofern dies in dem
Umfang dieser Arbeit möglich ist – zu bekommen.
4.2 (Sexualisierte) Gewalterfahrungen von Prostituierten
„Es geht in der Prostitution nicht um Sex, es geht um Macht. Und nur um Macht. Tu
nicht so, als könnten Frauen sich dort ausleben in ihrer Sexualität, der einzige, der sich
auslebt, ist der Freier, dessen Wünsche Du erfüllst. Und zwar auf Deine Kosten“ (Mau
2014, Anhang 2, Z. 42-45).
Dieses Kapitel beschreibt die Erfahrungen von zwei (ehemaligen) Prostituierten, die sich in
der Prostitution unterschiedlich definieren (4.2.2). Einerseits als „Opfer“ sexualisierter Gewalt
und diverser Machtverhältnisse (Huschke Mau), andererseits als gleichberechtigte Geschäftspartnerin (Stephanie Klee). Um diese Aussage zu fundieren, folgen zunächst statistische Daten (4.2.1) über Gewalterfahrungen von Prostituierten.
4.2.1 Statistische Daten
Frauen, die sich prostituieren sind einem erhöhten Risiko von Gewalt ausgesetzt. Laut der
Untersuchung „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“ 5
(2004) des Bundesministeriums für Familie, Senioren und Frauen (BMFSF) haben „41 % der
befragten Prostituierten […] körperliche oder sexuelle Gewalt (oder beides) im Kontext der
Ausübung sexueller Dienstleistungen erlebt“ (BMFSF 2004: 23). Außerdem berichtet die Untersuchung von erheblichen Einschränkungen des Sicherheitsgefühls und Ängsten vor sexuellen Übergriffen der Frauen im Bereich ihrer sexuellen Dienstleistungen und ihrem Zuhause,
das häufig gleichzeitig ihr Arbeitsraum ist. Freier sind dabei, nach den männlichen Beziehungspartnern, „die am zweithäufigsten genannte Tätergruppe bei körperlicher und bei sexueller Gewalt“ (ebd.). Des Weiteren wurde festgestellt, dass „43 % der befragten Prostituierten
[…] sexuellen Missbrauch in der Kindheit erlebt [hatten], über die Hälfte (52 %) wurden von
den Eltern häufig oder gelegentlich körperlich bestraft; ein relativ hoher Anteil hatte körperli5
In dieser Untersuchungsgruppe (2. Teilpopulationen-Erhebung: Prostituierte) wurden 110 Frauen in der Prostitution meist aus dem Appartement-Club-, und Bordelbereich befragt. Die Altersgruppe der befragten Prostituierten lag zwischen 14 und 62 Jahren. (BMFSF 2004).
12
che Misshandlungen durch die Erziehungspersonen erlitten“ (ebd.). Besonders psychische
Erkrankungen wie Depressionen, Essstörungen und gelegentliche Selbstmordgedanken wurden unter den Befragten verzeichnet. Dabei leidet fast ein Drittel der Probanden an Angstanfällen und Panikattacken (vgl. ebd.). Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang der hohe
Drogenkonsum – „41% hatten in den letzten 12 Monaten Drogen zu sich genommen“ – auffällig (BMFSF 2004: 23.). Zu beachten ist, dass die (Einstiegs-)Thematik in das Prostitutionsgewerbe nicht auf vorherige (sexualisierte) Gewalterfahrungen der Frauen als Motive beschränkt werden sollte.
Eine Teiluntersuchung zu Gewalt gegen Prostituierte in Deutschland ergab, dass 92 Prozent
der befragten Frauen von sexueller Belästigung, 82 Prozent von psychischer Gewalt, 87 Prozent von körperlicher Gewalt und 59 Prozent von sexueller Gewalt betroffen sind (vgl. ebd.:
27). In einem Vergleich zur Hauptuntersuchung6 zeigte sich, dass 52 Prozent der befragten
Frauen – ohne Tätigkeit in der Prostitution – häufig oder gelegentlich sexuelle Belästigung
erlebt haben, 43 Prozent physische Gewalt und 24 Prozent sexuelle Gewalt. Dieser Vergleich
der Befragungen verdeutlicht, dass Prostituierte einer erhöhten Gewaltprävalenz ausgesetzt
sind und eine Risikogruppe der Gesellschaft in Bezug auf sexualisierte Gewalt – sei es durch
Freier, Beziehungspartner oder Zuhälter – sind. Sexualisierte Gewalt im Prostitutionsgewerbe
ist durch psychische und physische Gewalt gekennzeichnet. Allerdings sind die Aspekte
durch zum Beispiel abfällige Bewertungen oder Kommentare über Frauen, die sich prostituieren (müssen) auch in der Gesellschaft vertreten. Darüber hinaus entsteht ein berufliches und
gesellschaftliches Feld von Demütigung, Vorurteilen, Diskriminierung, Marginalisierung und
Gewalterfahrungen. Die Ausbreitung dessen spiegelt sich neben gesellschaftlicher auch auf
privater Ebene wieder, da häufig der Beruf der Prostituierten im privaten Umfeld nicht akzeptiert wird und Beziehungspartner zur Haupttätergruppe von sexualisierter Gewalt an Prostituierten gehören. Die Gewalterfahrungen begründen sich oft auf langwierigen Abhängigkeitsverhältnissen, sei es emotionaler, finanzieller oder sozialer Art.
6
Erste große bundesdeutsche Repräsentativuntersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Sie wurde
vom Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (IFF) der Universität Bielefeld in Kooperation mit infas, Institut für Sozialforschung und im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend von März 2002 bis September 2004 durchgeführt. In der Hauptuntersuchung wurden 10.000
Frauen in ganz Deutschland zu ihren Gewalterfahrungen, zu ihrem Sicherheitsgefühl und zu ihrer psychosozialen und gesundheitlichen Situation befragt (BMFSFJ. Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in
Deutschland. 2004).
13
4.2.2 Die Sicht der Prostituierten
Huschke Mau war zehn Jahre lang Prostituierte und schreibt in ihrem – an Prostitutionsbefürworter*innen und Stephanie Klee gerichteten – Brief „Über das Schweigen“ vom 20. November 2014 über die Situation der Frau in der Prostitution. In ihrem Brief spricht sie konkret
Stephanie Klee, seit über 30 Jahren Prostituierte, Vorsitzende des Bundesverbandes sexueller
Dienstleistung und Einstiegsberaterin, an und reagiert damit auf ihr Interview 7 vom 05. März
2014. Die Verharmlosung und Beschönigung der Thematik durch Klee veranlasste Mau ihre
Perspektive als Frau auf das Sexgewerbe zu veröffentlichen. Sie schildert zunehmende Gewalterfahrungen und psychische Belastungsstörungen sowie Demütigung aufgrund der „Wünsche“ der Freier im Prostitutionsgewerbe:
„Ich möchte Dich gerne fragen, in welchem Prostitutionsmilieu Du so lebst, wenn Du
nicht mitbekommen hast, dass die „Spielarten“ von „Sexualität“, sprich, die „Wünsche“ der Freier immer gewalttätiger werden und immer mehr auf Demütigung abzielen“ (Mau 2014, Anhang 2, Z. 29-32).
Die „Wünsche“ der Freier und der „tabuloser Service“ werden laut Abschlussbericht des
„Runden Tisches Prostitution Nordrhein-Westfalen“, immer häufiger erfüllt, da unter anderem
ein hoher Konkurrenzdruck herrscht und die Anwendung von Kondomen kaum noch
einhaltbar sei. Das Internet als Werbequelle für schutzlosen Sex und perverse Praktiken (zum
Beispiel Sex mit Schwangeren) treibt dabei die Entwicklung voran. Zudem „gebe [es] immer
wieder Menschen, die das Risiko einer Infektion als einen besonderen „Kick“ erleben und
daher gezielt danach suchen würden“ (Abschlussbericht Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen 2014: 51 f.). Der „tabulose Service“ beinhaltet zum Beispiel Geschlechtsverkehr, Analsex oder „Blasen“ ohne Kondom.
Viele Prostituierte haben keine andere Perspektive und sind aus finanziellen Gründen in Abhängigkeitsverhältnisse involviert. Zudem haben viele Ängste vor Zuhälter- und Freiergewalt,
wenn sie die Wünsche derer nicht erfüllen. Ein weiterer Aspekt ist die Drogensucht vieler
Frauen, die sie in den Abhängigkeitsverhältnissen gefangen hält. Indem die Prostituierten sich
diesen Forderungen nach „tabulosen Service“ hingeben, entsteht eine weitaus größere Machtpräsenz der Freier. Die eigenen Bedürfnisse der Frauen werden, während der Freier im Geschlechtsakt seine Macht und Kontrolle auslebt, nicht berücksichtigt. Die Frauen sind abhängig und gefangen zwischen Gewalt, Macht und Kontrolle. Diese Thesen soll folgendes Zitat
unterstreichen:
7
Stephanie Klee im Interview mit Gesa Steeger, Anhang 1, 05.03.2014
14
„Prostitution ist Gewalt, denn Prostituierte sind keine PERSON mehr im Moment des
Aktes, sie sind ein verfügbar gemachter, gekaufter, auf die Erfüllung von „Männerbedürfnissen“ (wobei ich persönlich glaube, dass das Männerbedürfnis, Sex mit Gewalt
und Macht gleichzusetzen kein naturelles, sondern ein gesellschaftlich konstruiertes
Ding ist) abgerichtetes DING. Eine Männerbefriedigungsmaschine“ (Mau 2014, Anhang 2, Z. 50-55).
Es scheint als sei Geld ein Mittel, um eine Depersonifizierung der Frau zu forcieren. In der
Begegnung mit Freiern wurde Sex mit Gewalt und Macht gleichgesetzt, welches Mau ebenfalls als gesellschaftlich bedingtes Konstrukt betitelt. Die Legalisierung der Prostitution, die
Selbstverständlichkeit des Konsums von Frauenkörpern oder der gemeinsame Betriebsausflug
in ein Bordell, all diese Aspekte beeinflussen das Frauenbild in der Gesellschaft.
Die ambivalente Beziehung zwischen Freiern und Prostituierten, die in Kapitel 3.1 durch die
Interviews mit den Freierprobanden der Studie von Sabine Grenz deutlich wird, findet in
Maus Briefen keinen Ausdruck. Im Vordergrund ihrer Berichte steht das Machtgefälle zwischen Freier/Zuhälter zur Prostituiertrn, die keine gleichwertige Beziehung beinhalten.
Hingegen äußert sich Stephanie Klee zu Prostitution weitaus positiver, denn Mau. Nach Klee
ist der sexuelle Akt auch für sie ein „körperlich sexuelles Erlebnis“ (Klee 2014, Anhang 1, Z.
98). „Abenteuerlust“ trieb sie damals in die Prostitution (ebd. Z. 94), in der die „Lust an sexuellen Handlungen“ (ebd. Z. 21) sowie „ein Faible für Nähe und Körperlichkeit und ein gesundes Selbstbewusstsein“ (ebd. Z. 22) als Voraussetzung für die Arbeit als Prostituierte gelte.
Auf die Interviewfrage „Was macht die Arbeit psychisch mit einem?“ antwortet Klee:
„Erstmal Hochgefühle“ (ebd. Z. 51 f.). In einer weiteren Veröffentlichung beschreibt Klee die
unterschiedlichen Freier-Typen und wirft auf, dass Gewalt im Allgemeinen gesellschaftlich
zugenommen hat und somit auch in der Prostitution (vgl. Klee 2004: 49). Sie hebt die gesellschaftliche Diskriminierung der Prostituierten als Berufsgruppe hervor und benennt dies als
Hauptursache für mögliche psychische Belastungsstörungen (vgl. Klee, Anhang 1, Z. 55f.).
Als negativste Erfahrung berichtet sie von einem Stammkunden, der sie nackt auf den Flur
„geschmissen“ hat, kurz danach wieder die Tür öffnete, so dass sie ihre Kleidung holen konnte und ihr später nur die Hälfte ihres Honorars gab. Daraufhin verklagte sie ihn (vgl. ebd. Z.
107-116). Die Interviews mit Stephanie Klee machen deutlich, dass sie sich eher in einem
Geschäftsverhältnis zu ihren Kunden mit gleichwertigen Rechten sieht. Von sexualisierten
Gewalterfahrungen berichtet sie – außer das oben beschriebene – nicht. Die Machtverhältnisse, Diskriminierungen und Demütigungen, die Huschke Mau durch die Freier thematisiert,
werden in ihren Berichten nicht beschrieben.
15
Thematiken, die Mau beschäftigen sind der Selbsthass durch die völlige Objektwerdung, Demütigung, Ausbeutung und sexualisierten Gewalterfahrungen. Hinzu kommt die Einsamkeit
durch die gesellschaftliche Isolierung und Marginalisierung der Prostituierten sowie die psychischen Erkrankungen wie posttraumatische Belastungsstörungen. Die meisten Prostituierten
sind – wie eingangs benannt – selbst Opfer sexualisierter Gewalt in ihrer Kindheit gewesen.
Diese Opferrolle, beziehungsweise Viktimisierung, wird in das Erwachsenenalter transportiert
und als Prostituierte täglich erneut erlebt. Mau schreibt in ihrem Brief:
„Du vergisst so vieles. Du vergisst Zwangsprostitution, Freiergewalt, Zuhältergewalt.
[…]. Du vergisst den Frauenhass, den Selbsthass. Du vergisst, dass Vermieter, Bordellbetreiber, Zeitungen (ja, solche Anzeigen in denen Prostituierte sich bewerben sind
extrem teuer), der Staat (Steuern) profitieren. Du vergisst, dass alle an einer Prostituierten verdienen, sie ausnutzen, inzwischen gehen ganze Bordelle und Laufhäuser sogar an die Börse Ist das nicht schön, dass man jetzt Aktien daran kaufen kann, dass
Frauen gefickt werden (ob sie wollen oder nicht)? […].Wer hat am wenigstens davon?
Die Prostituierte. Die kriegt den geringsten Anteil am Geld, alle verdienen an ihr, alle
haben was von ihr (Sex, Geld, befriedigte Machtgeilheit), aber was hat sie? Eine
PTBS, eine Substanzsucht und jede Menge Einsamkeit und Selbsthass. Und das alles
kommt von der gesellschaftlichen Diskriminierung, ja?“ (Mau Anhang 2, 2014 Z. 166177).
Die gesellschaftliche Akzeptanz und die Legalisierung der Prostitution spielt laut Mau eine
bedeutende Rolle für das Funktionieren des Gewerbes der „Männerbefriedigungsmaschine“
(ebd. Z. 54 f.). In einem Brief an die Ministerin Manuela Schwesig vom 21. April 2015 beschreibt Mau, dass auch Frauen, die nicht in der Prostitution arbeiten, von sexualisierter Gewalt und Diskriminierung betroffen sind, da die Gesellschaft gelernt habe, dass der Kauf von
Frauen und deren Körper normal sei. „Die Gesellschaft wird brutalisiert“, wenn Prostitution
legalisiert wird, denn dann steige auch die Zwangsprostitution, die Nachfrage und weitere
Ausbeutung (Mau, Anhang 3, 21.04.2014).
Irin Rachel Moran war 7 Jahre lang – im Alter von 15 bis 22 – als Prostituierte tätig. Auch sie
berichtet von Gewalt, Einsamkeit, Ausbeutung und Missbrauch durch Freier. Das Gefühl den
Freiern alles zu geben und sich als Frau (sexuell) verfügbar zu machen, unterlegen zu sein,
der Gewalt hilflos ausgesetzt zu sein, betont sie wie folgt:
„Die Angst verletzt zu werden, sei ständig da. Jeder realen Gewalthandlung seien endlose Gewaltdrohungen vorausgegangen. Am wenigsten Gewalt erfahre diejenige, die
sich allen Wünschen der Freier beuge, für sich selber keine Grenzen setze. Welche
aber mit Abwehr auf Schmerzen und Zumutungen reagiere, erfahre umso mehr Gewalt, weil die Abwehr nicht zu den Fantasien des Freiers passt, für deren freies Ausle16
ben – und scheinbar lustvolle Reaktion – er meint bezahlt zu haben“ (Moran
23.01.2015).
5 Fazit
In dieser Arbeit wurden Akteur/innen der Prostitution in Hinblick auf sexualisierte Gewalt
und gesellschaftlich tradierte Geschlechterrollenvorstellungen untersucht. Herausgestellt hat
sich, dass Frauen, die sich prostituieren (müssen) einer erhöhten, sexualisierten Gewaltpräsenz ausgeliefert sind. Die statistischen Daten des Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend sowie Berichte aus Freierforen und Erfahrungsberichte von Huschke Mau
zeigen, dass die sexuelle Selbstbestimmung, Persönlichkeits-/Menschenrechte sowie die Gesundheit von Prostituierten erheblich gefährdet sind.
Stephanie Klee beschreibt ihre sexuelle Selbstbestimmung als vorherrschend und kann als
eigenständige Unternehmerin nach Grenz interpretiert werden (vgl. Grenz 2007: 157). Abhängigkeitsverhältnisse oder hegemoniale Machtstrukturen werden bei ihr nicht deutlich. Klee
scheint das Bedürfnis zu haben, die Prostitution als ein normales beziehungsweise seriöses
Berufsbild darzustellen. Hierbei wird das Thema Gewalt ausgeklammert.
Dennoch zeigen Berichte aus Freierforen die abwertende und diskriminierende Haltung gegenüber Frauen, wodurch die Frau als Person objektiviert und herabgesetzt wird. Dieser Umstand erinnert an die patriarchalische Haltung von Männern, die traditionelle Geschlechterrollen vertreten, in welchen Frauen nur der Befriedigung von Männern dienen. Die Sexualität der
Frau wird in den einschlägigen Foren nicht beachtet. Der Schmerz der Frau beim Geschlechtsverkehr und die Macht ihr gegenüber werden sogar als erotisierend empfunden.
Hostiler Sexismus und Grenzverletzungen sind in den Berichten der Freierforen deutlich erkennbar.
Durch die gesetzliche Legalisierung der Prostitution 2002 ist der menschenunwürdige Kauf
von Frauen in Deutschland nicht länger illegal. Der Verkauf von Frauenkörpern begünstigt
die monetäre Machtstellung der Männer und lädt Sextouristen, Menschenhändler und Zuhälter
nach Deutschland ein, wodurch der Prostitutionsmarkt weiter zunimmt.
In Deutschland sind Prostituierte insofern Opfer sexualisierter Gewalt, als dass sie
17

gesellschaftlich als zu konsumierende Sex-Ware kategorisiert werden;

abhängig von Freiern und Zuhältern sind und häufig ihre (sexuelle) Selbstbestimmung
durch patriarchalische Männerdominanz bestimmt wird;

ihre eigene Sexualität nicht ausleben können;

nur schwer soziale Kontakte außerhalb des Prostitutionsmilieus, aufgrund der oben
genannten Diskriminierung, knüpfen können;

sexuellen und perversen Wünschen der Freier nachgehen müssen – oft gegen ihre eigenen Bedürfnisse und persönlichen (sexuellen) Werte –, da sie in Abhängigkeitsverhältnissen und finanziellen Nöten gefangen sind;

in Konkurrenz und Wettbewerb zu anderen Frauen in der Prostitution stehen;

Angst vor dem Ausstieg und gewalttätigen Folgen durch unter anderem Zuhälter haben;

kein soziales, wertschätzendes Netzwerk haben und somit vor Integrationsschwierigkeiten nach einem Ausstieg aus dem Milieu Angst haben und

möglicherweise selbst Opfer (sexualisierter) Gewalt in ihrer Kindheit waren und diese
Opferrolle nun im Erwachsenenalter fortführen.
Die strukturelle Machterfahrung der Männer in der Prostitution und in der Gesellschaft –
durch unter anderen die Verbreitung der Frau als Sex-Objekt in den Medien und die Legalisierung der Prostitution – begünstigt den hostilen Sexismus. Durch den Kauf von Frauen(Körpern) können Männer ihre Bedürfnisse nach Macht und Kontrolle ausleben und begehen
somit häufig verbale, nonverbale und körperliche Grenzverletzungen. Die Rolle der Frau und
die oben aufgelisteten Begründungen für die Position der Prostituierten als Opfer sexualisierter Gewalt, zeigen, dass besondere Ausstiegshilfen nötig sind, um die Frauen in ein sicheres,
soziales Umfeld zu integrieren, sie vor Gewalt und Ausbeutung zu schützen, ihnen ein sicheres Zuhause zu schaffen, und ihnen in therapeutischer Behandlung die Möglichkeit geben,
über Erfahrenes zu sprechen und die Beschreitung neuer Wege zu unterstützen.
Neben der Thematisierung von Frauen als Opfern sollte allerdings eine weitere wesentliche
Komponente berücksichtigt werden, nämlich dass Gesellschaft und Politik diese Opferrolle
erst hervorgebracht haben. Die Gesellschaft trägt die Verantwortung für die menschenrechtsmissachtende Konsumkultur, die von Missbrauch, Vergewaltigung, Menschenhandel mit
Frauen, Männern, Kindern und Jugendlichen sowie die verbreitete Wertvorstellung über
Frauen als triebloses, untergeordnetes, selbstverständlich zu konsumierendes Geschlecht geprägt ist.
18
Besonders hervorzuheben ist, dass die Nachfrage erst den Markt schafft. Dieser Markt wird
zusätzlich durch das ProstG (2002) gestärkt wodurch Laufhäuser, (Flatrate-)Bordelle und der
Staat legal Frauen ausbeuten und finanziellen Nutzen aus ihnen ziehen können. Dass diese
Ausbeutung weitreichende, psychische Folgen bei den Frauen mit sich zieht, wurde bereits
erläutert.
Es gilt die weitere Entwicklung nach dem neuen Gesetzesentwurf, der Mitte 2016 verabschiedet werden soll, zu beobachten und die Auswirkung der Legalisierung der Prostitution auf die
Gesellschaft sowie die Ausweitung des deutschen Prostitutionsgewerbes durch Zuhälter und
(Zwangs-)Prostituierte aus Osteuropa, Asien und Südamerika etc. zu beleuchten. Des Weiteren sollte der Begriff „Prostituierte“ und dessen Träger_innen näher untersucht und reflektiert
werden, um erneute Kategorisierungen und Marginalisierungen zu vermeiden.
Die gesellschaftliche Verantwortung dieser Thematik soll abschließend und nachdrücklich
durch ein Zitat von Huschke Mau verankert werden:
„So langsam bekomme ich den Eindruck, dass nicht ich verrückt bin, weil ich die Gewalt nicht ertrage, sondern dass die Gesellschaft verrückt ist, weil sie die Gewalt an
Frauen für normal hält. […]. Kannst Du Deine Muschi, Deinen Arsch, Deine Brüste,
Deinen Mund und das, was Du damit machst, von Dir abkoppeln? Berührt wird immer
der ganze Mensch“ (Mau 2014, Anhang 2, Z. 229 f., 63-65).
Schlusswort
Es ist „normal“, wenn der Betriebsausflug in ein Bordell geht.
Es ist „normal“, wenn die Frau die Kinder erzieht, zu Hause bleibt und später weniger Geld
verdient als ihr Mann.
Es ist „normal“, dass auf der Reeperbahn in Hamburg halbnackte Frauen in den Fenstern stehen oder auf der Straße gehen, während die Menschen nebenan in Bars feiern oder Touren mit
Olivia Jones durch den Kult-Bezirk machen.
Doch was ist „normal“? Ist es „normal“, dass sexualisierte Gewalt, Diskriminierung, Zuhälterei und Ausbeutung von Frauenkörpern und -seelen in der Gesellschaft akzeptiert, toleriert
beziehungsweise ignoriert wird?
19
Literaturverzeichnis
Monographien
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http://www.worldsexguide.com/guide/South_America/Colombia/ aufgerufen am 25.08.2015]
Anonym. Freiersblick Forum [URL: https://freiersblick.wordpress.com/ aufgerufen am
08.10.2014]
Jose (2005): „Medellin. Strip Club Review“ am 16.11.2005 [URL:
http://www.worldsexguide.com/guide/South_America/Colombia/ aufgerufen am 25.08.2015]
Moran, Irin Rachel (2015): „Zur Realität in der Prostitution und ihre gesellschaftlichen
Auswirkungen“ in Allgemein, Gewalt, Psychische und körperliche Auswirkungen,
Ungleichheit am 23. Januar 2015 von Autorin Rosa kommentiert. [http://www.trauma-andprostitution.eu/2015/01/23/zur-realitaet-in-der-prostitution-und-ihre-gesellschaftlichenauswirkungen/#more-188 aufgerufen am 26.08.2015]
Lexikonartikel
Lexikon der Psychologie (2000): „Monogamie, sexuelle“. Spektrum Akademischer Verlag.
Heidelberg [http://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/monogamie-sexuelle/9918
aufgerufen am 27.08.2015]
Dokumentation
ARD Mediathek (2015): „Schmutziges Geschäft mit dem Körper“ [URL:
http://www.ardmediathek.de/tv/BRISANT/Schmutziges-Gesch%C3%A4ft-mit-demK%C3%B6rper/Das-Erste/Video?documentId=29788010&bcastId=2673662 aufgerufen am
20.08.2015].
Zeitungsartikel
Kohnen, Alexander (2015): „Union dringt auf schärferes Prostitutionsgesetz“ am 04.08.2015.
Berliner Morgenpost [URL: http://www.morgenpost.de/politik/article205534495/Uniondringt-auf-schaerferes-Prostitutionsgesetz.html aufgerufen am 26.08.2015]
Interviewführerin: Gesa Steeger Interviewpartnerin: Stephanie Klee
Artikel vom 05.03.2014
1
Anhang 1
2
»Ohne Werbung kommen Sie nicht aus«: Interview mit Stephanie Klee
3
Ein Beruf wie jeder andere: Stephanie Klee bietet Einstiegsberatungen für Prostituierte an
4
Frau Klee, neben Ihrem Job als Sexarbeiterin und Aktivistin beraten Sie Menschen, die
ins Sexgewerbe einsteigen wollen. Wie kamen Sie auf die Idee?
Für mich war das eine logische Konsequenz. Ich bin aus einer Generation, die in den
Bordellen noch eingearbeitet wurde. Von der Wirtschafterin oder der Hausdame. Das fing an
bei Fragen wie: Warum willst du hier arbeiten? Ist das dein freier Wille? Bis hin zu: Was hast
du für Erfahrungen? Uns wurde erklärt wie man ein Kondom benutzt, was ein Dildo ist, wie
du die Stimmung im Zimmer aufbaust. Ältere Kolleginnen haben mich auch zum Duett
mitgenommen. Wir konnten zugucken und wurden langsam an die Sache ran geführt. Diese
Art der Unterweisung ist aber immer mehr zurückgegangen. Dabei scheint mir eine
Einstiegsberatung sogar wichtiger als eine Ausstiegsberatung zu sein. Wenn ich unvorbereitet
an die Sache rangehe, tappe ich vielleicht in die eine oder andere Falle.
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Wer
kommt
zu
Ihnen
und
warum?
Männer und Frauen. Es sind Leute, die schon in der Prostitution arbeiten, aber auch
Menschen, die überlegen, neu einzusteigen. Auffällig ist, dass heute viele Frauen später
anfangen. Frauen, die erst ihren Beruf oder Haushalt und Kinder machen und dann mit 35
Jahren sagen: Ich will doch noch.
Welche
Voraussetzungen
sollte
man
für
diesen
Job
mitbringen?
Ganz wichtig ist die Lust an sexuellen Handlungen, Lust auf unterschiedliche Kunden. Ein
Faible für Nähe und Körperlichkeit und ein gesundes Selbstbewusstsein. Leute, die schnelles
Geld wollen, sollten sich was anderes suchen. Die Zeiten, in denen man mal schnell in ein
Bordell ging und fünf Stunden später wieder mit 1000 Euro rauskam, sind vorbei.
Wie
viel
verdient
man
heute?
Also, ich kann davon leben. Auf der Straße beginnt die sexuelle Dienstleistung bei 5 bis 15
Euro. Aber das ist nach oben offen, für einen Stundenservice können das auch mal 1000 Euro
sein. Die große Masse ist bei 20 Minuten. Das ist ein französisches Vorspiel und Verkehr.
Liegt in Berlin bei 35 bis 50 Euro. Da geht dann aber noch der Anteil der Zimmermiete und
der Werbung runter. Da landen wir vielleicht bei 30 Euro. Davon müssen Sie noch 19 Prozent
Mehrwertsteuer runter rechnen. Und einen Teil für die private Krankenversicherung, für
Kondome, Gleitmittel und Dessous abziehen. Da sind wir vielleicht bei 15 Euro –die der
Einkommensteuer unterliegen. Wenn Sie so rechnen, müssten sie ungefähr zehn Kunden à 50
Euro haben, um am Abend mit 150 Euro nach Hause zu gehen.
Was
sind
die
ersten
Schritte?
Es ist wichtig zu wissen, wie Sie arbeiten wollen. Wollen Sie selbständig sein und Termine
Interviewführerin: Gesa Steeger Interviewpartnerin: Stephanie Klee
Artikel vom 05.03.2014
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auch in anderen Städten machen? Dann kommen Sie um eine eigene Setkarte oder um eine
eigene Website nicht herum. Die muss beworben werden, durch Zeitungsanzeigen und im
Internet. Wenn Sie anonym bleiben wollen, können Sie an ein Bordell andocken. Dann ist es
wichtig, sich in dessen Struktur einzubinden. Haben die eine Website? Können Sie
gemeinsam mit den Kolleginnen eine Anzeige schalten? Egal wie, Sie kommen ohne
Werbung nicht aus. In Großbordellen ist das nicht unbedingt nötig. Wenn es da gut läuft,
bekommen Sie ihre Kunden ab. Das ist der Vorteil für Frauen, die nicht permanent arbeiten
wollen. Die sagen: „Jetzt habe ich Semesterferien und arbeite mal zwei Wochen am Stück“
oder: „Ich habe Kinder und arbeite zwei Tage pro Woche und das nur morgens, wenn meine
Kinder versorgt sind“.
Kann man sich überhaupt darauf vorbereiten, täglich mit Fremden Sex zu haben?
Eine gute Voraussetzung ist, wenn die Frau sagt: Ich kann mir vorstellen, in den Swingerclub
zu gehen und fünf Männer hintereinander zu haben. Aber was es heißt, Sex als Beruf zu
haben, kann man nur im Erleben erfahren.
Was
macht
die
Arbeit
psychisch
mit
einem?
Erstmal Hochgefühle. Man hat den Kunden glücklich gemacht und man hat Geld in der
Tasche. Je mehr Geld man in der Tasche hat, umso glücklicher ist man. Aber in dem Moment,
in dem man die Bordelltür hinter sich zumacht und in die normale Welt kommt, knickt man
ein. Unsere Arbeit ist gesellschaftlich nicht akzeptiert, ständig muss man sich
Lügengeschichten ausdenken. Das ist zermürbend.
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Wie
sieht
es
mit
Krankheiten
aus?
Natürlich gehört Schutz zum Job. Das heißt erst einmal: Seife und Wasser. Sowohl für mich
als auch für den Kunden. Außerdem Kondome und Wissen über Safer Sex. Unser Körper ist
unser Kapital, wenn bei mir irgendetwas juckt oder rot ist, dann gehe ich zum Arzt. Auch die
Zahlen zeigen, dass Prostituierte nicht gefährdeter sind an Syphilis, HIV oder anderen
Krankheiten zu erkranken, als der Rest der Bevölkerung.
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»Alice Schwarzer sagte mir, ich sei krank und gehörte
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in psychatrische Behandlung«
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Ende letzten Jahres scheiterte die Berliner CDU mit dem Antrag, einen Sperrbezirk für
Prostitution in der Kurfürstenstraße einzurichten. Wie liberal ist Berlin in Sachen
Prostitution?
Es gibt seit Jahren immer mal wieder die Forderung nach Sperrbezirken. Und seit Jahren
werden diese Anträge immer wieder abgelehnt. Berlin ist neben Rostock die einzige Stadt in
Deutschland, die keinen Sperrbezirk hat. Wir sind hier auch immer gut ohne ausgekommen.
Ich würde sogar sagen: Weil es hier keine Sperrbezirke gibt, haben wir auch manche
Probleme nicht. Eine Ballung von unterschiedlichen Prostitutionsinteressen auf einem kleinen
Gebiet führt immer zu Machtkämpfen und Verdrängungsprozessen.
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Bei Prostitution in Berlin denkt man als Erstes an den Straßenstrich in der
Oranienburger Straße in Mitte. Ist diese Form typisch für diese Stadt?
Die Oranienburger Straße ist tatsächlich etwas Besonderes. Dort hat der Straßenstrich in
Kombination mit angrenzenden Lokalen schon immer bestanden, schon lange vor dem
Zweiten Weltkrieg. Der andere sehr bekannte Straßenstrich ist die Kurfürstenstraße in
Schöneberg. Auch da gibt es einen kulturhistorischen Hintergrund: Früher war die
angrenzende Potsdamer Straße eine Amüsiermeile. Es gab jede Menge Bars und Absteigen, in
denen die Prostituierten ihre Kunden trafen. Für mich sind diese beiden Orte typisch Berlin.
Außerdem typisch ist die unsichtbare Prostitution.
Was
meinen
Sie
damit?
In Berlin gab es immer einen Mix aus eher kleinen Prostitutionsstätten: Wohnungsbordelle,
Studios, kleine Bars. Das ist im Verlgleich zu anderen Städten sehr angenehm: Sie sehen die
Prostitutionsstätten nicht, weil sie sich integrieren und nicht das Klischee bedienen. Es gibt
keine Leuchtreklame, keine Türsteher. Als Kunde müssen sie schon forschen, telefonieren,
sich in Internetforen austauschen. Manchmal steht an der Klingel nur „Büro“ oder „Agentur“.
Alles ist ein ist ein bisschen geheimnisvoll und verschwiegen.
Wie
viele
Frauen
gehen
in
Berlin
anschaffen?
Das kann ich nicht sagen. Ich frage mich immer: Was verändert es an der Diskussion, ob es
jetzt 3.000 oder 5.000 Prostituierte in Berlin sind?
Sie selbst sind seit über 20 Jahren im Geschäft. Wie kamen Sie zur Prostitution?
Ich bin über so etwas wie Abenteuerlust eingestiegen. Ich komme aus einem kleinen, damals
sehr konservativen Dorf im Oberbergischen. Da gab es diese Bar, über die nur hinter
vorgehaltener Hand gesprochen wurde und von der ein unglaublich starker Reiz ausging. Ich
wurde an diesem Ort mit einer Sexualität konfrontiert, die ich ehrlicher fand als sonst im
Leben. In der Prostitution geht es klar um das körperliche sexuelle Erlebnis. Ich trete auf und
biete sexuelle Dienstleistungen an. Es spricht mich ein Mann an, eine Frau oder ein Pärchen.
Wir verhandeln über die Details, machen einen Termin aus und besprechen das Geld. Ich
würde das vergleichen mit Wellnessmassagen oder Physiotherapie.
Wissen Sie, wie viele Kunden Sie im Laufe Ihrer Karriere beglückt haben?
Die Zahl sagt nichts aus. Ich erinnere mich eher an einzelne Kunden und Erlebnisse. Dann
denke ich: Das war eine schöne Zeit, oder ich denke: Oh Gott, so etwas willst du nicht noch
mal erleben. Da warst du nicht professionell genug, da hast du nicht auf Sicherheit geachtet,
da warst du zu geldgierig.
Gab es mal eine Situation, in der Sie gedacht haben: Ich höre auf?
Ich hatte mal einen Stammkunden, mit dem gab es nie Probleme. Doch eines Abends fing er
an, mit mir rumzuzicken, es ist eskaliert und er hat mich rausgeschmissen. Nackt auf den Flur.
In einem anonymen Hochhaus. Mein erster Impuls war, auf die Straße zu laufen und dem
Typen richtig Stress zu machen. Dann hab ich doch geklingelt. Er hat sofort die Tür
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aufgemacht und war auch sichtlich erschrocken über sich. Ich habe dann meine Sachen
wiederbekommen, und er hat mir die Hälfte meines Honorars gegeben. Dann ging es noch hin
und her, am Ende habe ich ihn verklagt. Ich war die Erste, die noch vor dem
Prostitutionsgesetz 2002 ihren Lohn eingeklagt hat. Das muss 1998 gewesen sein. Die ganze
Geschichte war ärgerlich, aber ans Aufhören hab ich nie gedacht.
Seit 2002 gilt Prostitution nicht mehr als sittenwidrig und wird als steuerpflichtige
Dienstleistung geführt. Wie hat das Gesetz die Branche verändert?
Es hat etwas für das Selbstbewusstsein der Frauen und Bordellbetreiber getan. Das Gesetz
gewährt einer Sexarbeiterin Anspruch auf ihren Lohn, das führt dazu, dass die Frauen ihren
Kunden gegenüber selbstbewusster auftreten, sich weniger gefallen lassen. Aber dass sich
entschieden etwas verändert hat, sehe ich nicht.
Geht es nach den Plänen der Großen Koalition, wird noch in diesem Jahr das
Prostitutionsgesetz
verschärft.
Wie
stehen
Sie
zu
diesen
Plänen?
Das, worüber in der Öffentlichkeit diskutiert wird, ist ja eher das Verbot von Prostitution.
Dieser Aufruhr hat zwar zu einer enormen medialen Präsenz des Themas geführt, aber nicht
zu der Übernahme solcher Forderungen in die Politik. Das wäre auch Schwachsinn.
Internationale Beispiele zeigen, dass ein Verbot nicht gelingen kann. In Schweden etwa gibt
es nach wie vor Prostitution – nur unter schwierigeren, gefährlicheren Bedingungen.
Was sagen sie zu dem Vorwurf, die Liberalisierung von Prostitution habe zu mehr
Zwangsprostitution
geführt?
Dieser Vorwurf wird von Leuten erhoben, die keine Ahnung haben. Sämtliche
ernstzunehmenden Soziologen, das BKA und das LKA sagen, dass das so nicht stimmt. Sie
können sich auch Prostitution nicht isoliert angucken. Wir hatten vor zehn Jahren die EUOsterweiterung, jetzt schreien alle: „Oh Gott, jetzt kommen die Rumänen und die Bulgaren“.
Ja sie kommen. Aber wenn wir Europa sein wollen, dann auch bitte mit allen. Ich bin mir
sicher: Durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit wird es bald weniger rumänische und
bulgarische Frauen in der Prostitution geben. Weil sie jetzt eine Alternative haben.
„Emma“-Herausgeberin Alice Schwarzer wirft Ihnen und anderen Frauen, die sich als
selbstbestimmte Prostituierte zeigen, eine Verharmlosung des Themas vor.
Verharmlosung ist ein Totschlagargument. Sie helfen damit weder den SexarbeiterInnen, die
tatsächlich ausgebeutet werden, noch helfen Sie mir, weil Sie meine Rechte beschneiden. Ich
habe Alice Schwarzer mal bei einer Podiumsdiskussion angesprochen: Sie solle bitte
differenzierter mit dem Thema umgehen, ich sei eine der viele Prostituierten, die diesem
Beruf freiwillig nachgehen. Sie sagte zu mir, wenn ich das behaupten würde, dann müsse ich
krank im Hirn sein und gehörte in psychiatrische Behandlung.
Glauben Sie, Prostitution wird in naher Zukunft ein Beruf wie jeder andere sein?
Es ist ein Beruf wie jeder andere (lacht). Und es ist kein Beruf wie jeder andere, weil ich nicht
die gleichen Rechte habe und mich immer wieder mit Ablehnung konfrontiert sehe. Von
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daher glaube ich nicht, dass ich es noch erleben werde, dass Prostituierte gesellschaftlich und
wirtschaftlich voll integriert sind.
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Anhang 2
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Über das Schweigen
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Liebe ProstitutionsbefürworterInnen, liebe Stephanie Klee,
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ich nehme Bezug auf das Interview, dass das Stadtmagazin Zitty Berlin mit Dir geführt hat
und ich möchte mich zunächst bei Dir dafür bedanken, dass Du es gegeben hast. Denn hätte
ich es nicht gelesen, würde ich immer noch schweigen. Zunächst mal: ich darf Dich doch duzen? Wo wir doch sozusagen Kolleginnen sind. Denn ja, auch ich kenne die Prostitution gut,
ich habe zehn Jahre in ihr verbracht. Weisst Du, ich finde Deine Aussagen über die Prostitution ganz bemerkenswert. Mich wundert nur ein bisschen, dass Du vergessen hast einige – mir
doch recht wichtig erscheinende Dinge – zu erwähnen. Zunächst einmal hast Du vergessen,
die grundsätzliche Frage zu stellen, ob es der Prostitution überhaupt bedarf. Es ist schön, dass
Du wenigstens nicht das alte, abgenudelte Pseudoargument verwendest, ohne Bordelle triebe
es die Vergewaltigungsrate hoch (was ja bedeutet, Männer können ihre Triebe nicht kontrollieren und kämen sie nicht zum Stich, könnten sie ja nicht anders als zu vergewaltigen). Aber
wozu braucht die Gesellschaft Prostitution, Stephanie? Wozu braucht es die Tatsache, dass
Männer Frauen kaufen dürfen (denn die meisten Prostituierten sind weiblich, und die, die
männlich sind, bedienen das Homosexuellenmilieu). Wie erklärst Du Dir denn diese Tatsache
und was sagt sie für Dich aus? Anscheinend ist das für Dich kein Merkmal eines Machtverhältnisses. Und da ist er schon, der erste blinde Fleck auf Deiner Linse. Und was ist Prostitution überhaupt? Du schreibst, Prostitution sei Sex. Weisst Du, für Sex, da gehören für mich
mindestens zwei Personen dazu. Und nicht eine, die die sexuellen Wünsche ausschließlich (!)
des Kunden bedient und dabei ihre eigene Sexualität und sich selbst, ihre Person, ihre Persönlichkeit, „wegmachen“ muss. DAS ist „sich ficken lassen“ – und das bedient erstens das alte
Klischee davon, dass Frauen Sex eben nur ertragen und passiv sind, keine Lust haben (denn
um ihre Lust geht es in der Prostitution ja auch nicht, höchstens darum, dass sie die vorspielt)
und zweitens von männlicher Seite als Demütigung gemeint - oder woher kommt sonst unsere
so gewalttätige Sprache, siehe „da hab ich mich echt gefickt gefühlt“, „da war ich echt
angefickt“, „Du Lutscher“, „Du Pussy“, …?. Und wer fickt wen? Mann fickt Frau. Nie andersrum. Wieder kein Ausdruck eines Machtverhältnisses für Dich. Ich möchte Dich gerne
fragen, in welchem Prostitutionsmilieu Du so lebst, wenn Du nicht mitbekommen hast, dass
die „Spielarten“ von „Sexualität“, sprich, die „Wünsche“ der Freier immer gewalttätiger werden und immer mehr auf Demütigung abzielen. Lies doch mal in den Freierforen, liebe Stephanie, da steht sehr deutlich, dass Männer (Freier) es als Ausdruck ihrer Macht empfinden,
wenn sie Frauen im Bordell ins Gesicht spucken, ihr das Sperma „reinspritzen“ dürfen, wenn
sie in Sachen Analverkehr schauen wollen, wieviel die Frau „verträgt“, wenn sie ihr ins Gesicht spritzen, und wollen, dass sie das Sperma schluckt nachdem sie, die Freier, ihr den
Schwanz bis an die Mandeln reingewürgt haben. Lies Dir die Sprache in den Freierforen doch
mal durch, lies Dir durch, wie ihnen dabei einer abgeht, wie sie es genießen zu wissen, dass
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die Frau das nicht mag sondern nur für Geld macht, es aber tun muss, weil sie die verdammte
Kohle braucht oder weil im Nebenzimmer ein Typ sitzt. Wie sie ganz bewusst die Grenzen
testen und übertreten und sich ihrer sadistischen Seite dabei wenn nicht ganz hingeben so
doch zumindest deutlich bewusst werden. Es geht in der Prostitution nicht um Sex, es geht um
Macht. Und nur um Macht. Tu nicht so, als könnten Frauen sich dort ausleben in ihrer Sexualität, der einzige, der sich auslebt, ist der Freier, dessen Wünsche Du erfüllst. Und zwar auf
Deine Kosten. Und nein, Stephanie, der Freier vergisst dieses Machtgefühl, das er sich gekauft hat, nicht. Er vergisst nicht, dass Frauen verfügbar sind, dass er sie sich nehmen kann,
dass sie dazu da sind, seine Wünsche zu erfüllen, dass sie ihre Sexualität und Seele beim Akt
wegmachen und keine Bedürfnisse / Grenzen / Wünsche haben dürfen. Oh nein. Er nimmt
dieses Gefühl, dass Sex für ihn mit Macht gleichsetzt, mit raus aus dem Bordell und es wirkt
sich auf seinen Umgang mit sich nichtprostituierenden Frauen aus. Prostitution ist Gewalt,
denn Prostituierte sind keine PERSON mehr im Moment des Aktes, sie sind ein verfügbar
gemachter, gekaufter, auf die Erfüllung von „Männerbedürfnissen“ (wobei ich persönlich
glaube, dass das Männerbedürfnis, Sex mit Gewalt und Macht gleichzusetzen kein naturelles,
sondern ein gesellschaftlich konstruiertes Ding ist) abgerichtetes DING. Eine Männerbefriedigungsmaschine. Sex muss nichts mit Liebe zu tun haben. Aber eben auch nicht mit Geld (=
Macht). Was Du, Stephanie, willst, ist dass Freier ihre Macht ausleben dürfen. Mit dem
Sichausleben der Sexualität der Prostituierten hat das wenig bis garnichts zu tun. Tu nicht so,
als hättest Du nie Freiergewalt erlebt, und erzähl nicht die Mär vom lieben, netten Kunden der
nur kuscheln will und Deine Grenzen immer achtet. Deutschland hat Prostitution legalisiert,
und zu was hat das geführt? Zu noch mehr Prostitution und vor allem: zu immer krasserer
Nachfrage. Und damit meine ich nicht nur, dass es immer mehr Freier gibt, weil Männer lernen, dass es okay ist, sich Frauen zu kaufen (ja, ich höre schon das Pseudoargument der Freier
kaufe ja keine Frau, sondern eine „Dienstleistung“, was für ein Unsinn, kannst Du Deine Muschi, Deinen Arsch, Deine Brüste, Deinen Mund und das, was Du damit machst, von Dir abkoppeln? Berührt wird immer der ganze Mensch.). Nein, schau Dir mal an, was Freier so wollen: Küssen, alles ohne, Analverkehr (auch ohne), Französisch total (heisst Sperma schlucken), Zungenanal, Faustfick, ins Gesicht spritzen, sie wollen Gangbang- und Rape-Partys,
sie wollen immer jüngere Mädchen, sie wollen TABULOSE Mädchen, die darauf konditioniert sind, ALLES zu machen was der Freier will. Sie wollen FlatrateFicken, so viele Mädchen / Frauen wie möglich, alles im Clubeintritt inbegriffen. Wie erklärst Du Dir das? Es ist
doch eindeutig, dass sich mit der Legalisierung der Prostitution ihr wahres Wesen offenbart:
Gewalt. Völlige Verfügbarkeit von Frauenkörpern. Das hemmungslose Ausleben von Männermacht. Und: sexualisierte Folter. Denn, liebe Stephanie, wenn Du Dich mal in den
Freierforen umschauen würdest, würdest Du sehen, dass Freier Frauenhasser sind. Dass sie es
lieben, Frauen zu quälen, an deren Grenzen des Ertragbaren zu gehen. Und noch was: Freier
wollen Zwangsprostituierte. Denn bei denen können sie sich sicher sein, dass die Praktiken
mitmachen (müssen), die jede „anständige“ deutsche Prostituierte vom alten Schlag heftig
ablehnen würde. DAS ist, was Freier wollen. Wie schaffst Du es, das zu übersehen, dass mitt-
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lerweile in jeder Stadt mehrere Großbordelle stehen, in denen fast nur Frauen arbeiten, die
kaum oder wenig deutsch sprechen, die von ihren „Beschützern“ morgens hingebracht und
abends abgeholt werden und die Praktiken anbieten, die weh tun und gesundheitsgefährdend
sind? Stehn die da drauf oder wie? Alles Masochistinnen? Und Du schreibst, für diese Frauen
(aus Rumänien, aus Bulgarien) sei Prostitution eine tolle Alternative? Du findest, Prostitution
ist eine tolle Alternative zu Armut? Was bleibt, wenn wir Deinen menschenverachtenden Zynismus mal weglassen, Stephanie? In diesen zehn Jahren hat mich kein einziger Freier jemals
gefragt, wie alt ich bin oder ob ich das freiwillig mache. Im Gegenteil, sie sind davon AUSGEGANGEN, dass irgendwo im Hintergrund ein Mann ist, der mich abkassiert, Termine für
mich macht usw. Ich kann nicht nachvollziehen, warum immer noch folgendes Märchen erzählt wird, dass es Freiern unmöglich gemacht würde, einen Verdacht auf Zwangsprostitution
zu melden, wenn Prostitution verboten ist. Sie melden das nicht. Das ist ihnen BESTENFALLS egal. Meistens wollen sie das sogar. Du redest von Prostitution als sei sie etwas, das
erstrebenswert wäre, das toll sei für Frauen und Mädchen. Warum erwähnst Du nicht, welche
Gründe Frauen in die Prostitution treiben? Und da nehme ich die Zwangsprostitution jetzt
schon mal raus. So nebenbei, was ist für Dich Zwang? Sich aus Armut und fehlender Perspektivlosigkeit heraus für die Prostitution entscheiden zu müssen? Das ist für Dich kein Zwang,
sondern eine tolle Chance? Selbst Frauen die „freiwillig“ einsteigen, sind im Gewerbe Zwang
ausgesetzt. Wenn die Zimmermieten so hoch sind, dass sie einen Freier annehmen müssen,
obwohl sie nicht wollen, weil sie sich sonst beim „Vermieter“ in Schulden stürzen zum Beispiel. Wenn sie sich nicht trauen, einen Freier abzulehnen, weil es sonst wieder Stress mit den
„Aufpassern“ oder dem „Bordellinhaber“ gibt, der es eben nicht gerne sieht, wenn seine Mädels im Ruf stehen zu „zicken“. Du stellst es geradeweg so dar als wöllten Frauen sich im
Gewerbe ausleben. Liebe Stephanie, ich bin eine von den „vielbeschworenen „freiwilligen“
Prostituierten. Mit 18 habe ich angefangen, nachdem ich 17 Jahre lang
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von meinem Stiefvater verprügelt und sexuell missbraucht worden und von Zuhause abgehauen bin. Ich dachte, ich kann nur das, ich bin nur zum ficken gut. Und wenn ich eh nur dafür gut bin, dann ist das jetzt meine Lebensversicherung, die mir mein Überleben ermöglicht.
Am Anfang dachte ich noch, ich hätte Macht. Schau, da, sie zahlen sogar für Dich. Ich habe
mit Hilfe der Prostitution den Zugang zu meinem Körper reguliert. Gelernt habe ich: über
Dich dürfen eh alle drüber. Und dann durfte ich aussieben: nee, nicht mehr alle, nur noch die,
die es sich leisten können. Ich bin da nicht die einzige. Ich habe keine einzige Prostituierte
erlebt, die nicht, als Kind oder als Erwachsene, sexuell missbraucht / vergewaltigt worden
wäre oder anderweitig sexualisierte Gewalt erlebt hätte. Und ich wage die steile These, dass
unsere Gesellschaft den massenhaften Missbrauch junger Mädchen deswegen nicht konsequent verfolgt, weil er ihr nutzt. Missbrauch, Nötigung, Vergewaltigung sind immer noch
strafrechtlich wenig verfolgtes „Herrenrecht“. Missbrauchsopfer lernen zu schweigen – auch
bei späteren Vergehen und Grenzüberschreitungen, ob von Fremden, Bekannten, Vorgesetzten, Lebenspartnern, Ehepartnern begangen oder in der Prostitution. Das ist praktisch, denn so
kann der Missbrauch fröhlich weitergehen. Die Opfer lernen, dass es normal ist, was an ihnen
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geschieht, sie lernen, damit zu leben und den Mund zu halten. Missbrauch ist wie frühes Einreiten. Das ist praktisch, denn durch Missbrauch lernen Frauen / Mädchen, zu dissoziieren,
sich wegzumachen dabei. Nicht da zu sein (und das ist genau das wofür der Freier zahlt –
dafür, dass der Wille der Frau in dem Moment nicht da ist, denn er hat ihn WEGBEZAHLT).
Der Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch und Prostitution ist längst belegt, mindestens 60 % (andere Statistiken sprechen von bis zu 90%) aller weiblichen Prostituierten
wurden als Kind sexuell missbraucht4. Das einzige, was diese Frauen ausleben, Stephanie, ist
die Reinszenierung ihrer Traumata, die sie so zu verarbeiten hoffen aber natürlich nicht können. Und Du willst da keine Hilfe, sondern Einstiegshilfen in die Prostitution, ja? In der Prostitution leben Frauen, die traumatisiert sind, und die durch die Prostitution weiterhin traumatisiert werden. Oder wie erklärst Du Dir, liebe Stephanie, dass Prostituierte (auch ich) massenhaft an Posttraumatischen Belastungsstörungen leiden (Studien sprechen von mindestens 60%
mit einer voll ausgeprägten PTBS5)? Du erzählst, Prostitution versetze Prostituierte in Hochgefühle, sie seien glücklich, den Kunden glücklich gemacht und Geld in der Tasche zu haben.
Aber was heisst „den Kunden glücklich machen“? Das bedeutet doch auch nur, dass ich erfolgreich gewalttätig gegen mich selber geworden bin (indem ich mich wegmache, meinen
Ekel, meinen (Wider-)Willen), damit der Kunde gewalttätig an mir werden kann indem er
mich für seine Wünsche benutzt. Und das macht Prostituierte also glücklich, ja? Macht es
Dich glücklich, zu dissoziieren und nicht da zu sein? Du sagst, erst wenn die Prostituierte aus
der Bordelltür trete, begänne ihre Traumatisierung, und diese beruhe auf ihrer gesellschaftlichen Diskriminierung. Dazu möchte ich Dir gerne was erzählen, Dir, die Du denkst es
bräuchte Einstiegshilfen statt Ausstiegshilfen. Ich bin eine von denen, die sich prostituiert
haben als Prostitution in Deutschland längst nicht mehr sittenwidrig war. Soll ich Dir sagen zu
was das geführt hat? Ich habe mich, wie der Großteil aller Prostituierten NICHT als solche
angemeldet, weil ich Angst hatte, dann nicht mehr aussteigen zu können. Weil ich Angst hatte
davor gefragt zu werden warum ich nicht mehr als Prostituierte arbeiten will, wo das doch ein
Beruf wie jeder andere sei. Und genau das ist passiert, als ich aussteigen wollte. Ich habe auf
dem Gesundheitsamt Hilfe gesucht und erntete Unverständnis. Und kam nicht raus. Was hätte
ich dem Arbeitsamt denn erzählen sollen, wenn ich einen ALGII-Antrag stelle um nicht mehr
täglich 10 Schwänze lutschen zu müssen damit ich wo wohnen und was essen kann? Wovon,
würden sie fragen, hätte ich gelebt die letzten drei Monate? Und wenn ich es gesagt hätte,
hätten sie mich dann gefragt warum ich das nicht weitermachen will, es gäbe da ein tolles
Bordell hier in der Nähe, die suchen noch…? Oder hätte ich beweisen müssen, dass ich mich
nicht mehr prostituiere? Und wie beweist frau das? Hast Du Dich mal gefragt, Stephanie, warum Frauen sich auch nach diesem ach so tollen Prostitutionsgesetz, mit dem sie ihren Lohn
einklagen könnten, trotzdem nicht anmelden? Nicht unbedingt nur weil sie fürchten gesellschaftlich diskriminiert zu werden, wenn bekannt wird was sie tun. Sondern auch weil Leute
wie Du dafür gesorgt haben, dass Prostitution als Beruf wie jeder andere anerkannt wird und
weil sie Angst haben NICHT AUSSTEIGEN ZU KÖNNEN, wenn sie es wollen, weil Prostitution doch ach so toll ist! Massenhaft Kohle! Sexuelles Sichausleben bei freier Zeiteintei-
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lung! Boah, ist das PRIMA! Du vergisst auch den Drogen- und Alkoholkonsum, der im Gewerbe unter Prostituierten herrscht (warum wohl? Wenn doch alles so toll ist? Aber anscheinend ist es eine einzige große Party, eine Orgie, da gehört das dazu, zum Sichausleben, ah?),
Stephanie. Übrigens haben meine Freier mich nie darauf angesprochen, wenn ich unter Drogen oder Alkohol stand. Im Gegenteil, sie haben mir noch einen ausgegeben oder nachgeschenkt. Warum? Weil sie genau wussten, dass ich in diesem Zustand meine Grenzen nicht
mehr gut verteidigen kann. Und das ist es, was sie wollen. Ich war ihnen doch völlig egal.
Meine zerschnittenen Unterarme? Haben sie sehr wohl gesehen. Nachgefragt hat nie einer. Du
vergisst so vieles. Du vergisst Zwangsprostitution, Freiergewalt, Zuhältergewalt (ach, die
heissen ja jetzt nicht mehr Zuhälter, sondern „Partner“, „Security“, „Vermieter“). Du vergisst
den Frauenhass, den Selbsthass. Du vergisst, dass Vermieter, Bordellbetreiber, Zeitungen (ja,
solche Anzeigen in denen Prostituierte sich bewerben sind extrem teuer), der Staat (Steuern)
profitieren. Du vergisst, dass alle an einer Prostituierten verdienen, sie ausnutzen, inzwischen
gehen ganze Bordelle und Laufhäuser sogar an die Börse. Ist das nicht schön, dass man jetzt
Aktien daran kaufen kann, dass Frauen gefickt werden (ob sie wollen oder nicht)? Alle verdienen, das ist doch super. Wer hat am wenigstens davon? Die Prostituierte. Die kriegt den
geringsten Anteil am Geld, alle verdienen an ihr, alle haben was von ihr (Sex, Geld, befriedigte Machtgeilheit), aber was hat sie? Eine PTBS, eine Substanzsucht und jede Menge Einsamkeit und Selbsthass. Und das alles kommt von der gesellschaftlichen Diskriminierung, ja?
Komisch, mir persönlich kommen bei Flashbacks, die ich auf Grund meiner durch Prostitution verursachten PTBS habe, immer nur die Bilder von mich missbrauchenden Freiern vors
innere Auge! Stephanie, frag doch mal TraumatherapeutInnen, woher die PTBS kommt, die
die Prostituierten haben die irgendwann (hoffentlich!) bei ihnen landen! Ich hab die Schnauze
voll von euch prostitutionsfremden ProstitutionsbefürworterInnen, die ihr mir erzählen wollt,
dass Prostitution ein Beruf wie jeder andere ist. Kommt mir nicht mit „ja aber ich muss doch
auch eine Arbeit machen die ich nicht mag, das ist ja auch wie Prostitution“. Wenn ihr keinen
Unterschied merkt zwischen dem Umstand, Männern Zugang zum eigenen Körper zu gewähren, Zugang IN den Körper zu gewähren und der Tätigkeit, früh im Drogeriemarkt Kisten
auszuräumen oder Physiotherapie anzubieten (denn Du, Stephanie, setzt Prostitution ernsthaft
damit gleich!), merkt ihr GAR NICHTS MEHR! Jede Frau, die mir erzählt Prostitution sei
doch okay und ein Beruf wie jeder andere möge sich doch mal vorstellen, sie würde arbeitslos
und bekäme dann von der Arbeitsagentur ein Jobangebot im nächstliegenden Hotel. Warum
auch nicht, ist ja ein Beruf wie jeder andere, eine Dienstleistung. Könnt ihr euch nicht vorstellen, dass ihr euch da freut? Dann überlegt mal, warum ihr dabei ein ungutes Gefühl habt. Ich
hab keinen Bock mehr auf euch, die ihr allen hier das Märchen von der ach so tollen freiwilligen Prostitution erzählen wollt. Ihr, die ihr keine Ahnung von Prostitution habt und in eurem
linken Selbstverständnis irgendwas von „Prostitution ist früher mal Ausdruck von Macht über
Frauen gewesen, aber nun ist es eine Umkehr der Power relations, die Prostituierte hat Macht
über den Freier“ babbelt. Ich hab nie Macht empfunden, wenn ich unter einem verdammten
Freier lag, und ich kenne keine, die das je so gefühlt hat! Ich krieg das kotzen über euch, die
Offener Brief an ProstitutionsbefürworterInnen und Stephanie Klee
Autorin: Hauschke Mau
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ihr in der Prostitution seid und euch „Sexarbeiterinnen“ nennt. Weil ihr Realitäten ausblendet.
Weil ihr Opfer von Zwangsprostitution „Sexzwangsarbeiterinnen“ nennt (hallo? Die wäre mit
„serielle Vergewaltigung“ auch ganz gut beschrieben, diese „Sexzwangsarbeit, oder?!). Weil
ihr euch aufschwingt, für uns alle zu sprechen, für uns alle, die in der Prostitution sind, und
weil ihr denen, die nichts von Prostitution wissen (Frauen – denn Männer wissen es zumeist,
so als Freier, nur die werden euch nicht erzählen warum sie wirklich ins Bordell gehen, was
sie dort wollen und machen!) glauben macht es sei alles okay. Es ist NICHT okay. Ich ertrage
Das nicht mehr, dass ihr so tut als würdet ihr für ALLE Prostituierten sprechen. Ihr seid eine
Minderheit in der Prostitution. Ihr beschreibt eine Realität, die so nicht stattfindet. Ihr sprecht
Opfern von Gewalt das Opferdasein ab und legt ihnen nahe, sich darüber auch noch zu freuen,
weil ja alles so toll ist. Ihr macht die MEHRHEIT der Prostituierten mundtot. Die Mehrheit,
die immer noch säuft, Drogen nimmt oder ihren Missbrauch immer und immer wieder
reinszeniert in der trügerischen Hoffnung das lindere den Schmerz. Die Mehrheit, die einfach
keine Kohle hat oder die gezwungen oder überredet wird oder anders nicht weiterweiß. Die,
die den Hass derer die ihnen Gewalt angetan haben irgendwann
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übernehmen, in Selbsthass verwandeln und sich „freiwilig“ in diese Gewaltspirale begeben.
Ihr überschüttet Frauen, die von Gewalt in der Prostitution sprechen wollen, mit Hohn: „ach,
das tut mir leid, dass DU schlechte Erfahrungen gemacht hast“, ganz so als läge die Gewalt
nicht in der Struktur der Prostitution sondern in der mangelnden Professionalität der Frau, in
ihrer schadhaften Persönlichkeit, die eine ach so tolle Erfahrung nicht ertragen kann. Ihr wollt
für alle sprechen? Ihr sprecht NICHT für mich und für keine Prostituierte, die ich kenne. Ihr
nutzt den Umstand, dass die meisten Prostituierten einfach zu beschäftigt sind mit Überleben,
zu traumatisiert um zu sprechen (ja, auch mir fällt es sauschwer darüber zu sprechen weil es
TRIGGERT) aus um zu behaupten es sei alles okay. Es ist NICHT okay. Das was ihr sagt ist
NICHT okay. Ihr sprecht NICHT für alle.
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Neulich, auf dem Weg zur Traumatherapie: ich muss an einem Stripclub vorbei (Trigger:
Frauenkörperkauf zu beglotzen). Davor stehen Taxis. Eins ist beklebt mit Bordellwerbung
(Trigger: Frauenkörperkauf zum Ficken). Zwei Taxifahrer pfeifen mir hinterher, weil meine
Jeans eng ist (Trigger: street harrassment und alltägliche sexualisierte Einschüchterung).
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Und wer geht zur Traumatherapie? Ich.
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So langsam bekomme ich den Eindruck, dass nicht ich verrückt bin, weil ich die Gewalt nicht
ertrage, sondern dass die Gesellschaft verrückt ist, weil sie die Gewalt an Frauen für normal
hält. Und ihr, liebe ProstitutionsbefürworterInnen, gehört zu dieser Gesellschaft, und ich spreche euch ab für alle Prostituierten zu sprechen, weil ihr die, die diese Gewalt benennen könnten, mundtot macht, ihr Schweigen nutzt und sie einfach nicht erwähnt und sie damit erneut
zu Opfern macht. Wenn ihr sagt „es sollen doch alle machen können was sie wollen“, dann
meint ihr doch in Wirklichkeit nur, dass die Freier und die Zuhälter, die hinter euch stehen,
machen können sollen was sie wollen. Und nicht die Prostituierten.
Offener Brief an ProstitutionsbefürworterInnen und Stephanie Klee
Autorin: Hauschke Mau
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Ihr befreit niemanden mit eurem neoliberalen Gebabbel. Wenn ihr erzählt, Prostitution müsse
nur von sämtlichen Kontrollen, Auflagen usw. befreit werden und alles sei supi, dann lügt ihr
und verfolgt eine merkwürdige Theorie: Denn wenn Opfer von Sklaverei sich unglücklich
fühlen, weil sie Sklaven sind, hilft es dann, Sklaverei zu legalisieren, damit die Sklaven nicht
mehr „gesellschaftlich diskriminiert“ werden (also in den Augen der Gesellschaft auch keine
Probleme mehr mit ihrem Sklavendasein haben dürfen und keine Hilfe angeboten bekommen)
und sich in der Sklaverei noch besser versklaven lassen können?
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Ohne Gruß,
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Huschke Mau [email protected]
Huschke Mau
c/o Kofra
Baaderstraße 30
80469 München
An
Ministerin Manuela Schwesig
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Glinkastr. 24
10117 Berlin
21.April 2015
Sehr geehrte Frau Ministerin Schwesig,
ich schreibe Ihnen heute, weil ich sehe, dass der gerade veröffentlichte Entwurf einer
Prostitutionsgesetzreform deutlich die Handschrift der Bordelllobbyisten und Zuhälter trägt. Ich
möchte Sie darum bitten, sich mit der Realität im Rotlichtmilieu auseinanderzusetzen anstatt
weiterhin Menschen zuzuhören, die das Märchen von der selbstbestimmten, glücklichen Hure
erzählen.
Kurz möchte ich mich vorstellen: ich bin eine Aussteigerin aus der Prostitution, in der ich 10 Jahre
verbracht habe. Wovon ich rede, weiß ich also gut. Die Gründe für den Einstieg waren vielfältig, eine
schwierige Herkunftsfamilie, in der ich durch massive, auch sexuelle, Gewalt gegenüber meiner
Mutter und mir traumatisiert worden bin hat dazu ebenso beigetragen wie das zur damaligen Zeit
heftig verbreitete Märchen von der glücklichen Prostituierten, eine finanzielle Not und die fehlende
soziale und psychologische Hilfe.
Ja, wenn Sie so wollen, bin ich „freiwillig“ eingestiegen, ich bin eine von den vielzitierten „freiwilligen
Prostituierten“, aber was ist „freiwillig“, Frau Schwesig, wenn ein Mensch von Kindesmissbrauch
traumatisiert diese Entscheidung trifft? Für mich war die Prostitution ein Aufstieg, denn ich hatte ja
gelernt, dass ich, weil ich ein Mädchen bin, so oder so wehr- und rechtlos bin und sexuell
missbraucht werde, also konnte ich ja auch gleich Geld dafür nehmen und mir damit zumindest mein
Überleben sichern und die Anzahl der Missbraucher beschränken.
Wenn Sie jetzt glauben, ich wäre ein trauriger Einzelfall, so muss ich Ihnen widersprechen. In den
zehn Jahren habe ich viele Prostituierte kennengelernt, und es war keine einzige darunter, die nicht
als Kind missbraucht, geschlagen oder als Erwachsene vergewaltigt worden wäre. Den psychischen
Zwang, das Trauma immer und immer wieder (in der Prostitution) zu wiederholen und das aufgrund
der Gewalttaten gebrochene Selbstwertgefühl habe ich bei so viele Prostituierten gesehen. Von der
Gewalt im Milieu, von den Freiern, die uns Sachen antun an die Sie nicht einmal im Traum denken
möchten, will ich hier gar nicht erst anfangen. Das sind die Realitäten im Milieu, Frau Schwesig, und
das betrifft erstmal nur die „freiwilligen“ Prostituierten, und ja, auch die bekommen ihre
posttraumatische Belastungsstörung, ihre Dissoziation, ihre Drogen- oder Alkoholsucht, weil sie es
nicht aushalten. Davon, dass 90 % aller Prostituierten in Deutschland gar nicht aus Deutschland
kommen, möchte ich erst recht nicht sprechen. Ihre Phantasie wird ausreichen, sich vorzustellen wie
deren Umstände sind.
Letzten November habe ich einen Offenen Brief geschrieben, weil ich nicht mehr ertragen konnte,
dass die Pro-Prostitutionslobby derartige Märchen erzählt wie das von der freien, selbstbestimmten
Hure. Den habe ich Ihnen angehängt, falls Sie mal lesen möchten wie es wirklich ist, sich zu
prostituieren.
Warum hören Sie das so selten? Erstens, weil die Pro-Prostitutionslobby uns einschüchtert (seit dem
Brief bekomme ich sehr böse Mails, werde verhöhnt und bedroht) und zweitens, weil wir
Aussteigerinnen zu traumatisiert sind um zu sprechen.
Ich bitte Sie inständig darum sich darüber zu informieren, wer hinter der Pro-Prostitutionslobby
steht. Im Spiegel war neulich auch ein Artikel darüber.
Auf der sehr guten Website http://www.trauma-and-prostitution.eu/ können Sie sich weiters
darüber informieren, was Prostitution mit den Frauen macht. Oder lesen Sie das Buch der
Prostitutionsaussteigerin Rachel Moran („Was vom Menschen übrig bleibt“), das deutlich die
Realitäten im Milieu aufzeigt.
Auch Frauen, die sich nicht prostituieren, sind von Prostitution betroffen, denn die Freier, das sind
ihre Männer, und die tragen das, was sie im Bordell gelernt haben - nämlich, Frauen zu verachten, zu
kaufen, zu quälen, in die Schlafzimmer ihrer Partnerinnen hinein. Die Gesellschaft wird brutalisiert,
Frau Schwesig, es ist eine Endlosschleife: wird Prostitution legalisiert, mehrt sich die Nachfrage (weil
Männer lernen, dass es in Ordnung ist, sich Frauenkörper zu kaufen, Grenzen zu übertreten, Macht
zu missbrauchen), das Angebot steigt (d.h. es gibt auch mehr Zwangsprostitution), das wiederum
vermehrt die Akzeptanz von Prostitution in der Gesellschaft, die Nachfrage steigt wieder usw.
Momentan waren 90 % aller deutschen Männer bereits einmal im Bordell. Jeder dritte tut es
regelmäßig. Wissen Sie, was in deren Köpfen vor sich geht, Frau Schwesig? Ich weiß es, denn ich habe
es in den Puffzimmern erlebt, und die Männer, die Ihnen heute freundlich die Hand schütteln,
spucken morgen einer Prostituierten während des Aktes ins Gesicht, erfreuen sich an ihrem Würgen,
wenn sie das Sperma schlucken muss und lernen, Genuss am Frauenquälen zu empfinden.
Lassen Sie das bitte nicht zu! Sie sind Mitglied im Kinderschutzbund, Sie können doch nicht wollen,
dass aus von Missbrauch und Gewalt traumatisierten Kindern Prostituierte werden, die das alles
wieder und wieder erleben müssen? Durch die Legalisierung der Prostitution lernen Männer, dass all
das in Ordnung ist. Möchten Sie in so einer Gesellschaft leben? Das kann nicht Ihre Vision sein!
Es wird nie eine geschlechtergerechte Gesellschaft geben, solange Männer Frauen kaufen und
missbrauchen können. Und es gibt auch keine „saubere“ Prostitution!
Ich bitte Sie inständig darum, sich nicht nur bei den ProstitutionsbefürworterInnen umzuhören (die
übrigens meistens von BordellbetreiberInnen gesteuert werden. Greifen Sie noch tiefer in den
Sumpf, landen Sie bei Menschenhändlern und dem Organisierten Verbrechen.), sondern auch
TraumatherapeutInnen und Aussteigerinnen zuzuhören. Die Prostitutionslobby spricht NICHT für uns
Prostituierte und Exprostituierte! Sie besteht aus nicht einmal 100 Personen, die uns, die 300.000
Prostituierten in Deutschland, NICHT vertreten, sondern uns einschüchtern und gegen unsere
Interessen arbeiten!
Wir wollen diesen Job nicht machen. Wir brauchen keine Legalisierung! Wir brauchen keinen, der
behauptet wir wöllten keine Anmeldung, keine Kondompflicht usw.!
Doch, die wollen wir! Und am liebsten wäre uns, wir müssten diesen Job nicht mehr machen. Und die
Männer, die uns missbrauch(t)en, würden bestraft. Wir brauchen Alternativen, keine weitere
Entfesselung der destruktiven, menschenverachtenden Kräfte im Milieu (und damit auch in der
Gesellschaft)!
Liebe Frau Schwesig, es ist noch nicht so lange her, dass ich ausgestiegen bin: drei Jahre. Mit 18 hatte
ich meinen ersten Freier.
Wissen Sie, was ich die zehn Jahre lang, die ich in der Prostitution war, in der ich geschlagen,
vergewaltigt, retraumatisiert, verachtet, entmenschlicht und an Leib und Seele krank gemacht
worden bin, am meisten gebraucht hätte? Hilfe und eine sensibilisierte Gesellschaft, die mir nicht
unterstellt, ich wolle mich „ausleben“ und hätte auch noch Spaß an all dem Missbrauch im Milieu.
Ich kenne keine Prostituierte, die das freiwillig macht. Ich kenne keine Exprostituierte, die keine
Posttraumatische Belastungsstörung hat. All die Frauen, die ich kenne, sind kaputtgemacht worden
in der Prostitution.
Bitte sitzen Sie nicht länger den Lügen der Pro-Lobby auf. Reden Sie mit Menschen, die nicht von
Hintermännern gesteuert werden, die von der Bestückung ihrer Bordelle mit
Menschenhandelsopfern und traumatisierten Frauen profitieren oder die diese Frauen in die
Bordelle bringen.
Bitte verbieten Sie diese menschenunwürdige Prostitution. Und wenn Ihnen das noch nicht möglich
ist, so schränken Sie sie bitte so stark wie möglich ein – mit Anmeldepflicht, Kondompflicht usw. Das
ist kein Zustand mehr, Deutschland ist das Eldorado der Freier und Zuhälter geworden. Das können
Sie als Ministerin für Frauen nicht wollen! Es passiert jeden Tag, und es sind auch die Männer der
nichtprostituierten Frauen, die Frauen quälen, missbrauchen, sie verachten lernen. Es ist unter uns.
Wissen Sie, was in den Bordellen und Wohnungsbordellen ein paar Straßen weiter so vor sich geht?
Bitte lassen Sie nicht nach. Wir brauchen ein Sexkaufverbot und auf dem Weg dahin eine starke
Regulierung, die stärkste, die durchzusetzen möglich ist!
Vielen Dank dafür, dass Sie meinen Brief gelesen haben.
Ich wünsche Ihnen alles Gute,
Huschke Mau

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