Die schwarze Witwe

Transcription

Die schwarze Witwe
Die schwarze
Witwe
von Hermann Reidt
Aus der Jumbo-Reihe des Aussaat Verlag
GmbH • Wuppertal (Heft 25)
Was hatte Frank in der Zeitung gelesen?................................................. 4
Ein rätselhaftes Gift ................................................................................. 7
Der Fall Günther Brassen ........................................................................ 8
Was Dr. Arber gesagt hat......................................................................... 9
Frank reimt sich etwas zusammen......................................................... 12
Frank fasst einen Entschluss.................................................................. 14
Detektiv auf leisen Sohlen ..................................................................... 14
Ein Mitwisser......................................................................................... 15
Kriminalrat Kranz schaltet sich ein ....................................................... 18
Weiß Gernot mehr als er sagte?............................................................. 22
Günthers letzte Stunden......................................................................... 24
Der Kriminalrat gibt eine Erklärung...................................................... 25
„Die Fliegen! Die Fliegen!"................................................................... 27
„Du, Fred, warte noch einen Augenblick, ich muss die Zeitung noch
mitnehmen", rief Frank seinem Klassenkameraden zu, als er aus dem
Schienenbus sprang und auf den Zeitungsträger zulief, dem der Schaffner gerade einen Packen „General-Anzeiger" aus dem Führerstand entgegenreichte.
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Jeden Tag nahm Frank die Zeitung gleich vom Bahnhof mit, weil er sich
damit das Trägergeld verdiente, das sonst der Zeitungsmann von seiner
Mutter bekommen hätte. „Fünfzig Pfennig mehr Taschengeld im Monat
und vor allem Interessantes für den Weg nach Hause!" sagte er immer,
wenn sein Freund einmal ungeduldig wurde.
Inzwischen setzte sich der Schienenbus wieder in Bewegung und war
bald hinter einer Baumgruppe verschwunden. Das kleine Landstädtchen,
in dem die beiden Freunde wohnten, bestand größtenteils aus Höfen und
Kotten und im übrigen aus ein paar krummen Straßenzügen mit Geschäften und Werkstätten. Viel los war hier nicht. Da war es schon anders in der Großstadt, wo die beiden Jungen zur Schule gingen.
Sie waren gewitzte Burschen, und wo es etwas Besonderes zu sehen
gab, da waren auch Frank und Fred zu finden. Eigentlich hießen sie ja
Fritz Bodenstedt und Fritz Küster. Aber es war den Mitschülern zu
langweilig gewesen, immer ihre Nachnamen hinzuzufügen, um sie zu
unterscheiden. Schließlich fand das auch ihr junger Englischlehrer, und
eines Tages-, als sich wieder einmal der falsche Fritz von der Bank erhoben hatte, hatte er ihnen die neuen Namen gegeben, die so hübsch
englisch klingen. Und dabei war es geblieben.
Frank war jetzt 13 Jahre alt. Als Sohn eines Flüchtlingsbauern aus dem
Sudetenland war er erst 1949 nach dem Westen verschlagen worden und
hatte deshalb ein Jahr Schule verloren. Fred, der Zwölfjährige, war der
Sohn eines „eingeborenen" Großbauern. Sie besuchten nun die Quarta
des Poßfelder Gymnasiums.
Da war Fred wieder, die Zeitung unter dem Arm geklemmt. „Nur noch
Latein, die unregelmäßigen Verben für Membo, den Afrikaner", sagte er
fröhlich und setzte sich in einen leichten Trab. Membo war der Lateinlehrer, den sie wegen seiner braunen Gesichtsfarbe den Afrikaner nannten. „Bis um drei bin ich damit fertig, dann komm' ich zu dir 'rüber.
Wollen wir heut' zum Mölenbach gehen? Ich hab' dort gestern Tausende
von Kaulquappen gesehen."
Fred zögerte mit seinem Ja: „Du weißt doch, dass ich meiner Mutter
noch im Garten helfen muss. Unsere Magd ist krank. Um vier bin ich
aber bestimmt fertig. Bring den Fußball mit, vielleicht haben Bert und
Uwe Zeit für ein Spielchen."
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Die schwarze Witwe, von Hermann Reidt
Etwa hundert Meter hinter dem „Bahnhöfchen" trennten sich die beiden
Freunde. Frank fiel wieder in seinen beliebten Trab. Man hätte ihm so
viel Beweglichkeit gar nicht zugetraut, denn er war von Natur ziemlich
rundlich gebaut, während sein jüngerer Klassenkammerad im letzten
Jahr einen ziemlichen Schuss nach oben getan hatte und den Freund
schon um einen Kopf überragte. Fred stapfte langsam durch den Sand
und pfiff sich eins. Frank hielt nach 50 Metern in seinem Lauf inne und
griff die Melodie auf. So flöteten sie ein Duett, bis Fred hinter den ersten Bäumen des väterlichen Anwesens verschwunden war.
Frank nahm die Zeitung unter dem Arm hervor und faltete sie auseinander. Im Gehen las er erst die letzte Seite mit den Sportnachrichten vom
Sonntag. Schwieriger war es schon, im Gehen den inneren Teil der Zeitung zu studieren. Er hielt sie weit geöffnet vor sich hin, während die
Schultasche am Unterarm hin und her baumelte.
Es war nicht schwer, die Richtung zu halten. Die Bauernwagen hatten
tiefe Furchen in den Wiesenweg geschnitten, denen Frank sich nur mit
seinen Füßen entlang zutasten brauchte.
Plötzlich blieb Frank stehen. Er musste eine besonders wichtige Nachricht entdeckt haben, die sich nur im Stehen verarbeiten ließ. So stand er
da eine ganze Weile, die Augen voller Spannung auf das Blatt geheftet.
Vergessen war sein Ziel. In einem Zug las er
den Bericht herunter. Ebenso plötzlich kam er wieder zu sich und faltete
schnell die Zeitung zusammen.
Da kam auch schon der Vater um die Ecke geradelt, rief seinem Jungen
zu: „Tag Frank, Arbeit geschrieben? Zurückbekommen?" und als der
den Kopf schüttelte, setzte er seinen Weg fort. Frank hatte jetzt keine
Lust zu einer Unterhaltung; ein sehr nachdenklicher Zug stand auf seinem Gesicht, als er in das dritte Haus rechts in der neuen Flüchtlingssiedlung einbog. Dann aber beschleunigte er seinen Schritt, denn er
dachte an das Mittagessen, und sein Magen knurrte. Er knallte die Tasche auf die Bank vor dem Haus und rief seinem älteren Bruder, der
gerade im Garten ein Stück Land umgrub, zu: „Tag, Gerhard, was gibt's
zu essen, Bohnensuppe oder Bohnensuppe?" Der drehte sich lachend um
und rief zurück: „Nein, Petersilie mit Zwiebeln!"
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Was hatte Frank in der Zeitung gelesen?
Mit erheblicher Verspätung traf Frank um fünf Uhr auf dem Küsterhof
ein. Fred kam eben aus dem Stall. „Komm gleich mal mit", rief er dem
Freund entgegen, „gerade hat unsere Sau zwölf Ferkel geworfen, das
musst du dir ansehen!" Und schon waren sie beide in der Stalltür verschwunden. Da lag sie, die riesige Zuchtsau, ermattet und doch zufrieden, während sich an ihren Zitzen die Ferkel um den besten Platz stritten. Eben packte der Knecht das zwölfte, das wie tot neben der Alten
lag, an den Beinen und schlenkerte es mit dem Kopf nach unten hin und
her. „Das Blut ist ins Stocken geraten, und das Herz arbeitet nicht richtig", sagte er, „ich glaube nicht, dass es den Abend erlebt." Nachdem er
das Ferkelchen eine Weile so hin und her geschleudert hatte, legte er es
in einen Henkelkorb. Das Tierchen zuckte nur noch ein wenig.
„Wie schade, dass es sich nicht erholt", meinte Frank, „soll ich es einmal probieren?" Und er griff nach den Ferkelbeinen und bewegte das
Tierchen so, wie er es bei dem Knecht gesehen hatte. Auf einmal spürte
er, wie sich die kleinen Glieder regten. Er zeigte es dem .Knecht, dessen
Gesicht sich aufhellte. „Vielleicht
macht es sich doch noch", sagte er, trat in den Koben und legte es der
Alten an das Euter. Und richtig, das Ferkel fing an zu saugen! Als sie
das Gewiesel der zwölf noch eine Weile beobachtet hatten, sagte Frank
plötzlich: „Du, da hab' ich eine tolle Geschichte in unserer Zeitung gelesen. Ich hab' sie mitgebracht. Hier lies!"
Es war aber im Stall zu dunkel, und sie gingen schnell hinter den Hof,
wo die Erlen am Bach ein wenig Schatten auf die frischgemähte Wiese
warfen. Sie legten sich auf ihre Bäuche auf den Boden, Frank breitete
die Zeitung aus, und dann lasen sie gemeinsam.
Unerklärlicher Todesfall in der Brauerstraße.
Gegen 18 Uhr wurde gestern der Arzt Dr. Klaß in die Wohnung des bekannten Schauspielers Guido Brassert gerufen. Er fand das Haus in großer Aufregung. Der 16jährige Sohn Günther, der die Sekunda des Gymnasiums besuchte, lag mit schweren Magenkrämpfen im Wohnzimmer
auf der Couch, während sich die Eltern bemühten, ihn festzuhalten und
ihm mit nassen Tüchern den Schweiß von der Stirn zu wischen. Nur mit
Mühe konnte der Arzt die Vorgänge rekonstruieren. Günther war am
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Die schwarze Witwe, von Hermann Reidt
Gernot holte die Mutter aus der Küche. Sie nahm die Sache zunächst
auch nicht so ernst, denn Kinder haben alle einmal ihre kleinen Krankheiten, besonders wenn es um die Schularbeiten geht. Aber dann hatte
sie gesehen, wie dem Jungen der Schweiß auf der Stirn stand. Sie eilte
in die Küche, um einen kalten Aufschlag zu holen. Durch die Türe hörte
sie, wie Günther sich hin und her warf und anfing, laut vor sich hin zu
phantasieren. Es wurde ihr nun doch sehr bange um ihren Sohn, und sie
rief Traude, die noch im Hof spielte, herauf.
„Geh schnell zum Theater, den Vater holen. Sag ihm, er müsse sofort
kommen, Günther sei krank geworden!"
Gegen fünf Uhr war endlich der Vater gekommen. Günther lag bleich
und in Schweiß gebadet da, vollkommen teilnahmslos und geschwächt.
Plötzlich schüttelte es ihn, und er erbrach sich. Dann schlug er wild um
sich und rief immer wieder: „Die Fliege! Die
Fliege!"
Der Vater lief zum Telefon und läutete den Hausarzt der Familie, Dr.
Klaß, an. Als der Arzt eine halbe Stunde später eintraf, fieberte und
phantasierte der Junge noch immer.
„Hat er etwas Falsches gegessen?" fragte Dr. Klaß.
„Genau dasselbe wie wir", sagten rasch die Eltern.
„Haben Sie in Ihrer Familie Fälle von Epilepsie gehabt?"
Die Eltern sahen sich bestürzt an.
„Nein, niemals", antwortete der Vater.
Der Arzt untersuchte den Jungen genau. „Ich kann nichts finden", meinte er schließlich kopfschüttelnd. Er holte aus seiner Bereitschaftstasche
eine Spritze hervor. Während die Mutter den Arm des Jungen festhielt,
entnahm der Arzt der Vene Blut und ließ es in ein Gläschen laufen. Danach gab er dem Jungen noch eine Beruhigungsspritze. Obwohl sich
bald die Züge Günthers glätteten und er aufhörte, mit den Armen um
sich zu schlagen, machte der Arzt ein sehr bedenkliches Gesicht. „Ich
rate, ihn ins Krankenhaus zu bringen; meine Kenntnisse reichen hier
nicht aus. Ein derartig plötzlicher und so seltener Fall ist mir noch nicht
begegnet, ich will sofort das Blut untersuchen. Ich komme in einer
Stunde wieder. Ich rufe von Hause aus das Katharinenstift an."
Als Dr. Klaß nach einer Stunde wieder die Wohnung betrat, fand er die
Familie völlig verzweifelt vor. Der Junge lag fast in der gleichen Stellung auf der Couch, wie ihn der Arzt verlassen hatte. Alles Blut war ihm
aus dem Gesicht gewichen, und das Bewusstsein war noch nicht zurückgekehrt. Dr. Klaß griff nach dem Puls, schüttelte den Kopf, öffnete
noch einmal das Hemd und horchte das Herz ab. Nur noch schwach kamen die Herztöne, setzten aus, kamen wieder, und dann war es totenstill
im Zimmer.
Eine bange Frage quälte alle, als sie zusahen, wie der Arzt die Herzgegend massierte, wie er Günther auf die Seite legte und auch die Arme
entlangstrich.
Dr. Klaß stand auf.
„Es ist vergebens. Meine Kunst ist zu Ende. Er ist für immer eingeschlafen. Es muss eine Vergiftung vorliegen, deren Art mir unbekannt ist."
Nachdem Dr. Klaß, selber tief erschüttert, die schwergeprüfte Familie
verlassen hatte, begab er sich sofort ins Gerichtsmedizinische Institut,
um das Blut des Jungen nochmals untersuchen zu lassen. Das Ergebnis
der Untersuchung steht noch aus.
Frank und Fred hatten den Bericht zu Ende gelesen. Frank brach das
Schweigen. „Armer Günther! Der beste Handballspieler des Gymnasiums! Weißt du noch, wie er vorige Woche den Neunmeterball in unser
Tor geschmettert hat? Und jetzt tot! Geht es uns Menschen besser als
dem kleinen Ferkel? Wenn ich so in die Sonne schaue, kommt es mir
vor, als würden wir ewig leben. Aber es ist schon so, wie unser Pfarrer
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Mittag wie immer fröhlich nach Hause gekommen und hatte mit den
Eltern und den Geschwistern zu Mittag gegessen. Danach hatte er eine
Stunde lang mit seiner Schwester Traude auf dem Hof Federball gespielt
und sich dann in seinem Zimmer an die Schularbeiten gesetzt. Gerade
als er an seinen Mathematikaufgaben saß, die ihm meist großen Spaß
machten, war er aufgestanden, weil er plötzlich heftige Magenschmerzen verspürte. Er legte sich auf die Couch, wo ihn bald darauf sein Bruder Gernot fand. Der hatte ihn ausgelacht und gesagt:
„Stell dich doch nicht so an, du hast zuviel Rhabarber gegessen! Oder
schreibt ihr morgen eine Lateinarbeit? Dann hab' ich auch immer
Bauchschmerzen." Dann war ihm aber doch auch angst geworden, als
der Bruder ganz gegen seine Gewohnheit nichts erwiderte, sondern nur
vor sich hin stöhnte.
Die schwarze Witwe, von Hermann Reidt
im Konfirmandenunterricht immer sagt: Der Tod ist überall und stets
gegenwärtig." Scheu sah er sich um.
„Ach was, keine trüben Gedanken!" sagte Fred. „Wir leben jedenfalls
noch, und ich hoffe, noch recht lange!"
„Das kannst du gar nicht so sicher wissen, denk an Günther!" erwiderte
Frank.
„Aber wie kann das nur passiert sein? Jetzt weiß ich auch, warum Günthers Bruder Gernot heute nicht in der Schule war. Und ich hab' gemeint, er wolle sich vor Englisch drücken, denn das macht ihm gar keinen Spaß. Neulich war er auch krank, als wir eine Arbeit schrieben."
„Du, sag ja nichts gegen Gernot! Der ist prima, und Angst hat er nicht,
er ist damals wirklich krank gewesen!"
Noch lange lagen die beiden Jungen auf der Wiese. Zum Fußballspielen
hatten sie keine rechte Lust mehr. Der Zeitungsbericht war ihnen in die
Glieder gefahren.
Die Sonne war hinter einer Wolkenwand verschwunden. Gemächlich
trotteten die beiden Freunde dem Hofe zu. Der Knecht stand vor der
Scheune und rief ihnen zu: „Es hat sich bekrabbelt! Schaut's euch an."
Sie begriffen gleich, was er meinte, und rannten in den Schweine -stall.
Herr Küster lehnte über dem Trog: „So ist das, ihr Jungen, den einen
packt's früh, der andere scheint nicht erst mit dem Leben anfangen zu
wollen und lebt doch länger als alle anderen. Ihr sollt sehen, das Ferkel
wird noch einmal eine tüchtige Muttersau!" Da watschelten alle zwölf
noch immer durcheinander, um die beste Muttermilch zu bekommen,
und keinem sahen sie mehr an, dass eines gerade noch einmal mit dem
Leben davongekommen war.
Fred hatte eine Idee: „Ich kaufe mir gleich am Bahnhof einen GeneralAnzeiger von heute! Da steht bestimmt wieder was von der Sache drin!"
Aber die beiden Kameraden waren enttäuscht, als sie heute nur eine kurze Notiz lasen:
Der Fall Günther Brassen
Am nächsten Morgen sprachen die Jungen und Mädchen in der Bahn
von nichts anderem als von dem rätselhaften Tod Günthers. Jeder kramte etwas hervor, was er von ihm wusste und was die Eltern zu dem Fall
gesagt hätten. Sie schnatterten alle durcheinander, aber Fröhlichkeit und
Frechheit kamen heute nicht zum Durchbruch, so dass sich sogar der
Schaffner wunderte, der doch sonst allerlei unter dem munteren Volk zu
leiden hatte.
Die gerichtsmedizinische Untersuchung des Gymnasiasten Günther
Brassert, der vorgestern Abend unter rätselhaften Vergiftungserscheinungen verstorben ist, hat nicht viel Neues ergeben. Der Tod des
beliebten und begabten Jungen ist nach wie vor rätselhaft. Die vom Gericht angeordnete Obduktion hat erwiesen, dass der Junge an einem Gift
gestorben ist, das zweifellos die geschilderten Erscheinungen und
schließlich Herzschwäche hervorrief. Mediziner und Kriminalpolizei
stehen vor einem Rätsel. Der Körper des Jungen wies bis auf einige Mückenstiche keinerlei Verletzungen auf. Wespen- und Bienenstiche können derartige Erscheinungen selbst bei einem überempfindlichen Menschen nicht hervorrufen. Günther Brassert gehörte auch nach Aussagen
seiner Eltern nicht zu solchen überempfindlichen Jungen. Sein Bruder
Gernot, der sich eine Zeitlang im Zimmer aufgehalten hatte, sagte aus,
dass zwar Fliegen im Zimmer waren, jedoch keine Wespe, Hummel
oder Biene. Die Ärzte halten es für ausgeschlossen, dass ein Mückenstich eine derartige Wirkung haben und so schnell zum Tode führen
könne. Ein Selbstmord ist ausgeschlossen, da der Junge zu den fröhlichsten gehörte und kurz vorher noch sehr ausgelassen mit seiner
Schwester gespielt hat. —
Allgemeines Mitgefühl wird der schwer getroffenen Familie entgegengebracht. Der Junge wird am Donnerstag unter Anteilnahme seiner Schule zu Grabe getragen.
Fred faltete die Zeitung zusammen. Langsam folgten die Freunde dem
Schwärm der Fahrschüler, der sich aus der Bahnhofshalle ergoss. Plötzlich blieb Frank stehen. „Mensch, da fällt mir etwas ein . . . Aber wie
soll die in die Brauerstraße kommen? Das kann doch wohl nicht sein!"
„Was redest du da? Wer soll nicht in die Brauerstraße kommen?" Frank
stand noch immer nachdenklich auf demselben Fleck. Dann sagte er
ganz langsam und betont: „Die Schwarze Witwe!"
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Ein rätselhaftes Gift
Die schwarze Witwe, von Hermann Reidt
Zollstöcke müssen elastisch sein, damit sie nicht abbrechen, wenn sie
einmal zufällig gebogen werden. Deshalb werden sie aus leichtem, elastischem Palmenholz hergestellt. In der Nähe des Heimatstädtchens der
beiden Freunde befand sich ein kleines Werk, in dem solche Hilfsmittel
der Handwerker gemacht wurden. Das Holz dazu wurde aus Indien und
Mittel- und Südamerika, vor allem aus Kolumbien und Venezuela eingeführt.
Eines Tages sägten wieder einmal zwei Arbeiter einen solchen Palmstamm auf der Kreissäge auseinander. Stück für Stück rollten die Teile
vom Sägetisch. Zwei andere Arbeiter schichteten sie auf einen elektrischen Ladekarren und fuhren sie hinüber in einen Nebenraum, wo sie in
schmale Scheiben zerschnitten wurden.
Als der Werkmeister sich ein Stück daraufhin anschaute, ob das Holz
auch für die Maßstäbe geeignet sei, sah er eine dichtbehaarte Spinne aus
dem hohlen Innern hervorpurzeln. Sie war etwas größer als unsere
Hausspinne. Sie hatte den langen Schiffstransport lebend überstanden.
Schon manchmal war es vorgekommen, dass aus den Baumteilen allerlei
kleines Getier ans Licht des Tages kroch. Meist waren es unscheinbare
Tiere, die man mit einem Tritt ins Jenseits beförderte, vor allem die
Spinnen. Auch der Werkmeister litt an dem alten Volksglauben, dass
Spinnen Unheil bedeuten. Das stimmt freilich keineswegs, denn sie sind
meist völlig harmlos, und als Insektenvertilger sind sie sogar nützlich.
Neulich hatte auch ein Arbeiter eine riesige Vogelspinne unter den
Holzstücken entdeckt. Er hatte sie nicht getötet, sondern mit nach Hause
genommen und wochenlang mit Insekten und sogar Mäusen gefüttert.
Werkmeister Weskamp wollte es nun auch einmal versuchen, das Tier
zu fangen und seinem Sohn Klaus zu zeigen. Der interessierte sich sehr
für Pflanzen und Tiere aus aller Welt.
Vorsichtig — denn ganz geheuer kam ihm die Sache doch nicht vor —
schob Weskamp der eilig davonhuschenden behaarten Spinne ein Stück
Packpapier unter und ließ sie in eine leere Zigarettendose plumpsen, die
er auf seinem Werktisch stehen hatte.
Zu Hause schaute Klaus Weskamp nur vorsichtig in den Blechkäfig hinein, freute sich über das seltsame Mitbringsel und nahm es am nächsten
Morgen mit in die Schule. Dr. Arber, der Biologielehrer der Quarta,
nahm sehr gern die Spinne als willkommene Bereicherung in seinen
Schulzoo auf, obwohl er nicht sofort sagen konnte, welcher der Tausenden von Spinnenarten sie wohl angehören mochte.
Voller Staunen konnten die Quartaner das merkwürdige Tier mit den
langen Beinen in dem großen Terrarium sitzen sehen. Sie war etwa ein
Fingerglied lang. Ihre Fänge waren abwärts gerichtet wie bei einem
Mammut der Vorzeit. Das unterschied sie schon von anderen Spinnenarten, bei denen die Fänge seitlich stehen und nach innen gebogen sind.
Dr. Arber nahm ein langes Hölzchen und bewegte es auf das Tier zu.
Die Spinne richtete sich auf und zeigte ihren Leib. Rote Flecken wurden
dort sichtbar. „Das sind die Warnfarben. Bei Gefahr werden sie sichtbar,
wenn sich die Spinne in Kampfstellung aufrichtet."
Und dann erzählte der Biologielehrer vom Leben der Spinnen. „Da gibt
es in den südamerikanischen Tropen Arten, die zehn und mehr Zentimeter lange Beine haben und einen Bauch von der Größe eines Hühnereis.
Die größten aller Spinnen sind wohl die Bananenspinnen und die Vogelspinnen. Schon manche davon ist in einem Bananenbüschel nach
Europa gekommen. Von der Vogelspinne erzählt man, dass sie sogar
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Fred machte mit dem Finger ein Zeichen, als wolle er sagen, der Freund
fange an zu spinnen. „Die Schwarze Witwe? Wer ist denn das?"
„Wenn sie im Gymnasium gewesen wäre, könnte ich mir schon denken,
woran Günther Brassert gestorben ist!"
Fred blickte den Kameraden noch immer verständnislos an. „Was hat
die Schwarze Witwe mit Günther zu tun? Wer ist das überhaupt, diese
trauernde Witwe? Du hast gestern wohl wieder ein Kriminalheft gelesen
und träumst bei offenen Augen?"
„Ne, ich bin so wach wie du. Du hast keinen Grips, sonst wüsstest du,
was ich meine. Oder hast du gefehlt, als wir vor vier Wochen in Biologie die Spinnen durchgenommen haben?"
„Interessiert mich auch nicht, so'n Viehzeug. Ferkel und Fohlen sind
viel interessanter!"
„Hättest du dich dafür interessiert, dann war' dir eben auch ein Licht
aufgegangen! Aber jetzt wird dir eins aufgehen, wenn ich dir erzähle ..."
Und dann begann Frank zu berichten, was er schon beinahe wieder vergessen hatte.
Was Dr. Arber gesagt hat
Die schwarze Witwe, von Hermann Reidt
Vögel fresse, aber es hat noch niemand gesehen, wie eine solche Spinne
Vögel gefangen hat. Freilich, wenn sich einer zufällig in ihrem Netz
verfängt, dann ist er willkommene Beute. Denn Spinnen müssen ja oft
lange auf ihre Nahrung warten. Sie können wochen-, ja monatelang
hungern. Ein Forscher hat einmal berichtet, dass er Indianerkinder dabei
beobachtet habe, wie sie eine Vogelspinne mit einem Strick um den
Leib spazieren führten, so wie man ein Hündchen spazieren führt. Ich
weiß nicht, ob der Bericht stimmt.
Oft wird berichtet, dass solche amerikanischen Spinnen auch dem Menschen lebensgefährliche Bisse beibringen können. Viele Forscher verneinen dies jedoch. Einer hat sogar dreißig Jahre lang versucht, Spinnen
zum Beißen zu bringen, aber ohne Erfolg."
Die Jungen lachten schallend. Dr. Arber fuhr fort:
„Höchst seltsam ist es, wie viele dieser Spinnen ihre Nahrung fangen.
Bananen- und Vogelspinnen, die man auch Taranteln nennt, gehören zu
den sogenannten Falltürspinnen, weil einige Arten davon höchst kunstvolle Gänge in die Erde graben und sie mit Gewebestopfen an der Erdoberfläche verschließen, dass sie niemand vom Boden unterscheiden
kann.
Abends öffnet die Spinne die Tür, kommt hervor und spinnt an einem
nahen Busch ihr Netz. Halb in der Tür wartet sie
dann, bis eine Wespe, eine Fliege oder sonst ein Insekt ins Netz gerät.
Dann saugt sie ihre Beute aus. Morgens zieht die Spinne ihr Netz wieder
ein und verstärkt damit ihre Falltür. Will ein Feind die Türe öffnen, so
stemmt sich das Tier von innen mit aller Kraft gegen die Wände des
Ganges und verhindert so ein Eindringen des Gegners."
Aufmerksam folgten die Jungen ihrem Lehrer, der ihren Unterricht immer spannend zu machen wusste. Er fuhr fort:
„Spinnen scheinen überhaupt höchst gescheite Wesen zu sein. Jede Art
hat ihre eigene Methode, wie sie ihr Netz baut, wie sie ihre Brut hochbringt, wie sie sich schützt, und wie sie ihre Nahrung fängt. Diese hier"
— Dr. Arber zeigte auf das Terrarium — „gehört vielleicht auch zu den
Falltürspinnen, auch wenn sie hier in der Erde noch keine Anstalten gemacht hat, sich einen Gang und eine Falltür zu bauen. Leider ist es mir
im Augenblick nicht möglich, ihre Art genau zu bestimmen. Ich glaube
zwar nicht, dass sie gefährlich ist, aber Vorsicht schadet ja nicht. Auf
alle Fälle wollen wir das Terrarium gut verschlossen halten und nicht
vergessen, dem sicher hungrigen Tier Nahrung zu besorgen. Wer will
das wohl tun?"
Und dann hatten sich ein paar Finger gehoben. Auch Frank hatte versprochen, Fliegen, Würmer und Kohlweißlinge zu fangen.
Nach ein paar Tagen hatte Dr. Arber mehr Erde in den Glasbehälter getan und auch eine Kletterpflanze eingesetzt. Schon am nächsten Morgen
war die Spinne verschwunden, obwohl der Deckel des Terrariums nicht
bewegt worden war. Dafür zeigten sich Reste eines Spinnwebes an der
Pflanze. Das Tier hatte sich einen Gang in die Erde gebaut. Dr. Arber's
Vermutung war "also richtig. Es handelte sich um eine Falltürspinne.
„Wir wollen doch einmal sehen, was sich weiter begeben wird", sagte
Dr. Arber. Staunend standen die Schüler um den Behälter herum. —
In den nächsten Tagen erfüllten alle ihr Versprechen, für Spinnennahrung zu sorgen. Allmählich aber erlahmte das Interesse an dem Tier. Dr.
Arber war dann für 10 Tage zu einem Lehrgang nach Süddeutschland
gefahren und hatte gemeint, die Spinne habe jetzt erst einmal genug gefressen, sie könne ruhig einmal vierzehn Tage fasten. Er hatte das Terrarium auf das Fensterbrett des Lehrmittelzimmers gestellt und ein paar
Bücher auf den luftdurchlässigen Deckel gelegt.
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Frank reimt sich etwas zusammen
So war es gewesen, und ungefähr so erzählte Frank die Geschichte von
der kleinen fremdländischen Spinne.
„Ja, aber", sagte Fred, „du hast doch vorhin immer von der »Schwarzen
Witwe' gesprochen, und jetzt hast du diesen Namen nicht ein einziges
Mal in den Mund genommen! Und Dr. Arber hat doch selber gesagt,
dass diese Spinnen lange nicht so gefährlich seien, wie man behauptet!"
„Warte nur ab, ich bin noch nicht fertig! Ich behaupte, dass in dem
Glaskasten eine sehr gefährliche Spinne ist, nein, war. Denn ich bin überzeugt, dass sie Günther Brassert ermordet hat!"
Fred machte ein verblüfftes Gesicht.
Frank ließ sich jedoch nicht beirren und nahm den Faden wieder auf:
„Du weißt doch, dass ich mich besonders für Kleintiere und so interessiere. Gleich als Klaus Weskamp die Spinne mit in die Schule gebracht
hatte, habe ich Dr. Arber gefragt, wo ich mehr über die Spinnen nachle-
Die schwarze Witwe, von Hermann Reidt
sen könne. Er schaute in einem Katalog nach und nannte mir das Buch
von einem Engländer, John Crompton oder so, mit dem Titel „Die Spinne". Ich habe es mir aus der Schulbücherei entliehen. Du, das Buch ist
mehr als spannend geschrieben! Jeden Abend vor dem Schlafengehen
habe ich darin gelesen. Uni da steht höchst Merkwürdiges über die Vogelspinnen und die Falltürspinnen drin. Es stimmt wohl, dass die meisten Berichte von tödlichen oder gefährlichen Spinnenbissen übertrieben
oder falsch sind. Es steht aber auch drin, dass es einige Spinnen gibt,
deren Biss tödlich ist. Und die gefährlichste von allen ist die Schwarze
Witwe! Sie hat das Gift in einer Drüse im Kopfbruststück. Andere Spinnen haben es in einer röhrenartigen Lanze. Heute Abend lese ich nochmals nach, was darüber drin steht."
Fred sah längst nicht mehr so ungläubig auf den Freund herab.
„Aber, aber", murmelte er langsam vor sich hin, „wie kommt aber die
Spinne in die Brauerstraße zu Günther Brassert, der doch auf das Gymnasium ging?"
Frank wusste darauf keine Antwort. „Das ist ja gerade das Rätsel!"
Fred war hartnäckig: „Spinnen fliegen doch nicht, sie krabbeln auch
keine drei Kilometer, und wenn sie noch so lange Beine haben! Was du
dir da ausgedacht hast, ist Blödsinn! Und außerdem ist noch lange nicht
bewiesen, dass wir eine »Schwarze Witwe' im Terrarium hatten."
Frank blieb bei seiner Meinung. „Die Beschreibung stimmt aber ungefähr. Wieso das Biest in die Brauerstraße gekommen ist, weiß ich auch
nicht." Nachdenklich blickte er vor sich hin. „Hm, vielleicht hat sie jemand rausgenommen und Günther ins Haus gebracht ... Vielleicht war
es sogar Gernot?" sagte er dann langsam.
„Denkste wohl! Der hat ja Angst vor Spinnen und würde so was überhaupt nicht angreifen. Und in Biologie ist der eine Null! Ausgeschlossen!"
„Wer denn sonst?"
„Vielleicht ich?" Böse blickten sich die beiden Jungen an, als hätte einer
den anderen im Verdacht.
„Ach, was", meinte schließlich Fred und lachte, „deine Theorie ist bestimmt falsch, du hast zuviel ,Emil und die Detektive' gelesen und
meinst, du müsstest es ihm nachmachen!"
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Schnell entzog er sich dem Freund, der schon zu einem Boxhieb ausgeholt hatte. Fred war diesmal schneller als Frank, und es war auch die
höchste Zeit, dass sie zur Schule kamen. Sie hatten sich mit ihrer wichtigen Unterhaltung unterwegs viel zu lange aufgehalten. Als sie um die
Ecke liefen, sahen sie gerade ihren Klas-senleher durch das Tor gehen,
und der war morgens um acht immer derjenige, der pünktlich das Schultor passierte.
Frank fasst einen Entschluss
In den zwei ersten Stunden wurde ein Aufsatz durchgesprochen. Da
konnte jeder höchstens seinen eigenen Gedanken nachgehen. Erst in der
kleinen Frühstückspause trafen sich die Freunde wieder. Fred sagte zu
Frank: „Sag ja nichts von deiner Theorie zu den ändern, du machst dich
lächerlich!"
„Nein", antwortete Frank, „so dumm bin ich nicht. Aber ich weiß, was
ich tue. Ich gehe in den Biologiesaal und schaue nach, ob die »Schwarze
Witwe' noch im Glas ist!"
Fred deutete auf die Stirn und preschte dann davon. Er wollte dem
Freund jetzt nicht in die Fänge geraten.
Detektiv auf leisen Sohlen
In der großen Pause war eine Lehrerkonferenz angesetzt, auf der die
nächste Elternbesprechung auf dem Plan stand. Frank war zu Frieder
Berger gegangen und .hatte ihn gebeten, ihm für die Pause den Ordnungsdienst abzutreten. „Ich habe noch was für Mathe zu besorgen."
Frieder war gern damit einverstanden, denn Frank hatte ihm auch schon
manchen Gefallen getan. Das Klassenzimmer lag im Stockwerk über
dem Lehrerzimmer. Frank machte sich an der Tafel zu schaffen, wischte
sie ganz langsam aus und schielte dabei immer ein wenig durch den
Schlitz zwischen der aufstehenden Tür und dem Pfosten.
Richtig, da verließ auch schon der Referendar, der seit vorgestern Dr.
Arber vertrat, den Biologiesaal und ging ins Lehrerzimmer nach unten.
Rasch trocknete Frank die Tafel, schloss die Tür hinter sich und schlich,
gemächlich sein Frühstück kauend, zum Biologiesaal. Leise drückte er
die Klinke nieder, blinzelte durch den Spalt, und als er niemanden drin
sah, trat er vollends ein, schloss auch hier die Tür leise wieder hinter
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sich und eilte dann schnurstracks auf die Nebentür zu, die zum Lehrmittelraum führte.
Da stand ja noch das Terrarium auf der Fensterbank! Die Bücher lagen
noch wie unberührt darauf.
Frank trat näher. Da sah er, und das Blut schoss ihm zu Kopf: Der Deckel war seitlich etwas verschoben und ließ einen Spalt von etwa zwei
Zentimeter offen, eine Spinne konnte wohl da hindurchkriechen und
sich auf Wanderschaft begeben ... War sie aber wirklich weg? Frank
blickte von allen Seiten durch das Glas: nirgends eine Spur von einer
Spinne. Nur an der Liane hing ein einzelner Faden. Saß sie wieder hinter
ihrer Falltüre?
Erst als Frank genauer zwischen das Moos und die Lianenstränge schaute, erblickte er dort einen zentimeterbreiten Pfropfen hochstehen. Die
Falltür war geöffnet! Die Spinne war ausgeflogen! Sie — hatte Günther
ermordet!
Triumphierend und zugleich entsetzt schob Frank den Kunststoffdeckel
wieder gerade. Es konnte ja sein, dass sich die „Schwarze Witwe" doch
noch in der Erde befand! Wer kennt die seltsamen Sitten dieser exotischen Tiere so genau?
Und dann machte er sich schleunigst auf den Rückweg. „Ich habe genug
gesehen!" murmelte er vor sich hin. „Fred muss mir jetzt glauben. Und
ich muss das Fehlen der Spinne meinem Klassenlehrer melden."
Aber schon verzog er das Gesicht. Membo war außerordentlich streng.
Es würde eine große Untersuchung geben, und er würde vielleicht von
der Klasse ausgelacht werden! Welche Blamage, wenn er sich irrte!
Wem konnte er seinen Verdacht mitteilen?
Da dachte er an den jungen Studienassessor, der sie seit einigen Monaten in Englisch unterrichtete. Der machte immer seinen Spaß mit ihnen
und ließ auch mal eine Dummheit durchgehen. Englisch konnte der wie
ein Engländer selber! Gleich die nächste Stunde war Englisch. Nach der
Stunde wollte er zu ihm gehen und ihm alles mitteilen.
Ein Mitwisser
Frank begab sich in den Hof, als wäre nichts geschehen. Fred hatte
schon auf ihn gewartet. Er kam auf ihn zugelaufen.
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„Eigentlich sollte ich dir nichts mehr sagen, wo du mir nicht glaubst.
Eine schöne Freundschaft! Aber — die .Schwarze Witwe'
ist weg! Geh selbst hin und überzeug dich! Der Deckel war verschoben.
Putzfrau oder sonst wer. Weg, sage ich dir! Was sagste nun?"
Es klingelte, die Schüler sammelten sich an den Eingängen. Die beiden
Kameraden mussten ihr Gespräch unterbrechen. —
Kaum konnte Frank das Ende der Englischstunde abwarten, und auch
Fred rutschte in seiner Bank beständig hin und her, so dass es nicht nur
den Kameraden, sondern auch dem jungen Lehrer auffiel, der ihn zweimal ermahnen musste. Frank meldete sich einige Male, aber nur so zum
Schein, als ob er etwas wüsste. Als er dann einmal aufgerufen wurde,
gab er eine ganz konfuse Antwort, die das Kopfschütteln des Assessors
hervorrief.
Nach unendlicher Zeit klingelte es schließlich wieder. Frank ließ die
Kameraden hinausgehen und wartete an der vorderen Bank, bis Studienassessor Beyerle die Eintragungen ins Klassenbuch beendet hatte und
sich vom Katheder erhob. Er sah gleich, dass Frank etwas bedrückte und
fragte: „Na, hast du etwas auf dem Herzen?" In diesem Augenblick kam
auch Fred von hinten nach vorn und stellte sich wie zufällig neben
Frank.
„Ja", sagte der zögernd, „ich möchte Ihnen etwas sagen, aber", und er
wurde leiser, damit es die wenigen noch in der Klasse Verbliebenen
nicht hörten, „ich möchte warten, bis alle draußen sind. Fred soll aber
bleiben."
„Gut! Ihr da drüben, beeilt euch ein wenig!"
Als der letzte gegangen war, schloss der Lehrer die Tür hinter ihm.
„Nun schieß los! Es wird doch nichts Ernstes sein? Was ausgefressen,
oder willst du Urlaub haben?"
„Nein, es hat eigentlich nichts mit mir zu tun. Es handelt sich um Gernot
Brassert und seinen Bruder. Frank stockte. Er wusste nicht recht, wie er
anfangen sollte.
„Frank glaubt, dass Günther Brassert von der .Schwarzen Witwe' gestochen worden ist", half ihm Fred weiter.
Der junge Lehrer verzog das Gesicht, als wollte er laut loslachen. Der
Gedanke kam ihm trotz des Ernstes zu komisch vor. Er wusste ja auch
noch nicht, wer die „Schwarze Witwe" war.
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Die schwarze Witwe, von Hermann Reidt
Er dachte gewiss, dass die Jungen übergeschnappt seien. Dann sah er
aber die offenen und ehrlichen Gesichter vor sich. Er fasste sich: „Das
verstehe ich nicht ganz, Frank, das musst du mir schon näher erklären."
„Die .Schwarze Witwe' ist eine sehr gefährliche Spinne aus Südamerika,
die Klaus Weskamp neulich in den Biologieunterricht mitgebracht hat."
„Dr. Arber hatte sie in ein Terrarium gesetzt", fuhr Fred fort.
„Da Dr.. Arber seit einer Woche verreist ist, haben wir die Spinne auch
nicht mehr gefüttert." Frank hatte den Faden in der Hand. „Dr. Arber
wusste wahrscheinlich selbst nicht, dass die Spinne so gefährlich war.
Ich habe aber inzwischen ein Buch über Spinnen gelesen und glaube
ganz bestimmt, dass es sich um diese seltene Art handelt."
„Sie ist wegen ihres Stiches so gefährlich, sagt Frank."
„Ja, sie sondert beim Biss eine kleine Menge Gift ab, die auch bei Menschen den Tod herbeiführen kann."
„Frank hat vorhin festgestellt, dass die Spinne verschwunden ist und der
Deckel des Terrariums ein paar Zentimeter verschoben war, so dass sie
herausschlüpfen konnte."
„Aber das heißt doch noch lange nicht, dass die Spinne nicht mehr in
dem Lehrmittelraum ist!" warf Studienassessor Beyerle ein. „Jungen, ihr
bildet euch etwas ein, was nicht sein kann. Zuerst müsst ihr einmal beweisen, dass diese Spinne wirklich giftig war. Ist euch eigentlich auch
schon eingefallen, dass Günther Brassert gar nicht auf unserer Schule
war, sondern auf dem Gymnasium?"
„Ja, daran haben wir gedacht. Wir können uns das auch nicht erklären.
Aber vielleicht ist er einmal hier gewesen. Wir müssten einmal seinen
Bruder Gernot fragen. Aber der ist ja heute nicht da."
Studienassessor Beyerle machte ein sehr nachdenkliches Gesicht; Der
Gedanke, dass die seltsamen Erscheinungen beim Tode Günthers noch
nicht geklärt waren, dass aber der Zeitungsbericht etwas
von Insektenstichen gesagt hatte, ließ ihm auf einmal die Vermutung
Franks nicht mehr so abwegig erscheinen.
Wie konnte die Spinne aber in die Brauerstraße gekommen sein? Sollte
Günther einen Feind unter den Schülern des Realgymnasiums gehabt
haben, der ihm die Spinne ins Haus gebracht hatte? Aber nein! Wie hätte er wissen können, dass diese Spinne gefährlich war? Oder handelte es
sich um einen Schabernack? Hatte ein Schüler Günther einen Schrecken
einjagen wollen?
„Jungens, ich glaube zwar nicht recht an Franks Theorie, aber wir wollen ihr doch einmal nachgehen. Wer weiß, vielleicht handelt es sich
wirklich um ein so gemeingefährliches Tier? Und dann kann es ja noch
mehr Schaden anrichten!" Der Gedanke jagte ihm einen bösen Schrecken ein. Auch die Jungen schwiegen betroffen. Daran hatten sie noch
gar nicht gedacht!
„Auf alle Fälle werde ich jetzt den Direktor verständigen, und dann
müssen wir den Biologiesaal durchsuchen und auch noch einmal das
Terrarium! Wir wollen uns ja nicht lächerlich machen."
„Sollten wir nicht die Kriminalpolizei anrufen? Oder sollen wir hingehen?"
„Ich werde jetzt erst mit dem Direktor sprechen und dann die Kriminalpolizei anrufen. Haltet euch bereit. Bitte, sagt aber nichts zu euren Klassenkameraden, oder habt ihr schon darüber geplaudert?"
„Nein, wir schweigen ganz bestimmt. Nur .... würden Sie Membo, ich
meine Dr. Gravert, Bescheid sagen? Wir wollten heute eine LateinArbeit schreiben."
In Studienassessor Beyerle stieg ein böser Verdacht auf. Prüfend blickte
er die Jungen an. „Oder erzählt ihr mir hier ein Ammenmärchen, damit
ihr die Arbeit nicht zu schreiben braucht?"
Ganz entrüstet schauten sie ihn an, und er sah sofort, dass sie nicht heuchelten. „Ich glaube euch", sagte er lächelnd. „Na, wenn ihr mich verkohlt hättet, wäre es euch auch schlecht gegangen, ihr Spinnenjäger!
Also los!"
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Kriminalrat Kranz schaltet sich ein
Während der Lehrer mit dem Direktor sprach, standen die beiden
Freunde auf dem Gang. Erstaunt sahen ihre Klassenkameraden sie an,
die wieder in die Räume drängten. „Seid ihr geschnappt worden, habt
ihr was ausgefressen?" scholl es ihnen entgegen. Aber sie antworteten
nicht. —
Ganz erstaunt waren die Tertianer, die die Tür zum Biologiesaal verschlossen vorfanden. Drinnen waren bereits einige Lehrer dabei, das
Terrarium, die Pflanzen- und Tierbehälter zu untersuchen.
Die schwarze Witwe, von Hermann Reidt
Als der Direktor und der Studienassessor endlich ankamen und klopften,
schaute der Referendar mit rotem Kopf heraus: „Wir haben noch immer
nichts gefunden."
„Bitte, suchen Sie weiter! Wir müssen nun doch die Kriminalpolizei
anrufen!" sagte der Direktor leise. „Jedenfalls wollen wir nichts versäumen!"
Dann trat er auf die beiden Jungen zu, die mit bleichen Gesichtern am
Gangfenster standen. „Auf alle Fälle wird die Sache nun untersucht,
Frank. Hab' einstweilen schönen Dank für deinen Hinweis. Vielleicht
hilft er, die geheimnisvolle Angelegenheit zu klären. Wartet mal hier!"
Einige Minuten später kam Studienassessor Beyerle aus dem Direktorzimmer. „So, wir wollen dann mal zur Polizei gehen. Dr. Gravert hat
euch Urlaub gegeben. Er glaubte erst, ich stecke mit euch unter einer
Decke. Was sagt ihr dazu?"
„Och, ich denke, dass wir ihn davon überzeugen können, dass Sie so
ehrlich sind, wie wir selber."
Studienassessor Beyerle lachte herzlich. „So ist das im Leben. Traurige
Ereignisse haben oft ihre heitere Seite und umgekehrt. Schmerz und
Heiterkeit sind manchmal nahe beieinander." —
Kriminalrat Kranz wollte zuerst auch nicht recht glauben, was ihm die
Jungen und der Lehrer da berichteten. Auf einmal sagte er aber: „Wozu
haben wir eigentlich ein Bienenzuchtinstitut in unserer Stadt? Ich werde
jetzt, einmal mit dem Leiter sprechen. Er
ist ein bekannter Insektenforscher. Vielleicht weiß er etwas mehr über
die sagenhafte .Schwarze Witwe'."
Und schon griff er nach dem Telefonbuch: „Bienenzuchtinstitut 3—4—
2—3—7, da ist es schon." Er wählte die Nummer. „Hier Kriminalrat
Kranz. Könnte ich einmal Herrn Professor Jaschke sprechen? — Guten
Tag, Herr Professor. Ich muss Sie wieder mal in einer kniffligen Frage
belästigen. Da sitzen hier zwei helle Jungen und wollen mir erzählen,
dass es giftige Spinnen gäbe, die den Tod eines Menschen verursachen.
Sie reden immer von einer .Schwarzen Witwe*. .Habe ich nie gehört
oder gelesen."
„Das ist aber eine Lücke in Ihrer Bildung, Herr Kranz", kam es scherzend vom anderen Ende. „Die Jungen haben ganz recht. Die Wissenschaft kennt eine ganze Reihe von Fällen, in denen Spinnen den Tod
von großen Tieren und auch von Menschen verursacht haben. Die australische Weberspinne und die »Schwarze Witwe' sind die gefährlichsten.
Ihr Gift soll stärker sein als das von Schlangen, obwohl die Giftmengen
sehr klein sind."
„Könnten Sie wohl das Krankheitsbild einer solchen Spinnenvergiftung
schildern?"
„Ungefähr schon: man berichtet von Magenkrämpfen, Übelkeit, Erbrechen, Schweißausbruch. Halluzinationen gehen meist einer tiefen Bewusstlosigkeit voraus, die oft Stunden dauert und manchmal zu Herzschwäche oder gar zum Tod führt."
„Genau das waren die Erscheinungen, die zum Tod von Günther Brassert geführt haben."
„Ach i a, meine Tochter erzählte mir von dem Tod des Sekundaners.
Was Sie mir da sagen, ist allerdings höchst merkwürdig. Aber wie sollte
ausgerechnet eine .Schwarze Witwe' nach Europa und zu dem Jungen
kommen?"
Da erzählte der Kriminalrat alles, was er von Frank und Fred gehört
hatte. „Was völlig ungeklärt ist, ist einmal die Frage, ob es sich tatsächlich um ein so gefährliches Tier gehandelt hat — der .Verbrecher' ist
nämlich verschwunden, was höchst verdächtig ist — und weiter die Frage, wie die Spinne vom Realgymnasium in die Brauerstraße gelangt sein
könnte."
„Herr Kommissar, Herr Kommissar", machte sich Fred bemerkbar. „Mir
fällt da etwas Wichtiges ein. Könnte nicht Günthers Bruder, Gernot, die
Spinne mitgenommen haben? Er geht nämlich in unsere Klasse. Vielleicht wollte er seinem Bruder Angst einjagen?"
„Das wäre allerdings ein dummer Streich mit sehr ernsten Folgen! Herr
Professor, wir wollen einmal diese Spur untersuchen. Wäre es Ihnen
möglich, heute Nachmittag ins Gerichtsmedizinische Institut zu kommen und uns dort vielleicht noch mehr Einzelheiten über die Spinnen zu
berichten? Vielleicht um drei? Bis dahin will ich noch mal in die Brauerstraße gehen und die Familie Brassert befragen. Vielleicht kann uns
der jüngere Bruder Auskunft über den Täter geben. Es müsste doch auch
möglich sein, die chemischen Eigenschaften des Spinnengiftes festzustellen."
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Die schwarze Witwe, von Hermann Reidt
„Die Eigenschaften kennt man ziemlich genau. Man hat das Gift von
vielen Spinnen untersucht und benutzt es sogar für bestimmte Krankheiten als Medizin, wie man Bienengift gegen Rheuma verwendet."
„Wenn also das Gift im Blut des Jungen dem Gift einer .Schwarzen
Witwe' entspräche, wäre der Beweis geführt, dass das Realgymnasium,
ohne es zu wissen, einen gefährlichen Mörder beherbergt hat, dem nun
Günther Brassert zum Opfer gefallen ist.
Herr Professor, wir erwarten Sie also um drei Uhr. Besten Dank und auf
Wiedersehen!"
Der Kriminalrat überlegte eine kleine Weile. „Ihr Jungen", sagte er
dann, „ihr habt eure Pflicht getan. Tüchtig, kann ich nur sagen! Vielleicht gelingt es uns jetzt tatsächlich, diesen Fall zu klaren, der uns
schon viel Kopfschmerzen gemacht hat. Ihr könnt Jetzt in die Schule
zurückgehen ... doch halt! Ihr seid gewiss neugierig, wie die Sache weitergeht. Wenn ihr Lust habt, könnt ihr morgen Mittag nochmals herkommen. Dann wissen wir vielleicht mehr. Aber eins: den Mund halten!
Wenn ihr nämlich erzählt, dass sich die Spinne befreit hat und noch
nicht wieder eingefangen ist, dann könnte das Unruhe in der Schule und
bei euren
Eltern hervorrufen. Also unverbrüchliches Schweigen! Auch von Ihnen,
Herr Studienassessor!"
„Versteht sich!" sagten sie wie aus einem Munde.
„Ich garantiere für die beiden und mich", fügte Studienassessor Beyerle
hinzu. „Ich habe eine Bitte. Könnte ich bei der Vernehmung von Gernot
Brassert dabei sein?"
„Ich bitte sogar darum", erwiderte der Kriminalrat.
„Vielleicht hat er zu Ihnen mehr Vertrauen als zu mir bärbeißigem
Kerl!" Er lachte.
Die Jungen verabschiedeten sich. Während sie noch ganz benommen
von der Vernehmung zur Schule zurücktrotteten, um ihre Sachen abzuholen und zur Bahn zu gehen, machten sich die beiden Herren auf den
Weg in die Brauerstraße. Dort wurden schon die Vorbereitungen für die
Beerdigung am nächsten Tag getroffen. Ein Bote nach dem ändern
brachte Blumen- und Kranzspenden. Die Nachbarn nahmen herzlich
Anteil an dem traurigen Geschick der Familie.
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Weiß Gernot mehr als er sagte?
Herr Brassert öffnete. Hart hatte ihn der Tod seines Ältesten getroffen.
Stumm geleitete er die Besucher in sein Studierzimmer.
Als der Kriminalrat nach Gernot fragte, deutete der Vater aus dem Fenster in den Garten hinunter.
„Für ihn ist das Ereignis noch zu unbegreiflich. Er liest in einem Buch.
Ich habe ihn hinuntergeschickt, damit er mir in dieser traurigen Atmosphäre nicht vergeht. Der Tod seines Bruders ist ihm sehr nahe gegangen."
„Wir möchten gern einmal mit ihm sprechen. Am besten ohne Sie."
Herr Brassert erschrak. , Warum ohne mich? Was haben Sie mit ihm
vor? Hat er etwas mit dem Tod Günthers zu tun?"
„Vielleicht. Ich glaube aber, dass sich die Sache ganz harmlos aufklären
wird. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Stellen Sie sich hierher ans
Fenster. Dann können Sie uns von oben zuhören, wenn wir miteinander
sprechen, ohne dass er Sie sieht." Der SchauSpieler blickte ängstlich zu seinem Sohn hinunter und sagte: „Bitte,
schonen Sie den Jungen, er ist in den Lausbubenjahren und deshalb etwas empfindlich."
Die beiden Herren gingen in den Garten hinunter.
„Guten Tag Gernot", sagte der Studienassessor. „Es tut mir ja so leid um
deinen Bruder und um dich. — Das hier ist Kriminalrat Kranz. Wir
möchten dich gern etwas fragen."
„Guten Tag, Gernot. Du brauchst keine Angst zu haben. Vielleicht
kannst du uns helfen, den Tod deines Bruders aufzuklären."
Ungläubig schaute Gernot zu dem Kriminalrat auf. Sie setzten sich auf
die Gartenstühle.
„Du bist doch vorgestern Mittag aus der Schule gekommen und hast
nach dem Essen mit deinem Bruder gesprochen?"
„Ja, wir haben erst im Hof gespielt, und dann ist er eher hinaufgegangen, um seine Schularbeiten zu machen."
„Hast du" — der Kriminalrat zögerte ein wenig — „ihm etwas mit nach
Hause gebracht?"
Gernot schaute die beiden Herren verständnislos an. „. .. mit nach Hause
gebracht?" sagte er. „Was soll ich ihm mit nach Hause gebracht haben?"
Der Kriminalrat beobachtete ihn scharf.
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Die schwarze Witwe, von Hermann Reidt
„Vielleicht wolltest du ihm etwas zeigen?" fuhr Studienassessor Beyerle
fort.
„Nein, er war ja viel gescheiter als ich, was sollte ich ihm da wohl zeigen?"
„Vielleicht hast du etwas besonders Interessantes entdeckt, was du ihm
schenken wolltest?"
„Nein, ganz bestimmt nicht. Ich habe ihn nur gefragt, ob er mir helfen
wolle, die Lateinarbeit für heute vorzubereiten."
Gernot sagte das alles ohne Schüchternheit oder ein Zeichen von
Schuld. Plötzlich wurde er rot: „Aber warum fragen Sie mich das alles?"
Der Kriminalrat hatte das Erröten wohl bemerkt und sah seine Chance
gekommen: „Hast du ihm vielleicht einen Schrecken einjagen wollen?"
Gernot wusste keine Antwort darauf. Er schüttelte nur den Kopf und sah
hilflos von einem zum anderen. Schließlich sagte er: „Womit denn?"
„Vielleicht mit einem Insekt - mit einer Spinne?" sagte der Kriminalrat
schnell.
„Einer Spinne?"
„Du weißt doch, dass ihr neulich in Biologie eine kleine Spinne betrachtet' habt", sagte Studienassessor Beyerle. „Hast du sie mit nach Hause
genommen?"
„Aber sie war doch vor ein paar Tagen noch in dem Terrarium im
Lehrmittelzimmer. Da muss sie doch auch jetzt noch drin sein. Aber was
hat sie denn mit meinem Bruder zu tun?"
Gernot traten die Tränen in die Augen.
„Es ist gut, Gernot", sagte Studienassessor Beyerle, und zum Kriminalrat gewandt, „lassen wir es gut sein, ich irre mich gewiss nicht in dem
Jungen. Er mag Spinnen gar nicht leiden, nicht wahr Gernot?"
Der nickte und sah durch die Tränen hindurch seinen Lehrer dankbar an.
Auch der Kriminalrat nickte befriedigt. „Na, lass man gut sein. Wir
mussten dich das fragen, um etwas Wichtiges aufzuklären. Die Spinne
aus eurer Schule ist nämlich weg, und wir müssen annehmen, dass sie
ein sehr gefährliches Tier ist, dessen Gift einen Menschen töten kann. Es
hätte sein können, dass du die Spinne mitgebracht hast und dass dein
Bruder von ihr gestochen worden ist."
Gernot machte ein entsetztes Gesicht, und dann setzte er sich weinend
auf den Stuhl: „Nein, ich habe sie bestimmt nicht mitgebracht!"
„Wir glauben dir ja", sagte Studienassessor Beyerle und legte seine
Hand auf die Schulter des Jungen. Aber hilf uns doch einmal überlegen,
ob die Spinne nicht auf einem anderen Weg in eure Wohnung gekommen ist."
Der Kriminalrat schaute nach oben, von wo der Vater mit bleichem Gesicht herabschaute. Herr Brassert sagte mit zitternder Stimme: „Wenn
das so ist, dann schweben wir anderen ja auch
in der Gefahr, gestochen zu werden. Dann muss ja die Spinne noch in
unserer Wohnung sein!"
„Ganz richtig", erwiderte der Kriminalrat. „Wir haben in der Schule
schon alles zuunterst und oberst gekehrt und nichts gefunden. Ich kann
Ihnen leider nicht ersparen, dass wir auch in Ihrer Wohnung nochmals
suchen müssen, vor allem in dem Zimmer, in dem sich Günther am
Montag aufgehalten hat."
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Günthers letzte Stunden
Alle drei begaben sich nach oben in den 1. Stock. „Hier, im Zimmer der
beiden Jungen, hat Günther vorgestern seine Aufgaben gemacht, und
hier ist er gestorben", sagte der Vater, indem er auf die Couch deutete.
Auf dem Tisch lagen noch das Heft, der Zirkel und die Bleistifte, die der
Sekundaner benutzt hatte, bevor er sich auf die Couch niederlegte. Gernot zeigte den Männern die Gegenstände. „Und das ist mein Lineal. Das
war aber doch in meiner Mappe . .. Günther muss es wohl herausgenommen haben."
„Wo ist deine Mappe?" fragte der Kriminalrat mit einem schnellen Seitenblick auf den Lehrer.
Gernot schaute sich um. „Da steht sie noch, wo ich sie vorgestern hingestellt habe, als ich um eins nach Hause kam. Der Riegel ist auf, den
muss Günther aufgemacht haben."
An ein Tischbein gelehnt stand da die Mappe. Gernot wollte sie anfassen. Der Kriminalrat fasste ihn am Arm. „Lass mich mal selber schauen", sagte er bestimmt.
Er ergriff die Mappe am Riegel, stellte sie auf den Tisch und bog den
Deckel langsam nach oben. Dann zog er mit den Fingerspitzen ein Buch
nach dem anderen heraus und legte es vorsichtig neben die Mappe.
Die schwarze Witwe, von Hermann Reidt
Plötzlich fuhr seine Hand zurück: „Da — da ist der Mörder — die
.Schwarze Witwe!"
Die drei Männer und Gernot blickten erschrocken in die Mappe, die der
Kriminalrat langsam schräg zum Licht stellte.
„Da sitzt siel" Und da setzte sich ein schwarzes seidiges Etwas mit langen Beinen auf dem Mappengrund in Bewegung, kletterte erstaunlich
schnell am Seitenteil herauf und außen wieder hinunter und saß nun
mitten auf dem weißen Heft, ein scheußlicher Anblick für die, die wussten, wen sie vor sich hatten, ein Mörder mit sechs Beinen, für den
Nichtwissenden ein unscheinbares Tier, hübsch anzusehen in seinem
seidigen Pelz und mit dem roten Flecken auf dem Leib. Ein schönes
Exemplar seiner Art und doch ein Ungeheuer für die vier Menschen, die
voll bleichen Entsetzens auf es herabblickten.
„Schnell, besorgen Sie mir ein Glas", rief der Kriminalrat. Herr Brassert
eilte in die Küche und kam mit einem Wasserglas wieder. Die Spinne
saß noch auf dem Heft, unbeweglich, als bereite sie den nächsten Schlag
vor. Der Kriminalrat nahm Herrn Brassert das Glas aus der Hand und
stülpte es mit rascher Bewegung über das Tier.
„Dich hätten wir verhaftet", sagte er mit grimmigem Lächeln.
„Und nun bitte noch eine Zigarrenkiste oder etwas Ähnliches." Gernot
holte eine vom Bücherbord und schüttete den Inhalt, Briefmarken und
Muscheln, eine Pinzette und einige Pfennige, auf den Tisch.
Der Kriminalrat hielt das Kistchen an den Tischrand, fuhr mit dem Glas
langsam bis dorthin über die Platte und mit einem Ruck über das Kistchen. Die Spinne fiel hinab. Klapp, der Deckel war zu.' Die „Schwarze
Witwe" war endgültig gefangen.
„Und nun noch ein festes Gummi!" Auch das war bald beschafft.
Aufatmend setzten sich die Männer auf die Stühle, Gernot blieb gespannt neben ihnen stehen.
„Ja, aber ..." sagte er langsam, und hatte wieder Tränen in den Augen,
„wie ist die Spinne in meine Mappe geraten? Ich habe sie bestimmt
nicht hineingetan."
„Das ist eine Frage, die auch ich mir immer wieder stelle", sagte der
Kriminalrat. „Auf alle Fälle hast du sie von der Schule mitgebracht. Ein
Wunder, dass du nicht auch gebissen worden bist. Hast du nicht vorhin
gesagt, dass dies hier dein Lineal ist?"
„Ja!"
Der Kriminalrat überlegte.
„Ich erkläre mir die Sache so: Dein Bruder hat seine Mathematikaufgaben machen wollen. Es fehlte ihm das Lineal dazu. Er hat deine
Mappe aufgemacht, darin herumgesucht und dabei die Spinne aufgescheucht, die in seiner Hand einen Angreifer sah. Sie hat deinen Bruder
in die Hand oder in den Arm gebissen. Wir werden das noch feststellen.
Er hat den Biss vielleicht gespürt, aber nicht beachtet, weil es eben im
Sommer ja so viele Mücken gibt. Wahrscheinlich hat er die Spinne gar
nicht einmal bemerkt, denn sonst hätte er sie getötet oder dir etwas davon gesagt. Wie gut, dass du nicht auch Schularbeiten gemacht hast!"
Kranz lächelte leise, und Herr Brassert sah ihn dankbar an. .
„Aber wie ist die Spinne in meine Mappe gekommen?" — Gernot war
nicht zum Lächeln zumute.
Studienassessor Beyerle meinte, indem er ganz langsam sprach: „ Wir
werden die anderen Schüler fragen. Vielleicht war einer neugierig oder
hat die Spinne füttern wollen und dann vergessen, den Deckel wieder
gerade zurücken. Vielleicht ist auch der Hausmeister oder die Putzfrau
dagegen gestoßen. Ich glaube aber, dass wir das nie herausbekommen
werden. Vielleicht ist das auch gut so. Denn niemand hat hier Schicksal
spielen wollen. Niemand hat Günther etwas zuleide tun wollen. Wen
sollen wir mit der Schuld beladen und unglücklich machen? Mit einer
Schuld, die wahrscheinlich gar keine ist! Die Putzfrau oder der Hausmeister ist gewiss so unschuldig wie unser Gernot hier, der, ohne es zu
wissen, die mörderische Spinne nach Hause getragen hat."
Der Kriminalrat fuhr fort: „Die Spinne ist aus dem Terrarium herausgekrochen, wurde von niemandem bemerkt, weil der Biologiesaal und das
Lehrmittelzimmer einige Tage nicht benutzt wurden, bis der neue Referendar kam. Inzwischen ist die Spinne herumspaziert, um sich eine neue
Bleibe zu suchen und auf Nahrungssuche zu gehen. Dabei ist sie vorgestern in der Vertretungsstunde wahrscheinlich in die Nähe der Mappe
Gernots geraten — die Jungen lassen ihre Mappen ja häufig neben den
Bänken auf dem Boden stehen" — Gernot nickte — „und da ist die neugierige Spinne, vielleicht von einem Wurstgeruch angelockt, in die
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Der Kriminalrat gibt eine Erklärung
Die schwarze Witwe, von Hermann Reidt
Mappe gekrochen. Weil die Biologiestunde die letzte am Morgen war,
hat Gernot die Spinne nicht mehr entdeckt, nur noch seine Sachen hineingesteckt und so schnell wie möglich die Schule verlassen. War es
so?" Gernot nickte.
„Die Fliegen! Die Fliegen!"
Und so war es auch. Die Befragung der Klasse Gernots, Franks und
Freds brachte kein anderes Ergebnis. Die Lehrer sahen schließlich ein,
dass es keinen Zweck hatte, die ganze Schule zu befragen. Der Hausmeister konnte sich nicht daran erinnern, wann er in dem Lehrmittelzimmer gewesen war. Und die beiden Putzfrauen hatten zwar jeden
Nachmittag das Zimmer gereinigt, aber keine wollte sich mit dem Terrarium zu schaffen gemacht oder es auch nur angestoßen haben.
Wie die Spinne aus dem Terrarium entwichen war, konnte nicht geklärt
werden.
Das Gespräch des Professors mit dem Kriminalrat am Nachmittag bestätigte die Gleichheit des tödlichen Giftstoffes mit dem Gift der „Schwarzen Witwe". Als der Gerichtsarzt noch einmal die Leiche des Jungen
untersuchte, bemerkte er nun auch an der rechten Hand einen winzigen
bläulichen Fleck, um den herum das Fleisch ganz leicht geschwollen
war. Es hätte ebenso gut ein Mückenstich sein können. Als er dieses
Stückchen Haut näher untersuchte, fand er gerade dort die deutlichen
Spuren des Spinnengiftes.
Kriminalrat Kranz muss noch einmal in die Schule gehen
Fred und Frank fanden sich am nächsten Tag auf dem Polizeipräsidium
ein. Kriminalrat Kranz kam ihnen entgegen.
„Ihr habt gewiss schon die Aufklärung des Falles in der Zeitung gelesen?" Die Freunde nickten.
„Eure Aufmerksamkeit hat uns diesen seltsamen Fall klären helfen. Da
sieht man wieder einmal, dass man nicht genug lernen kann Als in meiner Klasse die Spinnen im Unterricht durchgenommen wurden, habe ich
bestimmt nicht aufgepasst, sonst hätte ich etwas von der .Schwarzen
Witwe' wissen müssen. Aber Frank hat besser zugehört und sich sogar
noch besonders dafür interessiert. Wir Erwachsenen sind oft dümmer als
ihr Jungen. Ihr scheint große Naturfreunde zu sein, was?"
Frank und Fred nickten.
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„Kein Wunder, wir wohnen auch auf dem Land! Mitten unter Schweinen und Kaulquappen!"
Der Kriminalrat lachte.
„Da müsste ich ja eigentlich bei euch in die Schule gehen und nachholen, was ich in meiner Schulzeit versäumt habe! Was an diesem Fall
aber das Wichtigste ist: Franks Hilfe und sein Wissen hat dazu beigetragen, weiteres Unheil zu verhüten. Wie viele Menschen hätte die Spinne
nicht noch töten können! Übrigens, hier ist sie."
Er ging an ein Regal und nahm ein Glas herunter, wie man es in zoologischen Museen sieht.
„Jetzt richtet sie kein Unheil mehr an. Der Bienenprofessor hat ihr einen
Ätherbausch vor das Bruststück gedrückt und sie dann in Spiritus gesteckt. Wenn euer Biologielehrer wiederkommt, dann erzählt ihm alles
genau, und dann kann er sich die Spinne hier wieder abholen. Sie mag
dann allen späteren Quartanern ein schauriges Lehrbeispiel aus einem
fremden Land sein. Wie gut, dass unsere europäischen Spinnen so harmlos sind und uns noch helfen, andere Quälgeister zu vernichten! Nochmals vielen Dank, die jungen Herren Kriminalräte!"
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