primäre liebe und - Werkblatt Zeitschrift für Psychoanalyse und

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primäre liebe und - Werkblatt Zeitschrift für Psychoanalyse und
Werkblatt
–
Zeitschrift
für
Psychoanalyse und Gesellschaftskritik
Nr. 4/5, 3/4-1985
PRIMÄRE LIEBE UND
DIE GRUNDSTÖRUNG
Die Untersuchungen Michael Balints über
frühe Objektbeziehungen
von
Ernst Falzeder1
Der Name Balint wird am häufigsten mit den sogenannten Balint-Gruppen
assoziiert. Viel weniger bekannt sind seine Beiträge zur Psychoanalyse der
frühesten Objektbeziehungen, mit denen ich mich im folgenden
beschäftigen will.
Im Anschluss an seinen zweiten Lehranalytiker Sándor Ferenczi (1)
experimentierte Balint mit verschiedenen Modifikationen der üblichen
psychoanalytischen Technik, (2) was ihn zu neuen Auffassungen über das
Seelenleben des Kleinkindes führte. Bereits in den dreißiger Jahren
formulierte er seine Kritik am Konzept des primären Narzissmus, also an
der Auffassung, dass der Säugling ein von den Reizen der Außenwelt
weitgehend abgeschirmtes System darstellte, dessen Besetzungsenergien
ausschließlich auf die eigene Person gerichtet seien. Im Gegensatz dazu
meinte Balint: so „tief wir auch mit unserer analytischen Technik bzw. mit
unseren Beobachtungen in die Geschichte eines Menschenlebens vordingen
können, haben wir immer, ohne Ausnahme, Objektbeziehungen
vorgefunden.“ (1935a, 56) In der Erforschung dieser frühesten Beziehung
hat Balint nicht weniger als eine neue Form der Liebe entdeckt, die er
primäre Liebe nannte. „Diese Form der Objektbeziehung ... ist etwas für
sich, wie die anderen Formen der Liebe es sind, wie Autoerotik, Narzissmus,
Objektliebe. Ich halte diesen Umstand für äußerst wichtig ... “ (1937, 94).
Ihre pathologische Form ist die Grundstörung (basic fault), die gegen Ende
seines Lebens im Zentrum seiner Gedanken steht.
Balint hat Fenenczis Untersuchungen über den Beziehungsaspekt in
Äthiologie und Therapie der Neurosen fortgeführt. Man kann sagen
1
Ernst Falzeder stellte seine Dissertation über Balin und Ferenczi am 22.5.1985 im
Bürgerspital zur Diskussion. Zur Zeit Grabungen in den Ruinen des psychologischen
Instituts Tür an Tür mit dem nichtundnicht Chef werden könnenden Urs B.
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dass, es das wesentlichste Merkmal seines Werkes ist, dass er alle
Phänomene unter dem Gesichtspunkt der „Zwei-Personen-Psychologie“
(Rickman 1951) studiert. Er kämpfte ein Leben lang gegen den, wie er ihn
nannte, physiologischen oder biologischen Blickwinkel der Psychoanalyse.
Damit meint er die Tatsache, dass alle Formulierungen der Analyse „jeweils
nur das Individuum betreffen.“ (1959, 224) Mit Ausnahme der Begriffe
„Objekt“ und „Objektbeziehung“ gehen alle psychoanalytischen Termini
„nicht über die Grenzen der individuellen Psyche hinaus.“ (op.cit., 229)
Die Betonung des Beziehungsaspektes brachte Balint in Konflikt mit fixen
Anschauungen und Praktiken: im Bereich der Medizin mit der einseitig am
somatischen Krankheitsbegriff orientierten Arbeitsweise, in der
Psychoanalyse mit dem Konzept des primären Narzissmus, der üblichen
Technik, letztlich auch mit der Triebtheorie. Denn nach seiner Anschauung
beruht die fundamentalste Störung des menschlichen Lebens nicht auf einer
schiefgelaufenen Triebentwicklung bzw. einem pathologisch gelösten
Konflikt zwischen Trieb und Ich/Umwelt, sondern auf einem tiefen NichtZueinanderpassen von Kind und Umgebung. Das führt zu einem
Mangelzustand, der nur durch Aufhebung des Mangels und nicht durch
bewusst machendes Verbalisieren zum Abheilen (unter Narbenbildung)
gebracht werden kann.
Primäre Liebe
Pränatal und die erste Zeit nach der Geburt lebt das Kind in einer
harmonischen Verschränkung oder Vermischung mit seiner Umgebung. Es
lebt in einer Welt der „primären Substanzen“ (nicht konturierte,
unzerstörbare Objekte wie Wasser, Milch und Luft). Es gibt subjektiv und
objektiv keine festen Grenzen zwischen innerer und äußerer Welt. Wer
vermöchte bspw. zu sagen, wo das Fruchtwasser aufhört und der Fötus
anfängt? Es herrscht Einheit der Wünsche und Interessen bei Subjekt und
Objekt.
Dieser Idealfall kann gestört werden einerseits durch eine versagende,
überfürsorgliche oder dazwischen wechselnde Umwelt, andererseits durch
kongenitale Ursachen beim Kind. Es kommt so zu einem NichtZueinanderpassen von Säugling und Umgebung. Dieser „Atmosphäre“ wird
von Balint in der Pathogenese der Neurosen und anderer Störungen eine
größere Bedeutung zugemessen als einzelnen Traumen (vgl. a. Ferenczi
1933). Die Diskrepanz zwischen Bedürfnis und tatsächlicher libidinöser und
materieller Versorgung führt zur Grundstörung. Sie ist kein Konflikt und
kein Komplex, sonder „a
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fault“ – eine Störung oder ein Mangel. Sie bewirkt, dass die aus dem
Zustand harmonischer Verschmelzung „auftauchenden Objekte“ (Balint
1968, 83) als traumatisch erlebt werden. Das Individuum versucht
verzweifelt, die ursprüngliche Einheit (die aber ihrerseits bereits gestört
war) wiederzuerreichen. Das Ziel der primären Liebe „ mich soll man
lieben, immer, überall, auf jede Weise, meinen ganzen Körper, ohne die
kleinste Gegenleistung meinerseits“ – bleibt zeitlebens bestehen. Es ist „das
Endziel alles erotischen Strebens“ (Balint 1935, 60).
Balint beschreibt als Reaktionsmöglichkeiten das Anklammern an das
(Teil)-Objekt, um es nicht zu verlieren (Oknophilie), die Besetzung der
„freundlichen Weiten“ zwischen den Objekten (Philobatismus) und die
sekundäre narzisstische Besetzung des Ichs. All diese Versuche der
Wiederverschmelzung scheitern. Am ehesten wird das Ziel durch den
scheinbar größten Umweg erreicht, durch die „aktive Objektliebe“, bei der
das Individuum durch ständige „Eroberungsarbeit“ (Balint 1948, 126) ein
„widerstrebendes und teilnahmsloses Objekt zu seinem Partner“ (Balint
1952, 139) macht. Im (gemeinsamen) Orgasmus ist das höchste mögliche
Maß der ursprünglichen Verschmelzung erreicht.
In den dreißiger Jahren verstanden Michael und Alice Balint unter primärer
Liebe eine sehr primitive Form der Beziehung zwischen zwei Menschen –
dem Säugling und der Mutter, aber auch dem Patienten und dem Analytiker.
Oberflächlich betrachtet, ist diese Beziehung einseitig: ein Partner gibt
Liebe, der andere nimmt sie – wie Nahrung, mit der Nahrung – auf. Das
Triebziel des Kindes ist vollkommen passiv, gleichzeitig objektgerichtet.
Einfach gesagt, es will geliebt werden, und zwar von der Mutter. Die
Forderung nach Liebe nimmt keine Rücksicht auf Wünsche und Bedürfnisse
des anderen. Das Kind ist in dieser Zeit objektgerichtet, jedoch völlig ohne
Realitätssinn; nur in diesem letzteren Sinne wäre es als narzisstisch zu
bezeichnen. Der Partner wird als selbstverständlich vorrausgesetzt wie die
Luft zum Atmen. Doch wie bei der Luft wird ein Fehlen zu einer Frage von
Leben und Tod.
Aber auch die Mutter schöpft Befriedigung aus dieser Beziehung. Im
Idealfall „ist der einen gut, was dem anderen recht ist“ (Balint 1937, 94),
und die Programmierung funktioniert so gut, dass keiner auf den anderen
Rücksicht nehmen braucht und doch beide auf ihre Kosten kommen.
Was aber passiert, wenn die jeweiligen Triebsziele nicht zusammenpassen?
Die Betrachtung der primären Liebe als wechselseitige Befriedigung ohne
Realitätssinn impliziert bereits die viele Jahre später formulierte Theorie der
Grundstörung.
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Primäre Liebe ist unabhängig von irgendeiner Zone. Balint kritisiert immer
wieder die Praxis, die Entwicklung der Partialtriebe (der sexuellen Ziele,
des Lusterwerbs) nicht zu trennen von der Entwicklung der
Objektbeziehung (der Liebesformen). Es führe nicht nur zu einer
allgemeinen Verwirrung, eine spezielle Art der Triebbefriedigung (z.B. die
orale) ungebrochen zur Charakterisierung einer Art der Objektbeziehung zu
machen (durch Wendung wie orale Gier, Einverleibung usw.), sondern das
orale Element sei auch viel zu ungenügend zur Beschreibung dieser frühen
Phase. Eine ganze Welt anderer Sphären (Wärme, Rhythmik, Geschmack,
Geruch, taktile Reize usw.) falle so unter den Tisch.
Was die Entwicklung der prägenitalen Objektbeziehung betrifft, so sei sie
ausschließlich sozial begründet. Wenn das Kind „etwas bekommt, wird es
durch die erhaltenen Befriedigungen gleichsam modelliert. Die so häufig, so
regelmäßig gefundene Entwicklungsreihe der anal-sadistischen, phallischen
und schließlich genitalen Objektbeziehungen wäre nicht biologisch, sondern
sozial begründet.“ (Balint 1935a, 60) Sie „deuten ... auf eine erheblich
gestörte Entwicklung“ (193b, 197).
Die primäre Liebe dauert in unserer Zivilisation viel zu kurz. Eines ihrer
wichtigsten Charakteristika ist die Notwenigkeit des körperlichen Kontakts.
Balint berichtet aus seiner Praxis (von deren Erfahrungen er ausgeht), dass
sich seine Analysanden in bestimmten Phasen der Therapie, die er
Neubeginn nannte, wünschten, von ihm berührt zu werden oder ihn
berühren zu dürfen, z.B. seine Hände zu halten. Diese Daten konnten
natürlich nicht nahtlos auf die frühe Kindheit umgelegt werden, erfuhren
jedoch entscheidende Unterstützung durch andere Autoren, v.a. seine Frau
Alice (A. Balint, 1939) und Imre Hermann (1933, 1936). Das wesentliche
Ergebnis dieser Arbeiten war, dass der Nahkontakt bei uns viel zu früh
verrissen wird. Die Folge ist eine lebenslange Tendenz zur Anklammerung,
„aber auch die allgemeine Unzufriedenheit, die unersättliche Gier unserer
Kinder.“ (Balint 1937, 94). Diese Befunde können heute durch zahlreiches
ethnologisches und ethologisches Material belegt werden.
„Falls der Triebwunsch – oft durch körperliche Nähe – befriedigt wird,
übersteigt das Befriedigungserlebnis nie das Vorlustniveau, das Gefühl des
stillen, ruhigen Wohlbehagens. Eine Versagung löst dagegen äußerst heftige
Reaktionen aus ...“ (Balint 1937, 94f.).
Die Stärke der Wünsche bzw. der Reaktionen bei Nichtbefriedigung ist sehr
groß, „beinahe wie im Falle eines Selbsterhaltungstriebes“ (Balint, 1935,
58). Die Wünsche sind zwar (die Rede ist vom Erwach-
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senen in Analyse) „zweifellos sexuell“ (1935, 59), jedoch nicht genital. Sie
sind recht
harmlos, naiv, muss man sagen. Ein liebevolles Wort vom Analytiker, die
Erlaubnis, ihn beim Vornamen zu nennen, oder von ihm so genannt zu
werden, ihn auch außerhalb der Stunden zu sehen ... Sehr oft gehört zu
diesen Wünschen, den Analytiker zu berühren, ihn anfassen zu dürfen, oder
von ihm berührt, gestreichelt zu werden.“ (Balint 1937, 90)
Die leidenschaftliche Weise, mit der die Befriedigung gefordert bzw. auf
ihre Verweigerung reagiert wird, hat lange Zeit dazu geführt, sie mit
leidenschaftlichen Zielen zu verwechseln. Erst Balint sah klar den
Unterschied und hinter der lärmenden Kulisse den eigentlichen Wunsch:
eine stille Liebe.
Oknophilie und Philobatismus
Wie bereits angedeutet, wird das Erleben unabhängiger Objekte nach einem
Zustand harmonischer Verschmelzung in unserer Zivilisation fast immer als
traumatisch erlebt. Balint hat zwei Möglichkeiten, darauf zu reagieren,
näher beschrieben. Er nennt sie Oknophilie und Philobatismus.
Oknophilie ist eine art psychischer Kammerreflex. Das Kind klammert sich
an das (Teil)-Objekt in der trügerischen Hoffnung, dadurch das
verlorengegangene Paradies wieder zu erreichen. Aber die „tieftragische
Situation ist die, dass man, je fester man sich anklammert, um so weniger
vom Objekt gehalten wird“ (Balint, 1959, 66). Dieser Mechanismus
generalisiert sich und wird in kritischen Situationen gegenüber Menschen,
Sachen, Ideen, Idealen usw. angewendet. Diese Menschen müssen immer
das Gefühl festen Bodens unter den Füßen haben und sind von der Angst
geprägt, ihn zu verlieren. Ihre Welt besteht aus Objekten, zwischen denen
schreckliche Leerräume (horrid emmpty spaces) sind.
Philobaten dagegen versuchen, ohne die schwer ausrechenbaren und sie
beunruhigenden anderen Menschen auszukommen. Sie lieben die
„freundlichen Weiten“ zwischen den Objekten. Sie genießen
schwindelerregende (thrilling) oder auch gefährliche Situationen und
vertrauen auf die Fähigkeiten (skills), die sie sich angeeignet haben. Sie
leben immer ein bisschen in einer Märchenwelt, in einer illusorischen
Gewissheit, es werde schon alles gut ausgehen (wenn nicht unberechenbare
andere dazwischenfunken). Ein Rest von „Anklammern“ findet
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sich nicht selten in Form einer besonderen
Ausrüstungsgegenständen, Amuletten u.ä.m.
Besetzung
von
Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass beide Typen an einer
narzisstischen Beziehungsstörung leiden, die beim Philobaten nur durch das
„Tamtam“ drumherum (skills, Leistung, angebliche Selbständigkeit,
Abenteuer) überspielt wird. Gerade gefährliche Aktionen sind oft nur ein
Versuch, der Grundstörung (deren Abkömmling der Philobatismus ist) zu
entkommen und durch sich immer steigernde „thrills“ dem Selbst nahe zu
kommen. Auch der Oknophile besitzt einen solchen Panzer, der
automatisierte Reaktionen zu Folge hat. Dadurch schränken sich die
Möglichkeiten des Menschen,
„Liebe und Hass, Freude und Leid zu erleben, ein. Das Leben wird ihn nur
in der Intensität und in der Form erreichen, die sein Panzer erlaubt. Man
erhält den Eindruck, dass die Objekte des Oknophilen in gewisser Weise
Bestandteile seines Panzers sind, woraus sich seine hochgradige
Ambivalenz ihnen gegenüber erklärt. Andererseits könnten die Abenteuer
des Philobaten, wenn er auf der Suche nach erregenden Sensationen
(thrills) wirklich Gefahren nachjagt, rebellische Versuche sein, durch
realistische Ängste den starken Panzer aufzubrechen, um mit seinem
wirklichen Selbst, das sich dahinter verbirgt, in Berührung zu kommen.
Keiner dieser beiden Zustände gestattet, viel Freiheit zu fühlen, ja
überhaupt zu leben ... „ (Balit 1959, 89)
Oknophilie und Philobatismus sind zwei Möglichkeiten, auf eine tieftraurige
Situation zu reagieren – das Gewahrwerden der eigenen getrennten
Existenz, die Vertreibung aus dem Paradies harmonischer Verschmelzung.
Sie entstehen aus der Furcht vor der kalten Freiheit. Doch kann die
Verschmelzung so paradiesisch gewesen sein, wenn der nächste
Entwicklungsschritt so schwer fällt?
Die Grundstörung
„Wenn ich mich nicht irre, ist die Psychoanalyse im Begriff, eine neue
Auffassung zu entwickeln, die man etwa die ’Grund-Krankheit’ oder eher
die GRUND-STÖRUNG IN DER BIOLOGISCHEN STRUKTUR DES
INDIVIDUUMS nennen könnte, die sowohl Seele wie Körper in
wechselnden Graden affiziert hat. Der Ursprung dieser Grundstörung kann
vielleicht zurückverfolgt werden bis zu beträchtlichen Unstimmigkeiten
zwischen den Bedürfnissen des Individuums in seinen ersten,
entwicklungsbestimmenden Jahren (oder auch nur Monaten) und der ihm
zuteil gewordenen Pflege und Zuwendung. Dies kann
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zu einem Mangelzustand geführt haben, dessen Folgen nur zum Teil
reversibel sind. Obwohl das Individuum zu einer guten, sogar sehr guten
Anpassung gekommen sein mag, sind die Spuren seiner Ersterfahrungen
bestehen geblieben und bilden einen Teil dessen, was man seine
Konstitution, seine Individualität, seine Charakterstruktur nennt, und zwar
im psychologischen wie im biologischen Sinne. Die Ursache dieser frühen
Unstimmigkeit kann angeboren sein – z.B. überfordernde Bedürfnisse des
Säuglings -, oder umweltbedingt, wie eine ungenügende, lieblose,
unregelmäßige, überängstliche, über-beschützende oder auch einfach
verständnislose Pflege. Wenn sich diese theoretische Annahme als richtig
erweisen sollte, so würden alle pathologischen Zustände der späteren
Lebensjahre, die ’klinischen Krankheiten’ als Symptome oder
Exacerbationen jener ’Grundstörung“ angesehen werden müssen ... “
(Balint 1957, 342f.)
Die Grundstörung ist am besten negativ beschreibbar. Sie ist vieles nicht.
Sie ist „kein Komplex, „kein Konflikt, keine Spaltung“ (Balint 1968, 108);
„die aus der Grundstörung stammende Energie hat, obwohl sie hochgradig
dynamisch ist, weder Trieb- noch Konfliktform“ (op. cit., 32); die
Grundstörung kann weder wie ein Triebbedürfnis befriedigt oder sublimiert,
noch wie ein Konflikt gelöst werden; sie ist kein Abwehrmechanismus
gegen Es-Impulse; die Beziehung, in der sie sich abspielt, ist prinzipiell
verschieden von den gut untersuchten Strukturen der Ödipalzeit; die
Erwachsenensprache ist „oft unbrauchbar und irreführend ..., wenn sie
Vorgänge auf dieser Ebene beschreiben will“ (op. cit., 26); und schließlich
ist sie Interpretationen nicht oder fast nicht zugänglich, Deutungen sind
nicht wirksam, weil sie nicht als solche erlebt werden (Khan 1969, 244). Die
therapeutische Praxis wird damit fundamental in Frage gestellt: Was soll aus
der analytischen „talking cure“ (Anna O.) werden, wenn die Sprache als
Verständigungsmittel versagt und Deutungen nicht ankommen? Wird sie
auf „chimney sweeping“ reduziert?!
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Die Grundstörung ist eine Störung der Welt der primären Liebe, also einer
sehr frühen, „primären“ Objektbeziehung zweier Menschen, in welcher der
eine selbstverständlich voraussetzt, dass der andere für ihn anwesend ist, ihn
versorgt, pflegt, versteht usw. Es ist klar, dass es in einer solchen Beziehung
leicht vorkommen kann, dass das quasi automatische AufeinanderEingespielt-Sein nicht funktioniert. Balint hat früh erkannt, dass die Qualität
dieser Beziehung einen entscheidenderen Faktor in der Entstehung von
Neurosen darstellt als einzelne, isoliert betrachtete Traumen. Traumen
finden, so Balint, in der Regel in einer Beziehungssituation statt (vgl. Balint
1969). Wie er am Beispiel des „Wolfsmanns“ zeigt, ist bereits diese
Interaktion vor dem Trauma gestört.
Das „Verhältnis des Kindes zu seinem Objekt in dieser Ursprungssituation,
welche also damals zum Trauma hingeführt hat, ist keineswegs einfach,
unproblematisch, wie man es nach der heutigen biologisierenden Theorie
erwarten würde ... (Es sind) immer genügend Anzeichen dafür vorhanden ...,
dass diese schicksalsschweren Situationen, die dann die Basis einer
Krankheit bilden, noch eine verschlungene Vorgeschichte hatten.“ (Balint
1935a, 51)
Die verschlungene Vorgeschichte vor dem Trauma, mit dem nach der
damaligen Meinung die Krankheit erst begann, wird Balint ab nun ein
Leben lang beschäftigen. Enid Balint schreibt (1976, 115f), er habe 13 Jahre
vor der Veröffentlichung der eingangs zitierten Sätze – also etwa um 1944 –
die Idee der Grundstörung gefasst. Die oben angeführten und andere Stellen
zeigen, dass er damit nur einem Kind, mit dem er schon lange schwanger
gegangen war, einen Namen gegeben hat. Ich verweise auf sein Konzept der
primären Liebe als Zweier –Beziehung mit wechselseitiger Befriedigung
ohne Realitätssinn, auf Untersuchungen über den Neubeginn (vgl. Balin
1933) und auch auf Ferenczis mehrphasige Traumtheorie und die
„Sprachverwirrung“ (vgl. Ferenczi 1933).
Zusammenfassend (und die meist aus einer analytischen Praxis stammenden
Berichte Balints konsequent auf die Entwicklungspsychologie „umgehend“)
kann man sagen:
Die Tragödie beginnt mit einem Nicht-Übereinstimmen der Bedürfnisse und
(Re-)Aktionen von Mutter und Kind. Das ist bereits pränatal möglich.
Dieses unspezifische ökologische Ungleichgewicht hat schwerwiegende
negative Auswirkungen auf das Kind, das dadurch in seiner gesamten
späteren Entwicklung die Hypothek eines Strukturdefektes tragen muss.
Zwei entscheidende Punkte in dieser Entwicklung sind die biologische und
die psychische Geburt (M. Mahler), die unter diesen Vorraussetzungen nicht
anders als traumatisch erlebt werden können.
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Damit wird die Grundstörung „organisiert“ (um einen anderen Ausdruck
Balints zu benutzen“. Sie erhält ihre individuelle Ausprägung durch die
Fixierung an eine bestimmte Art, diese Traumen bewältigen zu wollen
(bspw. Oknophilie oder Philobatismus).
Soziale Aspekte der Grundstörung
In unserer Zivilisation hat der Erwachsene – im Gegensatz zum Säugling –
eine Art Arbeitsteilung zwischen „nützlichen“ und „lustspendenden“
Organen vollzogen. Unter diesem Aspekt kann das Erwachsenwerden als
fortschreitende Desexualisierung des ursprünglich vollständig libidinisierten
Körpers (kutane Phase nach Borneman 1985) beschrieben werden, bis
zuletzt, nach den prägnanten Worten Ferenczis, das Genitale allein
überbleibt, um „als Prokurist ... das Lustabfuhrgeschäft für den ganzen
Organismus“ zu besorgen. (1924, 331).
Die Arbeitsteilung des menschlichen Körpers und die hierarchische Struktur
der Sexualität (3) sind Wiederspiegelungen einer entsprechenden
Gesellschaftsordnung. Ich erinnere an Balints Diktum, dass die anale und
die phallische Phase (d.h. auch der Ödipuskomplex) Kunstprodukte der
Gesellschaft seien. Mit der zunehmenden Trennung von Eros und Soma
steht ein tendenziell beliebig verwendbares Arbeitswesen zur Verfügung,
dessen Leistung nicht durch extrafunktionale Lust gestört wird. Arbeit ist
Arbeit und Schnaps ist Schnaps!
Aber das Gewicht der beiden Funktionen ist ungleich verteilt. Alles wird an
der Arbeitsleistung gemessen. Die Freizeit ist keine freie Zeit, sondern kann
in steigendem Maße nur mehr zur eigenen Regeneration und zum Konsum
von Freizeitgütern verwendet werden. Ein befriedigendes Sexualleben ist
unter solchen Umständen kaum möglich. Es würde tendenziell auch das
System destabilisieren. Eine erfüllende genitale, orgastische Sexualität (i.S.
von Reichs „orgastischer Potenz“) kann, nach aller Erfahrung, Menschen
lockerer machen. Es immunisiert gegen demagogische Glücksbotschaften,
wenn man sich selber glücklich machen kann. Sozialisation und
Arbeitssituation verhindern aber auch bei den meisten diese Erfahrung. Sie
finden sich im Gegenteil in der paradoxen Situation zu glauben, dass
befriedigende Sexualität erstens doch möglich sei und zweitens mit eben
den Mitteln erreicht werden können, die sie de facto verhindern, nämlich
Konsum von Waren.
Warum kann eine Identifikation mit dieser Situation stattfinden? Die
Verinnerlichung des Dilemmas (das damit seine pathogene Kraft erhält)
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hat jene Selbstentfremdung zur Vorraussetzung - die strikte Trennung in
Eros und Soma, Arbeit und Schnaps, in Lust und Frust. Das herrschende
Realitätsprinzip fordert, alle Emotionen für das vom Arbeitsprozess
vordergründig abgetrennte Privatleben aufzuheben – mit dem Ergebnis, dass
sich die Gefühle nicht danach richten und unauffindbar, bis zur
Unkenntlichkeit verändert und für Krankheiten aller Art verantwortlich sind.
Wer sich solchen Verhältnissen anpassen muss, der darf sich zwar normal
und im Einklang mit den bestehenden Normen fühlen, doch er zahlt einen
großen Preis. Um sich von den Psychopathen abgrenzen zu können, ist er
selbst zum Normopathen (Wulff) geworden. Er hat die Fähigkeit verloren,
sich grundsätzlich selbst in Frage zu stellen und damit ändern zu können. Er
hat sich abgeschottet gegen alle Möglichkeiten, abnorme (von der Norm
abweichende) Erfahrungen zu machen. Um Freud zu paraphrasieren: Das
kollektive Normalsein erspart dem Einzelnen die individuelle Neurose. Wer
aber in bestimmten Situationen nicht den Verstand verliert, der hatte keinen
zu verlieren ... (Lessing)
Was hat das alles mit der Grundstörung zu tun? Sehr viel. Denn sie zerstört
erstens die Fähigkeit, zu sich selbst „auf Distanz gehen“ zu können, sich
selbst in Frage stellen zu können. (4) Sie ist zweitens die Ursache dafür,
dass die „Freiheit von“ den Objekten nicht als „Freiheit zu“ mehr
Eigenverantwortung (VGl Fromm 1941) genutzt werden kann. Im
Gegenteil, sie hat zu Folge, dass jede Chance zur Selbständigkeit als
Bedrohung erlebt wird, die durch automatenhafte Mechanismen (z.B.
Philobatismus) abgewehrt werden muss. Phantasien einer ungetrübten
Harmonie werden wachgerufen. Die Vorstellung, eins zu sein mit aller Welt
(bei Unterwerfung unter einen Führer oder ein Ideal) wird zur Chimäre, der
man zwanghaft-erfolglos nachjagt. Jeder Widerspruch zu herrschenden
Meinungen muss ängstlich gemieden werden. Das narzisstische
Selbstwertgefühl ist extrem von außen abhängig. Die Verantwortung für
lebenswichtige Entscheidungen wird an andere delegiert. Doch der ersehnte
Lohn bleibt aus. Eine Teilnehmerin an einem Seminar formulierte es so:
„Ich habe die Erfahrung gemacht, dass einem umso weniger passiert, je
mehr man das Maul aufreißt. Wer schon von vornherein sich ängstlich
duckt, bekommt noch zusätzlich eine auf den Deckel.“ Wer immer nur
durchtaucht, wird einmal nicht mehr auftauchen. Freuds Modell vom Ich,
das zwischen den Ansprüchen von Es, Über-Ich und Realität vermittelt, ist
obsolet geworden. Das Ich spielt oft nicht einmal mehr „die lächerliche
Rolle des dummen August im Zirkus, der den Zuschauern durch seine
Gesten die Überzeugung beibringen will, dass sich alle Veränderungen in
der
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Manege nur infolge seines Kommandos vollziehen“ (1914, 97). Die Zeiten
sind auch für Clowns hart geworden. Der beobachtbare Trend zu „inneren“
Werten, zu Individualität, Selbstverwirklichung und Authentizität ist, wie
Russel Jacoby gezeigt hat (1975), nur die Folge ihrer objektiv
fortschreitenden Zerstörung in unserer Zivilisation. Die Prediger der
Selbstverwirklichung gaukeln vor, dass Individuation relativ leicht
(jedenfalls mit ihren Methoden) möglich sei und helfen so mit, die
bestehenden Verhältnisse zu verschleiern. In Wirklichkeit ist die
„ungestüme Suche nach Authentizität, Erfahrungen, Gefühlen ... wie das
Hämmern an die Decke, wenn das Wasser steigt.“ (Jacoby 1975, 40)
Einschätzung und Kritik
Bei der Fülle von originellen und interessanten Hypothesen, die Balint
geliefert hat – Main (1972) zählte mehr als sechzig - , ist es wichtig, den
roten Faden nicht zu verlieren. Das ist wohl sein Interesse an der ZweiPersonen-Psychologie und hier besonders an jener eigenartig primitiven
Beziehung, die er Welt der primären Liebe, Ebene der Grundstörung oder
arglose Atmosphäre des Neubeginns nannte. Immer geht es um die Liebe.
Wenn Freud ein Theoretiker der Libido war, dann war Balint einer der
Liebe. „Of course, Dr. Balint has his personal preferences, which are
global and unshakable, one of which is his very romantic notion of love as
the beginning and end of all human desire and effort.” (Khan 1969, 238)
Das Wort Libido kommt in seinen Arbeiten fast nicht vor, wie er überhaupt
mit der Triebtheorie zur Erklärung seiner Daten nicht viel anfangen kann –
wenn wir seinen Vorstellungen folgen, “verlassen wir die Grenzen der
Triebtheorie, die ja zur Sphäre der Ein-Personen-Psychologie gehört, und
betreten das Reich der Zwei-Personen-Psychologie.“ (Balint 1968, 196)
Damit zusammenhängend, konzentriert Balint sein Interesse auf die hinter
den intrapsychischen Konflikten liegenden Strukturdefekte. Die
Grundstörung bewirkt, dass die, auch für neurotische Konflikte
notwendigen kohärenten psychischen Instanzen Ich (bzw. Selsbst) und
Über-Ich in ihrer Substanz geschädigt werden. Es entsteht eine Lücke in der
selbstregulativen Struktur des Individuums, die nur durch „Plomben“
(Morgenthaler 1984) aus der Objektwelt geschlossen werden kann. In der
analytischen Therapie muss der Analytiker teilweise diese Plombenfunktion
erfüllen, doch vor allem versuchen, eine vertrauensvolle, „arglose“ (Balint
1933, 168) Beziehung aufzubauen. Im Idealfall kann der Klient in diese
Sicherheit bietende Welt primärer Liebe regredieren und es wagen, „das
Liebesleben versuchsweise neu zu beginnen“ (Balint 1935b, 201).
Entscheidend ist, ob es
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Analytiker und Analysand gelingt, nicht den Therapeuten zum
bedürfnisbefriedigenden Objekt zu machen (d.h. seine Plombenfunktion zu
verewigen), von dem in suchtartig sich steigender Weise immer mehr
Zuwendung verlangt wird, sondern die Besetzung jener arglosen
Atmosphäre zu erreichen, die es dem Analysanden ermöglicht, sich selbst
aus rigiden und zwanghaften Objektbeziehungsmustern zu befreien. (5)
Von verschiedener Seite wurde Balint vorgeworfen, er habe nur eine Menge
neuartiger Beobachtungen mitgeteilt, ohne eine ihnen adäquate Theorie
aufzustellen. „(He) has temporized in a way, refusing to become a
psychoanalytic heretic by attempting to formulate the revised structural
theory he needs to explain his data.“ (Morse, 1972, 498) Seine Theorie sei
nicht mehr als eine interessante Abstraktion (ebda), eine metaphorische
Beschreibung statt einer erklärenden Theorie (Sutherland 1980, 833). Ich
meine, dass gerade auch im geringen Abstraktionsgrad der Balintschen
Arbeiten ihr großer Reiz liegt. Er hat viele beunruhigende Beobachtungen
mitgeteilt, ohne ein genaues Raster zu ihrer Schubladisierung mitzuliefern.
Statt dessen haben Ferenczi und Balint – was ich für wichtiger halte – eine
Methode ausgearbeitet, an diese Daten zu kommen. Sie machten die im
Therapeuten ausgelösten Gefühle (seine „Gegenübertragung“) zum
Instrument der analytischen Untersuchung. Ein Beispiel: Wie erkennt der
Analytiker, dass die Ebene der Grundstörung erreicht ist? – Wenn er in sich
die Neigung verspürt, seinem Patienten eine „korrigierende emotionale
Erfahrung“ (Alexander) zu verschaffen, ihm eine Art Führer durch die
Regression zu sein und ähnliche Formen „omnipotenter Reaktion ... Ich
möchte nachdrücklich darauf aufmerksam machen, dass jede derartige
Neigung des Analytikers als ein Symptom der Krankheit des Patienten zu
bewerten ist, dass man jedoch keinesfalls handelnd eingreifen sollte. Das ist
übrigens leichter gesagt als getan.“ (Balint 1968, 223) (6)
Die verlässliche Datenerhebung in den Humanwissenschaften geschieht
nicht, indem man die vermeintliche Störvariable Beobachter auszuschalten
versucht. Früher oder später beeinflusst das Subjekt Forscher das
Untersuchungsergebnis durch den Akt „und dies nehme ich wahr“.
(Devereux 1967) Die Verwirrung, die andere Menschen in mir auslösen,
kann nicht dadurch wissenschaftlich neutralisiert werden, dass ich
verwirrende statistische Angaben aus ihnen mache. Ich erreiche damit nur,
dass die Verwirrung irreführenderweise aus mir heraus auf anscheinend
objektive Daten projiziert wird und entferne mich so auf immer exaktere
Weise von der Wirklichkeit. „Es gibt Leute, welche glauben, sie könnten
den Schmetterling ganz genau betrachten,
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wenn sie ihn mit einer Nadel aufs Papier gestochen haben. Das ist ebenso
töricht wie grausam. Der angeheftete, ruhige Schmetterling ist kein
Schmetterling. Den Schmetterling muss man betrachten, wenn er um die
Blumen gaukelt ...“ (Heine o.J., 1005f.)
Viele Merkmale seiner Arbeit – Ablehnung der Triebtheorie, Defekt- statt
Konfliktpsychologie, Studium des Ich (Selbst) und der Objektbeziehungen –
teilt Balint mit Ich-Psychoanalyse, Neoanalyse und Selbstpsychologie. Noch
etwas ist ihnen gemeinsam: keine dieser Richtungen hat eine fundamentale
Gesellschaftskritik gepflegt, wie sie noch bei Freud genuiner Bestandteil der
Theorie war (als Ausnahme von diesem Trend ist die Frankfurter Schule zu
nennen). Das hängt zusammen mit der historischen Entwicklung unserer
Gesellschaft und mit jener der Psychoanalyse.
Die spätkapitalistische Ordnung benötigt als „sozialen Charakter“ (Fromm)
nicht mehr einen festgefügten Typus von bestimmter Charakterstruktur (z.B.
den analen Typ), sondern einen tendenziell beliebig von außen lenkbaren
Menschen, der je nach den sogenannten Konjunkturschwankungen sich mal
für dies, mal für jenes einspannen lässt. Narzisstische Strukturschwächen
eignen sich nun ganz besonders gut für diese Art von Manipulation. Sie
erzeugen ein überstarkes Bedürfnis nach Anerkennung, das nur von außen
befriedigt werden kann. Unsere Sozialordnung enthält fast allen die einzig
befriedigende Form dieser Spiegelung – die echte, nicht messbare
Anerkennung durch den anderen, den „Glanz in der Augen der Mutter“ –
vor. Statt dessen werden den Individuen steuerbare, quantifizierte
Pseudoanerkennungen (z.B. Noten, Prestige, Geld) für die echten
„verkauft“. Man kann auf der gerade gültigen „Preisliste“ jederzeit seinen
sozialen Wert – ist gleich Selbstwertgefühl – ablesen. Weil einem die reale
Befriedigung narzisstischer Bedürfnisse versagt ist, ist man auf die
Ersatzbefriedigung angewiesen und so manipulierbar (vgl. Passett 1981).
Die Opfer solcher Verhältnisse haben in zunehmenden Maß die Praxen der
Analytiker bevölkert. Diese Änderung nachvollziehend, hat sich das
Interesse der Psychoanalyse auf „narzisstische“ Pathologien konzentriert,
auf frühe unspezifische Störungen, die nicht mehr einzelne, ziemlich genau
abgegrenzte Bereiche der Persönlichkeit, sondern die gesamte
psychosomatische Struktur des Individuums beeinträchtigen. Mit der
Ablehnung der Freudschen Libidotheorie (und teilweise der
Metapsychologie) haben die neuen Strömungen auch seine Kulturkritik über
Bord geworfen (was auch mit dem veränderten Sozialstatus der Analytiker
zusammenhängt). Denn indem Freud einen grundlegenden Antagonismus
zwischen dem triebbestimmten Individuum und der auf soziale Bindungen
ausgerichteten Gesellschaft
63
annahm, konnte er Kultur von ihrem „Seelenende“ (Freud 1959, 194) her,
d.h. von ihren schädlichen Auswirkungen auf den einzelnen her, kritisieren.
Die Revisionisten haben sich – bei all ihren Verdiensten um Beschreibung
und Analyse neuartiger Störungen – dieses Instruments beraubt. Sie können
nur die veränderten Krankheitsbilder wider spiegeln, ohne die Ursachen der
Änderung fassen zu können.
Anmerkungen
1)
2)
3)
4)
5)
6)
Zur persönlichen und wissenschaftlichen Beziehung zwischen Balint und Ferenczi s. Falzeder (1984). Dort
finden sich auch weitere Literaturangaben.
– auf die ich nicht näher eingehen kann. Auch dazu vgl. Falzeder (1984) und vor allem Balint (1968).
Freud spricht davon, dass der Mensch in aufeinanderfolgenden Phasen jeweils unter der Herrschaft einer
„Art von sexuellem Regime“ eines Partialtriebes über die anderen stehe (1905, 98)
So ist bei narzisstischen Pathologien eine zentrale Schwierigkeit der Behandlung ihre eingeschränkte
Fähigkeit zum „splitting“ (vgl. Kohut 1971). Hier wie an vielen Stellen ergeben sich Anknüpfungspunkte zur
Selbstpsychologie, die ich nicht ausarbeite. Die relative Nichtbeachtung Balints innerhalb der Psychoanalyse
lässt auch seine Rolle bei der Entwicklung der neuen Narzissmus-Theorien aus dem Bewusstsein schwinden.
Dies ist, in grober Zusammenfassung, die von Balint gezogene Konsequenz aus Ferenczis gescheiterten
technischen Experimenten.
In diese Falle war ja Ferenczi getappt: Er erfüllte so weit wie nur irgend möglich die ausgesprochenen
Wünsche seiner Patient(inn)en (nahm sie z.B. in seinen Urlaub mit) und erkannte nicht, dass seine Haltung
nicht über die Plombenfunktion hinausging, keine von ihm unabhängige Änderung in seinen Patienten
bewirkte und sie von ihm abhängig machte. „Adoption ja, doch wie ’desadoptieren’?“ (Ferenczi 1939, 294)
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