Chiffren zur Globalisierung in der zweiten Hälfte des 19
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Chiffren zur Globalisierung in der zweiten Hälfte des 19
Chiffren zur Globalisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (ca. 1850- 1914) von Josef Nussbaumer und Andreas Exenberger Institut für Wirtschaftstheorie, -politik und -geschichte Universität Innsbruck Summary Globalization is often referred to as a very recent phenomenon. But historical research has shown the inadequacy of this thesis and has identified at least two “waves” of globalization: the first one lasting from (roughly) the 1850s until 1914 and the second one starting after World War II. Although these waves show some differences there are also a lot of similarities and in some respects the world has been even more “global” a hundred years ago than today. This paper especially sheds light on the global unification of measures, of time, and of working conditions, it emphasizes the importance of the fastening and cheapening of the transportation of goods and information (by railroads, steam ships, canals, and cabels), it discusses global price convergence, the opening of goods and factor markets (especially international migration), economic development, and the global distribution of wealth during 19th-century-globalization. Some considerations about the globalization “backlash” of the early 20th century and the second wave of globalization during the second half of the 20th century complete the paper. Zum Geleit Globalisierung ist ein, vielleicht das Schlagwort der 1990er Jahre. Die Wortneuschöpfung verstellte anfangs den Blick darauf, dass die dahinter liegenden Prozesse zweifellos von erheblich längerer Dauer waren, als man das bei einer Neuentdeckung vermuten würde. In der wissenschaftlichen Forschung werden inzwischen daher nur noch die Unterschiede in verschiedenen Globalisierungswellen diskutiert, wobei manche Forscher1 sie Jahrtausende zurückverfolgen. Was an der Globalisierung des 20. Jahrhunderts dann noch verblüfft, ist so meist nur noch das quantitative Ausmaß, die in manchen Sparten verstärkte globale Preiskonvergenz und der Kommunikationsquantensprung durch Massenmedien und das Internet. Praktisch unbestritten ist hingegen, dass in vielerlei Hinsicht das späte 19. Jahrhundert bereits ebenso globalisiert war, wie die 1990er Jahre. Daher lohnt offenbar der Blick etwa ein Jahrhundert zurück, denn er hilft dabei, zu erkennen, was wirklich neu an der aktuellen Globalisierungswelle ist und was für Lehren für die Zukunft aus den Rückschlägen im 20. Jahrhundert zu ziehen sind. Denn Globalisierungsprozesse sind nicht unumkehrbar, auch das lehrt die Geschichte.2 I) Zwei Chiffren aus den 1850er Jahren zum Einstieg Dass die Welt sich bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts anschickte, immer „globaler“ zu werden, zeigen zwei Ereignisse der 1850er Jahre. Gemeint ist einerseits die erste so genannte Weltausstellung im Jahr 1851 und andererseits die erste Weltwirtschaftskrise, die in die Zeit um 1857 datiert wird. Von Mai bis Oktober 1851 fand in London die erste „Weltausstellung“ statt. Seit jener Zeit kommt es somit immer wieder – in unregelmäßigen Abständen – zu Ausstellungen, in denen die „entwickelten“ Regionen des Globus Teile ihres technischen Erfolges quasi der gesamten Welt präsentieren wollen. Das Wahrzeichen von 1851 stellte der berühmte „Kristallpalast“ im Londoner Hydepark dar, der weltweit erste Skelettbau.3 Immerhin besuchten 1851 über 6 Millionen Menschen das Spektakel. Knapp ein halbes Jahrhundert später wurden bereits 50 Millionen Besucher bei der Weltausstellung des Jahres 1900 in Paris gezählt, während weitere hundert Jahre später in Hannover nur mehr 18 Millionen kamen.4 Man darf die Bedeutung solcher Ereignisse zwar nicht überschätzen, trotzdem stellen sie klare Hinweise dafür dar, dass zumindest die so genannte „zivilisierte“ Welt sich Richtung globales Dorf bewegte.5 Ein weiteres, vielleicht härteres Indiz für die zunehmende Integration von räumlich zuvor getrennten Wirtschaften zeigt sich in einem Umstand, der ab 1857/58 immer wieder bis zum heutigen Tag (und wohl auch in Zukunft) zu beobachten ist. Gemeint sind Wirtschaftskrisen, die zunehmend internationaler, ja globaler – eben Welt-Wirtschaftskrisen werden.6 Als eine der ersten dieser Weltwirtschaftskrise wird unter Historikern die des Jahres 1857ff. bezeichnet, die nicht durch Mangel an Nahrungsmitteln (wie z.B. noch zehn Jahre vorher 1845ff.) verursacht wurde. Die Krise „neuen Typs“ ist weniger Ergebnis von Teuerung durch Unterproduktion, als vielmehr Ergebnis von Überproduktion und Problemen in der Sphäre des Kapitals. Mit anderen Worten: Ab dieser Zeit beginnen sich die ökonomischen Krisen zu „entnationalisieren“, nicht zuletzt durch die Verflechtung und Übertragung von Nachfrageschwankungen infolge engerer Handelsbeziehungen und der Ausbreitung eines internationalen Kreditsystems. Was mit der Kreditgewährung in großem Stil für die jungen lateinamerikanischen Republiken in den 1820er Jahren begann, beschleunigte sich um die Aufhebung der Corn Laws in Großbritannien (1846) und erreichte mit der Etabilierung des Goldstandard als Weltwährungssystem gegen Ende des 19. Jahrhunderts seinen vorläufigen Höhepunkt. Im Sommer 1857 jedenfalls löste ein Überangebot an Weizen einen Preissturz an der New Yorker Börse aus. Die Folge ist eine Bankenpanik, die über London auf Nordeuropa ausstrahlt. Verschärfend wirkte die Nachricht vom Untergang des Dampfers „SS Central America“, der am 18. September 1857 mit 423 Menschen und 3 Tonnen Gold (damaliger Wert rund 1,2 Mio. US-Dollar) an Bord im Hurrikan vor der Küste von South Carolina sank. Auf Grund der engen Geschäftsbeziehungen zu Großbritannien war vor allem Hamburg von der Krise betroffen. 150 Firmen, darunter viele alteingesessene Handelsunternehmungen, machten Bankrott. Nur die Gründung einer „Disconto-Cassa“ im Dezember (gesponsert nicht zuletzt von der Österreichischen Nationalbank) konnte das Schlimmste verhindern.7 Diese Krise stellte eine neue Qualität internationaler Wirtschaftsprobleme dar. Denn auch in den 1830er und 1840er Jahren hatten Konjunktureinbrüche in den USA zum Verlust von englischen Auslandsinvestitionen in Amerika geführt, weil die Kapitalmärkte längst vernetzt waren, doch war es vor Mitte des 19. Jahrhunderts in der Regel nicht zu Rückwirkungen der finanziellen Eruptionen auf die Mutterländer der Investoren gekommen. II) Chiffren zur „Vereinheitlichung“ der Welt a) Zur Vereinheitlichung der Maße 1872 beschloss die internationale Meterkonferenz in Paris, an der 20 Staaten beteiligt waren, für das Meter und das Kilogramm neue Normale aus Platiniridium anzufertigen. Zugleich wird die Einrichtung eines internationalen Maß- und Gewichtsbüros bei Paris vereinbart. Drei Jahre später, am 20. Mai 1875, unterzeichnen 17 dieser Staaten die so genannte Meterkonvention.8 Nicht dabei waren die USA und Großbritannien, sie stellen nur Empfehlungen zur Anwendung aus (in Großbritannien brauchte es deshalb sogar fast nochmals hundert Jahre, bis das metrische System sich 1972 zumindest offiziell durchsetzte). Andere Länder, wie etwas das Osmanische Reich, Brasilien und Venezuela unterzeichen noch im 19. Jahrhundert.9 Man mag so eine Vereinheitlichung der Maße als „kleinen“ Beitrag abtun, davor aber sei gewarnt. Hätten sich diese Nationen damals nicht mit dem erklärten Ziel zusammengeschlossen, das gesamte Messwesen auf eine einheitliche Grundlage zu stellen, gäbe es heute wohl kaum global operierende Konzerne.10 Die Endmontage eines Autos, eines Flugzeugs oder eines Computers wäre ein Ding der Unmöglichkeit, wenn in den über den Globus verteilten Produktionsstätten von internationalen Firmen immer noch mit verschiedenen Ellen gemessen würde. Dank der Meterkonvention gibt es heute jedoch ein international verbindliches Einheitssystem, das genau festlegt, was unter einer Sekunde, einem Meter, einem Kilogramm und anderen Basiseinheiten zu verstehen ist.11 Beim Urmeter handelt es sich um einen Stab aus einer Legierung von 90 % Platin und 10 % Iridium; sein x-förmiger Querschnitt soll Verbiegungen des Materials verhindern. Das Urkilogramm ist ein kleiner Zylinder aus der gleichen Platin-Iridium-Legierung (39 mm hoch, 39 mm Durchmesser). Beide liegen in einem Safe und dürfen nicht einmal vom dortigen Direktor herausgenommen werden, schließlich könnte jede Berührung und jede Luftveränderung die Masse des Prototyps geringfügig verändern – ganz zu schweigen von der Gefahr einer Beschädigung. Seit seiner Herstellung des jetzigen Urkilogramms im Jahr 1889 wurde es nur ganze drei Mal (das letzte Mal 1989) unter seinen drei Glasglocken hervorgeholt, um es mit anderen Prototypen zu vergleichen. Dabei stellte sich heraus, dass die anderen Normale im Mittel um 0,5 Mikrogramm pro Jahr gegenüber dem Urkilogramm zulegten, dessen Masse per Definition unveränderlich ist.12 Der schon erwähnte Goldstandard im Weltwährungssystem stellte dieselbe Entwicklung in der Sphäre des Geldes dar. Die Währungen der Teilnehmerländer mussten durch Goldreserven gedeckt sein und waren relativ zum Gold im Wert fixiert. Damit waren auch die Wechselkurse untereinander fixiert. Er erlaubte letztlich die Konvertibilität von Währungen, erleichterte den internationalen Zahlungsverkehr und damit den Außenhandel und den Kapitalverkehr ungemein. Wie weit der Weg dabei sein kann und wie schnell er dennoch gegangen wird, zeigt etwa das Beispiel Japan: zur Zeit der Meiji-Reformen um 1870 noch ein Land mit 1.700 (!) Währungen (oft quasi „privates“ Papiergeld), trat es noch vor Ende des 19. Jahrhunderts nach Einführung der Einheitswährung Yen dem Goldstandard bei und war damit in die Lage versetzt, voll im internationalen Warenaustausch teilzunehmen. b) Von der lokalen Zeit zur „Weltzeit“ Fahrpläne, etwa von Eisenbahnen, bedingen quasi per se ein recht straffes Zeitmuster, an das sich die Betreiber tunlichst halten sollten und an das sich auch der Fahrgast zu halten hat. Der regelmäßig vorbeifahrende Zug wurde so neben dem Läuten der Kirchglocken und dem Schlagen der Turmuhr (die ihrerseits im ausgehenden Mittelalter das öffentliche Leben revolutioniert hatten) zu einem Kriterium der Zeitwahrnehmung. Seine Durchsetzung ist endgültig gesichert, wenn der Bauer zu seiner Bäuerin nach dem Vorbeifahren des Zuges meint: Geh Kochen, der 11 Uhr Zug war schon da. Die Eisenbahn dürfte für die globale Regelung der Zeiteinteilung ein sehr wesentlicher Auslöser gewesen sein. Im Jahre 1876 soll der kanadische Eisenbahningenieur Sandford Fleming (1827-1915) auf einem Bahnhof in Irland seinen Zug verpasst haben. Dieses Missgeschick war für Fleming der Anlass, nach einem Konzept zu suchen, mit dem man die bestehenden regionalen Zeitunterschiede innerhalb der verschiedenen Länder systematisch festlegen konnte. Fleming teilte die 360 Längengrade der Erde in 24 Zonen zu 15 Grad, mit einer Zeitdifferenz von je einer Stunde. Der Nullmeridian ging, wie könnte es anders sein, durch einen Ort des damaligen Global Players Nummer 1, Greenwich in England. Schon das Zusammenwachsen der nationalen Eisenbahnnetze machte eine Standardisierung der Zeit geradezu zur Notwendigkeit, gar nicht zu reden von den internationalen. So gab es etwa 1873 in den USA nicht weniger als 71 (!) verschiedene Eisenbahnzeiten.13 Doch bereits 1883 hatte sich auch dort das flemingsche System mit 5 Zeitzonen durchgesetzt, ehe es 1884 endgültig global wurde und bis heute als eine Grundlage der Weltwahrnehmung besteht.14 c) Zur Gründung des Weltpostvereins Eine weitere Chiffre der Globalisierung war die Gründung des Weltpostvereins. Dieser tritt am 1. Juli 1875 in Kraft, nachdem der Allgemeine Postvereinsvertrag (Berner Konvention) unterzeichnet worden war. Der Vertrag wurde 1874 von Vertretern von 21 Nationen (alle wichtigen Staaten Europas, Ägypten und die USA) unterzeichnet. Bereits durch ihn wurden die komplizierten und zeitaufwendigen Abrechnungen im internationalen Briefpostverkehr aufgehoben, zudem bildete er die Grundlage für die weltweite Vereinheitlichung des Postverkehrs. Der Vertrag schaffte für das Postwesen einen völkerrechtlichen Verband, wie er zum damaligen Zeitpunkt in keinem anderen Bereich bestand. Das durch die Vertragspartner abgedeckte Gebiet war ca. 37 Millionen Quadratkilometer groß, innerhalb dieses Gebietes war die volle Freiheit des internationalen Verkehrs und die gleichmäßige Behandlung aller Sendungen sichergestellt. Schon beim ersten Vereinskongress einige Jahre später (1878) in Paris dehnte der Allgemeine Postverein seine Tätigkeit auf alle Kontinente aus und nahm deshalb auch den Namen „Welt-Postverein“ an. Bis 1895 traten fast alle Staaten, die ein eigenes Postwesen unterhielten, dem Weltpostverein bei, noch vor der Wende zum 20. Jahrhundert auch China. Das Vereinsgebiet umfasste nun 113,6 Millionen Quadratkilometer mit rund 1,4 Milliarden Einwohnern und damit praktisch die gesamte Welt.15 d) Zur Vereinheitlichung („Vernutzung“?) der Arbeitsformen In den 1880er Jahren des 19. Jahrhunderts erreicht auch eine Entwicklung einen Höhepunkt, nämlich die Vereinheitlichung der Arbeitsprozesse. Wirtschaftswissenschaftler sprechen oft vom Beginn der „wissenschaftlichen Betriebsführung“, umgangssprachlich ist die Rede von „Taylorismus“ oder „Fordismus“. Kritisch betrachtet könnte man die damit gemeinten Phänomene auch als endgültige „Vermaschinisierung“ menschlicher Arbeit bezeichnen. Gemeint ist jene Vereinheitlichung, die letztendlich durch das Tempo der Maschine bestimmt und die geographisch unabhängig eingeführt werden kann. Frederick Winslow Taylor (18561915) machte diesbezüglich in den 1880er Jahren seine ersten Untersuchungen in einem Stahlwerk in Philadelphia (USA) bezüglich der Bewegungsabläufe der Arbeiter. Dabei sollte einerseits durch Rationalisierung der Arbeit der Produktionsoutput gesteigert und zudem die „Faulheit“ endgültig aus dem Arbeitsprozess vertrieben werden. Zum eben gesagten am besten Taylor selbst: „Eine ganz unauffällig angestellte Untersuchung ergab, dass ein großer Teil der 10,5 Stunden, während der man die Mädchen an der Arbeit glaubte, tatsächlich mit Nichtstun verging (…) Wie diese Untersuchung zeigte, verbrachten bisher die Mädchen einen großen Teil ihrer Zeit in halber Untätigkeit, indem sie gleichzeitig plauderten und arbeiten.“16 Der Druck der Verhältnisse sollte somit die Arbeitenden dazu zwingen, immer „produktiver“ zu werden, eine der besten Garantien dafür war das Fließband, das dann Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals durch Ford bei der Autoproduktion eingesetzt wurde, in der Folge aber ein globales Produktionselement bis zum heutigen Zeitpunkt wurde. Letztlich wurde alle Arbeit, abgesehen von der Arbeit am obersten Ende der Lohnskala, der Standardisierung und systematischen Vermessung unterworfen und damit kontrollierbar. Besonders anschaulich gemacht hat dies Charlie Chaplin in seinem Film „Moderne Zeiten“ aus den 1920er Jahren. III) Beschleunigung und Verbilligung des Transports a) Gütertransport Den vielleicht wichtigsten Beitrag zur Beschleunigung und Verbilligung des Transportes von Gütern lieferte das aufkommende Eisenbahnwesen. Die Verbindung von „Schiene und Rad“, die einer der Väter des Lokomotivenbaues, George Stephenson, einmal wie die Verbindung von „Mann und Weib“17 charakterisierte, revolutionierte nicht nur – wie oben schon angedeutet – das Zeitgefühl, sondern auch den Transport und die Verteilung der Güter. Die Eisenbahn ist zwar ein Produkt schon der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ihre Blüte erreichte die Bahn aber in seiner zweiten Hälfte. In dieser Zeit erlangte sie geradezu eine Monopolstellung im überregionalen Landverkehr und das weltweite Eisenbahnnetz wuchs jährlich um 8 % (von 7.700 Kilometer noch um 1840 auf 790.000 im Jahr 1900), während es im 20. Jahrhundert nur im Schnitt um 0,45 % pro Jahr zunahm (auf 1,25 Millionen Kilometer um 2000). Neben der Eisenbahn war die Dampfschifffahrt zusammen mit den großen Kanalprojekten (Suez-Kanal 1869, Panama-Kanal 1914) die wesentlichste Grundlage der Preisrevolution des 19. Jahrhunderts. Was auf den Kontinenten die nationalen und teils transkontinentalen Schienennetze waren, war auf den Weltmeeren die wind- und strömungsunabhängige Navigation unter Verzicht auf die zeitraubenden Umfahrungen der afrikanischen und amerikanischen Landmasse. Die Wegstrecken diverser Seerouten verkürzten sich erheblich, sie beschleunigen und verbilligen dadurch den globalen Gütertransport in einem historisch in dieser Form noch nicht gekannten Ausmaß und erhöhten zudem die Sicherheit, weil das Durchfahren der gefährlichen südlichen Kapregionen unnötig wurde. So verringerte sich der Preis für den Transport von Reis von Rangoon (Burma) nach Europa 1882 bis 1914 von 74 % des Warenwertes auf 18 %, der Preis für den Transport von Kohle zwischen Nagasaki und Shanghai fiel etwa zur selben Zeit auf ein Viertel und im Verkehr zwischen den USA und Großbritannien war die Entwicklung ähnlich, denn bereits 1880 war es billiger, Weizen von Minnesota nach Liverpool zu transportieren, als es noch 1870 gewesen war, ihn nur bis New York zu bringen.18 Insgesamt sanken die Transportkosten auf den Weltmärkten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts um durchschnittlich etwa die Hälfte.19 In Extremfällen konnten die Kosten auf weniger als ein Zehntel fallen. Das führte auch für die breiten Massen zu einer Verbilligung der Waren, außerdem zu einer Beschleunigung des Transports von Waren und Menschen und es erhöhte die Verlässlichkeit und Sicherheit im Transportwesen. Auch stand nun mit den Eisenbahnen und den Hochseedampfschiffen (Ozeanriesen) erstmals ein Massentransportmittel zur Verfügung, das alle Klassen erfasste (von der Luxusklasse bis hinunter zur 3., 4. oder 5.). Innerhalb weniger Jahre durchzogen die Eisenbahnlinien ganze Kontinenten, wie die transkontinentalen Bahnlinien in den USA (erstmals 1869) und Kanada (1885) oder die Transsibirische Eisenbahn, die 1902 von Moskau nach Irkutsk und 1916 bis Vladivostok reichte, und die riesigen Hochseeschiffe transportierten Millionen von Menschen über die Ozeane. Doch auch diese Entwicklung, wie viele Fortschritte heute, erfasste nicht alle Menschen: auch um 1900 herum war es, wo etwa die Eisenbahn fehlte, immer noch oft teurer, schwere Waren 30 Kilometer landeinwärts zu transportieren, als sie 3.000 Kilometer weit zu verschiffen, in vielen ländlichen Gebieten in Europa unterschied sich das frühe 20. Jahrhundert kaum von den Jahrhunderten davor und die Elektrifizierung der Transsibirischen Eisenbahn wurde erst 2002 abgeschlossen.20 b) Verkabelungen und der Transport von Informationen Im August 1858 beginnt die Verkabelung der Welt endgültig Realität zu werden. Erstmals wird erfolgreich (viele vorherige Versuchen waren gescheitert) eine direkte Telegraphenkabel-Verbindung von Europa nach Amerika quer durch den Atlantik von rund 3.700 Kilometern Länge fertig gestellt. Die Verbindung kann zwar nur einige Tage aufrechterhalten werden, aber es ist ein Anfang gemacht, der irreversibel ist. Die erste Botschaft zwischen den beiden Kontinenten soll dabei wie folgt gelautet haben: „Europe and America are united by telegraph. Glory to God in the highest; on earth peace, good-will towards men.“ („Europa und Amerika sind telegraphisch verbunden. Ehre sei Gott in der Höhe; Friede auf Erden, den Menschen ein Wohlgefallen.“).21 Ab 1866 (nach dem Ende des Sezessionskrieges) gelingt es dann, bessere und stabilere Kabel zu legen. Ab diesem Zeitpunkt erhöhte sich die Geschwindigkeit der Übermittlung von Nachrichten zwischen Europa und Amerika um das Zehtausendfache, nämlich von durchschnittlich zwei bis drei Wochen Schiffspassage (das hing davon ab, ob man mit einem Dampfschiff oder einem Segelschiff unterwegs war) auf wenige Minuten. Durch Telegraphenkabel (und etwas später durch Telephonkabel) wurde also schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Kommunikationsgeschwindigkeit von Wochen auf Minuten reduziert. Als am 8. Dezember (großer Marienfeiertag) 1863 die Kathedrale von Santiago de Chile in Brand geriet und dabei etwa 2.000 Menschen ums Leben kamen (der vielleicht folgenschwerste Kirchenbrand in der Geschichte) dauerte es noch Wochen, bis diese Information überhaupt nach Europa kam. Einige Jahre später konnte man solche Katastrophenmeldungen schon binnen Minuten nach und von London über erhebliche Teile des Globus verschicken. Da ist das „Dabeisein in Echtzeit“ von heute (wie etwa am 11. September 2001) keine sehr viel weitergehende Entwicklung mehr. Ähnlich verhielt es sich auch innerhalb der Länder, besonders plastisch zu veranschaulichen an der kontinentalen Landmasse der USA: während der Transport einer einfachen Nachricht von New York nach San Francisco 1848 noch mindestens sechs Wochen dauerte (eher sogar drei Monate), verkürzte sich diese Zeit bis 1860 auf drei Wochen, und mit dem Telegraph wenig später auf einige Minuten. Auch die Zeit für den Güterverkehr, der 1848 noch den Weg über Kap Hoorn nehmen musste, wurde durch die Eisenbahn bis 1870 von mehreren Monaten auf zwei Wochen reduziert und reduzierte sich in der Folge weiter. Auch in die andere Richtung des Globus (von Europa aus gesehen) verringerte sich die Kommunikationsgeschwindigkeit in diesen Jahren um Potenzen. Schon in den 1870er Jahren konnte ein Kaufmann in London auf eine Anfrage in Bombay am gleichen Tag antworten, während zuvor der Briefwechsel rund um das Kap der Guten Hoffnung fünf bis acht Monate gedauert hatte.22 Der Globus war unter diesem Aspekt zu einem Dorf zusammengeschrumpft. 1902 sind bereits 380.000 km Seekabel weltweit verlegt, von den Kabeln auf dem Festland ganz zu schweigen. Selbst Neuseeland oder die Fidschi-Inseln sind schon „verkabelt“.23 Dazu meint Knut Borchardt: „Schon vor Ende des 19. Jahrhunderts waren alle Wertpapierund Warenbörsen der Welt durch ein Telegrafennetz verbunden. Die Nachricht von wichtigen kursbestimmenden Ereignissen ging innerhalb von Minuten rund um den Globus. Spekulanten an den Terminbörsen der Welt sorgten mit ihren Arbitrageoperationen dafür, dass Angebotsüberhänge hier und Knappheiten dort und somit auch Preisunterschiede, die die Transportkosten überstiegen, schnellstens ausgeglichen wurden.“24 Ab diesem Zeitpunkt wäre es somit kein technisches Problem mehr, Informationen schneller als in Windeseile über den Globus zu schicken, ist aber deshalb schon die Information über globale Ereignisse zur Selbstverständlichkeit geworden? Als etwa hundert Jahre nach der Katastrophe von Santiago in China 1958-62 vielleicht 40, 50 oder noch mehr Millionen Menschen verhungerten, dauerte es etwa 25 Jahre, bis diese Katastrophe auch im Westen bekannt wurde und auch dann nur einigen Wenigen. Als es am 26. April 1986 in der damaligen UdSSR zur Atomkatastrophe von Tschernobyl kam, wurde der Westen nach einigen Tagen zuerst von Schweden informiert, dass sich hier wohl irgendwo ein größerer Atomunfall ereignet haben müsse. Erst in der Folge bestätigten die sowjetischen Behörden, dass sie in Tschernobyl eine „kleine Havarie“ gehabt hätten. Der kurzen Rede langer Sinn: Die Grenzen der Information waren ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr technischer Natur, sondern politischer und zum Teil auch politökonomischer. Und hier hat sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermutlich viel weniger verändert, als man vermuten könnte, denn Geheimhaltung, gezielte Falschinformation und die im Zeitalter der Massenmedien mindestens ebenso leistungsfähige Informationsüberflutung sind an der Tagesordnung und teilweise sogar (versehentlich?) zugegebene „Informations“-Strategie mancher Staaten. IV) Die Öffnung der Märkte beginnt a) Globalisierung der Märkte durch Preiskonvergenz Diese Verbilligungen mussten notwendigerweise auch zu einer Annäherung der Preise weltweit führen, die schließlich bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts so etwas wie echte Weltmärkte für vor allem Rohstoffe und agrarische Güter entstehen ließen. Weizen war 1870 in Liverpool noch um 58 % teurer als in Chicago, 1912 nur noch um 16 %. Fleisch war 1880 in London noch mehr als doppelt so teuer wie in Cincinnati (USA), 1913 nur noch um 18 % teurer. Speziell das, wie auch die Eröffnung globaler Märkte für Milch, Gemüse und andere verderbliche Waren, war auch den Fortschritten in der Gefriertechnik zu verdanken, deren wirtschaftliche Bedeutung ebenfalls oft unterschätzt wird. Noch dramatischer war die Konvergenz der Rohstoffpreise, so fiel der Unterschied der Preise zwischen Großbritannien und den USA bei Baumwolle von 14 % auf 0 und bei Roheisen von 85 auf 19 % (jeweils 1870-1912) und zwischen Großbritannien und Indien bei Baumwolle von 57 auf 20 % und für Jute von 35 auf 4 % (jeweils 1873 bis 1913).25 Neben der Beschleunigung und Verbilligung von Informationen und Gütern kam es bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aber auch zu einer Liberalisierung einzelner Märkte. Im 20. Jahrhundert verstärkte sich dieser Prozess im Zuge der (Neo-)Liberalisierung noch, aber wie der Name schon sagt, handelt es sich oft nur um eine Wieder-„Befreiung“ und zudem sind bis heute viele Märkte von protektionistischen tarifären und nicht-tarifären Schranken geschützt, insbesondere in den Industriestaaten.26 b) „Befreite“ Kapitalmärkte Geld floss auch vor 1800 schon um den Globus, doch war sein Fluss oft auf bestimmte Kolonialreiche begrenzt. In den 1820er Jahren kam es aber infolge der bereits zunehmenden globalen finanziellen Verwicklungen zur ersten internationalen Schuldenkrise, ausgehend von Lateinamerika.27 In den 1840er Jahren waren britische Investitionen in den USA umfangreich, US-amerikanischen Unternehmen (vor allem Eisenbahngesellschaften) notierten an der Börse in London, und die britischen Kapitalisten gewannen und verloren in den USA viel Geld. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verstärkte sich diese Entwicklung noch, die relative Größe der Kapitalexporte (gemessen am BIP) erreichte in manchen Ländern bis heute unerreichte Werte. In absoluten Zahlen gemessen war dabei Großbritannien vor dem Ersten Weltkrieg bei weitem führend und stellte etwa die Hälfte der internationalen Kapitalflüsse. Tabelle 1: Internationale Kapitalflüsse (Zahlungsbilanz in absoluten Werten in % des BIP), ausgewählte Länder Großbritannien Deutschland Frankreich USA Kanada Japan 1870-89 1890-1913 1932-39 1989-96 4,6 4,6 1,1 2,6 1,7 1,5 0,6 2,7 2,4 1,3 1,0 0,7 0,7 1,0 0,4 1,2 7,0 7,0 2,6 4,0 0,6 2,4 1,0 2,1 Quelle: Baldwin/Martin (1999), S. 17. Selbst bei dieser nur sehr groben Auswahl von Ländern zeigt sind, dass die internationale Kapitalverflechtung für einige von ihnen 1913 und teilweise sogar 1870 größer war als in den 1990er Jahren. Der Durchschnitt der Kapitalflüsse relativ zum BIP war in allen Jahrfünften von 1950 bis 1989 (mit 1,5 bis 2 %) immer geringer als für die Jahrfünfte von 1870 bis 1914 (mit 2,5 bis 4,5 %). Untermauert wird dieser Befund von Alan Taylor noch dadurch, dass die Korrelation zwischen nationaler Investition und Ersparnis in den Jahrzehnten seit 1930 stets über 0,7 liegt, während sie vorher zwischen 0,4 und 0,7 pendelt.28 Dies deutet auf besonders offene nationale Kapitalmärkte vor (!) dem Ersten Weltkrieg hin. Ein weiterer Umstand sollte noch erwähnt werden: ebenso wie der noch zu behandelnden Güterhandel zeigte auch das Investitionsverhalten im 19. Jahrhundert noch „interindustrielle“ Muster, während sich heute vielmehr „intra-industrielle“ Muster feststellen lassen. Vor dem Ersten Weltkrieg war noch ein klarer Unterschied zwischen Geber- und Empfängerländern erkennbar (nämlich „gebende“ Industrieländer und „empfangende“ Überseegebiete und Entwicklungsländer), während 1996 die Salden der gegebenen und empfangenen Investitionen für die meisten Länder nahe Null sind. Zudem flossen 1914 noch 63 % aller Auslandsinvestitionen in Entwicklungsländer, 1996 nur noch 28,4 %, was sich natürlich nicht allzu gut auf die Entwicklungschancen dieser Länder auswirken kann.29 c) Gütermärkte (Außenhandel): Schon um 1870 transportierten Kühlschiffe Rindfleisch aus Argentinien zu den europäischen Verbrauchern, Butter aus Neuseeland gelangte ebenfalls schon vor dem Ersten Weltkrieg nach Europa. Mit anderen Worten: Schon im 19. Jahrhundert nahm die weltweite Verflechtung von Produktion und Konsum erheblich zu. So nahm das Volumen des internationalen Handels von 1870 bis 1913 um durchschnittlich 3,4 % jährlich zu. Das ist deutlich mehr als die „nur“ 2,1 % Wachstum des damaligen Weltprodukts, daher stieg der Außenhandelsanteil auch von 4,6 auf 7,9 %. Dabei hatte diese Entwicklung bereit um 1820 begonnen, in der Zeit vor 1870 war das relative Wachstum des Außenhandels sogar noch stärker. Die Tabellen 2 bis 4 zeigen auch, dass der Außenhandel nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Bedeutung deutlich zurückging, auf einen Anteil von 5,5 % im Jahr 1950, vor allem bedingt durch eine starke Wachstumsverlangsamung 1913-24 und ein absoluten Rückgang des Außenhandels von durchschnittlich 10 % während der Weltwirtschaftskrise 1929-32.30 Der Außenhandelsanteil fast aller entwickelter Volkswirtschaften war daher auch 1950 geringer als noch 1910. Im Extremfall Japan sank er sogar danach noch. Tabelle 2: Bedeutung des Außenhandels (Summe von Importen und Exporten in Prozent des BIP), ausgewählte Länder Großbritannien Deutschland Frankreich USA Japan ca. 1870 ca. 1910 ca. 1950 ca. 1995 41 44 30 57 37 38 27 46 33 35 23 43 14 11 9 24 10 30 19 17 Quelle: Baldwin/Martin (1999), S. 29. Diese Zahlen untermauern auch einen Befund von Knut Borchardt: „Weltmärkte in des Wortes Bedeutung gibt es nicht erst neuerdings. Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert hat es solche für Getreide, Wolle, Baumwolle, Petroleum, Kaffee, Zucker und Nichteisenmetalle gegeben. 1909 schrieb der Münchner Professor Walther Lotz: ‚Die Preisbewegung am Londoner Getreidemarkt steht heute tagtäglich im Zusammenhang mit den Nachrichten aus Chicago und den indischen Exportplätzen, ferner mit der Preisbildung in Russland und Rumänien und Argentinien und wirkt wieder auf die Preisbildung auch im zollgeschützten Markte von Frankreich und Deutschland zurück.’“31 Tabelle 3: Welt-BIP und Welt-Außenhandel 1820-1998 im Vergleich (in Milliarden internationaler US$ von 1990) Jahr 1870 1913 1950 1973 1998 BIP Außenhandel Anteil 1.101,4 50,3 4,6 % 2.704,8 212,4 7,9 % 5.336,1 295,6 5,5 % 16.059,2 1.690,6 10,5 % 33.725,6 5.817,1 17,2 % Quelle: Maddison (2001), S. 362 (Außenhandel) und S. 261 (BIP). Die Quantität der Entwicklung beeindruckt aber jedenfalls, immerhin ist der Außenhandel wertmäßige real 1998 27mal so groß wie 1913. Doch hat sich auch das Weltprodukt in dieser Zeit verzwölffacht, was die Dimension etwas relativiert. Tabelle 4: Welt-BIP und Welt-Außenhandel 1820-1998 im Vergleich (durchschnittliches jährliches Wachstum in %) Periode BIP Außenhandel 1820-70 0,9 % 4,2 % 1870-1913 2,1 % 3,4 % 1913-50 1,9 % 0,9 % 1950-73 4,9 % 7,9 % 1973-98 3,0 % 5,1 % Quelle: Maddison (2001), S. 362 (Außenhandel) und S. 261 (BIP), eigene Berechnung. Sehr klar zu unterscheiden ist bei näherer Betrachtung der Daten die Regressionsphase vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg, während sich vorher wie nachher eine beträchtlich größere Dynamik zeigt. Freilich war diese nach 1950 stärker als vor 1913. Bei genauer Untersuchung zeigt sich außerdem ein weiterer interessanter Unterschied zwischen dem späten 19. und dem späten 20. Jahrhundert: die starke Zunahme von „intra-industriellem“ Handel (Autos gegen Autos) auf Kosten des konventionellen „inter-industriellen“ Handels (Rohstoffe gegen Fertigprodukte). Es stieg sowohl der wertmäßige Anteil des Handels von Industrieländern mit anderen Industrieländern (besonders stark am Binnenhandel in der EU zu beobachten) als auch der der verarbeiteten Waren am Außenhandel aller Länder deutlich an.32 Der Grund warum der Außenhandel stieg, unterscheidet sich ebenfalls in beiden Perioden: waren vor 1913 vor allem die Kostensenkungen im Transport verantwortlich, trugen seit 1950 vor allem Zollsenkungen zu dieser Entwicklung bei. Abgesehen von Großbritannien erhöhten nämlich fast alle Länder zwischen 1875 und 1913 ihre Zölle auf verarbeitete Waren (und erhöhten sie während der Zwischenkriegszeit weiter), während sie nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Einfluss der Zollrunden des GATT stark sanken.33 Auch wenn die nationalen Märkte sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts öffneten (viele Länder hatten sich um 1830 noch völlig von Importen abgeschottet), kann man während der Globalisierung im 19. Jahrhunderts nicht von einer Liberalisierungswelle sprechen. d) „Freier“ Personenverkehr Ein allerdings auffälliges Charakteristikum der Globalisierung des 19. Jahrhunderts war aber die Offenheit der Arbeitsmärkte. Die globalen Migrationsströme waren vor 1840 abgesehen von den Zwangsumsiedlungen im Zuge des Sklavenhandels (allein im 18. Jahrhundert wurden mehr als 6 Millionen Menschen aus Afrika „verfrachtet“34) nur seichte Rinnsale, kaum mehr als zwei Millionen Spanier, Portugiesen und Briten wanderten zwischen 1500 und 1800 nach Süd- und Nordamerika und in die Karibik aus. Mit der großen Hungerkrise in Irland und den politischen Umwälzungen in Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts änderte sich das aber und allein in den Jahren 1845-55 wanderten etwa 1,5 Million Iren und 1 Million Deutsche in die USA aus.35 Diese Entwicklung beschleunigte sich bis zum Ersten Weltkrieg und erfasste auch andere Länder, vor allem Kanada, Australien, Neuseeland und Argentinien. Allein 1870 bis 1913 wanderten insgesamt 14 Millionen Menschen aus Westeuropa nach Übersee aus, davon etwa 6,5 Millionen aus Großbritannien (vor allem Irland), etwa 4,5 Millionen aus Italien und etwa 2,5 Millionen aus Deutschland, dazu kamen noch einmal mehr als zwei Millionen Menschen aus Osteuropa. Zur gleichen Zeit wanderten fast 16 Millionen Menschen in die USA ein, weitere etwa 2 Millionen nach Kanada, Australien, Neuseeland und Argentinien.36 Vor dem Ersten Weltkrieg war die internationale Migration also relativ und teils auch absolut betrachtet mehrfach höher als heute. Diese dramatischen Migrationsströme, deren Ausmaß man sich heute kaum mehr vorstellen kann (vergleichbar wären sie nur mit den kriegsbedingten Wanderungsbewegungen in Afrika), sorgten für eine globale Angleichung der Faktorpreise: kurz gesagt, sie entlasteten die Arbeitsmärkte im an Land knappen Europa und drückten die Löhne in den an Land reichen Expansionsgebieten in Übersee. Die Wanderung war also nicht nur für die Auswanderer selbst positiv, sondern auch für die Arbeiter in Europa, deren Löhne wegen des verringerten Angebots tendenziell stiegen, und es war auch gut für die Land- und Kapitaleigner in Übersee, weil deren Renditen durch die bessere Ausnutzung ihrer Kapazitäten stiegen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde diese Entwicklung unterbrochen, vor allem weil die USA und andere Einwandererstaaten in den 1920er Jahren restriktive Einwanderungsgesetzte erließen. Im vergleichbaren Zeitraum 1914-49 wanderten weit weniger als die Hälfte der Menschen nach Übersee und weniger als eine Drittel aus Europa aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Lage ohnehin völlig anders, weil Europa zum Einwanderungsgebiet geworden war. Dennoch ist das Ausmaß der Migration speziell der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts bis heute sogar in absoluten Zahlen kaum erreicht, gar nicht zu reden davon, dass die Weltbevölkerung heute viermal so zahlreich ist, wie sie es 1900 noch war. So schickten Länder wie Irland, Schweden, Spanien oder Italien in den 1890er oder 1900er teils mehr als 1 % ihrer Bevölkerungen pro Jahr (!) als Emigranten in die Neue(n) Welt(en), während etwa in den 1890er Jahren Argentinien seine Bevölkerung durch Zuwanderung um 25,6 %, Australien um 16,6 % und die USA um 8,9 % erhöhten.37 Irland „verlor“ 1870-1910 fast die Hälfte seines Arbeitsbevölkerungspotentials durch Emigration.38 Völlig zu Recht widmen daher Kevin O’Rourke und Jeffrey Williamson in ihrem Buch „Globalisation and History“ der Migration des späten 19. Jahrhunderts gleich mehrere Kapitel und sprechen in diesem Zusammenhang von einem gemeinsamen „atlantischen Arbeitsmarkt“ schon vor 1900.39 e) Globalisierung und Entwicklung? Diese Öffnung der Märkte und die Zunahme des internationalen Handels ganz im Sinne der ricardianischen komparativen Kostenvorteile hatte eine wichtige und zugleich weitreichende Folge. Wie schon erwähnt waren die Handelsmuster „inter-industriell“ und daher war das 19. Jahrhundert von einer starken Deindustrialisierung des so genannten „Südens“ geprägt, speziell, wenn man es relativ zu den sich gerade entwickelnden Industriestaaten betrachtet. Tabelle 5: Entwicklung der Pro-Kopf-Industrialisierung im 19. Jahrhundert (Indexwerte, Großbritannien 1900 = 100) Land 1800 1860 1900 Welt 6 7 14 „Entwickelte“ Länder 8 16 35 Großbritannien 16 64 100 Deutschland 8 15 52 Frankreich 9 20 39 Österreich-Ungarn 7 11 23 Russland 6 8 15 USA 9 21 69 Japan 7 7 12 China 6 4 3 Britisch Indien 6 3 1 Mexiko k.A. 5 5 Quelle: Baldwin/Martin (1999), S. 9 (nach Paul Bairoch) Tabelle 5 zeigt, dass mit Ausnahme von Großbritannien im Jahr 1800 mit kleineren Unterschieden das Industrialisierungsniveau weltweit in etwa gleich war. Bis 1860 stieg dann das weltweite Niveau kaum an, jedoch verdoppelte es sich in den „entwickelten“ Ländern und Großbritannien vergrößerte seinen Vorsprung relativ und absolut. Das Niveau von Japan hatte sich in diese Zeit nicht verändert, die Niveaus von China und Indien waren hingegen sogar gefallen. Bis 1900 hatten sich diese Entwicklungen verstärkt: China und Indien wurden weiter deindustrialisiert, Mexiko stagnierte, während sich das weltweite Niveau verdoppelte, vor allem von Großbritannien und den aufholenden USA und Deutschland getragen. Tabelle 6: Entwicklung des Pro-Kopf-BIP 1870-1998 (Indexwerte, jeweils „reichstes“ Land der Stichprobe pro Jahrgang = 100) Land 1870 1913 1950 1998 Großbritannien 93 72 68 100 Deutschland 57 69 41 65 Frankreich 59 66 55 72 Österreich 58 65 39 69 Russland 30 28 30 17 USA 77 100 100 100 Japan 23 26 20 75 China 17 10 5 11 Indien 17 13 6 6 Mexiko 21 33 25 24 Lateinamerika (ohne Mexiko) 22 28 27 20 Asien (ohne Japan, China, Indien) 19 15 10 14 Afrika 14 11 9 5 jeweiliges Höchsteinkommen in internationalen US$ von 1990 3.191 5.301 9.561 27.331 Quelle: Maddison 2001, S. 185, S. 195, S. 215 und S. 224. Interessant dabei ist zudem, dass die Standardabweichung der 13 Werte aus Tabelle 6 jeweils während der Globalisierungswellen zunimmt: während der ersten von 27,7 auf 31,7 und während der zweiten von 28,2 auf 33,0. Die globale Ungleichheit im Pro-Kopf-BIP ist also in diesen Zeitspannen größer geworden. Globalisierung führte also global gesehen zu mehr Einkommensdivergenz, die weltweiten Differenzen zwischen Arm und Reich steigen an.40 f) Eine erste Conclusio Versteht man also unter „Globalisierung“ eine rasch zunehmende Integration von räumlich zuvor getrennter Wirtschaften, dann ist vieles von dem, was in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg passierte, in der Tat als enormer Globalisierungsschub zu verstehen. Wir finden tief greifende Veränderungen im Transport- und Kommunikationssystem, zahlenmäßig große grenzüberschreitende Wanderung von Kapitalströmen und Arbeitskräften, über die Grenzen hinweg gehende Schulden- und Währungskrisen, eine massive Zunahme des Außenhandels und steigende internationale Marktintegration und es existieren auch bereits einige transnationale Unternehmen. Oder anders formuliert: Im 19. Jahrhundert wurde die Industrielle Revolution (a) durch die Erschließung (und endgültigen „Aufteilung“) der Landmassen des Globus (Rohstoffe und fruchtbare Böden) (b) via Revolution des Informations- und Verkehrswesens (c) global. Das alles wurde untermauert von einer weltweiten Zunahme der Ungleichheit, sowohl durch eine Deindustrialisierung im rohstoffexportierenden „Süden“, der später zur Dritten Welt werden sollte, während die reichen Länder ihre industriellen Revolutionen erlebten, als auch durch tendenziell steigende Unterschiede in den Prokopfeinkommen. V) Nachlese a) Globalisierung im 20. Jahrhundert Ab 1914 ist die Globalisierung dann für beinahe vier Jahrzehnte kein Thema mehr. Der Erste Weltkrieg mit seinen Folgen unterbricht die Dynamik der weltwirtschaftlichen Verflechtung auf drastische Weise. Spätestens in der Weltwirtschaftskrise wurde dann alle Güter und Faktoren national, nicht nur Arbeit und Güter, sondern auch Kapital. Ja selbst aus dem Sozialismus wird ein National-Sozialismus und aus dem Kommunismus der Kommunismus in einem Land. Dazu Knut Borchard: „Im Jahr, in dem Hitler an die Macht kam, verkündete sogar der amerikanische Präsident, dass ihn die Weltwirtschaft nicht interessiere, nur das Schicksal der eigenen Wirtschaft. Aber man wird wohl verallgemeinern können, dass Einbrüche des Ausmaßes, wie man es damals beobachten konnte, demokratischen und autoritären Regierungen keine Chancen lassen für eine Politik offener Märkte.“41 Es siegte die „Beggar-my-neighbour“-Politik, die Bereicherung auf Kosten des Nachbarn zum Ziel hatte. Da eine solche Politik nur Erfolg haben kann, solange sie nicht alle betreiben, erlebte letztlich kein Land den erhofften positiven Effekt, letztlich erhöhten sich nur die politischen Spannungen zwischen den Nachbarn. So endete mit der Weltwirtschaftskrise von 1929ff auch der Goldstandard als letztes Überbleibsel der Globalisierungswelle des 19. Jahrhunderts, als sich praktisch alle wichtigen Volkswirtschaften der Welt über Abwertungen ihrer Währung auf Kosten ihrer Partner Vorteile verschaffen wollten. Schon vorher hatte die USA wie auch andere Länder mit Einwanderungsgesetzen ihre Tore de facto für die Arbeitsmigration geschlossen und der gemeinsame atlantische Arbeitsmarkt war Vergangenheit. Die Zollschranken gingen weiter hoch und erreichten in den 1930er Jahren durchschnittlich um die 40 %, auch totale Protektion (also Einfuhrverbote) war verbreitet. All diese negativen Entwicklungen gipfelten schließlich im Zweiten Weltkrieg, der die Welt alles in allem für acht Jahre fesselte, der alle großen Volkswirtschaften der Welt in Kriegswirtschaften verwandelte und der einen internationalen Handel hervorbrachte, der ausschließlich von strategischen Erwägungen geleitet war. An seinem Ende lag Europa in Trümmern und mehrere zehn Millionen Tote waren weltweit zu beklagen. Selbst die Vermaschinisierung der Arbeit hatte in der Menschenvernichtungsindustrie der Nazis einen katastrophalen Höhepunkt erreicht. Als sich der Staub nach 1945 wieder legte, begann der Wiederaufbau und offenbar wurden Lehren gezogen, dass die protektionistische Entwicklung der Zwischenkriegszeit einen erheblichen Beitrag zur Menschheitskatastrophe von 1939-45 geleistet hatte. Daher wurde internationale Zusammenarbeit in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht zum Programm, wenngleich gehemmt von der bipolaren Machtverteilung des Kalten Krieges. Globalisierungskräfte machten sich wieder ans Werk. Die Transportkosten sanken im 20. Jahrhundert weiter, aber speziell nach 1950 (abgesehen von Luftfracht) nicht mehr stark, teilweise stiegen sie sogar wieder. Die Kommunikationskosten (interkontinentales Telephon, Satellitenkommunikation, Internet) sanken hingegen auch nach 1950 vehement und speziell in den letzten Jahren noch verstärkt, ständige Preissenkungen im Telekommunikationsbereich dämpfen die Inflation in den meisten europäischen Staaten. Das halbe Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg wird in der Regel in zwei Subperioden gegliedert – die Zeit bis und die Zeit nach dem ersten Ölpreisschock 1973 (viele bringen diese beiden Perioden mit der A- und B-Phase eines Kondratieff-Zyklus in Verbindung) – und diese beiden Abschnitte werden mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg verglichen. Angus Maddison analysiert diese drei „erfolgreichsten“ Perioden der kapitalistischen Weltwirtschaft als die „liberale Ordnung“ (1870-1913), das „goldene Zeitalter“ (1950-73) und die „neoliberale Ordnung“ (1973-98). Sie unterscheiden sich unter anderem im Hinblick auf die Art des Wachstums. Während im „Goldenen Zeitalter“ das Weltwirtschaftswachstum pro Kopf 2,9 % pro Jahr betrug und gleichmäßig über die gesamte Welt verteilt war, betrug es während der beiden anderen Perioden nur 1,3 %. Dazu kommt, dass während der liberalen Ordnung der Unterschied im Wachstum zwischen der „entwickelten“ Welt und der „unterentwickelten“ Welt nur 0,2 % betrug (aber wie schon erwähnt, ebenfalls zu mehr Einkommensdivergenz geführt hat), während der neo-liberalen Ordnung hingegen 2,1 %, womit das Wachstum in der so genannten „unterentwickelten“ Welt nach 1973 in Summe sogar negativ war!42 Dazu meint der peruanische Ökonom Hernando de Soto: „Das Wichtigste, was wir über die Globalisierung wissen müssen, ist, dass nur ein Drittel der Menschheit daran teilnimmt. Die Globalisierung ist noch nicht global. Um sich im globalen Handel zu bewegen, muss man Gesetze und Regelungen anwenden können. (…) Globalisierung besteht aus einem Rahmen von Rechten, zu dem die Mehrzahl der Armen derzeit keinen Zugang hat.“43 Letztlich unterscheidet sich die Globalisierung des 20. Jahrhunderts in vielen wichtigen Punkten von der des 19., obwohl es auch viele Gemeinsamkeiten gibt (speziell in der Entwicklung der wirtschaftlichen Kennzahlen). Der wichtigste Unterschied liegt sicher in den Rahmenbedingungen, denn die Globalisierung des 19. Jahrhunderts vollzog sich ausgehend von relativ ähnlichen und agrarisch dominierten Gesellschaften im Rahmen von zumeist autoritär regierten Kolonialimperien, die des 20. Jahrhunderts hingegen ausgehend von bereits wirtschaftlich sehr unterschiedlich entwickelten Gesellschaften in einem zumindest tendenziell demokratischeren Klima, wo politische Führer ihre Entscheidungen allerdings auch im Hinblick auf die Wiederwahlchancen fällen. Zudem ist die Struktur der Außenhandelsmuster und der Kapitalflüsse anders, die Zahl der grenzüberschreitend tätigen privaten Akteure stieg stark an, während Industrialisierung die erste Welle prägte, ist die zweite vielmehr von Dienstleistungen getragen, auch vollzog sich der Rückgang von Transport- und Kommunikationskosten wesentlich schneller. Vor allem letzteres ließ Richard Baldwin und Phillip Martin folgern, dass die Globalisierung des 19. Jahrhunderts viel mit Güterhandel, die des 20. hingegen mit dem „Handel von Ideen“ zu tun hat. Noch ein Punkt kommt hinzu, den man oft übersieht. Die Globalisierung des 19. Jahrhunderts war von einer Ausdehnung von Kolonialreichen auf Kosten einheimischer Herrschaften getragen. Was nicht zuletzt globalisiert wurde, war das europäische Verständnis von Grenzen, von Verwaltung und von Besteuerung. Das alles führte zu einer dramatischen Reduktion der politisch unabhängigen Einheiten auf dem Globus von zweifellos mehreren hundert im Jahre 1800 auf knapp 50 im Jahre 1900. Die Globalisierung des 20. Jahrhunderts hingegen vollzog sich als Globalisierung des europäischen National-Staates. Sowohl die Idee vom Staat als auch die von der Nation wurden global und führten zu einem starken Anstieg der Zahl der (formell) selbständigen Staaten auf Erden von 87 auf 193 allein in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Je mehr der zweiten Globalisierungswelle also, desto mehr politische Zergliederung der Welt in Staaten.44 b) Widersprüche der Globalisierung Enden wir mit einigen kritischen Schlaglichtern zu Widersprüchen der Globalisierungen. • Die Kontinuität ungeachtet aller Wechselfälle der Globalisierungsgeschichte ist in manchen Ländern geradezu mit Händen zu greifen: der Kongo etwa war 1900 eine vom Ausland dominierte bluttriefende Kautschukplantage und ist heute eine vom Ausland dominierte bluttriefende Edelmetall- und Diamantenmiene. • Natürlich wurden nicht alle Errungenschaften des ausgehenden 19. Jahrhunderts globalisiert. Gesetzliche Sozialversicherungen etwa blieben bis auf wenige Ausnahmen auf den europäischen Kontinent beschränkt. • Auch wenn der Transport von Nahrungsmitteln schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts deren Preise immer weiter drückte, ist es nicht gelungen, den Hunger zu besiegen. Im Gegenteil hat die Welternährungsbehörde den Kampf gegen den Hunger gerade erst für „verloren“ erklärt. • Die Sklaverei wurde in fast allen der sie noch offiziell praktizierenden Länder während der Globalisierungswelle des 19. Jahrhunderts verboten. Doch in der Form von Niedrigstlöhnen und Kinderarbeit in der so genannten „Dritten Welt“ kehrt sie gerade mit der Globalisierung des 20. Jahrhunderts in den weltwirtschaftlichen Alltag zurück. • Auch um die Verteilungsgerechtigkeit und die Lebenschancen der Ärmsten steht es schlecht, das Verhältnis des Einkommens der reichsten 20 % der Weltbevölkerung zum Einkommen der ärmsten 20 % ist von 7 zu 1 (1870) über 11 zu 1 (1913) und 30 zu 1 (1930) auf 74 zu 1 (1997) gestiegen, beschleunigt in den 1980er und 1990er Jahren.45 Auch die absolute Zahl der Armen ist heute so groß wie nie zuvor: die Hälfte der Menschheit muss mit weniger als 2 Euro pro Tag ihr Auskommen finden. • Ein Grund dafür ist die vergleichsweise starke Beschränkung der Migration: „Das ist ein zutiefst wichtiger Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart, denn nichts leitete mehr als die Immigration zu Herabsetzung der Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Ländern im ersten Zeitalter der Globalisierung. (…) Doch kann wenig Zweifel daran bestehen, dass Freihandel und freie Kapitalbewegung ohne ein dazu im richtigen Verhältnis stehendes Maß an internationaler Migration zu noch nie erlebten Ausmaßen von Ungleichheiten in der Welt führten.“46 • Noch ein Bereich zeigt große Kontinuität: das Volumen der Waffenproduktion, der Umfangs des Waffenhandel und auch das technische Niveau der Waffen bis hin zur Massenvernichtung, dem ultimativen „Overkill“, steigt ständig, nur unterbrochen von besonderen Boomphasen während der großen Kriege. Tabelle 7: Einige willkürlich gewählte Eckdaten zur „Welt“ um 1900 und um 2000 um 1900 um 2000 Weltbevölkerung 1,6 Milliarden 6 Milliarden Bevölkerung in Millionenstädten 160 Millionen 2,6 Milliarden 35 Jahre 66 Jahre ca. 50 193 ca. 100 über 44.000 unter 80 über 4.500 ca. 10 Millionen über 800 Millionen 790.000 1.250.000 Lebenserwartung (Weltdurchschnitt) Zahl der Nationen Zahl der Nichtregierungsorganisationen Zahl der Transnationalen Konzerne Zahl der Telephone Weltweite Eisenbahnkilometer Welthandelsflotte (in Bruttoregistertonnen) Steinkohleproduktion (in Tonnen) 30 Millionen 394 Millionen (1990) 700 Millionen ca. 3.800 Millionen Rohstahlproduktion (in Tonnen) 28 Millionen ca. 750 Millionen Erdölförderung (in Tonnen) 20 Millionen ca. 3.500 Millionen Goldproduktion (in Tonnen) 380 ca. 2.400 einige Tausend ca. 580 Millionen PKW-Bestand Quelle: eigene Zusammenstellung aus diversen Datenbanken Für diese und für weitere Globalisierungswellen bleiben also noch viele Defizite zu beseitigen. Dazu kommt, dass der Globalisierungsprozess nicht unumkehrbar ist. Die Eitelkeit europäischer Fürstenhäuser, Allmachtsphantasien, Ressentiments und Neid haben innerhalb von kaum zehn Jahren zu Anfang des 19. Jahrhunderts das Rad der Geschichte um ein halbes Jahrhundert zurückgedreht, mit noch verheerenderen Folgen nur wenig später. Doch wer aus der Geschichte nicht lernt, ist verdammt, sie zu wiederholen. Literatur Baldwin, Richard E. und Martin, Philippe (1999): Two Waves of Globalization: Superficial Similarities, Fundamental Differences, in: Siebert, Horst (Hrsg.): Globalization and Labour, Tübingen, S. 3-58. Borchardt, Knut (2001a): Globalisierung in historischer Perspektive, München. Borchardt, Knut (2001b): Die Globalisierung ist nicht unumkehrbar, in: Handelsblatt vom 13.06.2001, S. 7. Chronik der Technik (1989), Dortmund. Chronik des 19. Jahrhunderts (1993). Dortmund. Der Standard (vom 4.6.2002). Ferguson, Niall (2001): Politik ohne Macht. Das fatale Vertrauen in die Wirtschaft, Stuttgart, München. Frankfurter Rundschau (FR), verschiedene Ausgaben. Haines, Michael R. (1994): The Population of the United States, 1790-1920, NBER Working Paper H0056. Maddison, Angus (1995): Monitoring the World Economy 1820-1992, Paris. Maddison, Angus (2001): The world economy. A Millennial Perspective, Paris. Meyers Duden-Weltatlas (1962). Mannheim. Neue Zürcher Zeitung (NZZ), verschiedene Ausgaben. North, Douglass C. (1966): The Economic Growth of the United States 1790-1860, New York. O’Rourke, Kevin und Williamson, Jeffrey G. (1999): Globalization and History. The Evolution of a Nineteenth-Century Atlantic Economy, Cambridge/Mass., London. O’Rourke, Kevin und Williamson, Jeffrey G. (2000): When Did Globalization Begin? NBER Working Paper 7632. Rothstein, Morton (1980): Foreign Trade, in: Porter, Glenn (Hrsg.): Encyclopedia of American economic history. New York, S 247-263. 1 Vgl. Frank, Andre G. und Gills, Barry K. (1993): The World System: Five Hundred Years or Five Thousand? London. 2 Vgl. etwa Borchardt (2001b). 3 Der Bau wurde drei Jahre später von London nach Sydenham versetzt. Im Jahr 1936 brannte das 563 m lange und 124 m breite Bauwerk ab. 4 5 Vgl. Der Standard vom 04.06.2002, S. 14: „Das globale Dorf des 19. Jahrhunderts“. Auch wenn es bisweilen mehr als ein Jahrhundert braucht, um den Wunsch nach der Ausrichtung einer Weltausstellung in die Tat umsetzen zu können. So schlug im Jahre 1894 der chinesische Reformer Zhen Guanying eine Weltausstellung in Shanghai vor. Er wollte mit dieser internationalen Leistungsschau der überfälligen Modernisierung und Öffnung des Chinesischen Kaiserreiches einen wichtigen Anstoß geben. Diese Idee soll nun im 21. Jahrhundert endlich verwirklicht werden: vom 1. Mai bis zum 31. Oktober 2010 in Shanghai, Motto: „Bessere Stadt, besseres Leben“. Vgl. FR vom 04.12.2002, S. 30 und NZZ vom 29.11.2002, S. 11. 6 Vgl. dazu die Arbeit von Rosenberg, Hans (1974): Die Weltwirtschaftskrise 1857-1859, Göttingen. Erstmals erschien diese Arbeit als Beiheft 30 der VSWG im Jahr 1934 (sic !). Hans Rosenberg meint selbst dazu: „Die Arbeit behandelt ein Thema, das völlig außerhalb des Blickfeldes und der Wertwelt der zeitgenössischen deutschen Geschichtswissenschaft lag, aber auch mir selber bis dahin fern gelegen hatte.“ (Rosenberg (1974), S. V). Und weiter unten begründet er diesen „kecken wie riskanten Versuch“, ins geschichtswissenschaftliche Neuland vorzustoßen: „Es war die Realität der 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise mit ihren politischen, moralischen und sozialen Erschütterungen, die meinen Blick als Historiker auf das Phänomen chronischer Instabilität in der Entwicklung des Wirtschaftslebens lenkte und zu einer Neuorientierung meiner Arbeitsinteressen führte.“ (Rosenberg (1974), S. VI). 7 Vgl. dazu Chronik des 19. Jahrhunderts (1989), S. 446. Die Krise von 1857ff. sollte aber zum Pech für Marx und Engels, die sich damals in ihrer Zusammenbruchstheorie des Kapitalismus schon fast bestätigt fühlten, nicht das nahe Ende des Kapitalismus bedeuten. Zudem scheinen die Protagonisten von Marxismus und Kapitalismus damals noch ziemlich harmonisch vereint: Karl Marx und Friedrich Engels schreiben als Journalisten (wohl meist anonym) von 1851 bis zum Beginn des amerikanischen Bürgerkrieges fast 500 Artikel in der New York Tribune (die Artikel wurden z. T. in anderen Pressorganen nachgedruckt). Vgl. dazu FR v. 08.04.2002, S. 10 (Rezension von MEW, Band I/14, Berlin, Neuauflage von 2001). 8 Es sind dies die Länder Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Niederlande, Norwegen, Portugal, Rumänien, Russland, Schweden, Schweiz, Spanien und Ungarn. 9 Vgl. dazu Chronik der Technik (1993), S. 286 und S. 292. 10 Man bedenke, wie viel Aufwand es bedurfte, vor der Vereinheitlichung der Masse (und auch der Geldeinheiten) Handel, etc. zu betreiben. Alleine im kleinen Raum des heutigen Tirol waren im 16. und den folgenden Jahrhunderten beinahe an die 30 (sic !) verschiedene Getreidemesseinheiten, welche alle die Bezeichnung „Star“ (es handelte sich um ein Holmaß) hatten. Dabei unterschied sich etwa der „Strich-Star“ aus Fliess (Oberland) um über 100 Prozent vom „Zehent-Star gehäuft“ im Zillertal, etc., etc. Vgl. dazu etwa Nussbaumer (2000): Vergessene Zeiten in Tirol, Innsbruck, S. 57. 11 Noch heute beschäftigen sich in einem Pavillon am Stadtrand von Paris in einem von der Meterkonvention ins Leben gerufenen Institut ca. 70 Mitarbeiter (dem so genannte BIPM, Bureau International des Poides et Mesures) damit, die internationalen Messstandards zu vergleichen und praktikable Messverfahren weiterzuentwickeln. 12 Vgl. dazu „Institute im Vergleich: Wo die Einheiten gemacht werden. Das Bureau international des poids et mesures in Paris“ in: NZZ vom 29.05.2002, S. 77. 13 So laut Chronik des 19. Jahrhunderts (1989), S. 708. 14 Vgl. dazu Blaise, Clark (2001): Die Zähmung der Zeit. Sir Standford Fleming und die Erfindung der Weltzeit, Frankfurt/Main. 15 16 Chronik des 19. Jahrhunderts (1989), S. 609. Man beachte die damals noch vergleichsweise lange Regelarbeitszeit. Zitiert nach: http://www.otium-bremen.de/autoren/a-taylor.htm, das Zitat stammt aus Taylors 1913 veröffentlichten „Grundsätzen wissenschaftlicher Betriebsführung“. 17 Vgl. dazu das Kurzporträt von Stephenson in der FR vom 10.10.2002, S. 2. 18 Rothstein (1980), S 257. 19 Vgl. dazu O’Rourke/Williamson (2000), S. 15-17 und Abbildung 10. Dazu einige weitere Zahlen: die Kosten für 800 Kilometer Schiffstransport fielen von 1850 bis 1910 für Massengüter wie Weizen oder Eisen von etwa drei Vierteln der Produktionskosten auf knapp ein Fünftel, für verarbeitete Eisengüter von 21 auf 6 % und für Baumwolltextilien von 8 auf nur noch 2 %. Vgl. Baldwin/Martin (1999), S. 23 (nach Paul Bairoch). 20 So wurde im Dezember 2002 stolz verkündet; vgl. NZZ vom 27.12.2002, S. 16. 21 Zitat nach Chronik der Technik (1993), S. 261. 22 Vgl. Borchardt (2001a), S 8. 23 Chronik der Technik (1993), S. 364. 24 Borchardt (2001a), S 9. 25 Vgl. dazu O’Rourke/Williamson (2000), S 17-18. Die Preisdifferentiale zwischen Großbritannien und Südamerika entwickelten sich sehr ähnlich. 26 Einigen Beispiele für durchschnittliche Zollsätze nach der so „liberalen“ Uruguay-Runde 1993: Japan verzollt Getreide (einschließlich Reis) mit 184 %, die EU mit 71 % und andere Agrargüter mit 52 %, die von der NAFTA mit 38 % belastet sind, Japan verzollt zudem verarbeitete Nahrungsmittel mit 73 %. Auch die Zollsätze für Bekleidung liegen in der NAFTA immerhin noch bei 19 % und in der EU bei 10 %. Verglichen mit diesen Spitzenzollsätzen liegen in Afrika und Südamerika die Zölle vergleichsweise niedrig: der Höchstzoll überschreitet für keine Warengruppe 25 %. Kurz gesagt: alle Staaten, vor allem die Industriestaaten, schützen unverändert und aus primär politischen Gründen alle Branchen, die international nicht konkurrenzfähig sind. Vgl. Baldwin/Martin (1999), S. 28. 27 Vgl. dazu etwa Suter, Christian (1990): Schuldenzyklen in der Dritten Welt: Kreditaufnahme, Zahlungskrisen und Schuldenregelungen peripherer Länder im Weltsystem von 1820 bis 1986, Frankfurt/M. 28 Baldwin/Martin (1999), S. 18f (nach Taylor, Alan: International Capital Mobility in History: The Savings-Investment Relationship. NBER Working Paper 5743, Cambridge/Mass.). Freilich beschränkt sich seine Stichprobe nur auf 12 Länder, die heute größtenteils der OECD angehören. 29 Vgl. Baldwin/Martin (1999), S. 36. 30 Vgl. Maddison (1995), S. 239. 31 Borchardt (2001a), S. 9f. 32 Vgl. dazu Baldwin/Martin (1999), S. 30-34. 33 Vgl. dazu O’Rourke/Williamson (1999), S. 93-117, speziell S. 98 und Baldwin/Martin (1999), S. 27f und S. 49. 34 Vgl. Maddison (2001), S. 58. 35 Vgl. zu diesen Zahlen North (1966), S. 98. 36 Vgl. Maddison (2001), S. 128, speziell für die USA auch Haines (1994). 37 Baldwin/Martin (1999), S. 37. 38 O’Rourke/Williamson (1999), S. 155. Auswanderer verringern ja auch erheblich das Bevölkerungswachstum und damit das Arbeitskräftepotential. Das bedeutete aber auch für die in Irland verbliebenen Arbeitskräfte eine Reallohnsteigerung von über 30 %. 39 Vgl. dazu insbesondere O’Rourke/Williamson (1999), S. 160-165. 40 Wie ausführlichere Zahlen von Paul Bairoch und vor allem Angus Maddison selbst für das damals einigermaßen konvergierende Europa, erst recht aber für die Weltwirtschaft zeigen. Vgl. dazu Baldwin/Martin (1999), S. 12. 41 Borchardt (2001b) 42 Vgl. für Details Maddison (2001), S. 129. In der Zwischenkriegszeit 1913-50 betrug das Weltwirtschaftswachstum 0,9 %, neben Weltwirtschaftskrise und Kriegszerstörung in Europa litten vor allem die großen asiatischen Volkswirtschaften (Japan, China, Indien) unter totaler Stagnation. 43 Interview, abgedruckt in der NZZ vom 19.01.03, S. 5. 44 Vgl. dazu Exenberger, Andreas: Die Dritte Welt oder von der Kolonisierung über die Dekolonisierung zur Rekolonisierung, Working Paper 00/09, noch unveröffentlicht (abrufbar unter: http://homepage.uibk.ac.at/~c43207/die/DritteWelt.pdf), vor allem S. 11f und S. 22. 45 Vgl. Krämer, Georg, Scheffler, Monika und Halbartschlager, Franz (2001): Atlas der Weltverwicklungen. Wuppertal, S. 18 f.; weitere Quellen daselbst. 46 Ferguson (2001), S. 295.