Gerhart Hauptmann: „Bahnwärter Thiel“.

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Gerhart Hauptmann: „Bahnwärter Thiel“.
Gerhart Hauptmann „Bahnwärter Thiel“
BRP Deutsch, SS 2014
Seite 1
Gerhart Hauptmann: „Bahnwärter Thiel“.
Unterrichtsmodell
Inhaltsverzeichnis
1.
2.
3.
4.
Der Inhalt. Handlung, Themen, Erzählweise....................................................................................... 2
1.1.
Die Handlung .............................................................................................................................. 2
1.2.
Der Spannungsbogen ................................................................................................................. 2
1.3.
Erzählerische Elemente im Überblick ......................................................................................... 3
1.4.
Die Novelle als „geschlossene Form“ mit einem Spannungsbogen ........................................... 4
Der literaturgeschichtliche Hintergrund: NATURALISMUS ................................................................. 5
2.1.
Was ist Naturalismus? Der naturalistische Erzählansatz ........................................................... 5
2.2.
Geschichtliche, soziale und philosophische Grundlagen in Deutschland .................................. 6
Figurenanalyse. Bahnwärter Thiel ...................................................................................................... 6
3.1.
Instanzenmodell der Persönlichkeit. Psychoanalyse von Sigmund Freud ................................. 6
3.2.
Eisbergmodell der Persönlichkeit. Bewusstes und Unbewusstes .............................................. 7
Symbolik in „Bahnwärter Thiel“ ........................................................................................................... 8
4.1.
Die Eisenbahn als zentrales Dingsymbol ................................................................................... 8
4.2.
Natur- und Tiersymbolik in „Bahnwärter Thiel“ ......................................................................... 10
5.
Die Katastrophe ................................................................................................................................. 11
6.
Textarbeit .......................................................................................................................................... 12
Gerhart Hauptmann „Bahnwärter Thiel“
BRP Deutsch, SS 2014
Seite 2
1. Der Inhalt. Handlung, Themen, Erzählweise
1.1.
Die Handlung
Welche Geschichte erzählt
„Bahnwärter Thiel“? Der
Inhalt in ganz knapper
Form.
Bahnwärter Thiels Frau Lene stirbt bei der Geburt des Sohnes Tobias.
Thiel heiratet die frühere Kuhmagd Lene. Die Ehe ist schwierig. Tobias
wird von einem Zug überrollt und stirbt. Thiel ermordet in einem
„Wahnanfall“ seine Frau Lene und das gemeinsame Kind. (41 Wörter)
Welche Geschichte erzählt
„Bahnwärter Thiel“? Der
Inhalt in sieben
Erzählschritten
Schritt 1: Thiel heiratet kurze Zeit nach dem Tod seiner ersten Frau
Minna die derbe Kuhmagd Lene, weil er „mit einer Toten […] nicht
wirtschaften [könne]“ (S. 4)
…
Schritt 7: Thiel lässt sich widerstandslos festnehmen. Er wird in eine
Psychiatrie eingeliefert.
1.2.
Der Spannungsbogen
Viele LeserInnen des Textes sagen, sie hätten das Ende „kommen gesehen“. Inwiefern verweisen die
folgenden Handlungsmomente / Handlungselemente auf das (mögliche oder wahrscheinliche) Ende
oder stehen damit in Zusammenhang?
Vor der Hochzeit
mit Minna
Thiels Leben in der Dorfgemeinschaft; Thiels
Persönlichkeit, v.a. sein Pflichtbewusstsein
und seine „Sprach-losigkeit“
Geburt
des
Tobias;
gleichzeitiger Tod
Minnas
im
Kindbett
Tod Minnas; Thiel bleibt mit der Verantwortung
für den kleinen Säugling zurück
Thiel
heiratet
nach
einigen
Monaten Lene
Persönlichkeit Lenes  Persönlichkeit
Thiels; Verhalten Lenes gegenüber Tobias;
Geburt des zweiten Kindes
Thiels Trauer um
Minna
im
BahwärterHäuschen
Thiel
errichtet
für
Minna
im
Bahnwärterhäuschen eine Art „Altar“; Minna
erscheint Thiel im Traum und erinnert ihn an
sein Versprechen
„ButterbrotSzene“
Thiel beobachtet, dass Minna
misshandelt und reagiert nicht.
Kartoffel-Acker
Szene
Lene will auf dem Acker neben dem
Bahnwärter-Häuschen Kartoffeln anbauen; sie
kommt mit Tobias und dem zweiten Kind mit
zum Bahnwärter-Häuschen.
Der Unfall
Tobias kommt unter den Zug. Lene fährt mit
dem
schwerverletzten
Kind
mit
ins
Krankenhaus. Thiel bleibt mit dem anderen
Kind allein zurück
Der Wahnanfall
Während Thiel auf Nachricht von Tobias
wartet, gerät er in einen wahnhaften Zustand.
Der Mord
Thiel tötet mit einer Axt seine schlafende Frau
und erdrosselt sein zweites Kind („ihr Kind“)
Tobias
Gerhart Hauptmann „Bahnwärter Thiel“
1.3.
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Seite 3
Erzählerische Elemente im Überblick
Element
Kurze Beschreibung
Erzählperspektive,
Erzählhaltung,
Erzählstruktur

auktorialer (= allwissender)
Erzähler

chronologische Erzählweise

geschlossene Erzählweise

Erzähler erschließt Außen- und
Innenhandlung

eher traditionelle Erzählweise

Erzähler, der Handlung
wiedergibt und strukturiert (z. T.
zusammenfassend/raffend 
z. T. protokollarisch, detailgenau)

Außen- und Innenhandlung

Erzähler kommentiert (nur sehr
vereinzelt)

Erzähler bewertet die Figur nicht;
gibt über sie kein Werturteil ab

Zwei zentrale Handlungsorte:
Wohnhaus / Dorf 
Bahnwärter-Haus; dazwischen
Spree / Wald

Zeitdauer: zirka zwei Jahre

Wichtige Zeitpunkte: Tod Minnas/
Geburt des Tobias – Heirat –
Unfall – Mord

Thiel als Protagonist

Minna  Lene (Gegenfiguren)

Tobias / „sein Sohn“ / Minnas
Sohn  zweiter Sohn / „ihr
Sohn“ (Gegenfiguren)

Dorfbewohner, Pfarrer

Thiels Beruf als Bahnwärter

Unfall = Bahnunfall

Eisenbahn als „Ungeheuer“

Eisenbahn als Spiegel von Thiels
rigider / zwanghafter /
eingeengter Persönlichkeit
Raum und Zeit
Figuren
Symbol: Eisenbahn
Erläuterung, Beispiele (kurzer Text)
Gerhart Hauptmann „Bahnwärter Thiel“
1.4.
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Seite 4
Die Novelle als „geschlossene Form“ mit einem Spannungsbogen
„Bahnwärter Thiel“ gehört zur erzählenden Dichtung (Epik).
Erzählende Dichtung lässt sich nach bestimmten Formmerkmalen weiter unterteilen in Kurzgeschichten,
Romane, Märchen, Fabeln, Parabeln, Erzählungen, … und eben Novellen.
Die Novelle ist eine Erzählform, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwas aus der Mode
gekommen und durch die modernere Kurzgeschichte weitgehend verdrängt worden ist. Meistens wird
sie über folgende Merkmale definiert:

Erzählung mittlerer Länge (also kürzer als ein Roman und länger als eine Kurzgeschichte)

geschlossene Handlung (klarer und expliziter Beginn; Einführung durch Erzähler-Figur;
abgeschlossenes und logisches Ende)

es gibt nur einen Handlungsstrang mit einem klassischen Spannungsbogen: Expose 
ansteigende Spannung  Wendepunkt = Peripetie  Retardierendes Moment = Verzögerung
 Spannungslösung z. B. durch die Katastrophe am Schluss; diese fünfgliedrige
Handlungsstruktur ist dem klassischen Drama mit seinen typischerweise fünf Akten entlehnt
(Tragödie)

meistens steht eine „außergewöhnliche Begebenheit“ im Mittelpunkt

die Handlung verweist auf allgemein menschliche Themen- oder Problemfelder

häufig wird mit tragender Symbolik (Dingsymbolik) gearbeitet
Aussagen über die Novelle:
„Die Novelle verhält sich zum Romane wie ein Strahl zu einer Lichtmasse. Sie gibt nicht das
umfassende Bild der Weltzustände, aber einen Ausschnitt daraus, der mit intensiver, momentaner
Stärke auf das größere Ganze als Perspektive hinausweist, nicht die vollständige Entwicklung einer
Persönlichkeit, aber ein Stück aus einem Menschenleben, das eine Spannung, eine Krise hat und uns
durch eine Gemüts- und Schicksalswendung mit scharfem Akzente zeigt, was Menschenleben
überhaupt ist.“ (E. Th. Vischer: Ästhetik, 1932)
„Eine Novelle muss in ihrem Hauptpunkt etwas Unvernünftiges enthalten, etwas, wodurch sich das in ihr
Erzählte als ein Besonderes und Überraschendes ausweist, wodurch es eben würdig wird, behandelt zu
werden“.(Paul Ernst, 1904)
„Denn was ist die Novelle anderes als eine sich ereignete, unerhörte Begebenheit?“ (Goethe)
Paul Heyse entwickelt die „Falkentheorie“ nach einer Geschichte aus Boccaccios „Decamerone“, die
als die „Urform“ der Novelle gilt. Der Falke hat Verweisungscharakter, ist „Dingsymbol“ (Paul Heyse)
„Die Novelle enthält Wendepunkte, durch die die Hauptmassen der Geschichte deutlich in die Augen
fallen ...“(G. F. W. Schlegel)
„Die heutige Novelle ist die Schwester des Dramas und die strengste Form der Prosadichtung. Gleich
dem Drama behandelt sie die tiefsten Problem des Menschenlebens; gleich diesem verlangt sie zu ihrer
Vollendung einen im Mittelpunkt stehenden Konflikt, von welchem aus das Ganze sich organisiert, und
demzufolge die geschlossenste Form und die Ausscheidung alles Unwesentlichen“ (Th. Storm, 1881)
Arbeitsaufgabe A1: Welche Merkmale einer Novelle weist „Bahnwärter Thiel“ auf ? Mache
eine tabellarische Übersicht.
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2. der literaturgeschichtliche Hintergrund: NATURALISMUS
2.1.
Was ist Naturalismus? Der naturalistische Erzählansatz
2.1.1. Allgemeines
Literarische Werke lassen sich vielfach bestimmten literarischen Epochen zuordnen. Das bedeutet,
dass sie für eine bestimmte Zeit typische Themen behandelt oder für diese Zeit typische sprachliche
oder stilistische Elemente der Literatur aufnimmt. Manche Werke haben „Vorbildcharakter“ und prägen
eine Epoche. Andere Werke variieren die durch die Vorbilder geprägten Elemente. Und schlussendlich
gibt es Werke, die die für eine Epoche typischen Normvorgaben wieder durchbrechen und überwinden.
Wichtige literarische Epochen in der deutschsprachigen Literatur sind z. B. die (kurze) Epoche des
„Sturm und Drang“ (Ende 18. Jh), die Klassik (Ende des 18. Jh. Anfang 19. Jh.), die Romantik
(zeitgleich mit der Klassik), der Realismus (Mitte 19. Jh), der Naturalismus (Ende 19. Jh.),
Expressionimus und Impressionismus (Anfang 20. Jh.) …
2.1.2. Naturalismus
Der Naturalismus (Literatur) ist eine Strömung in der europäischen Literatur zwischen 1880 und 1900.
Es gibt mehrere Zentren, z. B. Skandinavien (Ibsen: „Nora“, „Wildente“; Strindberg) Russland (Tolstoj,
Dostojewski), Frankreich (Zola, Maupassant) und Deutschland.
Naturwissenschaft und Soziologie
Der Naturalismus orientiert sich an der Naturwissenschaft, vor allem aber auch an den neu
entstehenden Wissenschaften vom Menschen (Psychologie) und von der Gesellschaft (Soziologie, z. T.
Marxismus). Sein Ziel ist naturgetreue Widerspiegelung der empirisch erfassbaren Realität ohne
Idealisierung und mit einer quasi naturwissenschaftlichen Distanziertheit und Objektivität.
Starken Einfluss auf die Kunstanschauungen des Naturalismus hat Hippolyte Taine (1828 – 1893), der
den Positivismus auf die Beurteilung von Geschichte und Kunst überträgt und den Einfluss von race,
milieu, temps (Rasse = Biologie; Milieu = Umwelt; Zeit) betont
Die Sinne und Triebe, allenfalls der Intellekt, der aus Nützlichkeitserwägungen handeln kann, regieren
den Menschen. Er ist eingespannt in einen naturgesetzlichen, „determinierten“ Ablauf der Dinge, es gibt
keine Willensfreiheit
Wissenschaftliches Menschenbild
Typisch für den Naturalismus ist auch, dass er sich einfachen Milieus (z. B. Bauern, einfache Arbeiter,
Fabriksarbeiter!) und Außenseitern (z. B. psychisch kranken Menschen oder Kriminellen) zuwendet.
Typisch für den Naturalismus ist, dass er – in Anlehnung an die biologischen Theorien, die sich gerade
durchsetzen, v. a. Darwinismus – den Menschen als „Triebwesen“ (Aggression und Sexualität) begreift.
Typisch für den Naturalismus ist auch, dass er glaubt, das Milieu präge die Persönlichkeit eines
Menschen und könne sein Handeln erklären.
Literaturverständnis
Typisch für den Naturalismus ist aber vor allem, dass er nicht wertet und moralisiert, sondern
„wissenschaftlich neutral“ zu erzählen versucht. Für eine solche Poetik wird die Reportage zur Dichtung.
Der Mensch als Produkt seines Milieus ist am ehesten am Durchschnittsmenschen erkennbar.
Moderner Nachfolger des traditionellen „Helden“ wird der passive Held, der unentschlossene und
schwankende Charakter, der halbe Held, der am Leben und an sich selbst scheiternde Anti-Held.
Die quasi-wissenschaftliche Erfassung der Figuren und ihres Handelns verlangt präziseste
schriftstellerische Technik, sehr genaue Beobachtung und sehr reflektierten Umgang mit dem
Schreiben (beschreiben  nicht bewerten, erklären, idealisieren, moralisieren, …)
Einen Tabubruch gibt es auch sprachlich. Schon der Realismus (= Vorläufer-Epoche) nähert die
literarische Sprache der natürlichen Sprache an. Der Naturalismus geht noch weiter, indem er auch
Umgangssprache und Dialekt, abgebrochene Sätze, ja selbst grammatikalische Fehler zum Teil der
literarischen Sprache macht. Sprachlose Figuren verhalten sich eben sprachlos.
Gerhart Hauptmann „Bahnwärter Thiel“
2.2.
BRP Deutsch, SS 2014
Seite 6
Geschichtliche, soziale und philosophische Grundlagen in Deutschland
Historisch fällt der deutsche Naturalismus in die Zeit der letzten Regierungsjahre Bismarcks und des
Regentschaftsbeginns Wilhelm II. Sein überragender Vertreter war Gerhart Hauptmann. Die
Dokumentar- und Protokoll-Literatur der sechziger Jahre nahm naturalistische Schreibverfahren wieder
auf.
Eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung des Naturalismus in Deutschland waren die –
verspätete – Industrialisierung und die damit verbundenen Konsequenzen (Heranbildung einer neuen
Arbeiterklasse) bzw. Probleme (Arbeitslosigkeit, Armut etc.). Dies führte zu einer dramatischen
Verschärfung der Klassengegensätze und politischen Konflikte. Philosophisch wurde auch der deutsche
Naturalismus von der deterministischen Gesellschaftstheorie Auguste Comtes geprägt. Nachhaltigen
Einfluss übten die Schriften John Stuart Mills, Herbert Spencers, sowie die Millieutheorie Hippolyte
Taines aus. Als Sozialdarwinismus wirkte zudem Charles Darwins Theorie eines „Überleben des
Stärkeren“ im Naturalismus weiter. All diese Autoren vertraten einen empirischen, antimetaphysischen
Positivismus, der allein die sinnlich erfahrbare Erscheinungswelt zur Erkenntnisgrundlage erklärte. Als
wichtige Prägungsfaktoren des Menschen wurden Erbe (Rasse), Umwelt (Milieu) und geschichtlicher
Kontext bestimmt. Vor allem Zola nahm in seinem 20bändigen Romanwerk Les Rougon-Macquart
(1871-1893) die grundlegenden deterministischen Modelle der Zeit mit auf, verband sie mit Formen
sozialer Anklage und bereitete derart dem deutschen Naturalismus den Weg.
Arbeitsaufgabe A2:
Welche dieser Merkmale naturalistischer Literatur treffen auf „Bahnwärter Thiel“ zu?
Inwiefern ist Bahnwärter Thiel mehr als ein rein naturalistischer Text? Inwiefern sprengst er den
Rahmen rein naturalistischen (also abbildenden, nicht deutenden und nicht wertenden)
Erzählens?
Verfasse zu dieser Frage eine kurze Stellungnahme mit etwa 150 Wörtern.
3. Figurenanalyse. Bahnwärter Thiel
3.1.
Instanzenmodell der Persönlichkeit. Psychoanalyse von Sigmund Freud
Bildquelle: eigene Grafik
Gerhart Hauptmann „Bahnwärter Thiel“
3.2.
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Seite 7
Eisbergmodell der Persönlichkeit. Bewusstes und Unbewusstes
Bildquelle: Wikipedia
Arbeitsaufgabe A3:
Beschreibe Thiels Persönlichkeit in Anlehnung an das Instanzenmodell der Persönlichkeit
(Freud):
Welche ÜBER-ICH-Aspekte
spielen in Thiels Leben eine
wichtige Rolle? (Normen,
Gebote, Regeln, …)
Welche ES-Aspekte spielen in
Thiels Leben eine wichtige Rolle
(Triebe, Gefühle, Irrationales)?
Welche ES-Aspekte sind
verdrängt? Welche ES-Aspekte
sind halb verdrängt?
Wie handelt das ICH Konflikte?
Welche Ressourcen zur
Konflikt-Bewältigung hat es zur
Verfügung?
Welche Unterstützung erhält
Thiel durch sein soziales
Umfeld?
Welche äußeren Ereignisse
setzen das psychische
Gleichgewicht Thiels „außer
Kraft“?
Gerhart Hauptmann „Bahnwärter Thiel“
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Seite 8
Was an seinen Problemen ist
Thiel bewusst? Was ist
„unbewusst“? Wo „kommen
unbewusste Inhalte an die
Oberfläche?“ In welcher Form?
Inwiefern setzt Thiel die
folgenden Abwehrmechanismen zur „Konfliktbewältigung“ ein:

Verleugnung der Realität

Verdrängung von Trieben /
Gefühlen; Isolierung von
Gefühlen

Kompensationen, Ersatzhandlungen als „Schuldausgleich“

Aufspaltung der Wirklichkeit
Zusammenbruch der Abwehr:
Triebdurchbruch im Wahn
Arbeitsaufgabe A4: Erstelle ein Soziogramm Thiels zum Zeitpunkt vor Tobias‘ Unfall. Stelle
Thiel ins Zentrum. Bilde die Beziehung Thiels zu Minna, Lene, Tobias, dem zweiten Kind und den
Dorfbewohnern ab (Nähe, Stärke der Beziehung, Art der Beziehung; Ressource versus Problem)
4. Symbolik in „Bahnwärter Thiel“
4.1.
Die Eisenbahn als zentrales Dingsymbol
Die Eisenbahn löst im Laufe des 19. Jahrhundert die Pferdekutsche als Transportmittel auf dem Lande
ab. Sie ist aber nicht nur einfach eine Weiterentwicklung im Verkehrswesen, sondern eine Revolution.
In vielfacher Weise wird die Eisenbahn die Zukunft der Menschen mitbestimmen, zum Teil sogar
prägen. Das wird von vielen Menschen so empfunden. So ist es kein Wunder, dass die Eisenbahn auch
zu einem sehr wichtigen Symbol in der Kunst, v. a. in der Literatur, wird.
Arbeitsaufgabe A5: Machen Sie in Gedanken eine Zeitreise zirka ins Jahr 1880. Wie könnten
die Menschen diese neue technische Errungenschaft erlebt und empfunden haben? Wofür
könnte sie quasi symbolhaft gestanden sein?
Arbeitsaufgabe A6: Untersuche, wie Hauptmann das Symbol der Eisenbahn im Text einsetzt.
Beschreiben zunächst aus dem Gedächtnis, in welcher Funktion die Eisenbahn im Text
vorkommt: Welche Bedeutung hat sie als Handlungsort? Welche Bedeutung hat sie für den
Verlauf der Handlung? Welche Bedeutung hat sie für den Protagonisten, also Bahnwärter Thiel?
Welche Bedeutung hat sie für Lena? Welche Bedeutung hat sie für Tobias? Wie wird die
Eisenbahn im Text dargestellt?
Differenziere deine Position, indem du einzelne Textstellen genauer untersuchst; erläutere, in
welcher Form die Eisenbahn Thema wird und welche Funktion sie im Kontext des
Handlungsganzen erfüllt.
Gerhart Hauptmann „Bahnwärter Thiel“
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S 18: Auch die Geleise begannen zu glühen, feurigen Schlangen
gleich. Aber sie erloschen zuerst ...nun stieg die Glut langsam vom
Erdboden in die Höhe .... Lautlos und feierlich vollzog sich das
erhabene Schauspiel .... Ein dunkler Punkt am Horizonte, da wo die
Gleise sich trafen, vergrößerte sich. Von Sekunde zu Sekunde
wachsend schien er doch auf der Stelle zu treten .... Durch die
Geleise ging ein Vibrieren und Summen, ein rhythmisches Geklirr, ein
dumpfes Getöse, das, lauter und lauter werdend, zuletzt den
Hufschlägen eines heranbrausenden Reitergeschwaders nicht
unähnlich war.
Ein Keuchen und Brausen schwoll stoßweise fernher durch die Luft.
Dann plötzlich zerriss die Stille. Ein rasendes Tosen und Toben
erfüllte den Raum, die Geleise bogen sich, die Erde zitterte – ein
starker Luftdruck – eine Wolke von Staub, Dampf und Qualm, und das
schwarze, schnaubende Ungetüm war vorüber. So wie sie
anwuchsen, starben nach und nach die Geräusche. Der Dunst verzog
sich. Zum Punkte eingeschrumpft, schwand der Zug in der Ferne, und
das alte heil’ge Schweigen schlug über dem Waldwinkel zusammen.
„Minna“, flüsterte der Wörter, ...
S22: Er hatte seine verstorbene Frau gesehen. Sie war irgendwoher
aus der Ferne gekommen, auf einem der Bahngleise. ... und nun
wusste er, dass sie sich auf der Flucht befunden hatte. ... Aber er war
etwas, das sie mit sich trug, in Tücher gewickelt, etwas Schlaffes,
Blutiges, Bleiches, ...
S 23
Zwei rote, runde Lichter durchdrangen wie die Glotzaugen eines
riesigen Ungetüms die Dunkelheit. Ein blutiger Schein ging vor ihnen
her, der die Regentropfen in seinem Bereich in Blutstropfen
verwandelte. Es war, als fiele ein Blutregen vom Himmel. Thiel fühlte
ein Grauen, je näher der Zug kam, eine umso größere Angst; Traum
und Wirklichkeit verschmolzen in eins. Noch immer sah er das
wandernde Weib auf den Schienen ... schon flirrte es vor Thiels
Augen von Lichtern, und der Zug raste vorbei.
S 27: “Ich muss die Strecke belaufen, ich werde Tobias mitnehmen“,
rief der Wärter .... Thiel ging mit Tobias die Strecke entlang. Der
Kleine war nicht wenig erregt; alles war ihm neu, fremd. Er begriff
nicht, was die schmalen, schwarzen, vom Sonnenlicht erwärmten
Schienen zu bedeuten hatten. ... Vor allem verwunderlich war ihm
das Klingeln der Telegraphenstangen. Thiel kannte den Ton jeder
einzelnen seines Reviers, ... Oft blieb er, Tobiaschen an der Hand,
stehen, um den wunderbaren Lauten zu lauschen, die aus dem Holze
wie sonore Choräle aus dem Innern einer Kirche hervorströmten.
....Zudem unterschied er mit der Zeit eine Stimme, die ihn an seine
verstorbene Frau erinnerte.
S 29: Der Zug wurde sichtbar – er kam näher – in unzählbaren, sich
überhastenden Stößen fauchte der Dampf aus dem schwarzen
Maschinenschlote. Da: ein – zwei – drei milchweiße Dampfstrahlen
quollen kerzengerade empor, und gleich darauf brachte die Luft den
Pfiff der Maschine getragen. Dreimal hintereinander, kurz, grell,
beängstigend. Sie bremsen, dachte Thiel, warum nur? Und wieder
gellten die Notpfiffe schreiend, den Widerhall weckend, diesmal in
langer, ununterbrochener Reihe.
S 31: Der Zugführer trillert abermals – ein Pfiff – die Maschine stößt
weiße, zischende Dämpfe aus ihren Zylindern und streckt ihre
eisernen Sehnen; einige Sekunden, und der Kurierzug braust mit
wehender Rauchfahne in verdoppelter Geschwindigkeit durch den
Forst.
S 32: ... schwarz und heiß ruhen die Geleise auf dem blendenden
Kies. Der Mittag hat die Winde erstickt, und regungslos wie aus Stein
steht der Forst
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Arbeitsaufgabe A7: Beschreibe die Eisenbahn als zentrales Dingsymbol in „Bahnwärter Thiel“.
Welche Attribute kennzeichnen sie? Inwiefern symbolisiert Sie Thiels Seelenleben? Inwiefern
symbolisiert sie ein aus den Fugen geratenes Leben?
4.2.
Natur- und Tiersymbolik in „Bahnwärter Thiel“
Welche Bedeutung haben folgende Symbole im Bahnwärter Thiel (A18)
S 13, Krähen: Krähenschwärme badeten gleichsam im Grau der
Luft, unaufhörlich ihre knarrenden rufe ausstoßend. Schwarze
Wasserlachen füllten die Vertiefungen des Weges …
S 18, Specht: Ein Specht flog lachend über Thiels Kopf weg,
ohne dass er eines Blickes gewürdigt wurde
S 18: feurige Schlangen: Auch die Gleise begannen zu glühen,
feurigen Schlagen gleich
S 18/19, Reitergeschwader: ein dumpfes Getöse, das, lauter und
lauter werdend, zuletzt den Hufschlägen eines heranbrausenden
Reitergeschwaders nicht unähnlich war.
S 26, Libellen: Er hüpfte in seinem braunen Plüschmützchen
zwischen den Farrenkräutern umher und suchte .... die
glasflügligen Libellen zu fangen, die darüber hingaukelten
S 28, Eichhörnchen: „Vater, ist das der liebe Gott?“, fragte der
Kleine plötzlich, auf ein braunes Eichhörnchen deutend, das
unter kratzenden Geräuschen a, Stamme einer alleinstehenden
Kiefer hinanhuschte.“
S 30, Stier: Thiel keuchte. Er musste sich festhalten, um nicht
umzusinken wie ein gefällter Stier.
S 31, Glühwürmchen: Vor seinen Augen schwimmt es
durcheinander, gelbe Punkte, Glühwürmchen gleich, unzählig. ...
Aus dem Tanz der Glühwürmchen tritt es hervor, blass, schlaff,
blutrünstig
S35, Specht und Einhorn: Das Hämmern des Spechtes
durchdrang die Stille. ... Da huschte ein Eichhorn über die
Strecke
S 37, Rehe und Rehbock: Ein Rudel Rehe setzte seitab auf den
Bahndamm. Der Bock blieb stehen mitten zwischen den
Geleisen. Er wandte seinen gelenken Hals neugierig herum.
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Seite 11
5. Die Katastrophe
Arbeitsaufgabe A8: Lies beide Visionen (S19 – 23 und S 33 – 34) aufmerksam durch und fülle
danach die Tabelle aus
Leitfrage
Zu welchem Zeitpunkt
der Handlung hat Thiel
diese Vision
Wie erlebt Thiel die
Handlung?
Welche Personen
treten auf?
Was spielt sich aus
Thiels Sich ab?
Welche Gefühle hat
Thiel währenddessen?
Wie wirkt sich das
Erleben auf Thiels
weiteres Verhalten
aus?
Inwiefern verweist die
Vision auf
Vergangenes und
Zukünftiges?
Vision 1 (19 – 23)
Vision 2 (33 – 34)
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6. Textarbeit
6.1.

6.2.
Zusammenfassung / Beschreiben
Verfasse eine Inhaltsangabe zur Novelle „Bahnwärter Thiel“ im Umfang von etwa 150 Wörtern.
Textanalyse und Textinterpretation

Beschreibe zentrale Persönlichkeitsmerkmale Thiels. Diskutiere, ob und inwiefern Thiel eine
typisch naturalistisch gestaltete literarische Figur ist.

Beschreibe zentrale Persönlichkeitsmerkmale Thiels mithilfe des psychoanalytischen
Instanzenmodells der Persönlichkeit. Stelle dabei die Konflikte zwischen ÜBER-ICHForderungen und ES-Impulsen in den Mittelpunkt. Erkläre, inwiefern es einen Zusammenhang
zwischen Persönlichkeit und Katastrophe am Schluss gibt.

Beschreibe den sozialen Konflikt, in den Thiel nach dem Tod seiner ersten Frau Minna und
durch die Heirat mit Lene gerät. Diskutiere, warum und inwiefern das soziale Umfeld mitversagt
hat und deshalb für die Schluss-Katastrophe zumindest moralisch mitverantwortlich ist.

Erkläre, wie Hauptmann in „Bahnwärter Thiel“ die sich anbahnende Psychose Thiels literarisch
gestaltet. Konzentriere dich dabei auf den Traum von Minna, auf den Spaziergang mit Tobias
entlang der Bahngleise und auf den Erzählabschnitt, in dem Thiel nach dem Unfall allein
zurückbleibt.
6.3.
Kommentar
Nimm an, du bist Zeitungsredakteur im „Berliner Tagblatt“ zu der Zeit, als die „Familientragödie“
passiert. Über das Ereignis wird in Medien ausführlich berichtet. Und es gibt viele Medienkommentare
zum Ereignis.

Verfasse einen ausführlichen Kommentar, in dem du dich mit der Frage auseinandersetzt, ob
Thiel für seine Tat strafrechtlich und/oder moralisch verantwortlich ist. Du musst entweder eine
Pro- oder eine Kontra-Position einnehmen. (300 Wörter)

Verfasse einen ausführlichen Kommentar, in dem du dich mit der Frage auseinandersetzt, ob
die MitbürgerInnen, z. B. der Pfarrer, eine moralische Mitverantwortung dafür tragen, dass es
zur Familientragödie gekommen ist. Du musst entweder eine Pro- oder eine Kontra-Position
einnehmen. (300 Wörter)

Verfasse einen ausführlichen Kommentar, in dem du dich mit der Frage auseinandersetzt, wie
Familientragödien in Zukunft verhindert werden könnten. (300 Wörter). Du musst eine Idee
entwickeln und diese argumentativ darlegen.
6.4.
Leserbrief
In der Zeitung ist nach der Familientragödie in Neu-Zittau eine Leserbrief-Debatte entstanden in der es
um das Thema Gewalt in der Familie / familiäre Gewalt geht.

Nimm in einem Leserbrief zur Frage, was Ursachen für familiäre Gewalt sind, Stellung.

Nimm in einem Leserbrief zur Frage, wie verhindert werden kann, dass Kinder Opfer familiärer
Gewalt werden, Stellung.

Nimm in einem Leserbrief zur Frage, wie Eltern in schwierigen Lebenssituationen (z. B. allein
erziehenden Vätern / Müttern) entlastet werden könnten, Stellung.

Nimm in einem Leserbrief zur Frage Stellung, ob und inwiefern auch Nachbarn und
Mitmenschen eine Verantwortung zukommt, wenn sie familiäre Probleme in ihrem sozialen
Umfeld beobachten können.
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6.5.
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Erörterung

Diskutiere in einer Erörterung, warum es auch in der heutigen Zeit noch vorkommt, dass Eltern
bei der Erziehung von Kindern Gewalt anwenden. (= offene Fragestellung)

Diskutiere in einer Erörterung, ob die Behörden bei familiären Problemen schneller eingreifen
und Kinder in Pflegefamilien unterbringen sollten. Stelle in der Diskussion besonders die
Bedürfnisse der Kinder und das Kindeswohl ins Zentrum (= antithetische Fragestellung)

Diskutiere in einer Erörterung, welche Ursachen es in der heutigen Zeit dafür gibt, dass Eltern
mit der Erziehungssituation überfordert sind.

Diskutiere in einer Erörterung, mit welchen Herausforderungen Stiefeltern und Stiefkinder in der
heutigen Zeit häufig konfrontiert werden.

Diskutiere in einer Erörterung, welche Ursachen es in der heutigen Zeit dafür gibt, dass Kinder
in „Patchworkfamilien“ aufwachsen.

Diskutiere in einer Erörterung die Frage, welche Herausforderungen es für Eltern und Kinder
bedeutet, in einer Patchwork-Familie zu leben.
Anmerkungen
zu A8:
Äußeres Ereignis
Erleben
Handeln
Beobachtung, dass
Lene Thiel
misshandelt
Vision 1  Versprechen
????
Unfall des Tobias
Vision 2  Intensivierung des
Versprechens; Umschlagen des
Versprechens in Gewaltvisionen
Thiel tötet Lene und das Kind
Zu A3 Persönlichkeitsstruktur Thiels aus tiefenpsychologischer Sicht
Über-Ich-Anteile Verantwortung Thiels gegenüber seinem Sohn Tobias (z. T. verdrängt, weil in
Widerspruch zur Abhängigkeit von Lene)
Zweites Kind (verdrängt)
Idealisierte emotionale Bindung an Minna
Arbeit als Bahnwärter (überkorrekt)
Bahnwärterhäuschen-Welt
Es-Anteile
Hörigkeit gegenüber Lene; sexuelle Abhängigkeit von ihr
Minna-Welt
Aggressivität (unkontrollierbar, weil verdrängt)
Umwelt
Sprachlosigkeit
Isolation
Außenseiter-Existenz
ICH
Sprachlosigkeit
Unfähigkeit, mit Konflikten umzugehen
Reflexions-Unfähigkeit
Hilflosigkeit gegenüber seiner Verpflichtung in Bezug auf Tobias (Abwehr,
Ersatzhandlungen)
Dramatische
Zuspitzung
durch äußere
Umstände

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