norway.today - Schauspielhaus Bochum

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norway.today - Schauspielhaus Bochum
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Begleitmaterial
norway.today
von Igor Bauersima
Eine Produktion des Jungen Schauspielhaus Bochum
Empfohlen ab 13 Jahren
Premiere 30. November 2011, Theater Unten
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Stückdauer 75 Minuten
Verehrtes Publikum, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, liebe Pädagoginnen und Pädagogen!
„Norway.today“- Ein Stück, dessen Geschichte auf einer wahren Begebenheit beruht
und zum Nachdenken über das Leben und dessen Sinn anregt. Wer kennt sie nicht diese
Fragen, die einem unweigerlich, besonders in Lebensphasen, die von Umbrüchen geprägt sind, durch den Kopf gehen: Was ist für mich der Sinn des Lebens? Was mache ich
hier auf der Erde? Gibt es etwas nach dem Tod? Was ist für mich Glück? Was kann ich
tun, um mein Leben so zu gestalten, dass es mich zufrieden macht? Was wenn mir das
nicht gelingt? Wodurch fasse ich den Entschluss, mir das Leben zu nehmen?
In Wahrheit haben sich die zwei jungen Menschen, von denen das Stück erzählt, das
Leben genommen. Sie haben den Freitod gewählt. In Bauersimas „norway.today“ ist das
nicht so. Auch in der Inszenierung von Martina van Boxen springen sie nicht, sie bleiben im Hier und Jetzt. Wie das Leben von den beiden weitergeht, erfahren wir nicht.
Aber wir bekommen ein Gefühl dafür, warum sie den Entschluss fassen, am Leben zu
bleiben und sie vielleicht auch eine Ahnung bekommen, wie es ist „im Leben zu sein“.
Man sagt ja auch am Leben sein, also nah dran.
Und nicht im Leben. Ich meine, wenn einer
"voll im Leben steht", da kann ich Gift drauf nehmen,
der ist irgendein fakes Arschgesicht
(August – norway.today)
In der Materialmappe finden Sie Hintergrundinformationen sowie Anregungen für die
Vor- und Nachbereitung des Theaterbesuchs.
Gerne komme ich auch für eine theaterpädagogische Vor- oder Nachbereitung zu Ihnen
in die Schule.
Wenn Sie Fragen, Kritik oder Anmerkungen dazu haben, zögern Sie nicht mich anzurufen oder mir eine E-Mail zu senden. Ich freue mich auf regen Austausch!
Mit herzlichen Grüßen aus dem Schauspielhaus Bochum
Anstalt des öffentlichen Rechts – Königsallee 15 – 44789 Bochum – www.schauspielhausbochum.de
Franziska Rieckhoff – Theaterpädagogik – Tel.: 0234 / 33 33 55 28 – Fax: 0234 / 33 33 54 24 – [email protected]
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INHALT
Hintergrundinformationen: Das Stück, der Autor, die Regisseurin…………………….Seite 4
Der Dramaturg, künstlerisches Team und Besetzung ………………………………….……Seite 5
Die Schauspieler…………………………………………………...……………..………………..……Seite 6
Die wahre Begebenheit…………………………………………………..…………………….......…Seite 7
Blinddate zum Selbstmord…………………….……………………….…..………………….....…Seite 9
Suizid, Fake und das Problem der Freiwilligkeit……………………….………..……………Seite 10
„Let it be“ – Der Todestrend…................................................................................Seite 12
Cioran und Kant: Die Philosophie hinter norway.today........................................Seite 16
Cioran: Dasein als Versuchung..............................................................................Seite 18
Gründe, warum es sich zu Leben lohnt..................................................................Seite 19
Theaterpädagogische Vor- und Nachbereitung- Anregung………………………..…….Seite 20
Quellen, und Literaturhinweise, Service: Theater & Schule…………………………..…Seite 28
Impressum……………………………………………………………………………………………….Seite 29
Anstalt des öffentlichen Rechts – Königsallee 15 – 44789 Bochum – www.schauspielhausbochum.de
Franziska Rieckhoff – Theaterpädagogik – Tel.: 0234 / 33 33 55 28 – Fax: 0234 / 33 33 54 24 – [email protected]
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HINTERGRUNDINFORMATIONEN
DAS STÜCK
Die lebensmüde zwanzigjährige Julie sucht im Internet Gleichgesinnte, die mit ihr in
den Tod gehen wollen. In einem Chatroom lernt sie den neunzehnjährigen August kennen, in dem sie einen solchen Gesinnungsgenossen findet. Die beiden beschließen, ihrem Leben gemeinsam ein Ende zu setzen und machen sich auf, um in Norwegen vom
600 Meter hohen, schneeverwehten Preikestolen-Felsen am Lysefjord in den Tod zu
springen. Das Stück basiert auf einer wahren Begebenheit, auf die der Autor durch eine
Zeitungsnotiz im Spiegel aufmerksam wurde. Igor Bauersima sieht den Jugendlichen
nicht nur beim Chatten zu, sondern blickt auch tief in ihr Inneres. So steht vor dem Tod
das Spiel: Eine Videokamera, die ihre gefilmten letzten Botschaften an die Lebenden
überbringen soll, ermöglicht den beiden den Umgang mit ihrer Realität und schafft das
Vertrauen, das sich im wirklichen Leben zu bewähren haben wird.
norway.today ist ein Stück über Sinn und Sinnlosigkeit des Lebens, eine Story, die Lebensmut vermittelt, ein anfänglicher Egotrip, der letztlich aber zu Gegensätzlichem
führt. norway.today war in den Jahren 2003 und 2004 meistinszeniertes Stück auf
deutschen Bühnen, wurde in über zwanzig Sprachen übersetzt und an über hundert
Theatern weltweit gespielt.
DER AUTOR
Igor Bauersima, geboren am 23.Juni 1964 in Prag, ist ein Schweizer Dramatiker und Regisseur. Er studierte Architektur und schloss mit dem Diplom ab. Nebenbei ist er seit
1989 Autor und Regisseur für Theater und Film. 1994 war er Mitgründer der freien Theatergruppe OFF OFF Bühne, für die er in den sechs folgenden Jahren Stücke schreibt
und inszeniert. Seinen ersten überregionalen Theatererfolg feierte er mit Forever Godard
(1998). 2001 erhielt das Stück norway.today im Rahmen der Mülheimer Theatertage
die Publikumsstimme, Bauersima wurde zum deutschen Nachwuchsautor des Jahres
2001 gewählt und erhielt den Berner Buchpreis sowie weitere zahlreiche Auszeichnungen.
DIE REGISSEURIN
Martina van Boxen ist Regisseurin und Schauspielerin, studierte Visuelle Kommunikation in Düsseldorf und absolvierte ihre Schauspielausbildung an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover. Sie arbeitete an verschiedenen Theatern als Schauspielerin
und Regisseurin, bevor sie 12 Jahre lang die künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin der Theaterwerkstatt Hannover war. Dort und im ganzen Bundesgebiet inszenierte
sie zahlreiche Theaterstücke für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die auf allen einschlägigen nationalen und internationalen Festivals vertreten waren. Ihre Inszenierungen sind mehrfach mit Preisen ausgezeichnet worden. Seit der Spielzeit 05/06 leitet sie
das Junge Schauspielhaus Bochum. Sie ist für die Planung und Organisation des Jungen
Schauspielhauses und für die Inszenierungen für Kinder und Jugendliche zuständig.
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DER DRAMATURG
Sascha Kölzow, 1982 in Hagen geboren, studierte als Stipendiat des Cusanuswerks
Kommunikation an der Universität der Künste Berlin und der Universidad de Sevilla
(Spanien). Während des Studiums verschiedene Tätigkeiten in der Werbebranche und
Darsteller und dramaturgischer Mitarbeiter in diversen Theaterproduktionen, u.a. am
(Jungen) Schauspielhaus Bochum. Außerdem spielte er in einem Horrorfilm mit und
hospitierte am Schauspielhaus Zürich und am Schauspiel Essen. 2008 bis 2010 Dramaturgieassistent am Schauspiel Essen unter der Intendanz von Anselm Weber, wo er u.a.
das Programm der Heldenbar koordinierte, als Produktionsleiter tätig war und erste eigene Produktionsdramaturgien übernahm. Ab 2010/2011 war er als Dramaturgieassistent und von 2012/2013 bis 2013/2014 als Dramaturg am Schauspielhaus Bochum
engagiert. Seit der Spielzeit 2014/2015 ist er Dramaturg am Hessischen Staatstheater
Wiesbaden.
KÜNSTLERISCHES TEAM UND BESETZUNG
Julie
Verena Schulze
August
Ronny Miersch
Regie
Martina van Boxen
Bühne & Video/Licht
Michael Habelitz
Dramaturgie
Sascha Kölzow
Kostüme
Cathleen Kaschperk
Regieassistenz
Tobias Diekmann
Bühnenbild-/ Videoassistenz
Jonathan Lemke
Technik: Alexander Gershman, Daniel Lüder, Christian Mertens, Maic Weigand
Fotos: Diana Küster
Herstellung des Bühnenbilds und der Kostüme in den theatereigenen Werkstätten des
Schauspielhauses Bochum
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DIE SCHAUSPIELER
Verena Schulze (Julie):
Verena Schulze, 1986 in Stuttgart geboren. Ausbildung
an der Folkwang Hochschule, Studiengang Schauspiel
Bochum. Es folgten zahlreiche Schauspielproduktionen,
darunter „Alkestis“ (Regie: Achim Wolfgang Lenz, eingeladen zum Körber Studio für Junge Regie 2009), „Foto
di Gruppo“ (Regie und Choreografie: Anna Pocher),
„Macbeth“ im Weitmarer Schlosspark in Bochum (Regie: Hans-Ulrich Becker) sowie „Komödie der Irrungen“
als Schauspielschulproduktion am Schauspielhaus Bochum (Regie: Henner Kallmeyer, Ensemblepreis beim
Schauspielschultreffen 2009 in Zürich). In der Spielzeit
2009/2010 spielte Verena Schulze als Gast am Schauspiel Essen in Otfried Preußlers „Die kleine Hexe“ (Regie: Henner Kallmeyer).
Ronny Miersch (August):
Ronny Miersch, 1985 in Lauchhammer geboren, studierte an der Hochschule für Musik und Theater Felix
Mendelssohn Bartholdy in Leipzig. Während dieser Zeit
spielt er im Schauspielstudio des Neuen Theaters in Halle u. a. die Titelrolle in Goethes „Die Leiden des jungen
Werther“, Cleante in Molières „Der eingebildete Kranke“ sowie Lee und Paul in Simon Stephens „Motortown“. Ab der Spielzeit 2008/2009 bis zur Spielzeit
2012/2013 war er Ensemblemitglied am Schauspielhaus
Bochum. Wichtige Rollen waren hier unter anderem
Krogstad in „Nora“ (Regie: Elmar Goerden) und die des
Leonce in „Leonce und Lena“ (Regie: Anna Bergmann).
Im November 2012 wurde ihm der Bochumer Theaterpreis in der Sparte „Nachwuchskünstler“ verliehen.
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DIE WAHRE BEGEBENHEIT
Das Stück „norway.today“ basiert auf einer wahren Begebenheit, auf die der Autor
durch einen Zeitungsartikel im Spiegel aufmerksam wurde:
„Asche im Netz“
Ein lebensmüder Norweger fahndete über das Internet nach Gleichgesinnten - und
sprang dann gemeinsam mit einer jungen Österreicherin in den Tod.
Der junge Mann begann seinen Brief höflich und zurückhaltend: "Dies ist meine erste
Post an diese Gruppe", schrieb der 25-jährige Daniel V. aus dem norwegischen Kongsberg in einem Internet-Forum; wenn seine Mitteilung deshalb womöglich "unpassend"
sei, bitte er um Entschuldigung. Seine Nachricht, komplett auf Englisch verfasst, sei
nämlich "nur für Leute bestimmt, die sich umbringen wollen. Wenn das nicht deine
Absicht ist, kannst du hier aufhören zu lesen."
Wer sich davon nicht abschrecken ließ, erfuhr, dass der Norweger entschlossen war "das ist keine plötzliche Entscheidung" - Selbstmord zu begehen. Mehr noch: "Auch
wenn sich das für einige ein bisschen seltsam anhört, ich möchte es mit jemandem zusammen tun", schrieb er. "Alle ernst gemeinten Antworten" seien willkommen:
"Schick mir eine Mail, und wir arrangieren das."
Das war am 9. Februar. Zehn Tage später war alles arrangiert; der Schreiber hatte eine
Partnerin gefunden: Am vorvergangenen Wochenende sprangen Daniel V. und die 17jährige Schülerin Eva D. aus dem österreichischen Steyr zusammen in den Tod. Sie
stürzten sich vom 600 Meter hohen Felsen Prekestolen (Predigtstuhl) am Lysefjord, einer der beliebtesten Touristenattraktionen Norwegens. Deutsche Urlauber entdeckten
die Leichen auf einem Felsvorsprung. "Selbstmord im Internet verabredet", meldeten
die Agenturen.
Seitdem wissen schockierte Zeitungsleser, dass man im World Wide Web nicht nur
nach gebrauchten Autos suchen kann, nach Aktienkursen oder schnellem Sex, sondern
auch nach einem Gefährten für den Tod. "Subject: Suicide partner", hatte Daniel V. in
maximaler Deutlichkeit über seinen Aufruf getippt; darüber blinkte vergangene Woche
schon mal die Werbung eines Web-Portals: "Shop 'Til You Drop!", kauf bis du fällst oder dich fallen lässt.
Wie oft in solchen Fällen blieb das Motiv des Paars rätselhaft. Selbstmord ist bei jungen
Leuten nach Autounfällen die zweithäufigste Todesursache; in Deutschland töten sich
pro Jahr rund 340 junge Menschen unter 20, Experten sprechen von einer hohen Dunkelziffer. Tod und Depression gelten als Leitmotive der Popkultur, die besonders
Jugendliche faszinieren. So zog der Freitod des Rocksängers Kurt Cobain 1994 Selbstmorde junger Fans nach sich.
Im Fall von Daniel und Eva ließen sich bislang nur die letzten Tage rekonstruieren nachdem die 19-jährige Norwegerin Vilje A., die sich auch auf die Netz-Anzeige hin gemeldet hatte und ursprünglich mit in den Tod springen wollte, zur Polizei gegangen war.
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Die junge Frau hat bereits mehrere Selbstmordversuche hinter sich, die sie im Internet
dokumentierte.
Den Ermittlungen zufolge war der Sprung in den Abgrund per E-Mail-Dialog minutiös
geplant: Die Österreicherin erzählte ihren Eltern, sie fahre zu ihrem Bruder nach Wien;
tatsächlich setzte sie sich nach der Zeugnisvergabe am vorvergangenen Freitag in einen
Zug nach Frankfurt und flog von dort nach Oslo, wo sie ihr neuer E-Mail-Freund - den
sie noch nie zuvor gesehen hatte - bereits erwartete. "Ich zahle für dein Ticket", hatte er
bereits in seinem Such- Aufruf versprochen. Gemeinsam flogen die beiden weiter nach
Stavanger, dann ging es per Fähre über den Fjord nach Tau. Mit einem Taxi ließen sie
sich zur Prekestol-Hütte am schneebedeckten Felsen chauffieren. "Es war nicht wie
sonst, wenn zwei junge Menschen zusammen sind. Es war eine unheimliche Stimmung,
aber keiner von denen schien Angst zu haben", erinnerte sich der Taxifahrer.
An ihre Eltern schickte Eva D. noch einen Abschiedsbrief. Die Ausrüstung der beiden
Selbstmörder wurde später von einem Reiseleiter aus Hamburg entdeckt: ein Zelt,
Schlafsack, Isomatten, Lebensmittel, Bierdosen, Handy, Kassettenrecorder. Die junge
Frau schleppte auch ihre Schminktasche auf das Plateau; auf hochhackigen Schuhen
und im langen Kleid kämpfte sie sich durch den Schnee. Am Ende ließ sie die Schuhe im
Zelt stehen; vermutlich ging sie barfuß in den Tod. Die Fußspuren der beiden jedenfalls
zeigten nur in eine Richtung - dem Abgrund entgegen.
Zynikern mag der norwegisch-österreichische Todessprung als Beleg für die völkerverbindende Wirkung des Internet dienen; tatsächlich verwundert eher, wie häufig Todeswillige über krude Web-Seiten weltweit Kontakt zu Gleichgesinnten aufnehmen.
Selbstmordgruppen sind keine Seltenheit im Netz.
So hatte der Norweger seinen Aufruf geschaltet über die Freitod-Propaganda-Seiten von
"alt.suicide.holiday", abgekürzt "a.s.h", Asche. Lebensmüde finden auf den mit Totenköpfen verzierten Seiten - nach der Warnung, es handele sich um eine "ernste Angelegenheit" - allerlei Rechtfertigungshilfen für den Selbstmord, dazu letale Tipps, "wie man
sich effektiv erschießt" oder wie eine "Selbsttötung durch Kohlenmonoxid-Vergiftung"
funktioniert. "a.s.h" feiert sich selbst als "eine Kerze in der Dunkelheit"; wer des Englischen nicht mächtig ist, kann Teile der Website in deutscher Sprache lesen. Die Übersetzung ("Ich hafte für nichts") besorgte ein Helfer mit einem besonders einprägsamen
Internet-Pseudonym: "Mr. Lebensekel". MARTIN WOLF
Wolf, Martin: Asche im Netz, In: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-15807623.html, gefunden am
27.10.2014.
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BLINDDATE ZUM SELBSTMORD
Oslo - Die Osloer Zeitung "Verdens Gang" berichtete am Mittwoch, dass sich eine 19Jährige gemeldet und Internet-Suchanzeigen des toten Mannes nach einem SelbstmordPartner sowie die Verabredung mit der Frau aus Österreich vorgelegt habe.
Die Leichen der Österreicherin und des Norwegers waren am Sonntag von deutschen
Touristen am Fuße des 300 Meter hohen "Prekestolen"-Felsens an einem Fjord im Bezirk Rogaland gefunden worden. Die Felsplatte gilt als eine der beliebtesten Touristenattraktion Norwegens.
Die 19-Jährige berichtete der Zeitung, der Norweger habe Anfang Februar auf Internetseiten für Selbstmordwillige eine Suchanzeige nach einer Freitod-Partnerin in englischer
Sprache aufgegeben. Als sie sich darauf bei ihm per E-mail meldete, erhielt sie den Bescheid, er habe bereits eine Partnerin aus Österreich gefunden. Sie sagte weiter: "Er
wollte aber untersuchen, ob wir nicht alle drei vom Prekestolen-Felsen springen könnten. Es sollte nur sehr bald geschehen."
In einer späteren E-mail sagte der Mann der 19-Jährigen ab, die sich wegen schwerer
Depressionen in psychiatrischer Behandlung befand. "Hoffentlich nimmst Du es nicht
so schwer, aber wir sind uns einig, dass nur wir zwei das hier durchführen wollen", hieß
es in einer weiteren Nachricht wenige Tage vor dem Selbstmord des österreichischnorwegischen Paares. In dem Bericht von "Verdens Gang" hieß es, man habe den EMail-Verkehr selbst überprüft und die Angaben der jungen Frau bestätigt gefunden. Die
Polizei äußerte sich zunächst nicht.
Spiegel online panorama: Blinddate zum Selbstmord, In: http://www.spiegel.de/panorama/internetblinddate-zum-selbstmord-a-65928.html, gefunden am 27.10.2014.
Verena Schulze, Ronny Miersch
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SUIZID
Suizid (von neulateinisch suicidium aus caedes: „Tötung“ und sui: „seiner selbst“, also
sui caedes: „Tötung seiner selbst“), auch Selbsttötung, Selbstmord oder Freitod, ist das
willentliche Beenden des eigenen Lebens, sei es durch beabsichtigtes Handeln oder absichtliches Unterlassen von lebenserhaltenden Maßnahmen, z. B. lebenswichtige Medikamente, Nahrungsmittel oder Flüssigkeit zu sich zu nehmen.
FAKE
Der oder das Fake ist ein englischer Begriff für eine Fälschung, ein Imitat oder einen
Schwindel; im weiteren Sinne auch ein Begriff für den damit verbundenen bzw. versuchten Betrug. Jemand, der etwas Falsches als richtig vortäuscht, wird gelegentlich auch
Faker genannt. Das Wort ist im deutschen Sprachraum erst seit einigen Jahren verbreitet; es ist deshalb bei Jüngeren eher bekannt als bei älteren Menschen. Das Wort ist
auch eine Vokabel im Netzjargon, dem Wortschatz der Menschen, die im Internet auch
schreiben (das heißt nicht nur lesen) bzw. die sich der Internetkultur verbunden fühlen.
PROBLEMATIK DER FREIWILLIGKEIT
Die Bezeichnung Freitod impliziert den Gedanken des freien Willens als Ausdruck des
Selbstbestimmungsrechts des Menschen. Sie wird jedoch in der Psychiatrie abgelehnt,
weil die Entscheidungsfähigkeit einer suizidalen Person aufgrund des präsuizidalen Syndroms stark eingeschränkt ist.
Aus Sicht der Medizin ist der Suizid in vielen Fällen das Symptom einer behandlungsdürftigen psychischen Störung wie einer Depression, bipolaren Störung, Schizophrenie
oder anderer schwerer Krankheiten oder Behinderungen, die der betroffene Mensch
nicht mehr länger ertragen kann. Einigkeit besteht, dass durch erhöhte diagnostische
Bemühungen der Patient zwar besser, aber nicht vollständig geschützt werden kann.
Suizide aus anderen Gründen (z. B. als Konsequenz eines Gesichtsverlustes oder einer
Lebenskrise) sollen dagegen seltener vorkommen.
Unklar ist, ob es einen rationalen Suizid aufgrund philosophischer Erwägungen gibt.
Der Philosoph Wilhelm Kamlah spricht von einem Entschluss zur Selbsttötung nach
reiflicher Überlegung und aus innerer Ruhe und Freiheit heraus.
In begrifflicher Nähe dazu steht der von Alfred Hoche eingeführte „Bilanzsuizid“, die
Selbsttötung nach rationaler Abwägung der Lebensumstände. Bilanzsuizide im Sinne
einer rational kalkulierten Entscheidung entsprechen einem subjektiven Empfinden.
Viktor Frankl spricht sich daher dafür aus, die Bezeichnung Bilanzsuizid ausschließlich
für die Sicht des Betroffenen zu verwenden.
Teilweise wird der Suizid als ein letzter Ausweg eines Menschen aus einem Leben angesehen, das von körperlichem Schmerz und Leiden bestimmt ist, welche sich mit den
Mitteln der Medizin nicht lindern lassen. Wird er dabei von einem Dritten unterstützt,
spricht man von assistiertem Suizid bzw. Sterbehilfe. Die Sterbehilfe wird international
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kontrovers diskutiert und juristisch geregelt. In der Geriatrie und Altenpflege wird sie
im Zusammenhang mit den Begriffen „künstliche Ernährung“ bzw. „Nahrungsverweigerung“ immer wieder thematisiert.
www.wikipedia.de
„Gut. Ich werde, und das ist keine plötzliche Entscheidung, bald Selbstmord begehen.
Ich habe mir das lange überlegt. Mein Entschluss ist gefasst.
Auch wenn sich das für einige vielleicht ein bisschen seltsam anhört,
ich möchte es mit jemandem zusammen tun.“
(Julie – norway.today)
Verena Schulze, Ronny Miersch
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„LET IT BE“ – Der Todestrend
Unbemerkt von ihren Eltern, holen sich Heranwachsende in Internet-Foren Anleitungen zum Selbstmord. Minderjährigen werden tödliche Medikamente angeboten, Fachleute sind alarmiert. Doch deutsche Behörden sehen wenig Anlass zum Handeln.
Hi Leute!", grüßt am 31. Januar, abends um halb sechs, ein Jugendlicher namens "Rizzo" ins Internet-Forum. Einen sieben Meter langen Strick habe er sich gekauft, prahlt
"Rizzo". Es fehle ihm aber eine "Anleitung, wie man sich richtig aufhängt. Kann mir
jemand die Fallhöhe sagen, dass es ziemlich schnell geht?"
Es kann einer: "Damit es schnell geht, sollte die Fallhöhe nicht unter drei Meter sein",
antwortet "Stephan". Ein anderer rät: "Abzüglich Knoten sechs Meter, Deine Körpergröße dazu, etwas Luft unter den Füßen, macht alles zusammen 15 Meter, grob geschätzt."
So zynisch und menschenverachtend geht es Tag für Tag zu in den Suizid-Foren des Internet. Vor allem junge Leute zwischen 13 und 25 Jahren sind dort von Nachmittag bis
weit nach Mitternacht online, sezieren ihre Gemütslage, stellen Fragen zum Freitod, die
alle Besucher der Web-Seiten dann beantworten können.
Im deutschsprachigen Raum gibt es etwa 30 solcher Todes-Foren, weltweit sind es einige
tausend. Allein in den vergangenen drei Monaten registrierten Fachleute mehr als ein
Dutzend versuchter und vollendeter Suizide, die über das Internet befördert, organisiert
und angekündigt wurden.
Einer der wenigen deutschen Experten, die den Todestrend im Netz bislang wahr- und
ernst genommen haben, ist der Psychiater Thomas Bronisch vom Max-Planck-Institut
für Psychiatrie in München. Er sieht "eine bedrohliche Entwicklung, auf die man reagieren muss. Noch haben wir keine Suizid-Epidemie, aber ich rechne fest damit, dass
das kommen wird", prognostiziert Bronisch, der als Sprecher der Arbeitsgemeinschaft
zur Erforschung suizidalen Verhaltens fungiert. Bronisch beklagt, dass es in der Bundesrepublik - im Gegensatz zu anderen Ländern - kein flächendeckendes SuizidVerhütungsprogramm gebe.
Zum ersten bekannt gewordenen, übers Netz verabredeten Todes-Rendezvous kam es im
Februar vorigen Jahres. Daniel V., 24, ein norwegischer Computer-Freak, und die Österreicherin Eva D., 17, hatten sich via Internet zu einem Treffen in Oslo verabredet. Von
dort aus reisten sie nach Südnorwegen und sprangen zusammen von einer Felsenklippe
in den Abgrund.
Seitdem verzeichnen die Internet-Seiten, die aussehen wie schwarze Bretter, immer
mehr Klicks. Allein das "Suizid-, Freitod- und Selbstmord-Forum" erhielt bislang mehr
als 50 000 Zuschriften - und täglich werden es mehr. Etwa 700 fest eingeschriebene
Diskussionsteilnehmer, im Jargon "Stamm-Poster" genannt, debattieren dort stets unter den gleichen Pseudonymen über den einfachsten Weg, sich das Leben zu nehmen.
Dazu kommen noch Tausende von Gelegenheitsbesuchern.
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Auf den Web-Seiten vieler Foren bekommen die Jugendlichen auch genaue Beschaffungstipps. Eine "Pharmafirmen-Linkliste", angelegt von einem 17-Jährigen, führt direkt zu Bestellformularen bei indischen oder philippinischen Online-Apotheken.
Eine 17-Jährige aus Leipzig orderte vergangenen Oktober im bayerischen Freising, angeblich bei einem Arzt, ein todbringendes Medikament in "ausreichender" Menge. Der
Lieferant mit dem Tarnnamen "Albert Einstein" hatte es der Minderjährigen für 820
Mark angeboten. Die Sendung kam - für die Eltern unauffällig - in einem neutralen
Briefkuvert an. Innen lag ein fertig adressierter und frankierter Rückumschlag für das
Geld. Als das Mädchen Probleme hatte, die hohe Summe zu beschaffen, erhielt sie von
dem anonymen Absender prompt eine Mahnung.
Andrea H. aus Hannover war 14 Jahre alt, als sie beim Surfen im Internet irgendwann
auf ein Selbstmord-Forum stieß und sich von den cool daherkommenden Sprüchen der
anderen Chatter anstecken ließ: "Mich hat das sofort fasziniert." Suizid-Gedanken hatte sie damals nicht, nur die alterstypischen Zweifel am Sinn des Lebens. Erst betrachtete
sie das Plaudern im Netz als Spiel; es machte ihr Spaß, mit anderen über ihren Alltagsfrust zu sprechen. Dann aber wurde das Chatten und Posten ernst, zu einer Sucht.
"Ich war zwar bei meinen Eltern in der Wohnung, lebte und wohnte in Wahrheit aber
im Forum." Andrea glaubte, anderen Suizid-Gefährdeten helfen zu können, bekam aber
selbst zunehmend Probleme. Statt in der realen Welt Freunde fürs Leben zu suchen, ließ
sie sich immer mehr auf die Freunde zum Sterben in der virtuellen Welt ein.
Seitdem Johann Wolfgang von Goethes Buch "Die Leiden des jungen Werther" vor 227
Jahren unter Jugendlichen eine regelrechte Suizid-Welle auslöste, diskutieren Psychiater
immer wieder den "Werther-Effekt" - den Kurzschluss vom Reden hin zur Tat. Im Internet, so scheint es, hat dieser Sog eine neue Dimension erreicht: Wer am Sinn seines
Daseins zweifelnd allein im Kinderzimmer stundenlang vor dem Computer sitzt, kann
mit ein paar Mausklicks alles zum Thema Suizid erfahren.
So fragte unlängst auf der Web-Seite eines Todes-Forums ein Stamm-Poster dringend
nach einem Link, unter dem er sein bevorzugtes Gift oder "andere Mittelchen" bestellen könne. Jeden Tag, mitunter alle paar Stunden, suchen schwankende Selbstmordkandidaten Gleichgesinnte, die "mitgehen wollen". Die Ankündigung "Ich gehe" zieht
ganze Gruppen in Bann.
Seit Wochen tragen sich rund 50 Heranwachsende aus Bielefeld, Düsseldorf, Leipzig,
Freiburg, Krefeld und Bamberg mit dem Gedanken, Schluss zu machen. Die Jugendlichen, die den Kern des momentan wohl bekanntesten deutschsprachigen Todes-Forums
bilden, sind kurz davor, "zu gehen". Ihre Post im Netz ("Mailings") liest seit November
die Sektenberaterin Solveig Prass, 34, mit. Sie kämpft in Leipzig in einer - hoffnungslos
unterbesetzten und unterfinanzierten - Beratungsstelle um Kinder, die "destruktiven
Kulten" anhängen.
Am ersten Februarwochenende kündigte ein von Prass betreutes Mädchen im Internet
an, aus 90 Meter Höhe irgendwo in Leipzig in den Tod zu springen. Prass schickte die
Polizei zum einzigen 90-Meter-Punkt in der Stadt, dem Völkerschlachtdenkmal. Dort
fanden die Beamten die 18-Jährige, mit Tabletten voll gestopft. Es war ihr zweiter
Selbstmordversuch.
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Drei Tage später sorgte Prass dafür, dass die Bielefelder Polizei zu einer 25-Jährigen
ausrückte, die ihren bevorstehenden Selbstmord mitgeteilt hatte. Die Ankündigung hatte Prass im Netz mitgelesen. "Das war''s", hatte die junge Frau geschrieben. "Ich kann
nicht mehr, werde mich nicht mehr melden."
Mitte vergangener Woche verabredeten sich mehrere Jugendliche fürs Wochenende zu
einem Gruppenselbstmord. Erstmals schritt daraufhin das Bundeskriminalamt (BKA)
ein, dem der entsprechende Hinweis zugegangen war. Dessen Internet-Experten mühten
sich, die Identität der Jugendlichen zu klären und herauszufinden, wo der Gruppensuizid stattfinden sollte. Bis Mittwochabend hatten sie noch keine heiße Spur.
Organisiert wird die alltägliche Sterbedebatte von so genannten Foren-Mastern. Die
Master haben das jeweilige Passwort der Web-Seite. Nur sie können den Inhalt der Foren bearbeiten und etwa Beiträge löschen. Einer von ihnen ist der 19-jährige Martin S.
Mehrfach täglich geht er online und bekommt dadurch alles mit, was sich im Forum
abspielt. "Das Gefährliche ist", so Martin, "dass viele dort hängen bleiben, auch wenn
es nur eine vorübergehende Phase ist. Die Jugendlichen geraten in einen Sumpf, aus
dem sie oft nicht wieder rauskommen." Es entwickle sich eine sektenähnliche Mischung aus verschworener Clique und avantgardistisch-elitärem Cyber-Clan. "Wer geht
denn heute noch in eine Sekte? Hier im Netz sind die neuen Kultformen längst entstanden", bilanziert der Foren-Master.
Ein Master-Kollege Martins, Markus B., hatte es bereits zur Kultfigur der Foren-Szene
gebracht. Der hochintelligente, temperamentvolle Computerfreak hatte als 16-Jähriger
das Internet entdeckt und war bald in den Suizid-Foren gelandet. Eines betreute er später sogar als Master - bis zu seinem Tod Ende vergangenen Jahres.
Seinen Selbstmord hatte der Vorarlberger seit vorigem Sommer wiederholt angekündigt.
Im Oktober begann er sein Internet-Tagebuch. Einer der ersten Einträge dokumentierte
sein scheinbar normales Leben: "6.30 Uhr Weckerläuten, Zähne putzen, Bus, Schule,
nachmittags PC, ,,Simpsons'' schauen, ,,Big Brother'', 21 Uhr Hausaufgaben, dann
Internet, ins Bett gehen."
Zunächst schwankte er noch bei der Methode: Tabletten, vom Hochhaus springen oder
erschießen? Seinem Tagebuch und den Web-Gefährten vertraute Markus an, wie sehr er
seinem 18. Geburtstag im Oktober entgegenfiebere. In Österreich kann man als Volljähriger eine Schrotflinte kaufen.
Am 2. November fuhr Markus mit dem Bus zum Waffengeschäft: "Der Verkäufer hat
mir wirklich alles gezeigt", schrieb er in sein Tagebuch. "Einläufige Schrotflinten, doppelläufige… Am Ende hat er die Saupatronen erwähnt - die zum Wildschweinetöten. Die
hätten angeblich eine ziemlich hohe Durchschlagskraft." Am 11. November meldete
sich Markus letztmalig im Forum: "Im Waffenladen hat alles geklappt. Heute habe ich
meine Waffe abgeholt (300 DM ist recht günstig). Wenn man eine 12- kalibrige Schrotflinte in der Hand hält, denkt man schon anders über den Tod. Wer sich den Tod durch
Erschießen so heroisch vorstellt, sollte mal wirklich eine Waffe in der Hand halten."
Drei Tage später schloss sich Markus abends in seinem Zimmer ein, stellte den BeatlesSong "Let it be" auf Dauerwiederholung. Die heimkehrenden Eltern wunderten sich
über das Endloslied aus dem Kinderzimmer. Sie fanden ihren Sohn tot; er hatte sich in
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den Kopf geschossen. Die gesamte Forum-Gemeinde hatte die Geschichte eines angekündigten Todes verfolgt, alle hatten auf den Vollzug gewartet.
Trotz der dokumentierten Todesfälle nehmen deutsche Behörden das Problem der Suizid- Foren bislang kaum ernst. So hat denn auch Jürgen Schramm, Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention, den Chatroom längst als blinden Fleck traditioneller Beratungsarbeit vor allem für Jugendliche ausfindig gemacht: "Da ist eine neue
Subkultur mit erheblichem Ausmaß entstanden, auf die kaum jemand vorbereitet ist*."
"Die exhibitionistische Neigung vieler Selbstmordgefährdeter wird durch das Internet
gestützt", konstatiert Albert Lingg, Psychiatriechef im Vorarlberger Landeskrankenhaus
Rankweil. "Suizid-Gefährdete, die professionelle Hilfe brauchen, treffen in den Foren
nur auf andere Hilflose." Wenn sich jugendliche Internet-Freaks vor Freunden abschotten und immer mehr vor dem Computer verkriechen, "müssen bei den Eltern die
Alarmglocken läuten", so Lingg. Erst recht, wenn die Jugendlichen nicht mehr mit sich
reden ließen, gereizt und aggressiv seien. Dann, warnt Lingg, "sollte man das nicht als
Pubertätsflausen abtun, sondern eingreifen und sie vom Computer wegholen".
In Österreich sind Behörden bei der Beobachtung der Foren und Chatrooms weiter als
in Deutschland. Bernhard Otupal, Internet-Experte im Wiener Innenministerium:
"Wenn wir in den Chats Beiträge finden, die auf Gruppendruck hinweisen, ist das nur
die Spitze des Eisbergs."
Innerhalb der Chatrooms gibt es so genannte Flüsterräume - abgeschottete Bereiche, in
denen sich zwei Personen unbelauscht von anderen unterhalten können. Bei solchen
Privatissima setzen sich die Jugendlichen nach Erfahrung von Otupals Experten gegenseitig noch mehr unter Druck. Selbst wenn es der Polizei im Einzelfall doch einmal gelinge, solche "Flüstereien" mitzulesen, klagt Otupal, sei den Belauschten kaum eine
"Beihilfe zum Selbstmord im Sinne des Strafgesetzbuchs nachzuweisen".
In Berlin beschäftigt sich das Familienministerium bisher gar nicht mit den Foren. Es sei
schließlich kein Unterschied, ob das Thema Selbstmord auf dem Schulhof oder im Internet besprochen werde, so Sprecherin Beate Moser. Die zuständigen Experten der
Zentralabteilung "Verdachtsunabhängige Recherche im Internet" des BKA sahen bis
vergangene Woche auch keinen Handlungsbedarf. Suizid sei "nicht strafbar" - und das
Ganze ohnehin "Ländersache".
Die Jugendlichen bleiben sich somit weitestgehend selbst überlassen. Viele wollen den
Absprung, schaffen ihn aber nicht allein. Auf ihrer persönlichen Web-Seite schreibt die
19- jährige "Lil" aus Freiburg im Breisgau, sie werde inzwischen aggressiv, wenn die
Leute im Forum "so viel über Suizid-Methoden schwadronieren". Auch "Lil" möchte
raus aus dem Todesspiel - seit sie bei Markus am Grab stand.
Repke, Irina; Wensierski, Peter; Zimmermann, Felix: Die Frage ist nur: Wie?, In:
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-18578713.html, gefunden am 23.10.2014.
16
CIORAN – DIE PHILOSOPHIE HINTER „NORWAY.TODAY“
In Bauersimas „norway.today“ gibt es etliche philosophische Referenzen und textliche
Einarbeitungen. Im Folgenden sollen kurz die philosophischen Ansätze von Cioran vorgestellt werden, da diese sich teilweise wortwörtlich in „norway.today“ wiederfinden
lassen und ausschließlich von der Figur des August verwendet werden. Außerdem ist die
Frage nach der Vernunft ein wichtiger Bestandteil des Stückes, weswegen auch Kants
„Kritik der reinen Vernunft“ zur Annäherung an den philosophischen Aspekt von
„norway.today“ hilfreich ist.
Emil M. Cioran, 1911 - 1995, Dichterphilosoph, „Privatnachdenker“
Leben ist für mich ein Problem, das ich jeden Tag von neuem lösen muss. Wenn ich
meinen tiefsten Instinkten folgen würde, ich würde von morgens bis abends um Hilfe
schreien.
Alle meine Widersprüche kommen daher, dass es unmöglich ist, das Leben mehr zu lieben, als ich es liebe, und gleichzeitig und fast ununterbrochen ein Gefühl von Ausgestoßensein und Verlassenheit zu haben.
Ich lebe seit Jahren unter mir und bin unglücklich. Aber heute, heute bin ich glücklich.
Vielleicht liegt das wahre Glück nur in der Erkenntnis, sich selbst nicht mehr zu brauchen.
„Der Selbstmord ist als Idee nur dann richtig und interessant, wenn man sie benutzt um
sich nicht zu töten.“
Emil M. Cioran, O-Ton aus einem Radio-Feature, http://www.youtube.com/watch?v=_IWIdeAHQ_g
„Die Idee des Selbstmordes ist eine Hoffnung. Und diese Hoffnung darf man den Menschen nicht wegnehmen. Wenn der Selbstmord nicht existieren würde, ich würde mich
dann absolut töten. Aber die Idee des Selbstmordes war mein ganzes Leben eine Stütze
und ein Kompagnon.“
Emil M. Cioran, O-Ton aus einem Radio-Feature, http://www.youtube.com/watch?v=_IWIdeAHQ_g
"Es lohnt nicht die Mühe sich zu töten, denn man tötet sich immer zu spät."
E. M. Cioran: Vom Nachteil, geboren zu sein, Suhrkamp Verlag, 1993, ISBN 351837049-9, S. 29
„Wie lange noch wird man sich immer wieder und wieder sagen müssen: 'Dies Leben,
das ich so abgöttisch liebe, ist mir ein Greuel!'“
E.M. Cioran: Lehre vom Zerfall. Essays, Hamburg 1953, S. 212
„Sein heißt in der Klemme sein.“
E.M. Cioran: Gevierteilt, Frankfurt am Main 1983, S. 90
„Ich verbringe meine Zeit damit, den Selbstmord schriftlich zu empfehlen und mündlich von ihm abzuraten. Im ersteren Falle handelt es sich nämlich um eine philosophische Lösung; im letzteren um einen Menschen, um eine Stimme, um eine Klage...“
E.M. Cioran: Gevierteilt, Frankfurt am Main 1983, S. 111
„Die größte Leistung meines Lebens besteht darin, noch am Leben zu sein.“E.M. Cioran:
Gevierteilt, Frankfurt am Main 1983, S. 136
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KANT
"Denn Wahrheit oder Schein sind nicht im Gegenstande, so fern er angeschaut wird,
sondern im Urteile über denselben, so fern er gedacht wird. Man kann also zwar richtig
sagen: daß die Sinne nicht irren, aber nicht darum, weil sie jederzeit richtig urteilen,
sondern weil sie gar nicht urteilen."
Kritik der reinen Vernunft, B350
Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr
durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten
kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.
In diese Verlegenheit geräth sie ohne ihre Schuld. Sie fängt von Grundsätzen an, deren
Gebrauch im Laufe der Erfahrung unvermeidlich und zugleich durch diese hinreichend
bewährt ist. Mit diesen steigt sie (wie es auch ihre Natur mit sich bringt) immer höher,
zu entfernteren Bedingungen. Da sie aber gewahr wird, daß auf diese Art ihr Geschäfte
jederzeit unvollendet bleiben müsse, weil die Fragen niemals aufören, so sieht sie sich
genöthigt, zu Grundsätzen ihre Zuflucht zu nehmen, die allen möglichen Erfahrungsgebrauch überschreiten und gleichwohl so unverdächtig scheinen, daß auch die gemeine
Menschenvernunft damit im Einverständnisse steht. Dadurch aber stürzt sie sich in
Dunkelheit und Widersprüche, aus welchen sie zwar abnehmen kann, daß irgendwo
verborgene Irrthümer zum Grunde liegen müssen, die sie aber nicht entdecken kann,
weil die Grundsätze, deren sie sich bedient, da sie über die Gränze aller Erfahrung hinausgehen, keinen Probirstein der Erfahrung mehr anerkennen. Der Kampfplatz dieser
endlosen Streitigkeiten heißt nun Metaphysik.
Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur ersten Auflage.
Verena Schulze, Ronny Miersch
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CIORAN: DASEIN ALS VERSUCHUNG
Aus Aufsatz „Dasein als Versuchung“ (E.M. Cioran, S. 249-251)
Ich erinnere mich, wie ich am Ende meiner Jugend, in düstere Abgründe versunken, einem einzigen Gedanken untertan, in den Dienst aller jener Kräfte trat, die mich
schwächten. Meine anderen Gedanken interessierten mich nicht: nur zu gut wußte ich,
wohin sie mich führten, in welchem Punkte sie zusammentrafen. Da ich im Moment
nur ein Problem hatte, wozu sollte ich mich bei anderen Problemen aufhalten? Ich hörte auf, im Dienste eines Ich zu leben, ich ließ dem Tod freie Hand, mich zu versklaven;
ich gehörte mir nicht mehr. Er übernahm meine Ängste und sogar meinen Namen, er
versetzte seine Sehkraft in meine Augen und ließ mich in allen Dingen die Zeichen seiner Überlegenheit erblicken. In jedem Passanten sah ich einen Kadaver, in jedem Geruch nahm ich die Verwesung wahr, in jeder Freude die letzte Grimasse. Überall traf ich
auf künftige Gehenkte, auf ihre drohenden Schatten: die Zukunft der anderen enthielt
kein Geheimnis für Jenen, der sie aus meinen Augen belauerte. War ich behext? Es gefiel
mir, daran zu glauben. Wenn es so stand, wie sollte ich reagieren? Das Nichts war meine Hostie: alles, was in mir und um mich war, verwandelte sich in Gespenster. Ohne
Verantwortlichkeit, am Gegenpol des Gewissens, lieferte ich mich schließlich der Anonymität der Elemente aus, dem Rausch der Ungeteiltheit, völlig entschlossen, nie wieder
zu meinem eigenen Sein zurückzukehren noch jemals wieder ein zivilisierter Chaosbewohner zu werden.
Ich war unfähig, im Tode den positiven Ausdruck des leeren Raumes zu sehen, die Wirkungskraft, die das Geschöpf erweckt, den Anruf, der in der Allgegenwärtigkeit des
Schlafes widerhallt, doch ich konnte das Nichts auswendig und akzeptierte mein Wissen. Und wie sollte ich auch heute noch die Autosuggestion verkennen, aus der die Welt
entstand? Trotzdem protestiere ich gegen meine Luzidität. Um jeden Preis brauche ich
das Wirkliche. Gefühle empfinde ich nur aus Feigheit; aber ich will feige sein, mir eine
»Seele- auferlegen, mich vom Durst nach dem Unmittelbaren verzehren lassen, meine
Evidenzen zersetzen, eine Welt für mich finden, koste es, was es wolle. Wenn ich keine
finden sollte, würde ich mich mit einem Krümelchen Dasein begnügen, mit der Illusion, daß etwas existiert, vor meinen Augen oder anderswo. Ich wäre der Eroberer eines
Kontinents aus Lügen. Auf den Leim gehen oder zugrundegehen: es gibt keine andere
Wahl. Ebenso wie diejenigen, die das Leben auf dem Umweg über den Tod entdeckt haben, werde ich auf den ersten Schwindel hereinfallen, auf alles, was mich an die verlorene Wirklichkeit zu erinnern vermag.
Das Ding ist, ich hab gar nicht alles gehabt.
Das ist das Ding. Ich weiss nicht. Ich glaub mir kein Wort mehr, irgendwie.
Das Nordlicht heute Nacht. Ich hatte noch nie ein Nordlicht gesehen. Scheisse.
Ich meine, wären wir gestern gesprungen, wir hättens voll verpasst, das blöde Licht.
Gar nichts hab ich gesehen.
(Julie – norway.today)
GRÜNDE, WARUM ES SICH ZU LEBEN LOHNT
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Sarah Laukamp wählte aus den 3657 in der Jugendbeilage „jetzt“ der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten „Gründe, warum es sich zu leben lohnt“ 369 aus, von denen wir
hier nur wenige veröffentlichen können.
Frei sein (theresa kromer), Erdbeeren zum Frühstück – weil es die doch so selten gibt
(anonym), stärker sein als man glaubt (alrun zanker), Du und ich? (sarah), so klug zu
sein , selbst aus Versehen das Richtige zu tun (susanne schneider), an seine Küsse denken (lenchen), finden, was man sucht (kathi), Revoluzzerstimmung (donna), Briefe im
Briefkasten auf denen die Adresse per Hand geschrieben ist (valerie de beaufort), Gedankengeister verscheuchen (veronika), wissen, dass zumindest meine Freunde am
Montag noch da sind (sonja), abends nach dem Regen im See (markus altmann), lachen (jan lübler), auf Bäume klettern (peter e.), jeden Schritt im Sommer genießen
(DAN), die Zeit zwischen Traum und Erwachen (kim), Meeresrauschen (Kerstin Greßnich), das neue Album der Red Hot Chili Peppers morgens im Sonnenschein auf dem
Balkon hören (sabrina), kullernde Abschiedstränen (jot), Sommerregen (julililly), in
den Arm genommen zu werden (tom), die eigene Wohnung und endlich nicht mehr auf
Kommando aufräumen zu müssen (wansy), in den Dünen liegen und Ronja Räubertochter vorgelesen bekommen (jan athmann), statt einem „ich hab dich lieb“ endlich
ein „ich liebe dich“ zu hören (maid), schlafen-essenschlafen-essen (die tine), über den
eigenen Schatten springen (andrea), ehrliche Freunde – wer soll einem denn sonst die
Wahrheit sagen (gabi dietz), den Himmel im Bauch spüren (hendrik), Sonnenuntergang mit Freunden am Meer (katja), Küssetauschen (herand müllerscholtes), Traurige
Lieder hören (kim), endlich gefunden werden (koeniginjule), das Gefühl sich selbst zu
mögen (lena), bei offenem Fenster schlafen und nicht frieren (robby), Frische Wäsche
(christian gracht), Mittendrin statt nicht dabei (boro), träumen um dem grauen Alltag
einen winzigen Moment zu entfliehen so wie damals die Luftschlösser unserer Kindheit
(merle-mareen), Kirschblüten (ria), Bücher lesen zu dürfen und nicht analysieren zu
müssen (stefan wolpert), Wassermelone (bernhard), mit geschlossenen Augen im Park
liegen (henni hensen), einfach die Wahrheit zu sagen auch wenn man Angst hat (matilda), Honigbrot (anna), Kein Opfer sein (nina), lachend aufwachen (dariusch hosseini), wieder jemanden vermissen (frederik), nachdenken (der thilosoph), eine Seifenblase die einem ein paar schöne Momente schenkt, bevor sie spurlos verschwindet (marius
wolf), sich endlich zu trauen ins kalte Meer zu springen (kathi Hampe), zu wissen, dass
es Menschen gibt, die es schaffen mir in jeder traurigen Situation ein Lächeln auf das
Gesicht zu zaubern (sommerschnee), den Wecker eine halbe Stunde früher klingeln
lassen als nötig (grit), weinen können (granini), endlich zu wissen, was ich will (bettina), aufwachende eingeschlafene Füße (lotta7), Sonnenblumen ansähen (sadmirror),
seufzen können (loffer gohl), im strömenden Regen tanzen (vanille) am Strand schlafen (robby), Frau sein (ju la li), man selbst sein (andy), nicht den Mut zu verlieren (katha)
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VOR- UND NACHBEREITUNG - ANREGUNGEN
Die folgenden Übungen dienen zur Vor- und/oder Nachbereitung des Theaterbesuchs.
Sie können die Übungen miteinander kombinieren und selbstverständlich in eine für
Sie sinnvolle Reihenfolge bringen. Zum Verständnis: Die anleitende Person wird in den
Übungsbeschreibungen immer als Spielleiter bezeichnet. Spieler sind diejenigen, die
spielen und experimentieren. Zuschauer sind diejenigen, die für einen Moment eine
beobachtende Funktion einnehmen, Rückmeldungen geben oder aber auch Spielideen
formulieren. Lassen Sie sich inspirieren!
Assoziationskreis
Die Spieler stehen in einem Kreis. Sie als Spielleiter haben einen Ball, den Sie den Spielern zuwerfen. Sie nennen beim Werfen den ersten Begriff zum Beispiel „Kälte“, zu dem
nun jeder, dem der Ball zugeworfen wird eine Assoziation, die ihm spontan zum genannten Begriff einfällt, sagt. Dann wirft dieser den Ball dem nächsten Spieler zu. Die
Antworten zu den verschiedenen Begriffen sollen dabei möglichst spontan genannt
werden, ohne dabei lange zu überlegen. Wenn den Spielern nichts mehr zum Begriff
einfällt, nennen Sie den nächsten Begriff. Vorschläge: Allein sein, Glück, Freitod,
Freundschaft etc.
Achterbahn
Die Spieler gehen durch den Raum. Jeder geht für sich ohne mit den anderen zu sprechen. Die Spieler versuchen den Raum zu jeder Zeit regelmäßig auszufüllen. Der Spielleiter gibt unterschiedliche Impulse, wie zum Beispiel: schleichen, rennen, hüpfen, über
Eis schliddern, stehen, liegen, tanzen etc. in die Gruppe.
Ergänzen Sie die Übung mit folgenden Spielimpulsen:
 Wie bewegst du dich, wenn du durch Schnee stapfst?
 Wie bewegst du dich, wenn du frierst?
 Wie gehst du, wenn du einen Berg besteigst?
 Wie gehst du, wenn du an einer steilen Klippe bist?
 Wie könnt ihr im Raum Höhe darstellen?
Zu diesen Experimenten bringen Sie als Spielleiter verschiedene Stimmungen ein:
 Wie bewegst du dich, wenn du müde bist?
 Wie bewegst du dich, wenn du gelangweilt bist?
 Wie bewegst du dich, wenn du wütend bis?
 Wie bewegst du dich, wenn du traurig bist?
 Wie bewegst du dich, wenn du fröhlich bist?
Aus der Reihe am Abgrund
Die Spieler gehen als Reihe, wie bei einer Polonaise durch den Raum. Die Spieler versuchen ein gemeinsames Tempo zu finden. Was ist schnell? Was ist langsam? Die Spieler
sollen einen Rhythmus finden. Auf ein Signal des Spielleiters löst sich die Polonaise
blitzschnell auf und jeder sucht sich einen Platz im Raum. Dabei gilt es zu beachten, sich
gleichmäßig im Raum zu verteilen, Abstand zu den anderen zu halten. Dieser Ort wird
nun zur Spitze einer Klippe. Die Spieler gucken in den Abgrund.
 Was geht dir durch den Kopf?
 Fang an, die Worte/Sätze, die dir durch den Kopf gehen zu murmeln.
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 Wähle einen Satz aus und rufe diesen in den Raum den anderen Spielern zu.
Mit einem weiteren Signal löst der Spielleiter die Situation auf und die Spieler bilden
wieder eine Polonaise.
Ist doch alles die riesigste Lüge, hier.
Alles Verstellung.
Alle tun so als wären sie wer,
und sind dabei wer ganz anderes nicht.
(August – norway.today)
„Alles Vorstellung“
Die Spieler bilden Paare. Jeder Spieler versucht sich in die Situation einer Person zu versetzen, die ihr Leben beenden möchte und geht dazu in ein Standbild. Es wird eine Dialogszene improvisiert und schließlich wiederholt, wobei jeder Satz mit einem „Alle tun
so…“ beginnt. Die Sätze sollen zu einem sinnvollen Dialog zusammengeführt werden.
Im Anschluss geht der Spielleiter zu jedem Paar und „zaubert“ diese durch berühren an
der Schulter an. Das Paar spricht seinen Satz, so dass die anderen Spieler hören und beobachten können. Dann ist das nächste Paar dran.
Ronny Miersch, Verena Schulze
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Assoziationskreis zum Thema Selbstmord
Die Spieler sitzen in einem Kreis. Der Spielleiter beginnt und schreibt als Oberbegriff
„Selbstmord“ groß auf ein Blattpapier. Die Spieler sollen Begriffe finden, die sie mit dem
Thema Selbstmord assoziieren, diese werden auf dem Blatt festgehalten. Mögliche Assoziationen: Angst, Einsamkeit, Überforderung, Druck, Mobbing, Lebensmüde etc.
Darstellen der Motive im Raum
Die Spieler gehen durch den Raum. Sie formulieren dabei, aus den zuvor gesammelten
Begriffen, Sätze und sprechen diese laut aus: „Ich bin überfordert!“ „Ich habe Angst!“
„Ich fühle mich unter Druck gesetzt!“ etc. Dabei sollen sie auf ihre Mimik, Gestik und
Motorik achten.
 Wie fühlst du dich dabei?
 Würdest du etwas anderes lieber sagen?
 Gibt es einen positiven Gegensatz, den du in die Welt brüllen möchtest?
Im Folgenden finden Sie einige Textausschnitte aus der Bochumer Fassung. Lesen sie die
Szenen gemeinsam, diese können Ausgangspunkt für die szenische Umsetzung sein oder
um sich den Figuren „August“ und „Julie“ zu nähern. Der Text kann auch Grundlage
für eigenes kreatives oder szenisches Schreiben sein. Im Weiteren finden Sie einige
Ideen.
Textausschnitte aus „norway.today“
AUGUST
Ich möchte mit dir kommen.
JULIE
Moment. Ich hab 'ne Frage. Wenn du sie richtig beantwortest, überleg
ich's mir.
AUGUST
Ist das dein Ernst, jetzt?
JULIE
Ich kenn dich doch nicht. Vielleicht bist du irgend so ein Perverser.
AUGUST
Ja.
JULIE
Bist du so einer?
AUGUST
Nein.
JULIE
Gut, wenn Ihr da draussen mit raten wollt, könnt Ihr das natürlich tun.
Also, bereit? Vernunft. Was ist das?
AUGUST
Was?
JULIE
Ja.
AUGUST
Ja?
JULIE
Das ist die Frage. Lass dir Zeit.
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AUGUST
Vernunft? Was ist Vernunft? Vernunft ist krank. Weiss doch jeder.
JULIE
Ist das alles?
AUGUST
Weiss nicht.
JULIE
AUGUST
Weiss sonst einer was? Keine Ahnung? Ja? Nein. Vernunft?
Ja. Ich weiss nicht. Ist für jeden was anderes. Also, zum Beispiel finde
ich es vernünftig, mich umzubringen, und ein anderer nicht. Da war
doch dieser Philosoph, der hat sich also nicht umgebracht, zum Beispiel, aber der hat rausgefunden, dass wir Augen haben, um nicht zu sehen, und Ohren um nicht zu hören. Wie hiess der nochmal? Also der
sagt, dass sich die Vernunft auf diese Augen, die nicht sehen, und diese
Ohren, die nicht hören, verlässt. Und deshalb sei Vernunft ein unvernünftiges Konzept. Ist relativ weltberühmt. Das war ungefähr einer der
Grössten. Keine Ahnung... der hieß irgendwie...
JULIE
Wenn du willst, nehm ich dich mit.
AUGUST
Ich kann da fast nicht runterschauen.
JULIE
Dann schau nicht hin.
AUGUST
Ich glaub immer, ich spring gleich runter, an so einem Ort. Seit immer
schon. Hast du das auch?
JULIE
Ja.
AUGUST
Aber so hoch war ich noch nie.
JULIE
600 Meter.
AUGUST
Ich hab nachgeschaut, im Netz. Die durchschnittliche Geschwindigkeit
eines bekleideten Menschen in freiem Fall ist zwischen 190 und 205
km/h, das sind also ungefähr 55 Meter pro Sekunde. Das macht dann...
600... also zusammen mit der Beschleunigungsphase sind das etwa 10
Sekunden Fallzeit.
JULIE
So ungefähr.
AUGUST
Du hast dir das schon ausgerechnet, was? Was machst du in den zehn
Sekunden?
JULIE
Fallen.
24
AUGUST
Ach.
JULIE
Und tot sein.
AUGUST
Das ist alles?
JULIE
Zehn Sekunden tot sein. Ja. Ich lasse mich einfach gehen, und es gibt
nichts mehr. Du hast alles abgegeben, deine Trauer, deine Freude, deinen Hass, deine Liebe, deinen miesen Charakter, die Verantwortung für
dein Altpapier. Einfach alles. Unser Kontinent produziert vierzig Millionen Tonnen Scheisse pro Tag, und es ist absolut nicht dein Problem. Die
absolute, unendliche Freiheit. Du nimmst alles wahr, für ein paar Sekunden, aber es gibt kein Zurück. Und dann bist du weg.
AUGUST
Und dein Gedächtnis. Was machst du mit deinem Gedächtnis? Du
kannst doch nicht einfach alles vergessen.
JULIE
Los, bringen wir's zu Ende.
Kamera läuft.
JULIE
Bereit? Hallo Mutter, hallo Vater, hallo Oma, hallo Rune. Wie ihr seht,
bin ich hier an diesem Ort, wo... was denn?
AUGUST
Willst du das "bereit" mit drauf haben?
JULIE
Natürlich nicht.
AUGUST
Dann nochmal. Warte.
JULIE
Du fängst erst an, nachdem ich o.k. sage. O.k.? -O.k. ...Hallo Mutter,
hallo Vater, hallo Oma, hallo Rune. Ja... wie ihr seht, bin ich hier an
diesem Ort, wo wir mal zusammen waren, als ich noch klein war, und
du, Vater, hast mich da an den Füssen gehalten, damit ich runterschauen konnte, in den Abgrund, weil du Angst hattest, dass ich runterfalle.
Ich bin heute hier, weil ich das nachholen will. Ich werde heute da runterspringen. Das heisst, ich bin eigentlich tot schon. (Sie versucht, das
Lachen zu verbergen.) In diesem Moment, wo ich das zu euch sage, bin
ich tot. (Sie lacht.) Ist eine irre Vorstellung, das könnt ihr mir glauben.
(Sie lacht immer mehr.) Aber das wisst ihr ja bereits. Weil ihr sonst dieses Video... also... Scheisse, jetzt hab ich den Faden verloren.
AUGUST
Ich mach mal aus, ja?
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AUGUST
Leben ist für mich ein Problem, das ich jeden Tag von neuem lösen
muss. Wenn ich meinen tiefsten Instinkten folgen würde, ich würde
von morgens bis abends um Hilfe schreien.
AUGUST
Alle meine Widersprüche kommen daher, dass es unmöglich ist, das
Leben mehr zu lieben, als ich es liebe, und gleichzeitig und fast ununterbrochen ein Gefühl von Ausgestossensein und Verlassenheit zu haben.
AUGUST
Ich lebe seit Jahren unter mir und bin unglücklich. Aber heute, heute
bin ich glücklich. Vielleicht liegt das wahre Glück nur in der Erkenntnis, sich selbst nicht mehr zu brauchen.
Kamera aus. JULIE ist begeistert.
JULIE
Amen. Das war genial!
AUGUST
Scheisse...
JULIE
Du bist ein Poet. Woher nimmst du sowas?
Ich war ganz gerührt.
AUGUST
War geklaut.
JULIE
Geklaut? Ist doch egal, nein?
AUGUST
Nein. Das war geklaut, das zählt nicht. Ich will was Eigenes sagen.
Verena Schulze, Ronny Miersch
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Heißer Stuhl
Ein Spieler setzt sich als „Julie“ oder „August“ auf einen Stuhl, der vor der restlichen
Gruppe steht. Die Zuschauer beginnen nun Fragen zu stellen. Antworten kann derjenige, der auf dem Stuhl sitzt, aber auch ein anderer Spieler, der sich stellvertretend hinter
den Sitzenden stellt und für ihn antwortet. Es gibt kein Richtig oder Falsch, auch widersprüchliche Aussagen werden akzeptiert. Ziel ist, die Figuren mit einem biografischen
Hintergrund auszustatten.
Kreatives Schreiben
Sätze aus dem Stück werden auf dem Boden verteilt. Die Schüler laufen umher und
sprechen die Sätze in verschiedenen Stimmungen. Sie suchen sich einen Satz aus und
bekommen Stift und Papier. Sie werden aufgefordert, zu dem ausgesuchten Satz alles
aufzuschreiben, was ihnen in den Sinn kommt und zwar völlig ungefiltert. Das können
Stichwörter oder Sätze sein. Wichtig ist, einfach loszuschreiben, ohne den Stift abzusetzen. Fällt einem nichts ein, wiederholt er das letzte Wort so lange, bis sich wieder ein
Gedanke einstellt. Nach 8 bis 10 Minuten wird gestoppt. Das Geschriebene soll nicht
korrigiert werden.
Haiku
Um dem eigenen geschriebenen Text eine weitere Form zu geben, kann ein Haiku entwickelt werden. Ein Haiku besteht aus drei Zeilen. Die erste Zeile ist 5-sielbig, die zweite 7silbig und die dritte ist 5-silbig. Die Gedichte können Ausgangsmaterial für kleine Collagen o. ä. sein.
Fragen und Eindrücke
Die Spieler notieren auf einem großen Plakat in Stichworten alle Eindrücke und Fragen
zur Inszenierung. Zum Beispiel zu:
 Was hat dir gut gefallen?
 Was hat dir weniger gut gefallen?
 Einsamkeit, Isolation, Gesellschaftsdruck. Selbstmordgedanken: Kennst du das
auch? In welchen Momenten hast du diese Gedanken und Gefühle?
 Kannst du das Handeln von Julie und August verstehen?
 Was ist für dich nachvollziehbar und was nicht?
 Inwiefern sind August und Julie gegensätzlich?
 Welche Rolle spielt das Internet und welchen Platz nimmt es in meinem Leben
ein?
 Was war für dich das schönste Bild der Inszenierung?
 Was war für dich das fragwürdigste Bild der Inszenierung?
 Welches ist für dich das beeindruckenste Bild der Inszenierung?
Schreibauftrag
Die Spieler bilden Paare. Einer ist Julie der andere August. Julie und August treffen sich
im Chat wieder, nachdem sie in Norwegen waren. Was schreiben Sie sich? Entwickelt
einen Dialog.
27
Warum es sich zu leben lohnt!
Die Spieler bilden kleine Gruppen. Jede Gruppe schreibt 10 Dinge auf, warum es sich
lohnt zu leben. Gemeinsam entwickeln die Spieler zu jedem Satz ein Standbild und bauen diese fließend hintereinander. Die Standbilder werden präsentiert und können im
Anschluss diskutiert werden.
Verena Schulze, Ronny Miersch
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QUELLEN- UND LITERATURHINWEISE
Wolf, Martin: Asche im Netz, In: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d15807623.html, gefunden am 27.10.2014.
Spiegel online panorama: Blinddate zum Selbstmord, In:
http://www.spiegel.de/panorama/internet-blinddate-zum-selbstmord-a-65928.html,
gefunden am 27.10.2014.
www.wikipedia.de.
Repke, Irina; Wensierski, Peter; Zimmermann, Felix: Die Frage ist nur: Wie?, In:
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-18578713.html, gefunden am 23.10.2014.
Cioran, Emil M., unterschiedliche Quellen, u.a. Auszüge aus dem Aufsatz: Dasein als
Versuchung.
Kant, Auszüge aus: Kritik der reinen Vernunft.
Laukamp, Sarah: Gründe, warum es sich zu leben lohnt, In: jetzt- der Jugendbeilage der
Süddeutschen Zeitung (eingestellt).
SERVICE: Theater & Schule
Vor - und Nachbereitungen: Sollte das Material Sie neugierig gemacht haben, so
unterstützen wir Sie gerne bei einer Vor- oder Nachbereitung an Ihrer Schule.
Nachgespräche: In den Nachgesprächen haben Sie Gelegenheit mit dem Produktionsteam ins Gespräch zu kommen. Wir sind gespannt auf die Eindrücke, Gedanken
und die Kritik unserer Theaterbesucher!
COLUMBUS: Wir geben SchülerInnen ab der 8. Klasse die Möglichkeit, sich mit Lust
und Neugier in die Welt des Theaters zu begeben und dabei zu entdecken, was auf der
Bühne alles möglich ist. Im Zentrum von Columbus stehen zwei Vorstellungsbesuche
pro Spielzeit sowie ein umfangreiches theaterpädagogisches Angebot.
Fortbildungen: Die Fortbildungen für Pädagogen bieten einiges: Theaterpädagogisches
Handwerk für die Praxis, Gewaltprävention und Biografisches Theater.
Theaterscout: Wem es die Welt des Theaters angetan hat, kann aktiv werden und in
seinem Umfeld über unser Programm informieren und als Scout Teil des Theaters werden.
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Informationen: In regelmäßigen E-Mails informieren wir Sie über die aktuellen
Projekte des Jungen Schauspielhauses, über theaterpädagogische Veranstaltungen, laufende Inszenierungen und unser Fortbildungsangebot. Falls Sie diese Informationen erhalten möchten, melden Sie sich gerne bei uns: [email protected]
Ausführliche Informationen erhalten Sie selbstverständlich auf unserer Homepage:
www.schauspielhausbochum.de
Bei Interesse an unseren Angeboten, setzen Sie sich bitte frühzeitig mit unserer Theaterpädagogik in Verbindung.
IMPRESSUM
Herausgeber: Schauspielhaus Bochum
Intendant: Anselm Weber
Kaufmännische Direktorin: Brigitte Käding
Internet: www.schauspielhausbochum.de
Redaktion: Tobias Diekmann, Franziska Rieckhoff
Herausgabedatum: November 2011, überarbeitet.: Oktober 2014
Verena Schulze, Ronny Miersch

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