van Breemen, im Geheimnis daheim
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van Breemen, im Geheimnis daheim
van Breemen, im Geheimnis daheim 17.01.2008 15:48 Uhr Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Was willst du? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2. Wo wohnst du? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3. Was trägt dich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 4.Transparent werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 5. Aus der Fülle leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 6. Jesu Leiden, unser Leiden . . . . . . . . . . . . . . . 51 7. Schalom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 5 Seite 5 van Breemen, im Geheimnis daheim 17.01.2008 15:48 Uhr Vorwort Probleme müssen wir lösen, soweit uns das möglich ist. Geheimnisse sollen wir respektieren, und wir dürfen sie bewohnen. Der Mensch ist in mancher Hinsicht problematisch, aber zugleich ist er geheimnisvoll. Viele Wissenschaften versuchen die menschlichen Probleme zu lösen. Die Kontemplation hingegen will sich dem unerschöpflichen Geheimnis des Menschen öffnen, um darin Geborgenheit und Kraft, Weisung und Hoffnung, eben Heimat zu finden – das bedeutet, sich sowohl beschenken als auch herausfordern zu lassen. Denn das Geheimnis des Menschen ist ganz im Geheimnis Gottes verwurzelt, der uns näher ist und intimer, als wir uns selbst sind, und der uns zugleich unendlich übersteigt. Die Bibel bietet uns viele Hilfen an, um Gott und uns selbst näherzukommen; einige davon werden in diesem Buch entfaltet. Die sieben Schriftmeditationen kreisen alle um das Geheimnis, wie wir Gott in uns und uns in ihm finden können, um so zu werden, wer wir sind. Sie wollen helfen, dass wir uns betend dem Geheimnis aussetzen und uns ihm anvertrauen – so wie Gott sich uns in Jesus anvertraut hat – und von da aus unser persönliches und gemeinschaftliches Leben wahrhaftig und fruchtbar gestalten. Piet van Breemen S.J. 7 Seite 7 van Breemen, im Geheimnis daheim 17.01.2008 15:48 Uhr 1. Was willst du? Die ersten Worte, die Jesus in jedem der vier Evangelien spricht, haben ein besonderes Gewicht und setzen den Ton für das ganze Evangelium. Bei Johannes will das erste Wort Jesu weder verkündigen noch offenbaren oder gebieten, sondern es stellt eine Frage, die die Angesprochenen zum Ausgangspunkt nimmt und sie in die Mitte rückt: »Was wollt ihr?« (Joh 1,38). Diese Frage ist die erste von insgesamt 44, die Jesus im Johannesevangelium stellt. Sie artikuliert den pastoralen Zugang, der den anderen ernst nimmt und ihn herausfordert, sich selbst ernst zu nehmen. Auffällig ist, dass bei Johannes das erste Wort des auferstandenen Herrn dieselbe Frage variiert: »Wen suchst du?« (Joh 20,15; vgl. auch 18,4.7). Es ist die Frage des johanneischen Jesus. Er lädt uns ein, uns unserer Wünsche bewusst zu werden und sie ihm in Worten auszudrücken. Das Kind hat das Privileg, seine Wünsche bekanntmachen zu dürfen. Einem normalen Kind braucht man das nicht beizubringen.Wenn ich in eine Familie käme, in der die Kinder ihre Wünsche nicht ausdrückten, hätte ich ein mulmiges Gefühl. Wir alle, als Kinder Gottes, werden ermutigt, unsere Wünsche und unsere Sehnsucht betend vor Gott zu tragen. »Bittet, dann wird euch gegeben; sucht, dann werdet ihr finden; klopft an, dann wird euch geöffnet ... Wenn nun schon ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gebt, was gut ist, wie viel mehr wird euer himmlischer Vater denen Gutes geben, die ihn bitten« (Mt 7,7.11). Ignatius empfiehlt dem Exerzitanten, am Anfang jeder Gebetszeit das zu erbitten, was er ersehnt. Der Ausdruck, der 9 Seite 9 van Breemen, im Geheimnis daheim 17.01.2008 15:48 Uhr in den Geistlichen Übungen am häufigsten vorkommt, lautet daher: »Das erbitten, was ich will« (z.B. EB 48). Ignatius weiß, dass jeder Mensch ein Fass von Sehnsucht ist und dass diese unser Leben prägt, sowohl in der Erfüllung wie in der Enttäuschung. »Wir wählen unsere Freuden und unser Leid, lange bevor wir sie erfahren« (Kahlil Gibran). Wer versucht, seine tiefere Sehnsucht auszusprechen, wird jedoch bald merken, dass dies nicht leicht ist. Eben weil unser Lebensglück so sehr davon abhängt, haben wir die Sehnsucht gewöhnlich so gut aufbewahrt, dass wir sie kaum zum Vorschein bringen können. Sie ist in einem Bereich aufgehoben, zu dem der Verstand nur schwer Zugang findet. Der englische Philosoph Ernest Gellner vergleicht den menschlichen Verstand mit der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit in einer großen, komplizierten und etwas turbulenten Firma, die von einem geheimnisvollen und in sich gespaltenen Vorstand geführt wird. Dieser achtet genau darauf, dass die PR-Mitarbeiter nie im Bild sind über das, was auf der Chefetage vor sich geht. Blaise Pascal sagte das noch treffender in einem unübersetzbaren Wortspiel: »Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît pas« (Pensées 277): »Das Herz hat seine Gründe (raisons), die der Verstand (raison) nicht kennt«. Friedrich Nietzsche sagt es etwas plakativer: »Der Intellekt ist ein Knecht des Willens.« Oft haben wir einfach zu wenig gelernt, unsere Sehnsucht wahr- und ernstzunehmen, und erst recht nicht, sie zu verbalisieren. Dennoch lädt Jesus uns im Johannesevangelium mit seinen ersten Worten gerade dazu ein. Der Einladung zu folgen ist ein erster Schritt auf dem Weg, der zu werden, der wir sind. Das viel verwendete Wort »Spiritualität« spricht im Grund davon, 10 Seite 10 van Breemen, im Geheimnis daheim 17.01.2008 15:48 Uhr was wir mit unserer Sehnsucht tun, sowohl in der Erfüllung, die wir erfahren, wenn sie verwirklicht wird, als auch im Schmerz, den wir erleiden, wenn das nicht der Fall ist.Vorausgehend müssen wir allerdings unterscheiden, inwieweit unsere Sehnsucht dem Willen Gottes entspricht. Eine Schwierigkeit ist außerdem, dass das Wort Sehnsucht – oder inneres Verlangen – nach zwei Seiten hin oft uneigentlich gebraucht wird. Auf der einen Seite wird es gesagt, wo in Wirklichkeit nur ein schwaches »ich möchte« vorliegt, ohne den Willen und den Einsatz, das Ersehnte tatsächlich zu verwirklichen. Zum andern wird das Wort gelegentlich verhüllend gebraucht, wo im Grunde Anspruch gemeint ist und wo die Nicht-Erfüllung als Ablehnung empfunden wird. Die echte, von innen her verlangende Sehnsucht hingegen ist tatkräftig und einsatzbereit, zugleich aber offen und empfänglich. Unsere Sehnsüchte bilden ohne Zweifel eine ganze Palette von sehr unterschiedlichen und teilweise auch widersprüchlichen Wünschen. Dabei sind uns diese Sehnsüchte selbstverständlich nicht alle gleich wichtig, und wir begehren nicht alles mit derselben Intensität. Hinter manchem Wunsch steckt ein anderer, bedeutsamerer. So wollte ein Mädchen unbedingt einen kleinen Hund und ein Fahrrad. Sie äußerte ihre Wünsche unmissverständlich. Tatsächlich bekam sie das eine zum Geburtstag, das andere zu Weihnachten und war zunächst ganz zufrieden. Aber das dauerte nicht lange, und sie wünschte anderes und mehr! Als erwachsene Frau wurde ihr klar, dass hinter dem Wunsch nach dem Hund ein Gefühl der Einsamkeit und hinter dem nach dem Fahrrad das Bedürfnis nach mehr Bewegungsfreiheit stand. 11 Seite 11 van Breemen, im Geheimnis daheim 17.01.2008 15:48 Uhr So kommen wir unweigerlich zu der Frage: Was ist unsere echte und tiefste Sehnsucht? Die Beantwortung dieser Frage ist wichtig, weil wir in dieser tiefsten Sehnsucht Gottes Willen erkennen können. Aber sie ist auch schwierig, weil wir zu dieser Ebene unseres Herzens kaum Zugang haben. Der Novizenmeister der Jesuiten in Oregon sieht es als seine größte Herausforderung, dass seine Männer frei genug werden zu hören, was ihre Herzen wirklich ersehnen. Es ist so viel Lärm, Druck, Gruppenzwang, Rivalität und Fremdsteuerung da, dass die erforderliche Freiheit nur schwer zu erreichen ist. Wir werden diese Ebene nicht erreichen, indem wir bohren oder Druck machen. Vielmehr müssen wir den Staub und den Schlamm wegschaffen, damit der Felsboden frei wird, der unser Leben trägt, oder – in einem anderen Bild – damit die Quelle bloß liegt, die lebendiges Wasser hervorsprudeln lässt. Paulus sagt: »Für mich ist Christus das Leben und Sterben Gewinn« (Phil 1,21). Was würde ich mein »Leben« nennen? In einem Lied heißt es: »Eure tiefste Sehnsucht ist euer bester Rat.« Was löst dieser Satz in uns aus? Vielleicht hilft die umgekehrte Vorgehensweise: Wir fragen uns, was uns ärgert, wovor wir Angst haben, welche Widerstände wir spüren. Der Kern der Sache bleibt immer, dass wir, vorbei an unseren oberflächlichen Wünschen, im Inneren frei genug werden, um auf unsere tiefste Sehnsucht zu hören. »Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz«, sagt Jesus in der Bergpredigt (Mt 6,21). Wie können wir diesen Schatz entdecken? Für Ignatius ist unsere tiefste Sehnsucht mit dem Willen Gottes identisch. Alles lag ihm an dieser Einsicht. Von den ungefähr 7000 erhaltenen Briefen schließt er 12 Seite 12 van Breemen, im Geheimnis daheim 17.01.2008 15:48 Uhr 993 mit etwa dieser Bitte »an Gottes unendliche Güte: dass er uns die vollkommene Gnade schenke, seinen allerheiligsten Willen zu erkennen und ihn vollkommen zu verwirklichen«. Ignatius war überzeugt, dass wir diesen Willen Gottes in unseren eigenen Herzen finden müssen. Der Jesuit Jean-Claude Guy (1927–1986) war ein Kenner der Geschichte der Spiritualität, vor allem der ignatianischen. Er erzählte eine Parabel, die Wesentliches von Ignatius klar und etwas provozierend herausstellt.1 Die erfundene Geschichte spielt in Rom zur Zeit, als Ignatius Generaloberer des jungen Jesuitenordens war. Schon mehrere Kollegien werden von den Patres betreut. Zwei davon brauchen, damit sie ihren Aufgaben gerecht werden, dringend einen zusätzlichen Jesuiten. Das eine ist in Venedig, wo der Orden geliebt und vom Volk verehrt wird, das andere in Neapel, wo die Mitbrüder von allen Seiten verleumdet und verachtet werden, so dass ihnen das Leben und das Arbeiten unendlich mühevoll wird. Beide Kollegien melden dem General ihren Bedarf und beschwören ihn, einen Mitbruder zu schicken. Ignatius steht aber nur ein einziger Kandidat zur Verfügung. Wie kann er feststellen, wo nach Gottes Willen dieser eine Mitbruder einzusetzen ist? Wie würde ein heutiger Ordensoberer diese Frage angehen? Ohne Zweifel würde er mit dem Betroffenen ausführlich reden und einige Menschen, die ihn gut kennen, oder sogar einen Gutachter zu Rate ziehen. Er würde den Charakter, die seelische Belastbarkeit und den religiösen Tiefgang des Mannes einzuschätzen versuchen. Alles würde er betend vor Gott bringen und sich auf diese Weise behutsam an eine Entscheidung herantasten. Ignatius handelt anders. Er ist überzeugt, dass die Ant13 Seite 13 van Breemen, im Geheimnis daheim 17.01.2008 15:48 Uhr wort nur im Herzen des Kandidaten selbst zu finden ist. Er ruft ihn zu sich und sagt, dass er vorhat, ihn in eines der beiden Kollegien zu senden. Dann beschreibt er ihm genau die Situation in den Städten. Noch bevor der Jesuit sich spontan klarmacht, zu welchem der beiden Kollegien er sich mehr hingezogen fühlt, schickt Ignatius ihn in die Kapelle, um dort drei Stunden lang zu beten: Er soll gegenüber beiden Möglichkeiten um innere Freiheit bitten. Der Ordensgründer nennt das »heilige Indifferenz«: die Haltung, von Herzen sowohl zu der einen wie zu der anderen Alternative bereit zu sein. Danach soll er zu ihm zurückkommen. Als der Jesuit sich nach drei Stunden bei Ignatius meldet, fragt dieser ihn, ob er wirklich auf seinen eigenen Willen verzichtet habe.Wenn der Kandidat das bejaht und ehrlich meint, nun in dieser Sache innerlich frei von eigenen Wünschen zu sein, sagt Ignatius zu ihm: »Und jetzt sage mir, wonach du wirklich verlangst!« Damit ist die Sache entschieden. Der Sekretär des Heiligen schreibt dazu: »Ignatius wusste, dass das Verlangen, das im Herzen bleibt, wenn jemand auf seinen eigenen Willen ganz und gar verzichtet hat, genau mit dem Willen Gottes für diesen Menschen zusammenfällt.« Für Ignatius hängt eine Entscheidung nach dem Willen Gottes niemals nur von organisatorischen Engpässen oder von anderen äußeren Umständen ab. Nie würde er einen Menschen gebrauchen, um eine Lücke zu füllen. Die Situation und der Sachverhalt spielen natürlich eine wichtige Rolle, aber immer nur so, wie sie sich in der Tiefe des Herzens des Betroffenen auswirken. Für Ignatius bildet eine große Aufrichtigkeit in der inneren Freiheit – in seiner Sprache die heilige Indifferenz – das Fundament des Gehorsams. 14 Seite 14