Zeitverzögertes logistisches Wachstum
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Zeitverzögertes logistisches Wachstum
Zeitverzögertes logistisches Wachstum www.sustainicum.at Hans Peter Aubauer <[email protected]> Universität Wien, Februar 2013 Zeitverzögertes logistisches Wachstum Diese Hintergrundinformation mit Aufgaben ist Teil einer Serie von sechs Bausteinen der SUSTAINICUM-COLLECTION: • • • • • • Vom logistischen Wachstum zur Ressourcenwende – Übersicht Logistisches Wachstum ohne Zeitverzögerung Zeitverzögertes logistisches Wachstum Optimale Bevölkerung Technischer Fortschritt Ressourcenwende Das logistische Wachstum ohne Zeitverzögerung bleibt immer positiv: Im Baustein „Logistisches Wachstum ohne Zeitverzögerung“ (http://www.sustainicum.at/de/modules/view/77.Logistisches-Wachstum-ohneZeitverzgerung) wurde ein Wachstum von Tier- und Pflanzenarten diskutiert, das innerhalb der von der Natur gesetzten Tragfähigkeitsgrenzen bleibt, weil sie es ohne zeitliche Verzögerung sofort umso mehr bremsen, je näher die Individuenzahl ihrem Maximalwert (der Tragfähigkeit) kommt. Das Wachstum endet, sobald die Tragfähigkeitsgrenze erreicht ist. Diese wird nie überschritten. Das gilt für das Wachstum vieler Tier- und Pflanzenarten, wie beispielsweise den Schafen. Eine zeitverzögert logistisch wachsende Größe oszilliert um einen Mittelwert: Es gibt aber auch Ausnahmen des Wachstums der Anzahl lebender Wesen, wenn die Tragfähigkeitsgrenzen dieses Wachstum nicht gleich, sondern erst nach einer zeitlichen Verzögerung T>0 drosseln. Dann überschreitet die Individuenzahl die Tragfähigkeit (den Mittelwert der Individuenzahl), um danach unter diese zusammenzubrechen. Dies ist bei Nagetieren, wie etwa den Lemmingen der Fall, wie dies das Bild 1 zeigt. –1– Bild 1: Die beobachtete Lemmingpopulation aus Kanada (Individienzahl pro Hektar) ist voll gezeichnet, während die mit der zeitverzögerten logistischen Funktion (und einer Zeitverzögerung von T=0,72 Jahren) der Gleichung 2 berechnete Lemmingpopulation strichliert dargestellt ist (Shelford 1943). Das Wesentliche des zeitverzögerten logistischen Wachstums einer Anzahl N(t) von Individuen besteht darin, dass sie auch dann weiter wächst, wenn sie die Tragfähigkeit R bzw. ihren maximalen Wert erreicht, die die Natur des Gebietes dauernd (im Mittel) tragen kann, in dem sie leben. Die Tragfähigkeit R gleicht dabei der über genügend lange Zeit gemittelten Population N(t). Die Geburtenrate übersteigt die Sterberate immer noch, obwohl die Nahrungsmenge bereits auf das Existenzminimum gesunken ist. Die Individuenzahl N(t) überschreitet die Tragfähigkeit [N(t)>R] bei den Lemmingen sehr stark (schließlich um mehr als das Dreifache) und senkt die für ein Individuum nutzbare Nahrungsmenge immer mehr unter das Existenzminimum. Dadurch steigt die Sterberate schließlich bis zur Geburtenrate, so dass die Individuenanzahl N(t) zusammenbricht. Dabei sinkt sie nicht „sanft“ (oder asymptotisch) auf die Tragfähigkeit ab, wie dies bei der logistischen Funktion ohne Zeitverzug der Fall ist, wenn die anfängliche Individuenzahl N(t=0)=N(0) bzw. der Anfangswert die Tragfähigkeit überschreitet: N(0)>T. Stattdessen bricht die Zahl der Lemminge N(t) unter die Tragfähigkeit R zusammen und erreicht nahezu den Wert null. Wieder reagiert die Lemmingpopulation träge und mit einer Zeitverzögerung. Während der Periode, in der die Lemmingpopulation N(t) die Tragfähigkeit R überschritten hatte, wurde die Grasweide überweidet, sodass ihr Ertrag sank. Mit der sehr klein gewordenen Lemmingpopulation N(t) erholt sich die Weide wieder, aber erst nach einigen (etwa zwei) Jahren (Bild 1). Der Weideertrag steigt und trifft auf wenige Lemminge, die nun wiederum mit ausreichend viel Nahrung versorgt sind. Dadurch vermehren sie sich wieder rasch, wie vor einigen (etwa vier) Jahren und schließen den Zyklus. Die mathematische Beschreibung des zeitverzögerten logistischen Wachstums durch die „Zeitverzögerte logistische Funktion“: In der Gleichung 1 des Bausteins „Logistisches Wachstum ohne Zeitverzögerung“ (http://www.sustainicum.at/de/modules/view/77.Logistisches-Wachstum-ohneZeitverzgerung) wurde die folgende Logistische Funktion eingebracht: dN(t) N(t) . =c ⋅ N(t) ⋅ 1 − dt R (1) Das zyklische Verhalten der Anzahl N(t) an Lemmingen kann durch diese Funktion beschrieben werden, wenn die zeitliche Verzögerung T in ihren zweiten Faktor auf der rechten Seite eingebracht wird. dN(t) N(t − T) =c ⋅ N(t) ⋅ 1 − . dt R –2– (2) Denn das Herdenwachstum dN(t)/dt auf der linken Seite der Gleichung 2 reagiert einerseits ohne Zeitverzug auf die Herdengröße [N(t) auf der rechten Seite] und andererseits mit einer Verzögerung um die Periode T auf die Naturressourcen- bzw. Nahrungsverknappung. Im Grenzfall ohne Verzögerung (T=0) ist diese Gleichung 2 gleich der Gleichung 1. Das Bild 1 zeigt die (nur als numerisch mögliche) Lösung dieser Differentialgleichung berechnete Lemmingpopulation N(t) gestrichelt mit einer Zeitverzögerung von T=0,72 Jahren, während die beobachtete Population voll gezeichnet ist. Das Beispiel der Räuber-Beute-Systeme: Ein zeitlich verzögertes logistisches Wachstum entsteht auch bei der Population von Raubtieren (Fleischfressern oder Karnivoren), deren Nahrung Beutetiere (meistens Pflanzenfresser oder Herbivoren) sind, die sie erjagen. Die Tragfähigkeit R der Räuber liegt bei einer Anzahl, die alljährlich genau so viele Beutetiere erjagen kann, als nachwachsen. Üblicher Weise erjagen die Räuber aber mehr Beute, als nachwächst. Dies ist vorübergehend, aber nicht auf Dauer möglich. Als Folge wächst die Population der Räuber N über ihre Tragfähigkeit R hinaus. Die Geburtenrate der Räuber benötigt einige Zeit, um auf ihre Sterberate zu sinken und übersteigt sie immer noch, auch wenn sie bereits mehr Beutetiere erjagen, als nachwachsen, also die Tragfähigkeit ihres Lebensraumes bereits überschritten haben. Die Räuber fallen ja nicht sofort tot um, wenn sie unterernährt sind. Ihre Anzahl sinkt erst, wenn sie erheblich weniger Beute erjagen können, als sie zum Überleben brauchen und sie wächst erst wieder bei einem Beuteüberschuss, so dass sich der Zyklus wiederholt. Dies ist im Bild 2 am Beispiel der Luchse gezeigt, die Schneehasen erbeuten. Die Anzahl an Luchsen wächst (sinkt) immer dann, wenn sie klein (groß) im Vergleich zur Anzahl an Schneehasen ist. Bild 2: Reales Verhalten eines Räuber-Beute-Systemes. Aufzeichnungen der Hudson-Bay-Company über den Eingang von Luchs- und Schneehasenfellen 1 Im Jahr 1925 haben Lotka 2 und im Jahr 1926 unabhängig davon Volterra 3 die Wechselwirkung von zwei Populationen mathematisch (durch zwei gekoppelte nichtlineare Differentialgleichungen erster Ordnung) beschrieben 4, von deren eine sich Nach Kormondy: Concepts of Ecology, Englewood Cliffs, N.J. 1976); <http://www.geo.unizh.ch/~kaeaeb/e&mimage/rbreal.gif> 2 Alfred J. Lotka: Elements of Physical Biology (1925), S.115; <http://archive.org/stream/elementsofphysic017171mbp#page/n0/mode/2up>. 1 Vito Volterra: Variazioni e fluttuazioni del numero d'individui in specie animali conviventi. In: Mem. R. Accad. Naz. dei Lincei. Ser. VI, vol. 2, 31-113. 3 4 <http://de.wikipedia.org/wiki/Lotka-Volterra-Gleichungen> –3– von der anderen ernährt. Das Ergebnis fasst die ersten zwei von drei Lotka-VolterraRegeln 5 zusammen: 1. „Die Populationsgrößen von Räuber und Beute schwanken periodisch. Dabei folgen die Schwankungen der Räuberpopulation phasenverzögert denen der Beutepopulation. Die Länge der Perioden hängt von den Anfangsbedingungen und von den Wachstumsraten der Populationen ab.“ 2. Die über genügend lange Zeiträume ermittelten Mittelwerte der Räuberbzw. Beutepopulation sind konstant. Sie hängen nur von den Wachstums- und Rückgangsraten der Populationen, nicht aber von den Anfangsbedingungen ab.“. Im Grunde trifft diese Erklärung auch für die Lemminge zu, deren „Beute“ das nachwachsende Gras ist. Das Beispiel des menschlichen Bevölkerungswachstums: Besonders groß ist die Zeitverzögerung bei Menschen 6. Mit Hilfe der Ausbeutung der Vorräte an Ressourcen, deren Menge ja begrenzt ist, sodass sie sich mit der Zeit erschöpfen, gelingt ihr das Wachstum ihrer Population weit über die Tragfähigkeit des Erdplaneten für Menschen, die durch den begrenzten Ertrag der erneuerbaren Ressourcenquellen determiniert ist. Das Wachstum der Anzahl an Menschen lässt sich daher nur unvollständig mit dem zeitverzögert logistischen Wachstum, etwa der Lemminge oder Räuber vergleichen. Denn Tiere können nur nachwachsende Ressourcen (bei Lemmingen das Gras und bei Räubern die Beutetiere) nutzen. Deswegen beeinträchtigen sie den Ressourcenertrag nur vorübergehend, während ihre Anzahl die Tragfähigkeit überschreitet. Beispielsweise erholt sich die Weide wieder vollständig nach dem Zusammenbruch der Anzahl an Lemmingen. Bei Menschen ist dies nicht der Fall. Vor allem seit der industriellen Revolution im neunzehnten Jahrhundert beuten Menschen nicht erneuerbare Ressourcenvorräte zusätzlich zur Nutzung erneuerbarer Ressourcenquellen aus. Die erneuerbaren Ressourcenquellen werden dabei nicht geschont und zusätzlich beeinträchtigt. Denn Vorräte unterscheiden sich grundsätzlich von Quellen. Quellen kann alljährlich nur eine begrenzte Ressourcenmenge entnommen werden, dafür aber auf Dauer. Die Vorräte der Bodenschätze können dagegen anfänglich eine weitgehend unlimitierte Ressourcenmenge liefern, aber nur vorübergehend. Auch bei den Menschen bestimmt der Ertrag an nachwachsenden Ressourcen der Quellen die Tragfähigkeit R. Auch wenn alle am Existenzminimum leben würden, könnte die Natur auf Dauer nicht mehr Menschen tragen als diesen Ertrag, geteilt durch die zum Überleben gerade notwendige Mindestressourcenmenge. Bis zur industriellen Revolution hat dieser Ertrag R (im Wesentlichen der Nahrungsertrag der Boden- und Wasserflächen) die Menschheitsgröße kontrolliert. Die Sterberate richtete sich mit einer Zeitverzögerung nach der sehr hohen Geburtenrate und diese wiederum nach dem von Jahr zu Jahr schwankenden Nahrungsertrag. Die Ausbeutung der Bodenschätze ermöglicht aber eine vorübergehende Ausschaltung dieser Kontrolle. So konnte der landwirtschaftliche Ertrag mit Agrarchemikalien und Agrartechniken vervielfacht (etwa verfünffacht) werden, die den Einsatz nicht erneuerbarer fossiler Energie benötigen. Mit der Hilfe der erschöpflichen Bodenschätze wuchs das Produkt aus der Anzahl an Menschen und aus ihrem Ressourcenverbrauch extrem weit über die Tragfähigkeit hinaus, so dass diese selbst sinkt und zwar dauerhaft. So hat sich die Erosion der Böden, das Artensterben, die Destabilisierung natürlicher Kreisläufe, wie des Klimas seit der industriellen Revolution vervielfacht. Die Natur erholt sich davon auch innerhalb von tausenden Jahren nicht, das heißt in Zeiträumen, die für <http://de.wikipedia.org/wiki/Lotka-Volterra-Regeln> H. Haberl, H. P. Aubauer: Simulation of human population dynamics by a hyperlogistic time-delay equation; Journal of Theoretical Biology, Volume 156, Issue 4, 21 June 1992, Pages 499–511. 5 6 –4– die menschliche Kultur relevant sind. Die Menschheit wächst daher schneller und stärker über die Tragfähigkeit, als dies eine zeitverzögerte logistische Funktion beschreiben kann und die Gefahr ihres Zusammenbruches ist größer, als diese vermuten lässt. Wenn daher nicht rasch genug freiwillig geplante Maßnahmen zur Reduktion des Gesamtressourcenverbrauches (des Ressourcenverbrauches der Menschen und des Zuwachses ihrer Anzahl) auf die Tragfähigkeit R getroffen werden, droht ein erzwungener und chaotischer Zusammenbruch der Bevölkerung und ihres Verbrauches weit unter die Tragfähigkeit R. Ein dynamisches Diagramm des zeitverzögerten logistischen Wachstums: Das unter http://www.sustainicum.at/files/projects/78/de/anim/ aufzurufende dynamische Diagramm zeigt den Verlauf des kontinuierlichen logistischen Wachstums mit Zeitverzögerung der Gleichung 2. Dabei ist N(t) die Zahl der Individuen (Populationsgröße) in einem Gebiet, das maximal R Individuen tragen kann, zur Zeit t. Beginnend mit einem Anfangswert N(0), wird die Dynamik von der Wachstumsrate c und der Verzögerungszeit T gesteuert. Das Modell wird durch die Differentialgleichung dN(t) N(t − T) =c ⋅ N(t) ⋅ 1 − dt R (3) beschrieben. Sie sehen eine grafische Darstellung der Abhängigkeit des Verhältnisses N(t)/R von der Zeit t, wobei Sie die Werte der Parameter N(0)/R, c und T durch Klick auf die Buttons - und + (in kleinen Schritten) bzw. -- und ++ (in größeren Schritten) ändern oder direkt in die Anzeigefelder eingeben können. Aufgaben für Studierende Verwenden Sie zur Bearbeitung neben den oben beschriebenen Inhalten auch das genannte dynamische Diagramm! 1) Oberhalb welcher Zeitverzögerung, konkret oberhalb welches Wertes des Produktes (c.τ) in der Animation der Anzahl der Individuen N(t) als Funktion der Zeit t, oszilliert N(t)/R für den Grenzfall großer Zeiten t schließlich periodisch um den Wert N(t)/R = 1, wie eine ungedämpfte Schwingung? Lösung: Wenn das Produkt (c.τ) zumindest größer als 1,7 ist (c.τ>1), kommt es zur so genannten Hopf-Verzweigung: Die Anzahl der Individuen N(t) oszilliert periodisch um den Wert (die Tragfähigkeit) R [oder der Quotient N(t)/R um den Wert 1], wie dies beim Beispiel der Lemminge im Bild 1 der Fall ist. Unter dem Wert des Produktes (c.τ) von 1,5 [(c.τ)<1,5] nähert sich die Anzahl N(t) für große Zeiten t dem Wert (der Tragfähigkeit) R (oder der Quotient N(t)/R dem Wert 1), wie eine gedämpfte Schwingung? 2) Die Periode P der zyklischen (gedämpften oder ungedämpften) Schwingung von N(t)/R um den Wert 1 wächst mit der Zeitverzögerung bzw. mit der Größe des Produktes (c.τ) . Innerhalb welches Interwalls liegt das Verhältnis von P/(c.τ)? Lösung: Das Verhältnis v von P/(c.τ) liegt zwischen 4 [bei kleinen Werten von (c.τ)] und 5,5 [bei grossen Werten von (c.τ)]. Konkret ergibt sich ein v=P/(c.τ)=4,03 für –5– (c.τ)=1,6; ein v=4,09 für (c.τ)=1,7; ein v=4,18 für (c.τ)=1,8; ein v=4,29 für (c.τ)=1,9; ein v=4,4 für (c.τ)=2; ein v=4,54 für (c.τ)=2,1; ein v=4,71 für (c.τ)=2,2; ein v=4,9 für (c.τ)=2,3; ein v=5,11 für (c.τ)=2,4 und ein v=5,36 für (c.τ)=2,5. 3) Leiten Sie bitte das Verhältnis vn=N(max)/N(min) der maximalen Anzahl von Individuen N(max) und der darauf folgenden minimalen Anzahl von Individuen N(min) für N(0)/R<0,1 und eine vom Ihnen gewählte Zeitverzögerung bzw. des Produktes (c.τ) aus der Animation ab? Lösung: vn=1 für (c.τ)<=1,57; vn=2,56 für (c.τ)=1,6; vn=5,76 für (c.τ)=1,7; vn=11,6 für (c.τ)=1,8; vn=22,2 für (c.τ)=1,9; vn=42,3 für (c.τ)=2; vn=84,1 für (c.τ)=2,1; vn=178 für (c.τ)=2,2; vn=408 für (c.τ)=2,3; vn=1040 für (c.τ)=2,4 und vn=2930 für (c.τ)=2,5. 4) Welchen Einfluss hat die Wahl eines Anfangswertes N(0), der größer als null ist [N(0)>0], auf die Abhängigkeit der Individuenzahl N(t) von der Zeit t? Lösung: Sobald der Anfangswert N(0) größer als null ist, beeinflusst er nur die erste Schwingung und nicht die folgenden. 5) Was passiert, wenn der Anfangswert N(0) gleich null ist [N(0)=0] und warum? Lösung: Ein Anfangswert N(0) gleich null [N(0)=0] bringt auch eine Individuenzahl N(t), die für alle Zeiten t gleich null ist [N(t)=0 für alle t]. Wenn es anfänglich keine Individuen gibt, können sie sich auch nicht vermehren. –6–