Pflege in der Zeit des Nationalsozialismus

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Pflege in der Zeit des Nationalsozialismus
HAUSARBEIT
Wintersemester 2003 / 2004
Fachbereich V – Pflege
Ev. Fachhochschule RWL – Bochum
Thema:
Pflege in der Zeit des Nationalsozialismus –
aus Sicht der Zeitzeugen
Modul:
4.1
Dozentin:
Frau Prof. Dr. Ursula Koch-Straube
Verfasserin:
Marianne Petsch
Im Ardeytal 1
58453 Witten
Tel.: 02302 / 424756
Matrikelnummer: 199398
Abgabe:
13. Februar 2004
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Inhaltsverzeichnis / Gliederung
Seite
1
Einleitung, Hinführung zum Thema ....................................................
2
Die Integration der Krankenpflege in die Zeit des
2
Nationalsozialismus
2.1
Das Gesundheits- und Krankheitsverständnis im
Nationalsozialismus (Rassenhygiene) .......................................
3
2.2
Gesetzliche Grundlagen zur Ausbildung, Berufserlaubnis .......
4
2.3
Aufgaben des Pflegepersonals im Zusammenhang mit
Tötungen ..........................................................................................
3
5
Durchführungsverantwortung für die Tötungen
3.1
Der Umgang mit Verantwortung von den Pflegenden ...............
10
3.2
Welche Folgen hatte Widerstand leisten?....................................
11
4
Zusammenfassung, Stellungnahme ............................................................
13
5
Literaturangabe ..........................................................................................
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3
1 Einleitung / Hinführung zum Thema
Im Wintersemester 2003 /04 fand das Seminar „Pflege in der Zeit des Nationalsozialismus
und heute“ statt. Das Seminar ist zur Vorbereitung einer Studienreise nach Auschwitz gedacht, die im Mai 2004 stattfinden soll.
Das Ziel dieser Hausarbeit ist, die geschichtlichen Hintergründe während der Zeit des Nationalsozialismus in Bezug auf den Beruf der Pflegenden zu beleuchten. Fragen, in wieweit
Verantwortung abgegeben werden kann, wozu blinder Gehorsam führt, sind noch Gegenstand in der heutigen Zeit.
Die Beteiligung des Pflegepersonals an allen nationalsozialistischen Maßnahmen in der
Gesundheitspolitik bezog sich zwar nur zum geringen Teil auf die Tötung von „minderwertigem“ Leben, aber es war doch ein Bestandteil pflegerischer Handlungen, den man
nicht einfach als Ausnahme werten kann. Als Ausnahme kann eher der Widerstand angesehen werden, den sich doch einige KollegInnen getraut haben zu leisten (siehe auch 3.2).
Es ist also in der Geschichte der Pflege während des Nationalsozialismus sowohl blinder
Gehorsam als auch Verweigerung und Mut zum Hinschauen anzutreffen. Eine Aufarbeitung kam zu kurz, da es nach dem Krieg sehr viele neue Aufgaben gab und daher scheinbar
keine Zeit zur Reflexion war. Und die Mutigen konnten nicht mehr an der Weiterentwicklung der Pflege mitwirken, weil sie entweder hingerichtet worden oder emigriert sind (ein
Grund, warum Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern in der Entwicklung der Pflege zur Profession im Rückstand ist).
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Die Integration der Krankenpflege in die Zeit des Nationalsozialismus
2.1
Das Gesundheits- und Krankheitsverständnis im Nationalsozialismus
(Rassenhygiene)
Die Gesundheitswissenschaften (Public Health) haben sich seit jeher darum bemüht, den
Gesundheitszustand ganzer Populationen aufrecht zu erhalten. Das einzelne Individuum
stand nicht im Vordergrund. Die Geschichte (Ende 19. Jahrhundert) beschreibt, dass
Volkskrankheiten nicht nur durch medizinische Neuerungen und Entdeckungen (Virchow,
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Behring) reduziert oder behoben wurden, sondern dass auch durch Public Health – Initiativen, wie ausreichend frische Luft, sauberes Wasser (Hygiene), gesunde Ernährung dazu
beigetragen werden konnte.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte sich ein neues Verständnis von „sozialer Hygiene“
durch, und zwar neben den Attributen, die eine hygienische Kultur kennzeichneten (Wohnung, Kleidung, Arbeitsschutz). Die Eugenik, als die “Hygiene der menschlichen Fortpflanzung“ wurde von Grotjahn beschrieben. Er äußerte sich besorgt über die Degeneration
der Bevölkerung und sah als letztes Mittel „zur Verminderung der körperlich Minderwertigen“ die Zwangssterilisation.
Aus diesen und weiteren Denkrichtungen heraus entwickelte sich der Begriff der „Rassenhygiene“. Er nahm die Gesundheit einer „Rasse“ in den Blick, so dass erbliche Veranlagungen ausgelesen werden sollten (direkte Einwirkung auf die Erbmasse).
Der Begriff der Eugenik wird von einem englischen Naturforscher (Francis Galton) geprägt: „Eugenik ist die Wissenschaft, die sich mit allen Einflüssen befasst, welche die angeborenen Eigenschaften einer Rasse verbessern und welche diese Eigenschaften zum
größtmöglichen Vorteil der Gesamtheit zur Entfaltung bringen“ (Lenz in Schaeffer et al.
1994, S. 39). Der Münchner Rassenhygieniker Fritz Lenz sah Hitler als den ersten Politiker
von wirklich großem Einfluss, der die Rassenhygiene als zentrale Aufgabe aller Politik
sah. Durch Eugenik ließ sich die Spreu vom Weizen trennen.
2.2 Gesetzliche Grundlagen zur Ausbildung, Berufserlaubnis
Es war der Verdienst der „Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands“
(B.O.K.D.), dass 1907 das erste Krankenpflegegesetz in Preußen verabschiedet wurde und
dadurch erstmalig eine staatliche Prüfung und Anerkennung zur Krankenpflegeausbildung
erfolgte. Die Ausbildungszeit wurde auf ein Jahr festgelegt.
Während der NS-Zeit wurde vom Staat eine vereinheitlichte Berufsausbildung angeboten
(Gesetz zur Ordnung der Krankenpflege im Jahre 1938). Die in der Zwischenzeit verlängerte Ausbildungszeit von 2 Jahren wurde nun auf 18 Monate reduziert, um die Arbeitskräfte der Krankenpflege schneller (aus)nutzen zu können. Die Ausübung des Berufs war
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gesetzlich geschützt. Dies kann als Fortschritt gesehen werden, der aber nur von kurzer
Dauer war.
Die Ausbildungsinhalte bezogen sich auf nationalsozialistisches Denken und Handeln,
Prinzipien des Dienens und des Gehorsams waren grundlegende pflegerische Elemente.
Eine während der Weimarer Republik im Ansatz vorhandene eigenständige professionelle
Entwicklung wurde damit aufgehoben. Die Leitung der Krankenpflegeschule oblag einem
Arzt, wodurch die Vorherrschaft gesichert war.
Schülerinnen wurden für eine spezielle NS-Schwesternschaft („Braune Schwestern“) ausgebildet und vor allem in den Gemeinden, in Lazaretten bei der Wehrmacht und in den
Mütterheimen der SS eingesetzt. Das während der NS-Zeit verinnerlichte Gehorsamsideal
der Krankenpflege gegenüber dem Staat und der Medizin führte u. a. zu der Mitarbeit bei
den „Euthanasie“-Programmen. Der NS-Staat stellte die Krankenpflege unter die Anordnung der Mediziner und machte somit die Pflegenden zu Komplizen nationalsozialistischer
Rassenpolitik.
2.3
Aufgaben des Pflegepersonals im Zusammenhang mit Tötungen
Die Mitbeteiligung an den Tötungen der von NS – Seite Auserwählten unterschieden sich
in 2 Phasen:
1. Tötungen durch Gas in 6 Mordanstalten
2. Ermordung durch Medikamentenüberdosierung, Luftinjektionen und durch Nahrungsentzug („wilde Euthanasie“)
Tötungen durch Gas: Das Pflegepersonal hatte in dieser Phase weniger intensiven Kontakt zu den Patienten als im Vergleich zum Pflegepersonal in den Anstalten der „wilden
Euthanasie“. Es wirkte bei den Vorbereitungen zum Abtransport der Patienten in die Tötungsanstalt mit und beim Richten und Auflisten ihrer persönlichen Gegenstände. Weiterhin kennzeichneten die Pflegenden die Patienten per Pflasterklebestreifen oder direkt auf
die Haut, indem sie mit Tintenstift zwischen die Schulterblätter Angaben der zu tötenden
Person machten. Hilfe beim An- und Ausziehen zum Zwecke der Scheinuntersuchungen,
sowie Begleitung der Transporte zur Zwischen- oder Tötungsanstalt gehörten mit zu ihren
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Aufgaben. Als Fahrtbegleiter „beruhigten“ sie die Patienten mit Medikamenten oder Fesseln. Sie begleiteten sie nur bis zur Gaskammer, waren bei der Vergasung selbst nicht gegenwärtig. Nach der Ermordung nahmen sie die persönlichen und anstaltseigenen Sachen
der Getöteten entgegen.
„Vom 21. Januar 1941 an begleitete ich zehn Krankentransporte aus den verschiedensten
Anstalten nach Hadamar. (...) Auf unseren Fahrten machten wir keine Pausen, damit die
Kranken austreten konnten (...) Reiseproviant hatten sie nicht mit. In jedem Bus saßen von
uns ein Pfleger und eine Schwester (...)“ (Aussage des Krankenpflegers Benedikt H. vom
16.1.1966 im Prozess gegen Dr. Ullrich u. a. in Steppe 2001, S. 152 – 153).
Aussage einer Ursberger Schwester im April 1946 kurz vor dem Abtransport:
„Manche haben sich hingehängt an die Schwester, die Schleier abgerissen. Das war
furchtbar (...) Die haben direkt geahnt und gemerkt, was los ist. Wir haben ihnen die Sakramente geben lassen. Es war fürchterlich, unbeschreiblich (...) bei den Mädchen war es
ganz arg. Die fühlten instinktiv, dass ihnen nichts Gutes bevorstand. Die haben direkt geschrieen und geweint. Die Pflegerinnen und Ärzte hatten selbst geweint ob der Szene des
Abschieds (...)“ ( Schmidt 1983 in Steppe 2001, S. 153).
Die persönliche Betroffenheit der pflegenden Personen in Bezug auf die Patienten, die abtransportiert werden sollten, wird auch im folgenden Zitat deutlich:
„Über die Grauenhaftigkeit (...) brauche ich nur das zu sagen, dass sich die einzelnen Patienten in ihrer Verzweiflung an mich klammerten, (...) Als Antwort auf meine vergebliche
Bitte, die Patientin (...) freizugeben, sagte mir der Transportführer, die vorgeschriebene
Zahl müsse erreicht werden und wenn Fräulein ... unbedingt dableiben solle, dann müsse
ich halt an ihrer Stelle mitgehen. Das seltsamste bei alledem war, dass unsere Pfleglinge
von der sogenannten Euthanasie viel mehr wussten als wir selber (...)“ (Klee 1985 in
Steppe 2001, S. 154)
Zunächst wurde das, was die Patienten ahnten, vom Pflegepersonal als Gerücht abgetan,
bis die Beweise vorlagen, dass Ahnungen Tatbestand waren: Ein Beispiel dafür sind die
Kleidungsstücke, die von den getöteten Patienten in die psychiatrische Anstalt zurückgebracht wurden. Sie waren noch unversehrt und genau in dem Zustand der Entkleidung in
der Tötungsanstalt. Weitere Tätigkeiten im Zusammenhang mit den Tötungen durch Gas
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bestanden in Überprüfung der zurückgegebenen Kleidungsstücke auf Vollständigkeit. Es
gab sogenannte Kleiderkarten, die von den Pflegepersonen nach Feststellung auf Vollständigkeit unterschrieben wurden. Die Kleidungsstücke wurden gebündelt, mit der Nummer
des Patienten versehen, in Beutel gepackt und zunächst aufbewahrt. Wenn sich Angehörige
innerhalb einer Frist von 4 – 6 Wochen erkundigten, wurden die aufbewahrten Dinge an
sie durch die Post verschickt. Kam keine Nachfrage, so wurden die Teile an die NSV übergeben, natürlich nicht, ohne sie aktenmäßig aufgeführt zu haben.
Die Zitate, die sich auf den Umgang der zu tötenden Patienten beziehen, reichen von positiven bis negativen Beschreibungen. Einerseits heißt es, dass die Kranken bis zu ihrem
Tode von allen gleich behandelt wurden. Andererseits ist auch die Rede von groben Umgangsformen. Viele Zeugenaussagen beschreiben diverse Rettungsversuche von Seiten des
Pflegepersonals, welches die jahrelang vertrauten Patienten versteckte oder unrichtige Angaben zu ihrer Arbeitsfähigkeit machte und die Angehörigen benachrichtigte, damit diese
die potentiell Verurteilten rechtzeitig abholen konnten.
„Wilde Euthanasie“: Die Auswahl der zu tötenden Patienten passierte dezentral, d.h., in
der Anstalt selbst, meistens während der Visite durch einen Arzt. Die zugrunde liegenden
Beschreibungen stammen aus der Anstalt Obrawalde (Preußen). Der jeweilige Name des
Kranken wurde von der Oberschwester / dem Oberpfleger notiert. Die Patienten wurden
für die Tötung in ein dafür vorgesehenes Einzelzimmer / Isolierzimmer verlegt und durch
eine Überdosierung eines Barbiturats „eingeschläfert“. Ausgewählt wurden auch Patienten,
die zeitweise völlig klar waren, aber nicht arbeitsfähig. Parallel dazu wurden die Patienten
durch Nahrungsentzug geschwächt. Nur die noch Arbeitsfähigen bekamen angemessen zu
essen. Eine Vorbehandlung mit Medikamenten vor der eigentlichen Giftgabe diente der
Ruhigstellung der Betroffenen. Demnach hatten sie eine Vorahnung davon, was sie im
Isolierzimmer erwarten würde.
Auffällig war, dass von 1939 an die Anzahl der Geisteskrankheiten in der Anstalt Obrawalde von 900 auf 2000 wuchs, aber nur 3 Ärzte dafür zuständig waren. Auch der PflegePersonalmangel wird beschrieben. Die Pflegerinnen mussten bis zu 14 Stunden am Tag
arbeiten. Ab 1944 übernahmen sie pflegefremde Tätigkeiten, wie Mitwirkung bei der Anlage von Panzergräben. Wahrscheinlich hat die Überlastung dazu geführt, dass man sich
nicht mehr gewehrt hat. Auch Mobbingverhalten von oben nach unten führte dazu, dass
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keiner dem Anderen vertraute. So konnte jeder gut eingeschüchtert werden, und an einen
gemeinsamen Zusammenschluss gegen „die da oben“ war nicht zu denken. Allerdings hatten die Pflegenden bei der Tötung durch Gift einen größeren Handlungsspielraum als bei
der Tötung durch Gas. Ein Zitat einer Hauptangeklagten des späteren Obrawalde – Prozesses belegt sowohl die Handlungsfreiheit bei Anordnung durch den Arzt als auch die Konsequenz derer:
„(...) Bald nachdem ich Abteilungspflegerin geworden war, hielt Frau Dr. Wernicke eine
Visite. In dem Krankensaal befanden sich etwa 12 Betten mit Patientinnen. In einem Bett
lag eine Frau mittleren Alters, also ca. 30 – 40 Jahre alt, die sehr unruhig war. Es handelte sich um eine Schizophrene. (...) ´Geben Sie dieser Patientin 4 bis 5 Gramm Veronal.`
(...) Ich war der Überzeugung, dass ich der Patientin das Veronal nur geben sollte, um sie
ruhig zu stellen. (...) und gab der Patientin zwei Dosen à 0,5 Gramm. Da die Patientin
nach dieser Menge ruhig blieb, verabreichte ich ihr nicht die gesamte angeordnete Dosis.
Am folgenden Tag berichtete ich bei der Visite (...) weil die Patientin mit den Teilgaben
ruhig gestellt war. Darauf schrie mich Dr. Wernicke an, ich hätte das zu verabreichen, was
vom Arzt angeordnet werde. Auf meinen Einwand, die Patientin sei doch durch die geringere Menge ruhig gestellt, ging sie nicht ein. Weitere Fragen stellte ich nicht mehr. Auf die
Frage, was ich mir hierzu für Gedanken gemacht habe, muss ich sagen, dass ich mir in
diesem Augenblick klar darüber geworden bin, was die Ärztin Dr. Wernicke mit der hohen
Dosis Veronal bezwecken wollte“ (Schwester Luise E., Obrawalde-Prozess, Blatt 1553ff.
in Steppe 2001, S. 158).
Bald schienen die Tötungen so etwas wie pflegerische Routine zu werden., obwohl die
zitierte Schwester auch ihren Konflikt beschrieb, den sie hatte, wenn der anordnende Arzt
eine Tötung verordnete. Sie hatte den Konflikt vor allem dann, wenn ihr die Entscheidung
zur Tötung nicht gerechtfertigt erschien. Es wird aus dem Zitat nicht deutlich, welches
Kriterium sie als Rechtfertigung zum Morden anwandte.
Das selbständige Handeln des Pflegepersonals bezog sich auch auf die Auswahl der Patienten, die pflegeleicht waren und auf die, die „(...) aus irgendeinem Grunde lästig wurden
und ihre Beliebtheit beim Personal verloren, dann wurde die Tötung durchgeführt und
zwar sofort“ (Klee 1983 in Steppe 2001, S. 160).
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Der Vorgang der Tötungen selbst wurde vom Krankenpflegepersonal ausführlich beschrieben. Je nach Zustand des Patienten verlief auch die Gabe der überdosierten Medikamente
entweder oral oder intravenös. Meistens wurde es ihnen zu zweit liebevoll und durch gutes
Zureden gereicht.
„(...) Bei dem Eingeben des aufgelösten Mittels ging ich mit großem Mitgefühl vor. Ich
hatte den Patientinnen vorher erzählt, dass sie nur eine kleine Kur mitzumachen hätten.
Selbstverständlich habe ich dieses Märchen nur solchen Patientinnen sagen können, die
noch genügend klaren Verstand besaßen, um es begreifen zu können. Beim Eingeben nahm
ich sie liebevoll in den Arm und streichelte sie dabei (...)“ (Schwester Luise E., Obrawalde
- Prozess, S. 333ff. in Steppe 2001, S. 161 – 162).
„(...) Mit Tränen in den Augen haben wir dann diese Spritzen aufgezogen (...)“ (Margarete
T., Obrawalde- Prozess, S. 728 ff. in Steppe 2001, S. 162).
Die meisten der zu verlegenden Patienten in das Sterbezimmer konnten selbst gehen, wussten aber aus Sicht der Aussagenden nicht, warum sie in ein anderes Zimmer verlegt werden
sollten. Sie mussten sich mit Nachthemd und Nachtjacke bekleidet ins Bett legen und bekamen dort entweder die in Wasser aufgelösten Medikamente zu schlucken oder als Spritze. In manchen Fällen wurde nur Luft in die Vene gespritzt, so dass die Patienten an einer
Luftembolie verstarben. Das geschah in den Situationen, in denen die per Überdosis behandelten Patienten schwer starben. In der Regel trat der Tod der Opfer nach etwa einem
halben Tag ein. „Diese Luftinjektionen habe ich nur auf der Station U 1 und an solchen
Patientinnen ausgeführt, die bereits mit Luminal oder Morphium-Scopolamin vorbehandelt
worden sind und die sehr schwer gestorben sind“ (Margarete T., Obrawalde-Prozess, S.
728 ff. in Steppe 2001, S. 162). Diese, wie auch viele andere Aussagen beinhalten eine Art
Entschuldigung, die entweder die Tat an sich oder auch die Vorgehensweise rechtfertigen
sollten.
3
Durchführungsverantwortung für die Tötungen
3.1
Der Umgang mit Verantwortung von den Pflegenden
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Die Begründungen für die Ausführung der Euthanasie beinhalteten große Betroffenheit, vor allem dann, wenn sie als nicht gerechtfertigt angesehen wurde. Aus den Zitaten geht hervor, dass eine Rechtfertigung dann vorliege, wenn ein Mensch unheilbar
krank war. „ (...) Meine Einstellung zur Euthanasie war die, sollte ich selbst unheilbar
krank werden, (...) würde ich es als Erlösung empfinden, wenn ein Arzt oder auf ärztliche Verordnung eine andere Person mir eine Gabe verabreichen würde, die mich von
allem erlöst. Trotz meiner Einstellung zur Euthanasie habe ich, (...) schwere innere
Kämpfe mit mir selbst ausgefochten (...)“ (Luise E., Obrawalde-Prozess, S. 78 ff. in
Steppe 2001, S. 163).
Die Frage nach der gesetzlichen Grundlage blieb, ob und in welchem Fall ein Gesetzgeber überhaupt berechtigt ist, eine Tötung anzuordnen. Das schlechte Gewissen konnte aber dadurch entlastet werden, dass die Anordnenden, also die Ärzte, die Euthanasie
delegierten und die Pflegepersonen somit nur eine Anordnung ausführten. Das wird
auch im folgenden Zitat deutlich: „(...) weil ich es gewohnt war, die Anordnungen und
die Befehle der Ärzte unbedingt auszuführen. Ich bin so erzogen und auch ausgebildet
worden. Als Schwester oder Pflegerin besitzt man nicht den Bildungsgrad eines Arztes
und kann daher nicht werten, ob die vom Arzt getroffene Maßnahme oder Anordnung
richtig ist. Die ständige Übung, den Anordnungen eines Arztes zu folgen, geht so in
Fleisch und Blut über, dass das eigene Denken ausgeschaltet wird“ (Klee 1983 in
Steppe 2001, S. 163). Vielleicht war diese Haltung ein guter Schutz gegen die wirkliche innere Einstellung?
Widersprüchlich erscheinen die Aussagen, dass einerseits die Tötungen von Seiten der
Durchführenden nicht gebilligt wurden, man aber verpflichtet war, z. B. als „Beamtin
im Staatsdienst jedes Verlangen des Staates auszuführen“. Andererseits hätte man einen angeordneten Bankraub nicht durchgeführt, „ ... weil man so etwas nicht tut. Außerdem hätte ein Diebstahl nicht zu meinen Aufgaben gehört. ( ...) dass ich einen Diebstahl nie begangen hätte. Ich weiß, dass man so etwas nicht tun darf (...)“ (Anna G.,
Obrawalde-Prozess, S. 408 in Steppe 2001, S. 164).
Nicht nur als erschreckend, sondern als legitimierend für die zu verurteilenden Taten
kann die absolut verinnerlichte Gehorsamspflicht gegenüber den Ärzten und den Gesetzgebern gesehen werden. Das subjektiv empfundene Gefühl von Unschuld trotz ein-
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deutiger Handlungen erinnert an die Ergebnisse des „Milgram-Experiments“, in dem
Probanden einem Menschen unter dem Vorwand eines wissenschaftlichen Experiments
elektrische Stromstöße bis zur tödlichen Dosis verabreicht haben, wenn es ihnen vom
Versuchsleiter befohlen wurde. Durch die Abgabe der individuellen Verantwortung an
eine übergeordnete Instanz konnte sich ein Gefühl von Unschuld oder mindestens von
Nicht-Beteiligung einstellen. Hinzu kam, dass jeder der Beteiligten nur einen Teilbereich der gesamten „Entsorgungsaktion“ übernahm und dadurch nicht unbedingt die
Gesamtzusammenhänge durchschaute (durchschauen musste).
3.2
Welche Folgen hatte Widerstand leisten?
Es waren nur wenige, die trotz Androhung von Strafe Widerstand geleistet haben. Die Recherchen darüber sind dürftig.
„Widerstand bedeutete, als Mitglied einer Organisation oder in individueller Einzelleistung
von der Norm abweichendes oder oppositionelles Verhalten gegenüber dem totalitären
Staat aus humanitären, religiösen oder politischen Motiven heraus zu zeigen“ (KielRömer, Schmidt, Süß 1989 in Steppe 2001, S.190).
Der Hauptgrund des Leistens von Widerstand war die persönliche Haltung, die geprägt war
von einem christlichen, humanistischen oder politischen Hintergrund. Möglichkeiten von
Widerstand gegen einen totalitären Staat bestanden in Pflege von jüdischen PatientInnen,
Begleitung in den Luftschutzkeller, Verstecken vor dem Abtransport in die KZs (Rettung
von Juden), also nicht nur die Verweigerung bei der „Entsorgung“ von minderwertigem
Leben.
Hier nun einige erwähnenswerte Persönlichkeiten:
1. Schwester Anna Bertha Königsegg, Vinzentinerin: Sie protestierte häufiger gegen
die Entlassung der Ordensschwestern. Bei Inkrafttreten des Gesetzes zur Verhütung
erbkranken Nachwuchses erteilte sie eine Dienstanweisung an alle Ordensschwestern des Landeskrankenhauses in Salzburg, bei Eingriffen, wie der Sterilisation,
nicht zu assistieren. Ein Protestbrief an den Reichsverteidigungskommissar zog als
Konsequenz eine Vorladung von der Gestapo nach sich mit anschließender Inhaf-
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tierung. Nach 11 Tagen Haft wurde sie entlassen (der Grund ist nicht bekannt), aber
nur bis zu dem Zeitpunkt eines erneuten offiziellen Protestes gegen die „Verlegung“ von 70 psychiatrischen Kindern in ein anderes Haus. Eine erneute Verhaftung zog eine Verurteilung wegen Sabotage amtlicher Befehle und Unruhestiftung
in der Bevölkerung gegen die Volksgemeinschaft nach sich. Trotzdem wurde sie
entlassen, aber gleichzeitig des Landes verwiesen. Sie musste zu ihrem Bruder nach
Deutschland und durfte dieses Land ohne Genehmigung der Gestapo nicht mehr
verlassen. Nach Kriegsende konnte sie in ihr Mutterhaus zurückkehren und dort bis
zu ihrem Tod 1948 bleiben.
2. Schwester Maria Restituta (Helene Kafka): Trat mit 16 Jahren gegen den Widerstand ihrer Eltern in den Orden des Heiligen Franziskus ein. Sie war bekannt als
Einzelkämpferin, auch innerhalb ihres Ordens. Ohne im Einzelnen auf die Inhalte
der Querelen einzugehen, kann gesagt werden, dass Schwester Maria am Ende
mehrerer Verhöre vom Volksgerichtshof wegen Hochverrat zum Tode verurteilt
wurde. Leider blieben alle Gnadengesuche vergebens. Der Hauptgrund des Hochverrats war die Abschrift und das Vorlesen eines Soldatenliedes vor ihren Kolleginnen. Der Inhalt des Liedes war österreichisch-national, beschrieb die Kriegsverluste und forderte zur Fahnenflucht auf. Der Verfasser des Liedes war nicht bekannt.
3. Sara Nussbaum, Rot-Kreuz-Schwester: war viele Jahre als Krankenschwester in der
Jüdischen Gemeinde in Kassel tätig. Obwohl sie Jüdin war und wegen Äußerungen
gegen die Nationalsozialisten inhaftiert wurde, kam es zu keiner Hinrichtung. Sie
sollte in das KZ Theresienstadt deportiert werden. Da sie sich in der Krankenbaracke nützlich machen konnte und durch einen für sie missverständlichen Umstand in
die Schweiz zur Erholung in ein Sanatorium transportiert wurde, überlebte sie.
Nach dem Krieg kehrte sie nach Deutschland zurück. Sie wurde 1956 zur Ehrenbürgerin der Stadt Kassel ernannt und starb 7 Monate später.
Es gab noch andere mutige Persönlichkeiten, die, jede auf ihre Art, ihre persönliche
Haltung zum Ausdruck brachten. Welche dieser Haltungen den Staat zur Hinrichtung
veranlassten und welche übersehen werden konnten, wird nicht klar. Vielleicht war
hier, wenn auch sonst in der Zeit nicht üblich, der Einzelfall entscheidend.
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4
Zusammenfassung, Stellungnahme
Die Zeit von 1933 bis zum Ende des 2. Weltkriegs hat auch großen Einfluss auf die Entwicklung der Krankenpflege genommen. Nicht nur der blinde Gehorsam gegenüber Ärzten
und anderen Machtinhabern hat Pflegende zur Haltung und Tat veranlasst, ethisch nicht zu
Verantwortendes in einem anderen Licht zu sehen. Die Folgen des Gefühls, gehorchen zu
müssen, waren, dass man sich der Illusion hingab, dem humanitären Berufsethos treu
geblieben zu sein. Denn schließlich konnten durch die beschriebenen „pflegerischen Handlungen“ Leiden gemindert werden. Jeder sollte sich Gedanken darüber machen, in welcher
Situation er / sie äußeren Rahmenbedingungen ausgesetzt ist, die der eigenen Einstellung
widersprechen aber auf Dauer eine Einstellung vorantreiben, die mit den gegebenen Umständen konform gehen.
Die schon lange nicht mehr, aber wieder seit der Gesundheitsreform diskutierte Funktionspflege (im Gegensatz zur Bezugspflege) könnte auch dazu beitragen, sich von einer seelischen Last zu befreien, wenn die Bedingungen für eine pflegerische Beziehung nicht mehr
stimmen. Natürlich würde das auch die Gefahr beinhalten, pflegerische Prozesse nur in
Teilbereichen zu sehen, so dass eine Beurteilung von Missständen nicht möglich wäre.
Wer also sollte dann Kritik üben? Aber vielleicht wäre das dann nicht gewollt.
Es stellt sich immer wieder die Frage: Könnte sich jeder davon freisprechen, während der
NS – Zeit anders gehandelt zu haben, als es die Aussagen der ZeitzeugInnen belegen?
Was passiert, wenn Pflegende überlastet sind? Ist es dann nicht einfacher, einer Routine
nachzugehen, die eine Reflexion ausschließt? Pflegefremde Tätigkeiten gab es auch schon
damals (Anlage von Panzergräben). Auch sie hatten ihre Legitimation aufgrund der äußeren Umstände. Wo ist heute die Grenze zu pflegefremden Tätigkeiten? Ist es nicht häufig
eine Auslegungssache? Die Gefahr von pflegerischer Routine ist allgemein geläufig. Aber
dass sie eine Entwicklung zugelassen hat bis hin zu Tötungen, die dann pflegerische Routine wurden, ist doch mehr als erschreckend.
Was haben die Pflegenden aus der Geschichte gelernt?
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Es geht nicht primär um eine Verhinderung einer Wiederholung des Dritten Reiches, sondern darum, dass jeder eigenverantwortlich handeln sollte. Das beinhaltet auch eine Bewusstmachung darüber, wenn innere Einstellungen nicht mehr leben dürfen. Notfalls sollte
jeder dann eigenverantwortlich seine Konsequenzen ziehen
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Literatur
Albert, M. (1998): Krankenpflege auf dem Weg zur Professionalisierung (Diss.).
Bühl/Baden
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Haug, C. V. (1991): Gesundheitsbildung im Wandel. Die Tradition
Der europäischen Gesundheitsbildung und der „Health Promotion“ –
Ansatz in den USA in ihrer Bedeutung für die gegenwärtige GesundheitsPädagogik. Bad Heilbrunn
Katscher, L. (1990): Krankenpflege und ´Drittes Reich`:
Der Weg der Schwesternschaft des Evangelischen Diakonievereins
1933 – 1939. Stuttgart
Schaeffer, D.; Moers, M.; Rosenbrock, R. (Hg.) (1994): Public Health
und Pflege: Zwei neue gesundheitswissenschaftliche Disziplinen. Berlin
Schmelter, T. (1999): Nationalsozialistische Psychiatrie in Bayern: Die
Räumung der Heil- und Pflegeanstalten. Würzburg
Steppe, H. (2001): Krankenpflege im Nationalsozialismus. Frankfurt
Steppe, H.; Ulmer, E. M. (1999): “Ich war von jeher mit Leib und
Seele gerne Pflegerin.“:Über die Beteiligung von Krankenschwestern
an den „Euthanasie“-Aktionen in Meseritz-Obrawalde. Frankfurt
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