Flucht aus Königsberg. Vortrag Dieter Belgardt

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Flucht aus Königsberg. Vortrag Dieter Belgardt
Flucht aus Königsberg
Vorbereitungen und erster Aufbruch
Sonntag. 28. Januar 1945
Es war etwa fünf Uhr morgens als wir uns bei starkem
Frost auf den Weg zum Königsberger Hauptbahnhof
machten. Von unserer Wohnung im I.Rundteil war es
nur ein kurzer Weg, und so erreichten wir den Bahnhof
im Schutze der Dunkelheit schnell. Es waren viele
Menschen zu dieser frühen Stunde schweigend auf dem
Weg zum Bahnhof. Die russische Artillerie hatte bis
spät in die Nacht hinein geschossen, aber jetzt herrschte
Ruhe.
Am Neujahrstag war unsere Familie zum letzten Mal
vollständig zusammen gewesen. Am Nachmittag des
Neujahrtages überbrachte ein Soldat meinem Vater den
Befehl, umgehend zu seiner militärischen Einheit, die
seit Weihnachten in Königsberg lag, zurückzukehren.
Dann überstürzten sich bald die Ereignisse. Die
Menschen wurden unruhiger, die Stadt wurde stiller. Es
wurde heimlich über eine mögliche Flucht gesprochen.
Die Meinungen gingen jedoch auseinander
Würde es dazu kommen, dass die Russen Königsberg
erobern? Wäre es sinnvoll zu flüchten? Wie und wohin
sollte die Flucht gehen? Im allgemeinen bestand wohl
die Vorstellung geordneter Fahrten in Zügen oder mit
Kraftfahrzeugen der Wehrmacht in weniger gefährdete
Gebiete des Reiches und einer baldigen Rückkehr,
wenn die Gefahr für unsere Stadt gebannt sein würde.
Da die Flucht nur als eine vorübergehende Evakuierung
angesehen wurde, wollte man auch nicht zu früh
aufbrechen; denn man fürchtete, sein Hab und Gut in
dieser Zeit zu verlassen und nach der Rückkehr die
eigene Wohnung von Fremden besetzt oder beraubt zu
finden.
Auch wenn einerseits eine Flucht nicht als besonders
wahrscheinlich angesehen wurde, war andererseits die
Katastrophe doch schon spürbar. Seit geraumer Zeit
sah man in der Stadt Flüchtlinge mit voll gepackten
Handwagen oder Schlitten. Sie hatten sich aus den
Grenzgebieten Ostpreußens aufgemacht, in dem
Glauben, in Königsberg sicher zu sein.
Dann wurde es stiller in der Stadt. Die Menschen
gingen weniger auf die Straße als früher. Einige
Geschäfte blieben geschlossen. Von der Wehrmacht,
die vorher das Straßenbild beherrscht hatte, war kaum
noch etwas zu sehen.
Am 13. Januar 1945 brach der Krieg über Ostpreußen
in voller Wucht herein und drang in wenigen Tagen bis
an die Stadtgrenze von Königsberg vor. Im Rundfunk
häuften sich die Meldungen über schwere Kämpfe und
gefallene Städte, und eines Tages hörte ich von dem
Fall der Stadt Gilgenburg, In dieser Stadt hatten wir
noch vor wenigen Wochen eine Schwester meiner
Mutter besucht. Bald hörten wir das Donnergrollen der
Front wie ein fernes Gewitter und dann kam der
Gefechtslärm immer näher.
Nun wurden in aller Eile Fluchtvorbereitungen
getroffen. Meine Mutter nähte für jeden von uns einen
Rucksack. Dann wurde geprobt, wie viel
Kleidungsstücke man übereinander tragen konnte, um
so viel wie möglich zu retten und während der zu
erwartenden langen Reise vor Kälte geschützt zu sein.
Dann wurde bekannt, dass die Russen bei Elbing das
Frische Haff erreicht hatten. Damit war Ostpreußen
eingeschlossen,
der
Landweg
ins
"Reich"
abgeschnitten. So blieb nur noch die Flucht über die
Ostsee oder auf dem Luftweg möglich. Der Luftweg
existierte aber nur in der Phantasie der Menschen.
Inzwischen hatten die Russen die Stadtgrenze von
Königsberg erreicht und beschossen mit Kanonen die
Stadt. Man hörte das Grollen der Geschütze, das
Pfeifen der Geschosse über unserem Haus und das
Detonieren in unserer Nähe. Die Einnahme der Stadt
schien unmittelbar bevorzustehen.
Die letzte Nacht zu Hause vor der Flucht verbrachten
wir in Angst vor Artillerietreffern oder dem Ansturm
der Russen. An Schlaf war kaum zu denken. Als mich
die Müdigkeit überkam,. wurde ich winterlich
angezogen und mit Schuhen ins Bett gelegt.
In den frühen Morgenstunden machten wir uns auf den
Weg zum Hauptbahnhof, um einen Zug nach Pillau zu
bekommen. Von dort sollten Schiffe nach Danzig
fahren. So bestand die Möglichkeit, der Einkesselung
zu entkommen.
Auf dem Hauptbahnhof
Durch eisige Kälte, mit Rucksäcken und Koffern
bepackt und einem Rodelschlitten als Transportmittel
stapften wir durch die finstere Nacht. Eine
Straßenbeleuchtung gab es im Krieg natürlich nicht.
Wir erreichten bald den Hauptbahnhof.
Auf dem Bahnhof, der kaum beleuchtet war, herrschte
ein dichtes Gedränge. Junge Männer in der Uniform
der Wehrmacht drängten in großer Zahl zu den
Bahnsteigen, dazwischen Flüchtlinge mit ihrem
Gepäck, schreiende Kinder, die bereits ihre
Angehörigen verloren hatten und gelegentlich der
kümmerliche Schein einer nach oben abgedunkelten
Taschenlampe. Züge standen an den Bahnsteigen, aber
es war nicht festzustellen, welche Züge wohin fahren
würden, welche Züge für das Militär und welche für
Flüchtlinge bestimmt waren. Es gab keine erkennbare
Organisation.
In dieses gespenstische, ziellose Geschiebe der
Menschenmassen hinein wurde der Bahnhof plötzlich
beschossen. Scherben des Glasdaches fielen auf die
Menschen. Waren es Tiefflieger oder Artillerietreffer?
Das Schreien und Schieben nahm zu. Die Menschen
versuchten ins Freie zu flüchten, zu den Ausgängen
oder zu den offenen Seiten der Bahnsteige. Der Koffer
meiner Mutter öffnete sich ungewollt, und sein Inhalt
entleerte sich auf die Bahnhofsplattform. Ein Soldat
leuchtete kurz mit seiner Taschenlampe, so konnte
einiges wieder eingesammelt werden. Von den
Nachbarn, mit denen wir gemeinsam die Flucht
angetreten hatten, waren wir inzwischen getrennt.
Irgendwie gelangten wir wieder nach draußen. Einen
passenden Zug hatten wir nicht gefunden. Meine
Mutter war wohl etwas unentschlossen, ob wir wirklich
fliehen sollten.
Im Juni 1998 fuhr ich mit einem ehemaligen russischen Offizier an
dem Hauptbahnhof vorbei. Die Hallen über den Bahnsteigen waren
mit Holz gedeckt. Der Offizier erklärte mir, dass der Bahnhof noch
fast genau so aussähe wie zur deutschen Zeit. Nur früher hätte er ein
Glasdach gehabt. Das konnte ich bestätigen mit dem Hinweis, dass
ich gerade auf dem Bahnhof war, als die Russen das Glasdach
zerschossen.
Wir machten uns auf den Rückweg zu unserer
Wohnung. Inzwischen war es hell geworden. Wir
müssen somit zwei bis drei Stunden auf dem Bahnhof
zugebracht haben. Mit dem Tagesanbruch hatten die
russischen Tiefflieger ihre Tätigkeit aufgenommen. Wir
gingen deshalb nicht über die Artilleriestraße zurück,
denn diese Straße bot wegen ihrer nur einseitig
durchgehenden Bebauung wenig Schutz. Deshalb
wählten wir den Oberhaberberg. Wir hatten ihn fast
erreicht, als uns ein Tiefflieger ansteuerte und das
Feuer eröffnete. Ein Hausflur brachte die Rettung.
Wir warteten im Schutze des Hausflurs bis die
Motorengeräusche schwächer wurden. Dann wagten
wir uns wieder auf die Straße. Doch kaum waren wir
ein kurzes Stück gegangen, als wieder Motorengeräusche ertönten, gefolgt von dem Geknatter der
Bordwaffen. Die Einschüsse wirbelten in der
Straßenmitte Fontänen von Straßendreck und Erde auf.
Wieder brachte ein Hausflur die Rettung. Um keine
Aufmerksamkeit auf uns zu lenken, liefen wir nur noch
von Haus zu Haus, wenn keine Flugzeuggeräusche in
der Nähe waren.
Wir gingen auf der linken Seite des Oberhaberbergs
vom Bahnhof kommend zum I. Rundteil. In einem
Hausflur lag ein toter, älterer Mann. Anscheinend war
er erschossen. Wir verließen schnell diesen Hausflur,
um im nächsten Haus eine längere Pause einzulegen. Es
war wohl das letzte Haus vor der Haberberger
Schulstraße. Mittags ließen die Aktivitäten der
Tiefflieger nach, und wir konnten das letzte Wegstück
zu unserem Haus zurücklegen. Für den Weg vom
Hauptbahnhof nach Hause hatten wir statt der üblichen
zehn Minuten mehrere Stunden gebraucht.
Wieder zu Hause
Wir bewohnten in Königsberg/Pr., I. Rundteil Nr. 2
eine Wohnung in der ersten Etage auf der rechten Seite
des Hauses. Zusammen mit anderen Bewohnern des
Hauses war meine Mutter mit meiner Schwester und
mir am Morgen des 28.Januar 1945 zur Flucht
aufgebrochen. Von den Nachbarn, von denen wir auf
dem Hauptbahnhof getrennt wurden, haben wir nie
wieder etwas gehört. Vielleicht haben sie an jenem
Morgen einen Zug nach Pillau bekommen. Dann
könnten sie das kurz nach dem Auslaufen aus
Gotenhafen versenkte Schiff "Wilhelm Gustloff"
erreicht haben.
In unserem Haus wohnten noch zwei ältere Ehepaare.
Eines wohnte über uns, das andere im Erdgeschoß. Die
alten Leute waren fest entschlossen, nicht zu fliehen.
Sie wollten nicht die Strapazen einer Flucht ins
Ungewisse auf sich nehmen, sondern zu Hause die
Entwicklung abwarten. Sie machten einen ruhigen und
gefassten Eindruck. Auch meine Mutter hatte
beschlossen,
keinen
Fluchtversuch
mehr
zu
unternehmen. Es erschien aussichtslos. Vermutlich
würden die Russen in wenigen Stunden Königsberg
besetzen. Wir versammelten uns alle im Erdgeschoß in
der gemütlichen Wärme des Wohnzimmers, um den
Einmarsch der Russen abzuwarten.
Der heute zugänglichen Literatur kann man entnehmen, dass die
militärische Lage an diesem Tag für Königsberg tatsächlich sehr
ungünstig war. Hätten die Russen die Eroberung der Stadt ernsthaft
versucht, wäre sie vermutlich erfolgreich gewesen. Nur wussten die
Russen das damals nicht. Deshalb stoppten sie den Vormarsch an
den Befestigungslinien der Stadt und richteten sich auf eine
Belagerung und einen längeren Kampf ein. Das gab der Deutschen
Wehrmacht die Gelegenheit, die Verteidigung neu zu organisieren
und die Stadt noch bis 9.April 1945 zu halten und damit vielen
Menschen noch die Flucht zu ermöglichen.
Am Nachmittag begann wieder die Kampftätigkeit der
russischen Jagdflieger. Sie strichen über die
Häuserreihen und schossen auf alles, was sich
bewegte..
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Später hörten wir die Schritte eines Mannes auf den
Holzstufen unseres Treppenhauses. Dann klopfte
jemand an die Tür unserer Wohnung im ersten Stock.
Wir sahen nach. Es war ein Mann in Parteiuniform. Er
teilte mit, dass Frauen mit Kindern die Stadt zu
verlassen haben. Gegen 19 Uhr würde vom
Hauptbahnhof ein Zug nach Pillau fahren. Den hätten
wir zu nehmen. Von Pillau würden wir mit einem
Schiff nach Westen gebracht. Wir sollten uns
umgehend zum Bahnhof begeben, falls der Zug
früher fahren sollte. Damit war die Entscheidung
erneut getroffen worden, diesmal von der Partei.
Erneuter Aufbruch
Wir machten uns umgehend auf den Weg zum
Bahnhof. Diesmal hatten wir nur unsere Rucksäcke und
den Rodelschlitten mitgenommen. Weiteres Gepäck
war zu Hause geblieben. Die Wohnung wurde
verschlossen, denn wir rechneten mit einer Rückkehr in
einigen Tagen, Wochen oder allenfalls Monaten. Den
Schlüssel hatten wir noch viele Jahre nach Kriegsende,
als unser Haus schon lange nicht mehr stand und
Königsberg längst Kaliningrad genannt wurde.
Auf dem Bahnhof herrschten im Vergleich zum
Morgen Ruhe und Ordnung. Wir fanden unseren Zug,
und meine Mutter bekam sogar einen Sitzplatz in einem
alten Personenzugwaggon mit Türen an jeder Sitzreihe.
Jeweils zwei Abteile waren durch einen seitlichen
Durchgang miteinander verbunden.
Bis zur Abfahrt vergingen noch viele Stunden. Erst in
der Nacht setzte sich der Zug in Bewegung. Er muss
wohl zu Beginn seiner Fahrt in Kampfgebiet
gekommen sein, denn in dieser Nacht schlossen die
Russen für kurze Zeit den Ring um Königsberg und
besetzten auch diese Bahnlinie.
Am nächsten Morgen stand der Zug an dem Haltepunkt
Kaspershöfen, einer Station im Samland, etwa auf
halbem Wege zwischen Königsberg und Pillau.
Es war eine einsame Station ohne Bahnhofsgebäude
und ohne Häuser in der Nähe. Draußen war eine
Schneewüste, und es war sehr kalt.
Bahnstation Kaspershöfen
Montag, 29.Januar 1945
Unter den Flüchtlingen verbreitete sich Unruhe, als
bekannt wurde, dass die Lokomotive fort war. Es gab
keinerlei Informationen. Würde die Lokomotive
zurückkommen? Hatte das Lokpersonal den Zug
abgekoppelt, um selbst besser fliehen zu können?
Waren wir bereits von den Russen überrollt worden?
Sollte man zu Fuß aufbrechen und wenn ja wohin?
Nach Pillau oder zurück nach Königsberg? Zu der
quälenden Ungewissheit kam die Kälte, denn der Zug
war wegen der fehlenden Lok auch nicht beheizt.
Ich habe keine Vorstellung, wie lange die Ungewissheit
dauerte. Dann kam ein weiterer Zug auf dem
Nachbargleis an, gezogen von einer altertümlichen Lok
mit hohem Schornstein. Die Lokomotive wurde
abgekoppelt, und ein auf dem Trittbrett der Lok
fahrender Bahnbeamter rief uns im Zurückfahren zu,
dass man noch einen weiteren Zug aus Königsberg
holen wolle. Dann würde es weiter gehen.
Dann begann wieder endloses Warten in der Kälte ohne
jede Versorgung. Wir hatten zwar wie die meisten
anderen Flüchtlinge Nahrungsmittel aber keine
Getränke mit. Sie hätten auch kaum etwas genützt. Bei
der Kälte wären sie gefroren.
In die Gesellschaft kam Leben. Einige Flüchtlinge
verließen den Zug, um das Gelände zu erkunden, etwas
über die Feindlage zu erfahren oder auch, um die
Flucht zu Fuß fortzusetzen.
Eine Frau mit einem etwa zwölfjährigen Mädchen und
noch einem kleineren Kind kam von irgendwoher zu
uns ins Abteil. Sie hatten kein Gepäck und machten
einen völlig verstörten Eindruck. Sie waren schon
tagelang unterwegs. In der Nähe von Allenstein waren
sie von den der russischen Front überrollt worden. Die
Russen der Kampfverbände hatten sie vor ihren
nachfolgenden Kameraden gewarnt und die Flucht
empfohlen. Die war ihnen dann bis hier auch irgendwie
gelungen.
Ein junger Soldat kam in unser Abteil. Er suchte einen
Platz an der dem Bahnsteig abgewandten Seite des
Zuges unmittelbar an einer Tür. Er war vermutlich von
seiner Truppe getrennt worden
Eine alte Frau lief ständig zwischen den beiden
Flüchtlingszügen hin und her. Wenn sie in einem der
Züge war, glaubte sie, der andere würde abfahren. Sie
war völlig verstört. Ihre Mitreisenden nahm sie gar
nicht wahr.
Wir mussten eine weitere Nacht im Zug verbringen.
Am nächsten Morgen stand neben uns ein Lazarettzug.
Dieser
Zug
war
beheizt.
Sanitäter
und
Krankenschwestern bauten auf dem Bahnsteig Öfen
auf, auf denen heiße Getränke bereitet werden konnten.
Sie waren auch bereit, die Flüchtlinge zu versorgen,
wenn diese Gefäße für die Getränke hatten. Die hatten
wir aber nicht.
Da noch keine Lokomotive zu sehen war und es noch
längere Zeit dauern sollte, bis der Zug weiterfahren
würde, wollte meine Mutter versuchen, eine Flasche
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oder ähnliches aufzutreiben. Von der Station aus
konnte man einen Bauernhof sehen. Zu dem ging meine
Mutter mit mir, während meine Schwester auf unser
Gepäck aufpassen sollte.
Der Bauernhof war scheinbar menschenleer. Wir
gingen in das Haus, dessen Tür nicht verschlossen war.
Auch hier war zunächst niemand. Dann hörten wir aus
dem Keller Stimmen. Wir stiegen die Treppe hinab.
Unten wurden die Stimmen deutlicher, und meine
Mutter bemerkte, dass polnisch gesprochen wurde und
wollte umkehren. Da wurde eine Tür geöffnet. Ein
großer Mann mittleren Alters in einem karierten Hemd
trat auf uns zu und fragte, was wir wollten. Meine
Mutter erklärte ihm unseren Wunsch. Er forderte uns
auf, in einen Raum zu kommen, in dem gefeiert wurde.
Wir wurden von den übrigen Anwesenden schweigend
angestarrt. Der große Mann nahm eine Flasche, prüfte
ob sie leer war, gab sie meiner Mutter und schob uns
hinaus..
Wir beeilten uns, zurückzukommen. Von weitem sahen
wir die dampfende Lok vor dem Zug. Der Zug fuhr an,
als wir ihn erreichten. Meine Mutter reichte mich
meiner größeren Schwester in dem schon fahrenden
Zug, und es gelang ihr noch, selbst aufzuspringen.
Wenig später waren wir in Pillau.
Boote Flüchtlinge an Bord nahmen. Wir hatten
zunächst keinen Erfolg. Alle Schiffe, die wir erreichten,
waren besetzt, der Steg wurde eingezogen oder sie
legten gerade ab. Schließlich kamen wir in ein
Hafengebiet, in dem keine Schiffe mehr lagen.
Von hinten näherte sich ein vollbesetzter
Pferdeschlitten und hielt neben uns. Jemand sagte, dass
weiter hinten noch ein Schiff fahren würde, aber wir
müssten uns beeilen. Wir sollten unseren Schlitten an
die Kufe des Pferdeschlittens hängen. An einer Kufe
hing bereits ein Rodelschlitten. Meine Schwester setzte
sich auf den fremdem Rodelschlitten, meine Mutter mit
mir auf den eigenen. Dann ging es in schneller Fahrt
weiter. Wir erreichten das kleine Schiff kurz vor dem
Ablegen und gingen an Bord. Die Pferde des Schlittens
wurden ausgespannt und ihrem Schicksal überlassen.
Anscheinend hatte die Besatzung des Schiffes auf
diesen Schlitten gewartet.
Im Juni 1998 war ich erstmals wieder in Pillau. Ich erkannte den
Hafen wieder und konnte auch ungefähr feststellen, wo wir seinerzeit
das Schiff erreicht hatten. Zu Hause konnte sich meine Mutter
wieder erinnern, dass wir im Hafenbecken IV an Bord gegangen
waren. Anhand des Stadtplans konnte ich die Übereinstimmung mit
meiner Erinnerung vor Ort feststellen.
Es war ein kleines Schiff, die Nautik. Wir kamen in
einen überfüllten Raum unter Deck. Es war sehr warm.
Das erlebten wir seit Tagen zum ersten Mal.
In Pillau
Dienstag, 30.Januar 1945
Vor dem Bahnhof in Pillau war ein großer Platz. Auf
ihm türmten sich zurückgelassenes Flüchtlingsgepäck.
Der ganze Platz war voller Körbe, Kisten, Koffer,
Säcke, Handwagen mit Gepäck. Von den
Habseligkeiten, die bis hierhin gerettet wurden, hatten
sich die Besitzer trennen müssen, weil es für die
Weiterfahrt mit den Schiffen noch zu viel war.
Geschmückt wurden die zurückgelassenen Schätze von
einem großen Hitlerbild, das den aus dem Bahnhof
kommenden Flüchtlingen entgegenblickte.
Eine Organisation, die die Flüchtlinge annahm,
weiterleitete und versorgte, gab es nicht. Wir folgten
dem Menschenstrom und gelangten zum Hafen. In
einem Kutterhafen lagen zahlreiche Fischerboote.
Außer anderen Flüchtlingen waren aber keine
Menschen zu sehen. Zu dieser Zeit wurde schon auf
Pillau geschossen. Als wir an den Fischkuttern entlang
gingen, sah ich einen Feuerball gegen das Steuerhaus
eines Bootes fliegen. Der Vorhang, der anstelle einer
Tür das Steuerhaus schützte, bewegte sich. Weiter
passierte aber nichts.
Den Schlitten mit den Rucksäcken ziehend, kamen wir
zu dem Teil des Hafens, in dem graue Schiffe und
Nach Heinz Schön, Ostsee 45, war die Nautik ein 1937 gebautes
Schiff der Neptun, Dampfschiffahrtsgesellschaft Hamburg mit 1127
BRT.In dem Buch „Pillau, Chronik eines Untergangs“ Seite 37 ist
das Beladen der Nautik am 30.1.1945 erwähnt. Danach war es ein
Schulschiff unter Kapitän Wulf.
Das Schiff ging sofort in See. Es stampfte erheblich.
Die meisten Anwesenden wurden seekrank. Mir machte
das Stampfen nichts aus. Später war ich nach langem
Zureden bereit, mich zu einem Mädchen in die obere
Koje legen zu lassen. Dann bin ich sofort
eingeschlafen. Als ich geweckt wurde, war es mitten in
der Nacht. Wir waren in Gotenhafen (Gdingen)
gelandet.
Gotenhafen
Mittwoch, 31.Januar 1945
Wir standen in einem Menschenhaufen auf der
Kaianlage von Gotenhafen. Vor uns das kleine Schiff,
mit dem wir von Pillau gekommen waren. Der Hafen
war verdunkelt, aber auf dem Schiff brannte eine helle
Lampe und beleuchtete einen Berg Rodelschlitten auf
dem Deck. Matrosen warfen die Schlitten herab. Auch
dort türmte sich bereits ein Schlittenberg. Die
Menschen versuchten ihren Schlitten zu finden. Da dies
zu umständlich war, forderten die Matrosen die
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Flüchtlinge auf, nicht zu suchen, sondern sich
irgendeinen Schlitten zu nehmen. Meine Schwester
griff zu und hatte prompt unseren eigenen Schlitten
getroffen.
Wir wurden dann zu einem großen Schiff, daß gleich
nebenan lag geschickt. Seine Einstiegsluke erschien mir
so groß, wie ein Scheunentor, und sein Steg war so
breit, daß Pferdewagen darauf Platz gehabt hätten. Es
war die Cap Arcona mit 27000 BRT.
Auf der Cap Arcona
31.Januar bis 4.Februar 1945
Auf der Cap Arcona wurde uns gesagt, das Schiff sei
überfüllt, und wir konnten nur auf dem Zwischendeck
in der Nähe der Einstiegsluke einen Platz finden. Bei
Tagesanbruch sorgte aber die Besatzung dafür, dass
jeder einen Platz im Inneren des Schiffes bekam. Wir
kamen in einen kleinen Büroraum, den wir mit etwa
fünf anderen Personen teilen mussten. Auf dem Boden
waren Decken ausgebreitet, und so konnte man
ziemlich beengt schlafen. Die Kabine hatte ein
Bullauge. Es lag kurz über der Wasserlinie. Wellen
schlugen dagegen.
Durch das Bullauge sahen wir die Aufbauten einiger
Kriegsschiffe. Nachdem wir geraume Zeit an Bord
waren, schien es, dass sich die Kriegsschiffe entfernen
würden. Die Cap Arcona legte ab. Es war der 31.Januar
1945.
Am Tag zuvor war die Wilhelm Gustloff auf ihre Reise
gegangen, die ihre letzte werden sollte:
"Am 30.Januar 1945 um 21.16 Uhr trafen drei
russische Torpedos die Wilhelm Gustloff, die 62
Minuten später sank. 5438 Menschen fanden den Tod.
Die Fahrt der Cap Arcona begann also keine 24
Stunden nach dieser Tragödie."
Unser Schiff fuhr im Geleitschutz von einigen kleineren
Kriegsschiffen. An Bord befanden sich 9800
Menschen. Beim Auslaufen aus der Danziger Bucht
wurde es von einem russischen U-Boot mit Torpedos
angegriffen. Es gelang der Schiffsführung jedoch,
durch Zick-Zack-Kurs den Torpedos zu entgehen.
"In der Nacht zum 1.2.1945 scheitert der zweimalige
Versuch des sowjetischen U-Bootes "L 3" unter der
Führung Kapitän 3. Ranges Konovalov, die
vollbeladene Cap Arcona zu torpedieren."
Eine ausreichende Versorgung der Menschen an Bord
konnte anscheinend nicht durchgeführt werden. Jeder
musste essen, was er mitgebracht hatte oder durch
Tausch erhalten konnte. Getränke gab es wohl von der
Schiffsküche, wenn man sich dort anstellte.
Gelegentlich gab es große Stücke trockenen Brotes.
Einmal gab es eine extrem dünne, widerlich süße
Milchsuppe. Es war wohl gekochter Pudding mit zuviel
Süßstoff. Meine Mutter hatte gegen eine Wolldecke ein
Stück fetten Speck eingetauscht. Davon wurde mit
einem Messer eine schmalzartige Substanz geschabt.
So hatten wir einen Brotaufstrich.
In unserer Bürokabine lebten wir relativ gut. Einmal
sind wir durch das Schiff gegangen, um auf dem
Oberdeck frische Luft zu bekommen. Die großen Säle
des ehemaligen Luxusschiffes waren dicht bei dicht mit
Flüchtlingen belegt. Selbst auf den breiten Stufen der
Treppenaufgänge lagerten Menschen und ließen nur
einen schmalen Durchgang frei. Auf dem Oberdeck
waren kaum Leute. Es war wohl zu kalt zum
"Promenieren": Wahrscheinlich fürchteten die Leute
auch, ihre Angehörigen oder ihr letztes Hab und Gut
auch nur für wenige Augenblicke alleine zu lassen.
Eines Tages konnten wir von unserem Bullauge aus
sehen, wie Boote längsseits kamen und Brot brachten.
Das Brot wurde zu unserem Schiff herüber geworfen.
Viele Brote fielen ins Wasser, denn die kleinen Boote
schaukelten stark.
Die Verständigung zwischen unserem Schiff und den
begleitenden
Kriegsschiffen
erfolgte
durch
Lichtzeichen. Funkverkehr war anscheinend wegen der
Abhör- und Ortungsmöglichkeiten zu riskant. Die
Lichtzeichen beunruhigten die Flüchtlinge, denn alles
was man nicht verstand, erschien gefährlich. Der
Geleitzug fuhr nur tags. Nachts lag er in Küstennähe.
Manchmal war die Küste zu sehen.
Einmal gab es nachts Luftalarm. Das ganze Schiff war
verdunkelt. Alle mußten sich möglichst ruhig verhalte.
Die Menschen hatten große Angst. es passierte aber
nichts.
Die Fahrt von Gotenhafen nach Schleswig-Holstein
dauerte fast fünf Tage, weil das Schiff langsam, in
Küstennähe und nur am Tage fuhr. Dann sahen wir die
mecklenburgische Küste an der Lübecker Bucht.
Die Cap Arcona ankerte im offenen Wasser. Mit
kleinen Motorbooten wurden wir an Land gebracht.
Unser Boot hatte Schwierigkeiten mit dem Motor, der
seinen Dienst einstellte. Es gelang jedoch dem Schiffer,
ihn wieder zum Laufen zu bringen.
Wir gingen bei mildem, sonnigen Wetter in
Neustadt/Holstein an Land. Wir wurden am Strand
abgesetzt und mussten die steinerne Uferbefestigung
empor klettern. Eine große Erleichterung trat ein. Der
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gefährlichste Teil der Flucht lag hinter uns. SchleswigHolstein war noch friedlich.
Tating in Eiderstedt angekommen und von Bauern aus
dem Tümlauer Koog aufgenommen worden. Damals
hieß er noch Hermann-Göring-Koog. Inzwischen hatten
wir den 5.Februar 1945.
Ankunft in Schleswig-Holstein
Im Tümlauer Koog
4.Februar 1945
Anfang 1945
In Neustadt wurden wir in eine Baracke geleitet, die als
Kantine einer Marinekaserne diente. Hier bekamen wir
nach über einer Woche das erste normale Essen. Es gab
einen Graupenbrei mit Gemüse und reichlich Fleisch.
Vielen war dieses Essen nach tagelangem Fasten zu
kräftig, so dass sie nur wenig essen konnten. Auch mir
schmeckte es nicht.
Das
Essen
wurde
in
großen,
rostroten
Portionsschüsseln angereicht. Den Löffel musste man
beim Verlassen der Baracke am Eingang zurückgeben,
eine sicherlich berechtigte Kontrollmaßnahme.
Nach dem Essen wurden wir von zwei Männern in
Parteiuniform, die sehr freundlich und hilfsbereit
waren, zu einem bereitstehenden Zug gebracht.
Der Zug fuhr zunächst nach Kiel, das wir in der
Abenddämmerung erreichten. Der Bahnhof war vom
Krieg gezeichnet. Das vom Rauch der Lokomotiven
braun-schwarz gefärbte Glasdach wies erhebliche
Beschädigungen auf. Als wir ein Jahr später, nach
Kriegsende,
wieder nach Kiel kamen, war das
Glasdach kaum noch vorhanden.
Auf dem Bahnhof herrschte ein reger Betrieb. Auf dem
Nachbargleis stand ein Zug nach Berlin. Einige
Flüchtlinge überdachten die Lage neu. Hier in der
relativen Sicherheit erschien ihnen die Flucht übereilt,
und es überkam sie die Furcht vor der Fremde. Der Zug
nach Berlin beflügelte die Phantasie und ließ die
Gedanken in die eben verlassene Heimat wandern. Die
Vorstellung, in wenigen Stunden den halben Rückweg
schaffen zu können, war verlockend. Einige wechselten
den Zug, um zurückzufahren.
Unser Zug setzte sich lange nach Einbruch der
Dunkelheit in Bewegung und fuhr durch stockfinstere,
kriegsverdunkelte Nacht. Nach stundenlanger Fahrt
kamen wir auf dem dunklen Bahnhof eines kleinen
Ortes an. Bäuerinnen standen mit Pferdewagen vor dem
Bahnhof, um uns abzuholen. Dann ging es zu einem
Nachbarort. Hier kamen wir nach vielen Tagen zum
ersten mal wieder in eine menschliche Wohnung, und
ich bekam noch in der Nacht größere Mengen
Marmeladenbrot zu essen.
Wir waren um ein Uhr nachts auf dem Bahnhof von
Wir waren in eine andere Welt gekommen: Statt
Großstadt die noch nicht einmal zu einem Dorf gefügte
Siedlung eines Kooges an der schleswig-holsteinischen
Westküste,
statt
winterkaltem
Ostpreußen
vorfrühlingshafte Nordseeküste, statt Kriegslärm Ruhe
und Frieden. Nur feindliche Flugzeuge am Himmel,
von England kommend, zeugten vom Krieg. Wenn die
Flugzeuge
das
Festland
erreichten,
wurden
Stanniolstreifen abgeworfen, um die Zielgeräte der
Luftabwehr zu irritieren.
Die Einheimischen fürchteten sich weder vor Bomben,
die auf ihre Häuser fallen könnten, noch vor einer
Besetzung durch den Gegner. Sie fürchteten nur die
Zerstörung ihrer Deiche, die sie vor den Fluten der
Nordsee schützten. Aber die Deiche wurden nicht
zerstört.
Später gab es einige Male Aufregung, wenn
Jagdflugzeuge den Personenzug auf der Strecke nach
Tönning mit Bordwaffen angriffen. Auch wir mussten
auf einer Fahrt aus dem Zug flüchten. Aber es passierte
wohl nie etwas Ernsthaftes.
Wir waren auf einem Bauernhof einquartiert und hatten
ein eigenes Zimmer. Der Bauer Frey war Soldat und
seit einigen Monaten vermisst. Die Aufnahme war
zunächst freundlich. Später gab es Spannungen, und
wir mussten unser Quartier wechseln.
Das Mittagessen nahmen wir bei anderen Leuten ein.
Vom Bürgermeister wurde dafür gesorgt, dass man jede
Woche bei einem anderen Bauern zu Gast war.
Selbstverständlich mussten die Leistungen bezahlt und
Lebensmittelmarken abgegeben werden.
Bei dem Bauern Frey waren zwei Kriegsgefangene als
Arbeiter tätig, ein Russe und ein Pole. Der Russe
Richard, das war sein eingedeutschter Name, war ein
freundlicher und umgänglicher Mensch. Der Pole war
dagegen ein finsterer Geselle, vor dem sich alle in acht
nahmen.
Mit
dem
Russen
bin
ich
oft
zuusammengewesen und habe ihn zum Pflügen aufs
Feld begleitet oder auf dem Hof bei der Arbeit
beobachtet. Der Russe achtete sehr auf sein Äußeres
und wirkte stets den Umständen entsprechend gepflegt.
Zum Kämmen und Rasieren benutzte er ein Stück einer
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Spiegelscherbe von der Größe eines Fünfmarkstückes.
Der Pole wirkte stets ungepflegt und unrasiert. Der
Russe trug als Kleidung eine vermutlich noch aus
zaristischer Zeit stammende Uniform, der Pole zivile
Lumpen.
Die Kriegsgefangenen konnten sich im Ort anscheinend
relativ frei bewegen. Die Russen wohnten in einer
Scheune. Einmal habe ich Richard bis zu seiner
"Wohnscheune" begleitet. Vor dem Eingang waren
Soldaten als Posten. Hinein durfte ich nicht. Die Polen
hausten in einer Baracke.
Das Kriegsende
Mai 1945
Gegen Ende des Krieges wohnten wir zunächst in der
Schule, später im Gasthaus gegenüber. Die großen
Räumlichkeiten waren als Lager hergerichtet. Mit
Decken hatten sich einzelne Familien kleine Abteile
geschaffen, die so wenigstens optisch eine Abgrenzung
bildeten.
Das Kriegsende deutete sich an, als lange Kolonnen
Soldaten der Deutschen Wehrmacht in teils
abenteuerlichen Fahrzeugen in den Ort einrückten. Die
Soldaten wurden in Scheunen, in Zelten und in einem
Lager untergebracht, das am Ende des Ortes errichtet
worden war.
An einem sonnigen Nachmittag saßen wir im zur Straße
hin gelegenen Garten vor der Gaststätte. Plötzlich
Motorengeräusche, und dann kamen einige PanzerSpähwagen der Engländer. Die langen schwankenden
Funkantennen fielen mir besonders auf. Die
Panzerwagen hielten an der Kreuzung kurz an. Die
fremden Soldaten blickten sich kurz um und fuhren
sofort weiter. Wir flüchteten erschreckt ins Haus. Man
war gespannt, was nun passieren würde. Aber es
passierte eigentlich nichts. Die Engländer kümmerten
sich gar nicht um die Bevölkerung. Sie fuhren zu dem
Barackenlager am Ortsende, das als Kaserne diente.
Nach einigen Stunden kamen sie wieder zurück.
Kriegsgefangenen und Zivilinternierten in Scharen das
Dorf. Manche kannten wir inzwischen. Einige
verabschiedeten sich im Vorüberziehen und freuten
sich darauf, in ihre Heimat zurückzukehren. Andere
waren ganz verändert und begegneten Deutschen mit
Hass. Dieser Zug hatte für uns etwas Schwermütiges,
zogen doch diese Menschen in die Richtung, aus der
wir kamen. Vielleicht würden sie in unserer Heimat
angesiedelt.
Aber in den Tagen nach Kriegsende zogen auch
Räuberhorden durchs Land. Als ich mit anderen
Kindern in einem Vorgarten spielte, kam eine Horde
Radfahrer und schoss mit Pistolen auf uns. Es wurde
niemand getroffen, und wir konnten uns im Haus in
Sicherheit bringen.
Kurz nach Kriegsende musste ich nach Garding zu
einer kleinen Ohrenoperation. Ein Zug fuhr nicht, und
wir mussten zu Fuß gehen. Nach einer Ruhepause in
der Praxis des Arztes machten wir uns auf den
Rückweg.
In Garding fuhren Lastwagen der Engländer auf. Jeder,
der auf der Straße angetroffen wurde, musste aufsteigen
und wurde abtransportiert. Wahrscheinlich war das
lediglich eine Kontrollmaßnahme. Aber alle Menschen
hatten damals große Angst, verschleppt zu werden. Wir
entgingen der Kontrolle, indem wir in ein Geschäft
flüchteten. Die Inhaberin war allerdings wenig erfreut.
Sie fürchtete Ärger mit den Besatzern.
Auf dem Rückweg konnten wir ein kleines Stück mit
einem Pferdefuhrwerk fahren. Ansonsten gingen wir zu
Fuß.
Es ging bald alles wieder seinen gewohnten Gang, so
normal, dass selbst die deutschen Soldaten bis weit in
den Sommer hinein jeden Morgen und Nachmittag zum
Appell antraten.
Den Sommer über wohnten wir auf dem Bauernhof
Haak. Im Herbst zogen wir nach Tating zu einem
uralten Fischer namens Jens. Im Januar 1946 zogen wir
dann nach Kiel.
19.2.96 / 8.7.1998
Das war das Kriegsende. Die Kriegsgefangenen wurden
freigelassen. Einige Gefangene nahmen die Gelegenheit
zur Rache wegen schlechter Behandlung wahr. Bauern
wurden verprügelt, einer wurde verschleppt und kehrte
erst Tage später nach zu Hause zurück, und einer soll
erschossen worden sein. Am Himmel sahen wir einen
gewaltigen Feuerschein und schwarze Rauchwolken.
Die Polen hatten ihre Baracke in Brand gesetzt.
Später, ich weiß nicht, ob es noch am gleichen oder am
nächsten Tag war, verließen die ehemaligen
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