Seltsame Frisuren - Carlos Rodrigues Gesualdi

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Seltsame Frisuren - Carlos Rodrigues Gesualdi
Seltsame Frisuren
Carlos Rodrigues Gesualdi
(Deutsche Fassung: Carlos Rodrigues Gesualdi & Marita Urfey-Mülhens)
mai, 2015
Seltsame Frisuren Rodrigues Gesualdi
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Für Sinéad,
John Irving
und den Baron Münchhausen
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„Wenn du Liebeslieder magst
und du diese neuen seltsamen Frisuren magst…“
Charly García (argentinischer Sänger)
aus dem Lied: Neuen seltsamen Frisuren
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Jeder denkt, seine Familie ist etwas Besonderes. Ich auch, aber meine Familie ist
besonders.
Alles bei uns ist anders: das Haus, in dem wir wohnen; die Sachen, die wir
zusammen unternehmen; die Zeit, die wir miteinander verbringen; unsere Namen und
unsere neuen seltsamen Frisuren.
Wir gehören zu einem Clan, der so etwas ist wie eine Großfamilie, die aus lauter
Familien besteht, die so sind wie wir. Jeder im Clan hat von Geburt an eine einmalige
Fähigkeit; jeder kann etwas Besonderes, das niemand sonst schafft. Es handelt sich um
eine Kraft, die uns von allen anderen Menschen auf der Welt unterscheidet. Wir nennen
es: die Gabe.
Unsere Gabe benutzen wir nur, wenn wir zu Hause sind oder wenn uns niemand
sehen kann. Unter den „normalen“ Menschen benehmen wir uns, als wären wir wie alle
anderen; aber das ist manchmal schwierig, besonders wenn man sich verliebt.
Ich kann das eigentlich nicht nachvollziehen, aber manche Menschen möchten
einfach nicht akzeptieren, dass sich einer ihrer Nachbarn unsichtbar macht oder ein
Schüler aus ihrer Klasse fliegen kann. Das erklärt, warum der Clan in alten Zeiten verfolgt
wurde und noch heute in Märchen böse dargestellt wird: alle sollen Angst vor uns
bekommen. Über uns erzählte man sich, dass wir alte hässliche Frauen seien, immer in
schwarz bekleidet, die nur mit Besen fliegen und giftige Äpfel verschenken.
Die Geschichten über uns sind nicht wahr. Ich bin nicht alt und die Jungs sind weit
davon entfernt zu denken, dass ich hässlich bin. Natürlich sagen sie mir das nicht, aber ich
weiß das, weil mein Bruder Ahl ihre Gedanken liest.
Und das Wichtigste: Ich brauche keinen Besen zum Fliegen. Fliegen ist meine
Gabe, die besondere Fähigkeit, die mich von allen anderen unterscheidet.
Um zu fliegen brauche ich nur den Wunsch, es zu tun. Ich nehme es mir einfach vor
und hebe mich vom Boden. So wie andere ohne jeden Aufwand stehen oder laufen – so
kann ich fliegen. Das ist manchmal gut, manchmal schlecht, aber auf jeden Fall für immer. Seltsame Frisuren Rodrigues Gesualdi
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Ich werde euch eine Liebesgeschichte erzählen, die ich selbst erlebt habe.
Mein Name ist Val, ich bin 15 Jahre alt, und wie ich euch schon gesagt habe, ich
kann fliegen. Deshalb trage ich meine Haare so kurz, damit sie mich beim Fliegen nicht
stören. Meine Haare sind so kurz, dass man auf den ersten Blick glauben könnte, ich hätte
gar keine. Mein Kopf ist bedeckt von ganz kurzen schwarzen Haaren, die so eng anliegen,
dass sie fast unsichtbar sind. Denkt aber nicht, dass mir das nicht steht. Mein Bruder hat
mir gesagt, dass viele Jungs mich hübsch finden, dass sie meine großen dunklen Augen
und mein Lächeln mögen, und dass mich meine super kurzen Haare noch interessanter
machen.
Aber natürlich mögen mich nicht alle. Es gibt Kinder, die über mich lästern, obwohl
ich ihnen nichts getan habe. Mama sagt mir immer wieder, dass ich nicht darauf hören
soll, weil die normalen Leute immer Angst vor Dingen bekommen, die sie nicht verstehen.
Und weil diese Leute gelernt haben, dass sie keine Angst haben dürfen, greifen sie ganz
einfach jeden an, der anders ist als sie.
Ich kann fliegen, aber nicht wie die Vögel, weil ich keine Flügel habe; ich kann
fliegen ohne, dass ich meinen Körper bewege: es reicht, dass ich mir wünsche, mich
einfach vom Boden abzuheben. Ob ich stehe, sitze oder liege, ich kann mich jederzeit
vom Boden abheben, so hoch wie ich will. Ich erreiche die Wolken oder bleibe ein paar
Zentimeter über dem Boden. Ich bin sehr langsam oder so schnell, dass niemand mich
sieht. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie schön es ist, den Wind zwischen den Wolken zu
hören; Parks zu sehen, deren Bäume von ganz weit oben wie Miniaturen aussehen und
nach Hause einfach durchs Fenster hineinzufliegen. Stellt euch vor, wie wunderschön es
ist, in einem Augenblick in einem anderen Land zu sein; für den Erdkundeunterricht über
die Wüste zu fliegen und für Geschichte die Pyramiden von Ägypten mit eigenen Augen zu
sehen.
Ich bin verliebt und darum geht es (unter anderem) in dieser Geschichte, die ich
euch nun erzähle.
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Alles fing in der Schule an. Wir alle im Clan lieben das Lernen. Wir besuchen
Schulen und Universitäten. Sogar mein Bruder Max geht gerne in die Schule, obwohl er
schon über alles Bescheid weiß. Viele unserer Verwandten sind berühmte Wissenschaftler
und Künstler geworden (ich kann euch nicht verraten, wer von ihnen aus unserem Clan ist,
aber ihr werdet das schon selbst merken, wenn ihr einfach auf die Frisuren achtet, da alle
aus dem Clan seltsame Frisuren tragen).
Da uns lernen so gut gefällt, suchen wir uns nur die beste Schulen aus. Und
außerdem, wenn wir schon das Haus verlassen, dann wollen wir diese Zeit auch wirklich
nutzen, weil wir nämlich eigentlich am liebsten zu Hause sind.
Meine Geschwister und ich besuchen eine Schule, auf die jeder stolz sein kann. Die
Lehrer nehmen sich viel Zeit für die Schüler, die Aufgaben und den Unterricht; die Kinder
interessieren sich für die Themen und lesen freiwillig noch viele andere Bücher, als nur
die, die der Lehrer ihnen vorschlägt. Das Gebäude ist groß und gemütlich. Weiter hinten
ist ein Garten mit Bäumen, Holzbänken und Eichhörnchen. Es gibt überall große, helle,
gut gelüftete Säle, wo es herrlich nach Tannenholz riecht.
Also eigentlich haben wir überhaupt kein Problem. Es gibt aber Kinder, die sagen,
dass wir verrückt sind und sie lästern über uns und unsere seltsamen Frisuren. Sie
scheinen nicht zu merken, dass sie ehe komisch sind, weil sie alle immer die gleichen
Frisuren sich aussuchen. Die Jungs tragen kurze Haare und die Mädchen immer
Pferdeschwanz und Pony. Kein Wunder, dass wir so auffallen; da es die meisten zu stören
scheint. Aber dank dieser Kinder habe ich Zak kennengelernt.
In der Schule sind wir es gewohnt, gehänselt oder gezankt zu werden; sobald wir
eine laute Gruppe von Kindern sehen, gehen wir sofort dahin, um herauszufinden,
welches von unseren Geschwistern unsere Hilfe braucht.
An jenem Nachmittag in der großen Pause, als ich zu einer dieser lauten
Ansammlungen gerannt war, sah ich, dass ein neues Kind geärgert wurde. Dieses Kind
stand in der Mitte eines Kreises aus Kindern und wirkte verdutzt.
„Warum trägst du die Haare so? Bist du etwa verkleidet?“, sagte eines.
„Karneval fängt morgen an, nicht heute!“, sagte ein anderes.
„Bist du etwa ein Mädchen … mit so langen Haaren?“
„Was bedeutet der Spruch auf deinem T-Shirt?“, sagte ein anderes und las die rote
Schrift auf dem schwarzen T-Shirt laut vor: “Rolling Stones“ … "Was ist das?“
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Ich weiß nicht, ob euch so etwas jemals passiert ist, aber ich wusste, noch bevor
ich seine Stimme gehört hatte, dass sich mein Leben in diesem Moment für immer
verändert hatte. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich in diesem Augenblick, anstatt da zu
bleiben, sehr weit weg geflogen – ich konnte aber nicht und blieb bewegungslos, den
neuen Schüler betrachtend. Als die anderen bemerkt hatten, dass ich da war, fingen sie
an, auch mich zu belästigen.
„Guck mal, die Hexe ist da. Bald werden sie mehr sein, als wir“, sagte einer.
„Man sieht, dass die Verrückten zusammenhalten“, sagte ein anderer.
Aber während sie solche Sprüche von sich ließen, lösten sie langsam ihren Kreis
auf. Wir wussten längst Bescheid wie wir mit solche Attacken umzugehen hatten. Obwohl
wir nicht vermeiden konnten, dass sie uns belästigen, hatten wir sie schon ein paar Mal so
erschrocken, dass ihnen inzwischen klar ist, sie dürfen nicht zu weit gehen.
Die Kinder verschwanden und ich blieb schweigend und unbeweglich vor dem
Jungen stehen, der immer noch an der gleichen Stelle stand und kein Wort sprach.
Wie eine Szene aus einem Film, die stillstand, sahen wir aus; als wäre die Zeit plötzlich
stehengeblieben; als ob es keine Zeit gäbe oder die Zeit Kaugummi wäre, der sich
ausdehnte und immer weiter um uns herum ausdehnte.
Am Ende sagte der Neue: „Hallo“ und beobachtete mich aufmerksam. „Ist alles in
Ordnung mit dir?“
Ich konnte nicht antworten. Ich hatte nur meinen Kopf von oben nach unten bewegt,
damit er wusste, dass es mir gut ging.
Dann sagte er: „Danke, dass du mich von diesen Kindern befreit hast.“ Er sah zu
den Kindern, die ein Stück weiter spielten „Können wir uns da irgendwo hinsetzen?“
Wir saßen völlig allein auf einer Bank, die in einer Ecke stand, wo niemand war. Wir
schwiegen und sahen uns ab und zu an. In manchen Momenten schien mir, dass er das
Gleiche fühlte wie ich. In anderen Momenten vermutete ich das Gegenteil. In manchen
Augenblicken fühlte ich mich sehr wohl. In anderen wollte ich am liebsten fliehen.
Als es zur nächsten Unterrichtsstunde klingelte, mussten wir gehen, obwohl wir
noch kein Wort miteinander gesprochen hatten. Ich zu meiner Klasse und er zu seiner – er
war zwei Jahre älter als ich und ging in eine andere Klasse.
Im Unterricht musste ich ständig an ihn denken. Er hatte wild gelockte dunkle
Haare, so chaotisch, als wären sie noch nie gekämmt worden und so durcheinander, dass
man nicht erkennen konnte, ob sie sehr lang oder doch vielleicht sehr kurz waren. Seine
Haut war matt und ein bisschen dunkel. Seine grüne Augen leuchteten deutlich hervor. Er
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trug weite, schwarze Kleidung, ein T-Shirt mit dem Namen einer Rockband und schwarze
Turnschuhe.
Nach der Schule näherte er sich mir und sprach mich an. Ich hatte meine
Schwester Mell gebeten, schon mal nach Hause zu gehen, damit ich den Heimweg mit
ihm allein gehen konnte.
Er erzählte mir, dass er gerade in die Stadt gezogen war, dass er in einem Haus am
Rande der Stadt wohnte, genau am Ende der Promenade, ganz in der Nähe der
Universität. Er erzählte mir, dass er Musiker ist und dass er in einer Rockband spielen
möchte.
Als ich ihm erzählte, dass ich auch ein bisschen Musik mache, schlug er mir direkt
vor, wir sollten zusammen spielen.
Er fragte mich, welche Musik ich mag und schnell stellten wir fest, dass wir die
gleiche Musik mögen. Vor allem Rockmusik, aber auch Klassik und Pop. Alle Musiker, die
er nannte, mochte ich und er mochte alle, die ich nannte. Als ich ihn nach seinem
Lieblingslied fragte, pfiff er etwas aus einer Suite von Bach, die wir zu Hause immer
spielen.
Schließlich kamen wir meinem Zuhause immer näher und ich bat ihn, uns auf der
anderen Seite der Promenade zu verabschieden. Als ich dann die Straße überquerte blieb
er noch eine Weile auf der Promenade stehen, schaute auf das Meer, die Möwen, die
Flugzeuge, die zu dieser Zeit zum Flughafen kamen, und beobachtete die Wolken.
Ich hatte mir eigentlich gewünscht, dass er mit mir zu uns kommt, aber ich war
unsicher. Ich habe noch nie jemanden zu uns eingeladen und ich konnte mir nicht
vorstellen, wie man in meiner Familie mit Besuch umgehen würde. Ich wollte zuerst mit
meinen Eltern sprechen.
Meine Eltern: Mama trägt die Haare sehr lang; auf der einen Seite grün, auf der
anderen blau; der Pony ist ein bisschen rot. Sie ist sehr verliebt in meinen Vater, was jeder
sofort merkt, sobald sie ihn anschaut. Ihre Gabe ist es, Gegenstände nur mit den
Gedanken zu bewegen, ohne sie anzufassen, egal wie schwer sie sind. Sie kann, zum
Beispiel, das Geschirr spülen, ohne sich von ihrem Lieblingssofa zu bewegen.
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Es ist wunderschön zu sehen, wie die Teller allein in die Küchenspüle gleiten und
wie der Schwamm sie nacheinander in der Luft mit dem Schaum bedeckt, wie die Teller
zurück in die Spüle fliegen, um sich mit Wasser umzuspülen.
Gleichzeitig tanzt der Besen über den Boden und ein Hammer verlässt die sich
gerade öffnende Schublade, um einen Nagel in die Wand zu hauen, kurz bevor meine
Schwester daran in ihrem Lieblingskleid vorbeigeht.
Mamas Gabe ist sehr praktisch, wenn wir nachts nach einem Glas Wasser fragen
oder wenn wir Koffer packen: Während wir uns über die Reise unterhalten, füllt sie die
Koffer mit Kleidern, die wie Geister durch die Luft fliegen. Wenn wir schon entschieden
haben, wohin wir reisen, sind alle Koffer fertig und wir warten ordentlich an der Tür in einer
Reihe wie aus einer Klasse von lauter Musterschülern.
Papa hat die Haare kurz und trägt einen langen Zopf an der linken Seite über dem
Ohr. Er ist sehr verliebt in Mama und küsst sie immer, wenn er an ihr vorbeiläuft. Seine
Gabe ist es, dass Dinge, sobald er an sie denkt, plötzlich existieren. So wie jeder den
Mund öffnet und „Hallo“ sagt oder seine Hand ausstreckt und nach einem Glas greift,
schafft es Papa, dass ein Objekt, das vorher nicht existiert, genau da, wo er will entsteht.
Es ist nicht so, dass er (wie meine Mutter) Objekte bewegt. Es ist auch nicht so, dass er
einen Gegenstand heranbringt, der vorher woanders war: er erschafft Sachen aus dem
Nichts.
Papas Gabe löst manchmal viele Probleme wie zum Beispiel Einkaufen – etwas,
das niemand von uns gerne macht, weil wir uns in einem Supermarkt sehr unwohl fühlen.
Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie spannend es ist, am Tisch zu sitzen, wenn er uns fragt,
worauf wir Hunger haben und dann unser Lieblingsgericht auf dem Tisch ganz plötzlich
auftaucht. Wir essen fast immer Empanadas, diese Teigtaschen sind unser
Lieblingsessen. Manchmal bittet uns Papa die Augen zu schließen und erschafft dann ein
Überraschungsgericht, das wir uns nicht vorstellen können und uns dann total gefällt.
Immer wenn wir zum Essen gerufen werden, rennen wir an den Tisch als wäre
Weihnachten und freuen uns aufgeregt auf die Bescherung, von der wir noch nichts
wissen, außer, dass es uns auf jeden Fall gefallen wird.
Dank Papa könnten wir viele Tricks machen. Wir könnten bei ihm zum Beispiel die
Hausaufgaben bestellen. Aber unsere Gaben benutzen wir niemals, um uns gegenüber
anderen einen Vorteil zu verschaffen. Die einzige Ausnahme ist, wenn wir uns vor den
anderen verstecken. Aber das machen wir nur, um kein Risiko einzugehen.
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Ich hatte mich von dem Neuen verabschiedet ohne seinen Namen zu kennen und
die Straße vor meinem Haus überquert. Aber als ich zu Hause ankam beachtete mich
niemand, denn dort ging es zu wie auf einer Party.
Alle waren im Salon mit den Vorbereitungen für Karneval beschäftigt.
Wie ihr euch vorstellen könnt, gibt es nur ein paar Tagen im Jahr, an denen wir uns
so anziehen können wie wir möchten und unsere seltsamen neuen Frisuren tragen
können, ohne dass sich jemand über sie wundert, uns deshalb belästigt oder sich über
uns lustig macht. Und das sind die Karnevalstage.
Das sind die Tage, die wir am meisten genießen. Wir gehen in unserer echten
Kleidung auf die Straße, wir besuchen die Partys und wir wandern durch die Stadt.
Einmal im Jahr können wir genau so sein wie wir sind. Wir trinken Granatapfelsirup
aus langen Gläsern, ohne dass wir gefragt werden, was für ein komisches Zeug das ist.
Ihr habt das bestimmt noch nicht bewusst bemerkt, aber in jeder Stadt der Welt gibt es
einen Imbiss oder ein kleines Lokal, vielleicht nur ein Stand auf der Straße, wo man
Empanadas essen kann. Manchmal steht darauf noch nicht einmal ein Schild, aber wenn
ihr in den Karnevalsnächten Leute mit seltsamen Frisuren und sehr eleganten alten
Kostümen vor so einem Imbiss halbmondförmige Teigtaschen essen seht, dann habt ihr
Mitglieder des Clans entdeckt.
Ja und deswegen waren alle zu Hause so glücklich, weil sie die Nächte für die
Karnevalszeit durchsprachen.
Alle saßen auf dem Boden wie Indianer, die ein Ritual zelebrieren; sie waren vorn
übergebeugt und studierten eine Ansammlung von Prospekten mit ganz vielen Terminen
und Veranstaltungshinweisen. Von der Tür aus sah ich wie sich ihre Haare wild
durcheinander bewegten – die hochgekämmten, die roten und grünen, die Ponys und
langen Zöpfe wirbelten vor meinen Augen hin und her. Beobachten zu dürfen, dass sie
soviel Spaß hatten, hatte mich tief berührt. Und für einen Augenblick hatte ich total
vergessen, dass sich mein Leben, seitdem ich dem neuen Jungen in der Schule begegnet
war, total anders anfühlte. Aber in diesem Moment war ich wieder die gleiche, die ich
immer war. Es fühlte sich wunderbar an, zu Hause zu sein, von Menschen umgeben, die
so waren wie ich und total anders als der Rest. Von Menschen, die mich lieben, die meine
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Gefühle und Ansichten teilen, die mich immer verstehen können. Es fühlte sich so
wunderbar an, dass ich vor Freude weinen wollte.
Auch unser Haus ist etwas ganz Besonderes. Es ist sehr groß, weil wir so viele sind
und weil wir Verwandte auf der ganzen Welt haben, die ab und zu einige Zeit bei uns
wohnen. Und auch wir verbringen ab und zu Zeit in anderen Ländern.
Da wir schon so viele sind und oft jemand bei uns zu Gast ist, haben wir ein
riesengroßes Haus, das unserer Familie seit mehreren Generationen gehört. Und da wir
immer vermeiden müssen, dass die Leute uns enttarnen, wohnen wir am Rande der Stadt.
Unser Haus liegt ganz allein direkt an der Promenade gegenüber des Meeres. Das
nächste Haus steht am Ende der Promenade in der Nähe der Universität. Aber das ist ein
gutes Stück entfernt. Unser Gebäude war ganz früher ein Hotel. Aber nach der Eröffnung
wurde ein Flughafen gebaut und es wurde verboten, weitere Häuser dorthin zu bauen.
Ohne Bars und Restaurants in der Nähe und so weit entfernt von der Stadt musste das
Hotel geschlossen werden. Einer aus unserer Familie hat es vor vielen vielen Jahren
gekauft, weil er sofort erkannt hatte, dass hier der perfekte Ort ist, um von den anderen
Leuten abgeschirmt leben zu können.
Das Haus hat viele Zimmer, Geheimgänge, Türme, Dachgiebel und Dachböden. Es
gibt einen großen Garten, der bis an die Grenze des Flughafens reicht. Es gibt
Dachböden, die wir nie betreten haben und Kellerräume in denen man seltsame Getränke,
Ritterrüstungen, vergilbte Papiere sowie alte und nutzlose Möbel findet. Überall gibt es
Innenhöfe, Flure und Schornsteine von denen niemand weiß, wo sie hinführen.
Vorratskammern gibt es und Gänge und viele Spiegel. Es ist so groß, dass wir uns
manchmal selbst verlaufen. Man könnte fast meinen, dass es eine Burg ist, aber es ist nur
unser Haus. Wir fühlen uns darin sehr wohl und wir mögen es sehr, im Salon zu sitzen,
Musik zu machen oder (wie jetzt) Karneval vorzubereiten.
Alle waren so glücklich bei den Vorbereitungen, dass niemand bemerkt hatte, dass
ich reingekommen war. Auf dem Teppich lagen viele Karnevals-Prospekte und Broschüren
über die angesagtesten Bälle und Straßenpartys der Stadt. Im Kreis sitzend stritten sie
darüber, auf welche Party sie die meiste Lust hatten und zu welcher sie zuerst gehen
wollten. Als ich näher kam, machten sie mir Platz im Kreis und kurz darauf merkte ich,
dass ich, genau wie die anderen, laut mitstritt, zu welchem Ball ich gehen wollte und ob wir
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dorthin alle in unserem alten Clan-Kostüm in der gleichen Farbe gehen sollten oder ob wir
vielleicht besser das schwarze Lieblingskleid unserer Mutter nachmachen sollten.
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Ihr habt bestimmt schon bemerkt, wie glücklich wir sind. Vielleicht, weil wir uns so
gut verstehen und wir so viel Zeit miteinander verbringen. Für uns ist das ganz einfach,
weil meine Eltern ja nicht arbeiten müssen. Immer gibt es jemanden, der das Geld
verdienen kann, ohne dafür den ganzen Tag von zu Hause weg zu sein. Und obwohl wir
ein großes Vermögen anhäufen könnten, machen wir das nicht. Wir kaufen weder Autos
noch Luxushäuser und wir haben noch nicht einmal einen Fernseher.
Einerseits genießen wir es, Zeit zu haben und uns mit schönen Dingen zu umgeben
wie Lampen, Gemälde, Blumen mit exotischen Düften und bunten Blüten, Füller, deren
Feder glänzende Gravuren haben, Fotos und Enzyklopädien. Andererseits geben wir auch
nicht viel Geld aus. Uns gefällt es zu reisen und ich brauche dazu noch nicht einmal ein
Flugzeug. Auf der ganzen Welt haben wir ja auch Familienmitglieder in deren Häuser wir
immer willkommen sind.
Wir haben ganz feste Vorlieben: uns reizen nur pure Geschmacksrichtungen,
deswegen benutzen wir keine Gewürze oder Parfüm, einfach nichts, das Sachen
verfremdet; wir mögen Eiscreme und Granatapfelsirup, Empanadas und frittiertes
Hähnchen.
Da wir keinen Reichtum zeigen, geben wir weder Geld für moderne Geräte noch für
modische Kleidung aus. Wir versuchen auch, dass unser Haus nicht wie eine Burg
aussieht – obwohl es eine ist. Meine Mutter putzt mit ihrer Gabe das ganze Haus ohne
Hilfe und mein Vater braucht nicht einkaufen zu gehen, damit der Kühlschrank gefüllt ist.
Er öffnet einfach die Tür, stellt sich die Sachen, die fehlen vor – und plötzlich erscheinen
sie vor seinen Augen. So einfach füllt er immer den Kühlschrank auf.
Am meisten mögen wir es in unserem Haus zu bleiben. Wir erfinden Spiele, lernen
spannende Sachen und machen Musik. Ich spiele ziemlich gut Trompete und ein bisschen
Gitarre. Mell ist sehr geschickt mit dem Piano, das sie in ihrem Zimmer hat. Mein Vater
spielt Geige und meine Mutter Kontrabass. Ahl ist sehr begabt mit seiner Flöte und Max
ein Virtuose der Klarinette. Wir lernen zeichnen und malen. Wir üben tanzen und lesen
Geschichten. Wir spielen miteinander und unterhalten uns.
Um ein bisschen Geld, das wir manchmal brauchen, für die wenigen Ausgaben, die
wir haben, kümmert sich immer der, der gerade die Gabe hat, die nötig ist. Mein Vater,
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zum Beispiel, erschafft einen Brillanten, um ihn zu verkaufen oder er erdenkt sich einfach
ein paar Geldscheine – aber nie zuviel: er will nicht das Risiko eingehen ein Vermögen zu
besitzen, weil Vermögen auch Probleme bringt. Er schafft nur das Nötigste, damit wir für
eine Weile leben können.
Andere Male diktiert uns Max, der absolut alles weiß, chemische Formeln, die
meine Mutter einem Forschungszentrum zu einem ganz kleinen Preis verkauft, damit die
Forscher bessere Heilmitteln erfinden können.
Es könnte auch passieren, dass ich zu einer Insel mitten im Pazifik fliege und mit
einer riesigen Perle zurückkomme, die man dort einfach irgendwo findet, besonders wenn
Mell, die das Wetter ändern kann, mir während der Reise mit einem hellblauen Himmel
hilft und Max mir sagt, wo genau ich suchen soll.
Aber was wir im Clan auch sehr lieben ist reisen. Neue Städte kennenlernen,
seltsame Monumente und alte Dächer schauen; andere Sprachen hören; die Düfte von
unbekannten Pflanzen in Gärten von Häusern riechen, die genau wie unseres
funktionieren, wo unsere Cousinen mit anderen neuen seltsamen Frisuren wohnen, wo
alle unsere Verwandten uns mit der gleichen Fröhlichkeit, Anerkennung und Liebe
empfangen wie wir sie, wenn sie zu uns kommen.
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Am nächsten Tag, nach unzähligen Vorbereitungen, gingen wir raus, um die
Karnevalspartys zu besuchen. Es war Donnerstag und die ganze Stadt strahlte in bunten
Farben. Alle Straßen waren überfüllt von fröhlichen Leuten, die in allen möglichen
Kostümen tanzten und feierten.
Wir hatten beschlossen, dass wir schwarze Kleidung anziehen, passend zu dem
Lieblingskleid unserer Mutter und wir sahen genauso aus, wie wir wirklich sind. Wir waren
sehr glücklich, dass wir diese Kleidung anziehen konnten, die wir das ganze Jahr
verstecken müssen; diese, die meine Familie über Generationen trägt.
Wir hatten einen Plan aufgestellt, wie wir am leichtesten alle Partys besuchen
konnten. Auf manchen Partys blieben wir nur kurz, weil sie uns enttäuschten. Wir
entschieden dann immer gemeinsam zu gehen – wir waren uns immer schnell einig, ohne
uns groß untereinander abstimmen zu müssen. Wir versteckten uns dann in einer Ecke,
hielten uns hintereinander in einer langen Schlange an der Hand und ich flog mit allen im
Schlepptau los. Wir sahen wie ein Drachen aus oder wie bunte Luftballons oder wie
Werbung für eine Karnevalsparty. Es könnte wie alles aussehen, wir waren im Karneval
und niemandem kam es suspekt vor.
Die Nacht war mild und es gab keinen Wind, weil Mell ihn stoppte, um uns die
Reise bequemer zu machen. Mell hatte auch die Wolken vertrieben und wir flogen
zwischen den Lichtern der Sterne, die uns wie einen Mantel umgaben.
„Es ist wie ein Traum“, sagte Ahl.
„Es ist wie um die Sterne zu fliegen“, sagte Mell, die so romantisch ist. Ihre Frisur
schien nicht asymmetrisch, sondern wie eine normale Frisur, die der Wind durcheinander
gewirbelt hatte. Ihre Haare schienen auf der rechten Seite zu liegen, aber in Wirklichkeit
war es so, dass sie an ihrer linken Seite fast keine Haare hatte.
Von den vielen Partys bevorzugen wir immer die, die auf der Straße spontan
improvisiert werden. Die Nachbarn tanzen zusammen auf dem Bürgersteig, von einem
Balkon kommt Musik, Lichterketten hängen quer über die Straße und die Menschen
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sprechen laut und trinken bunte Getränke, die unter den farbigen Lichtern futuristisch
aussehen.
Von den geplanten Partys bevorzugen wir immer die kleinen Clubs im Viertel, wo
die Leute sich kennen, die Musik lustig klingt und man in den Innenhöfen im Freien tanzt.
Relativ nah an unserem Zuhause befindet sich so ein „Klein-Viertel-Club“ namens
Vorwärts. Dorthin kamen wir, nachdem wir ein paar andere Partys besucht hatten. Auf
Partys tanzen wir am Anfang immer zusammen, dann mischen wir uns unter die Leute und
treffen nach einiger Zeit an der Bar wieder alle zusammen, wo wir diesmal
Granatapfelsirup in langen Gläsern tranken, während wir uns über die Masken und
Kostüme der anderen Gäste unterhielten. Vielleicht haben wir auf solchen KarnevalsPartys eigentlich immer die geheime, unausgesprochene Hoffnung, dass andere
Mitglieder des Clans, Cousinen oder unbekannte Onkel von uns plötzlich und unerwartet
in der Menge erscheinen würden.
Der Club, in dem sich die Party abspielte, besteht aus einem kleinen alten
Häuschen am Rande eines eingezäumten Fußballplatzes. Große Puppen und
Lichterketten hingen am Zaun entlang und eine Live-Band spielte alte Tanzlieder.
Ich fühlte mich glücklich. Als ich an den Neuen in der Schule dachte, fühlte ich mich noch
glücklicher und freute mich, dass ich ihn am Montag wiedersehen würde. An ihn zu
denken war wie ein warmes und vertrautes Gefühl, genau wie der Wind, den Mell über
den Fußballplatz des Clubs Vorwärts wehen ließ.
Dann passierte etwas Merkwürdiges. Genau als ich dachte, wie schön es ist,
jemanden zu vermissen, war mir, als würde ich ihn zwischen den Leuten entdecken und
es kam mir so vor, als hätte er mich angeschaut. Aber es war sicherlich nur Einbildung,
weil ich so intensiv an ihn gedacht hatte. Aber für den sehr unwahrscheinlichen Fall, dass
er da gewesen sein könnte, wäre es absolut unmöglich, dass er mich zwischen diesen
vielen Menschen und dem bunten Licht unter meinem Kostüm überhaupt erkennt hätte.
Aber trotzdem – mir schien es, als wäre er da und würde ein merkwürdiges schwarzes
Kostüm mit langen Fransen tragen, die im Wind wehten. Weil er mir aber erzählt hatte,
dass er immer schwarze T-Shirts mit Aufschriften von Rockbands trägt, beruhigte ich mich
und war mir sicher, dass meine Vorstellungskraft sich ein Scherz mit mir erlaubt hatte.
Und fast im gleichen Moment, als ich dachte, er war da, schien die Einbildung sofort
zu verschwinden, so schnell wie alle Möbel eines Zimmers verschwinden, wenn wir das
Licht ausmachen; schnell wie die Charakteren eines Traums ins Nichts rutschen, wenn der
Träumer aufwacht. Bestimmt glaubte ich, ihn gesehen zu haben, weil ich ihn so gerne
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sehen wollte. Ich schaute mich noch einmal um und tanzte dann weiter. Ich hatte richtig
viel Spaß, bis wir entschieden, eine andere Party zu besuchen.
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Als wir spät nach Hause kamen, waren wir alle sehr müde. Wir ließen uns im Salon
auf den Sofas und den Teppichen fallen, um ein bisschen runter zu kommen.
„Was hatten wir für einen Spaß“, sagte mein Vater.
„Ich wünsche mir, es könnte das ganze Jahr so sein“, sagte ich, nachdem ich einen
großen Schluck von meinem gerade erschaffenen Granatapfelsirup getrunken hatte.
„Übrigens“, fragte Ahl „welche Partys kommen nach dieser, Max?“.
Max ist mein 10 Jahre alter kleiner Bruder. Er ist mit der Fähigkeit geboren, alles zu
wissen, was man wissen kann. Er kennt den Inhalt aller Bücher, die jemals auf der Welt
geschrieben wurden, ohne sie je geöffnet zu haben. Er trägt die Haare so kurz wie ich,
aber er lässt sich einen langen Pony wachsen, der im Wind sein ganzes Gesicht bedeckt,
wenn Mell nicht da ist, um das zu vermeiden.
Uns gefällt es, abends bei ihm zu bleiben, um die Geschichten zu hören, die er
auswendig kennt. Wir lieben es, wenn er uns „Der kleine Prinz“, „Alice im Wunderland“
oder „Die Abenteuer des Baron Münchhausen“ erzählt. Er ist sehr geschickt mit den
Händen und er mag es mit den unterschiedlichsten Materialien Dinge zu bauen. Er kann,
zum Beispiel, gleichzeitig einen Flughafen mit Lego im Salon aufbauen und uns bei den
Hausaufgaben helfen.
„Max!“, rufen wir vom Kuchentisch, wo wir immer unsere Hausaufgaben machen.
“Wie berechnet man die Fläche eines Dreiecks?“
„Länge mal Höhe geteilt durch zwei“, antwortet er uns.
Oder: “Welcher Fluss fließt um Bern?“.
„Die Aare“, antwortet Max ohne jeden Zweifel, „er ist 280 Kilometer lang und ist der
größte Nebenfluss des Rheins.“
Er weiß einfach alles; nun er ist viel zu jung, um verliebt zu sein. Ich bin gespannt,
wenn er sich verliebt, dann in jemand, der alles weiß.
Und genau deswegen, weil er alles weiß, hatte Ahl ihn gefragt, welche Partys nach
dem heutigen Tag kommen.
Max antwortete ganz nebenbei: „Morgen ist wieder Karneval und schon bald gibt es
einen Feiertag, aber in diesem Jahr haben wir noch eine Party vor uns. Eine Party, die alle
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19 Jahre stattfindet. Das ist genau in 12 Tagen: die Zusammenkunft, das Treffen der
Clans.“
„Das Treffen der Clans!“, rief meine Mutter. „Die Zusammenkunft!! Oh nein!!
Diesmal hätten wir das organisieren müssen“.
„Entschuldigung“, unterbrach Mell, „aber ich weiß nicht worüber ihr redet“.
„Die Zusammenkunft“, erklärte Max mit seiner typischen Ruhe, mit der er alles
erklärt, „ist ein Treffen von allen Mitgliedern des Clans aus der ganzen Welt. Es wird alle
19 Jahre abgehalten, damit wir uns treffen. Die Kinder, die in diesen Jahren geboren
wurden, werden einander vorgestellt und sie können sich verlieben. Die Familien wechseln
sich bei der Organisation ab …“
„12 Tage ist viel zu wenig Zeit“, unterbrach mein Vater.
Die nächste Party wird in zwölf Tagen stattfinden und die Reaktion meiner Eltern
war verständlich, da wir sie dieses Mal organisieren mussten.
„Wir können nicht einmal allen rechtzeitig Bescheid sagen“, erwiderte meine Mutter.
„Aber an welchem Tag genau ist die Party?“, fragte Ahl, der Organisator unserer
Familie. So wie er sich bemüht, seine hochgekämmten Haare in Ordnung zu halten,
versucht er die Familie zu organisieren.
„Der Zusammenkunft findet alle 19 Jahre statt, wenn der Mond einen
Ausrichtungszyklus mit den Planeten vollendet. Das wird genau in 12 Tagen passieren.“
„Bist du sicher?“, fragte ich, aber niemand achtete auf meine Frage, da alle wissen,
dass Max sich nicht irren kann.
„Ich will ein Eis Papa“, sagte Max. Mein Vater war mit seinen Gedanken völlig
woanders und hörte ihn nicht. Max wiederholte seine Bitte: „Papa, ich will ein Eis“.
„Ja, ja“, sagte mein Vater „Wer will sonst noch ein Eis?“
Er materialisierte sofort die Bestellungen. Meine Mutter musste die Eiswaffeln
tauschen, weil mein Vater die Sorten verwechselt hatte; sie war so unkonzentriert, dass
alle nochmals die falsche Sorten bekommen hatten – ich musste Zitroneneis essen, aber
in dieser angespannten Stimmung wollte sich niemand beschweren.
Wir blieben still im Salon auf den Sofas und Teppichen. Plötzlich waren wir alle so
ernst und voller Sorgen, während wir schweigsam die verkehrten Eissorten aßen. Wir
waren nicht mehr die Gleichen, die kurz zuvor gekommen waren, so glücklich und so
müde von so vielen Tänzen.
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In unserer Familie sorgt man sich nicht lange. Immer hat irgendjemand von uns die
Gabe, die wir brauchen, um eine Lösung zu finden. Diesmal war es Max, aber die Idee
kam von Mama. Wir aßen immer noch an unserem Eis, ohne ein Wort zu sprechen, als sie
darauf kam.
„Es ist nicht so schwierig, wie es scheint“, sagte Ahl. „Es sind nur zwei Aufgaben:
die Zusammenkunft organisieren und allen Bescheid sagen, wo sie stattfindet. Mit der
Organisation können wir sofort anfangen. Wenn Val den passenden Ort findet, können
Mama und Papa den Platz einrichten und schmücken. Und wenn wir alle helfen, wird alles
ganz schnell fertig sein“, erklärte er uns mit einem Lächeln.
„Ja“, sagte Papa, „aber es gibt ein Problem. In 12 Tagen werden wir bestimmt nicht
alle erreichen. Wir wissen noch nicht einmal, wo sie alle wohnen“.
Mama dachte nach und kam schnell auf eine Idee: „Wir müssen nur jemanden
finden, der diese Gabe hat“.
„Welche Gabe?“, fragten wir.
„Jemand im Clan muss diese Gabe haben“.
„Aber welche Gabe?“, fragten wir alle noch mal.
„Ich weiß es nicht. Etwas… Die perfekte Kommunikation… Eine Art
Kommunikationsgabe… Multikontakt, ich weiß es nicht, wie man so etwas nennt. Wenn
wir diesen Jemand finden, können wir ihn fragen, ob er die Einladung übermittelt.“
„Aber wer kann so etwas?“, fragte Mell. Wir alle guckten sie erstaunt an. Sie
verstand sofort unsere Verwunderung. „Entschuldigung“, sagte sie und schaute zu Max.
Max aß gedankenverloren sein Eis; als er bemerkte, dass wir ihn alle anschauten,
lächelte er.
„Was ist?“, fragte er überrascht und wir mussten feststellen, dass er unser
Gespräch gar nicht mitverfolgt hatte, so dass wir wieder von ganz vorne anfangen
mussten.
„Ist einfach“, sagte er dann. „Vor kurzem ist eine Familie in die Stadt gezogen. Der
Vater kann mit allen Clan-Mitgliedern kommunizieren. Er benutzt dazu die Kraft der
Gedanken. Er kann mit mehreren gleichzeitig kommunizieren, sogar mit allen auf einmal.“
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„Super, das löst unser Problem. Kennst du die Adresse?“, fragte Papa und als Max
ihn mit einem amüsierten Lächeln anschaute fügte er hinzu: Ich gehe ihn morgen
besuchen. Will jemand noch ein Eis? Diesmal verspreche ich, mich nicht zu irren.“
Am darauffolgenden Samstag begannen wir die Zusammenkunft zu planen. Wegen
der Karnevalspartys hatten wir nicht so viel Zeit, wie wir wollten, aber keine Aufgabe, leicht
oder schwer, könnte uns von unseren geliebten Karnevalspartys jemals abhalten.
Natürlich auch nicht die Organisation der Zusammenkunft in Rekord-Zeit.
Am Sonntag schlief ich unruhig. Für uns ist es extrem außergewöhnlich schlecht zu
schlafen, weil wir im Clan alle immer tief schlafen (auch nur wenige Stunden – aber mehr
brauchen wir nicht). Als ich am Montag in die Schule kam, war ich überrascht, dass ich
Zak gar nicht begegnen wollte. Ihr müsst mich verstehen: natürlich wollte ich ihn
wiedersehen, aber gleichzeitig wollte ich nicht. Ich hätte sogar die Schule geschwänzt, um
ihm aus dem Weg zu gehen. Aber andererseits wollte ich unbedingt zu ihm hingehen.
Bestimmt wisst ihr, was ich meine.
Als ich an diesem Tag das Haus verlassen hatte, merkte ich sofort wie schlimm es
für mich war, schlecht geschlafen zu haben. Schon an der Haustür glaubte ich, Zak vor
meinem Haus auf der Promenade sitzen gesehen zu haben. Aber als ich dann genauer
hingesehen hatte, verstand ich, dass ich es mir aus lauter Müdigkeit in meiner Phantasie
nur eingebildet hatte, denn Zak war verschwunden. Er hätte außerdem niemals dort sein
konnten, da er bereits an der Tür stand, als ich zur Schule kam. Diesmal trug er ein T-Shirt
mit einem Kindergesicht drauf und der weißen Aufschrift „U2“. Seltsame Frisuren Rodrigues Gesualdi
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„Hallo“, begrüßte er mich mit einem Kuss auf die Wange. „Ich dachte, du kommst
nicht mehr; es gongt jetzt.“
„Nein...es ist nur…“
Zak vervollständigte meinen Satz: „Ich bin auch nach den Karnevalstagen sehr
müde. Nach so einem Wochenende müsste noch ein Wochenende kommen, um sich
davon zu erholen.“
„Ja…“, war alles, was ich sagen konnte. Er dachte bestimmt, ich bin dumm, aber
mir war nichts anderes eingefallen, was ich hätte sagen können, zumindest nichts, was ich
in Worte hätte fassen können.
„Bist du tanzen gegangen?“, fragte er interessiert…„Hast du Spaß gehabt?“
„Ja“, antwortete ich, während ich dachte, er würde jetzt endgültig glauben, dass ich
dumm bin.
Als wir den Flur zu meinem Klassenzimmer erreichten, erklang der Gong. „Ist alles
in Ordnung bei dir?“, fragte er. Ich nickte. „Wir sehen uns später“, verabschiedete er sich
ohne weiter nachzufragen und ging weg.
Wie er vorausgesehen hatte, haben wir uns später gesehen.
Genau in der nächsten Pause.
In unserer Schule trinken wir in der ersten Pause eine Tasse Tee. Um Unfälle mit
dem Tee zu vermeiden, darf man nicht damit herumrennen. Alle Kinder sitzen in dieser
Zeit zusammen und unterhalten sich. Zak saß im Pausenhof neben mir. Er lächelte mich
an „Warum gucken mich alle so seltsam an?“, fragte er mich.
„Mach dir keine Sorgen“, antwortete ich. Nur weil ich Tee trank und mich bereits
überwunden hatte, ihm nicht aus dem Weg zu gehen und hier wiederzusehen, war ich
überhaupt in der Lage, wieder mit ihm vollständige Sätze zu sprechen. „Mit der Zeit wirst
du dich daran gewöhnen.“
„Ich bin nicht sicher, dass ich mich daran gewöhnen möchte“, murmelte er, und
fragte direkt danach: „Gibt es hier an der Schule keinen Platz, an dem man Ruhe hat?“
Ich zeigte ihm schließlich meinen Zufluchtsort, den ich immer aufsuche, wenn ich
allein sein will: den Musikraum.
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Die Musiklehrerin erlaubt mir immer in den Pausen hinzugehen, weil wir uns sehr
gut verstehen. Vielleicht, weil ich (und meine Geschwister) fast die einzigen in der Schule
sind, die Musik machen und den Unterricht genießen oder weil sie weiß, dass ich es ab
und zu brauche, allein zu sein, Gitarre zu spielen und mich abzugrenzen.
Es ist ein gemütlicher Raum im obersten Stockwerk, der eine Holzdecke mit großen
Fenstern hat, aus denen die strahlende Sonne hineinschien. Das Schloss des Pianos war
seit langer Zeit kaputt und der Schrank hatte keinen Schlüssel, so dass ich frei
entscheiden konnte, welches Instrument ich spielen wollte.
Zak mochte den Klang des Pianos; er setzte sich sofort dorthin und fing an zu
singen.
Später hatte ich eine alte Mandoline ausgesucht, die sehr gut klang. Ich hatte ihn
darauf begleitet während er einen Song von Charly Garcia sang.
Wenn du Liebeslieder magst…,
sang Zak, während er die Melodie mit umfassende Akkorden aus vielen Noten begleitete.
„Magst du Liebeslieder?“, fragte er mich.
Und du diese neuen seltsamen Frisuren magst…,
„...wie deine, Val“, zeigte er lächelnd mit dem Finger auf meine Haare.
Wenn du für eine bessere Welt gekämpft hast...
und du diese neuen seltsamen Frisuren magst…
Das Licht im Musikraum war gedämpft und ich fühlte mich dort absolut wohl.
Gib mir ein bisschen Liebe…,
sang er und ich errötete.
„Hast du den Gong nicht gehört?“, fragte ich ein bisschen verlegen.
„Nein“, lächelte er mich an, ohne die komplizierte Akkordfolge zu unterbrechen,
„aber wir können runtergehen, wenn du willst“.
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Er endete das Lied mit drei sukzessive Akkorden und erklärte: „Ich mag dieses Lied
total. Möchtest du wirklich schon runter gehen?“
Was für eine Frage, dachte ich. Wir gingen die Treppe zusammen herunter.
Ich fühlte mich immer noch sehr wohl aber als wir die anderen Kinder, die über die
Flure rannten sahen, war ich wieder total verlegen. Dann ging nochmals der Gong und wir
beeilten uns rechtzeitig zu unseren Klassenräumen zu kommen.
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Direkt als ich zu Hause ankam, traf ich Ahl auf der Treppe. Er fragte mich sofort,
was mit mir los sei.
Ahl ist mein großer Bruder. Er ist 15, trägt lange Haare, die in steifen Strähnen nach
oben stehen und er kann Gedanken lesen – sogar die unseren. Er ist der einzige, der
seine Gabe auch an normalen Menschen einsetzt, einfach, weil er er nicht verhindern
kann. Er weiß, wann ein Lehrer einen unangekündigten Test schreiben lässt, wann ein
Mädchen, das er mag, eine Einladung ins Kino annehmen will oder ob es ihm sagen wird,
dass es einen anderen mag.
Aber das bedeutet nicht, dass er trickst. So wie ich nicht vermeiden kann, etwas zu
hören, das in meiner Nähe erklingt oder etwas anzufassen, das ich in der Hand halte, so
kann er nicht vermeiden, die Gedanken um sich herum zu lesen. Vielleicht hat er sich
noch nie verliebt, weil er immer weiß, was die anderen denken.
Ein Bruder wie Ahl zu haben bedeutet eine riesige Hilfe. Da er die Gedanken lesen
kann, wusste er sofort, als wir uns an der Treppe trafen, dass ich mir Sorgen machte; und
er fragte mich sofort, was mit mir los war.
„Ich weiß nicht“, sagte ich. Er sah mir in die Augen (er las ausführlich meine
Gedanken) und umarmte mich.
Er verzog das Gesicht und sagte „Du bist in Zak verliebt. Mach dir keine Sorgen.
Und vergesse nicht: das, was du wirklich willst ist auch das, was du machen sollst.“
Ich erkannte in mir ein unangenehmes Gefühl: ich hatte Angst . Vielleicht ist euch
das auch schon passiert. Für mich war es definitiv schwer, weil wir uns im Clan nicht wie
jeder andere verlieben; es ist nicht so, dass wir, wenn uns jemand gefällt einfach ins Kino
gehen, in der Dunkelheit Händchen halten und seinen Namen auf beschlagene
Fensterscheiben schreiben. Wenn einer von uns sich verliebt, dann ändert sich alles im
Leben. Alles was man macht, auch das Dümmste oder Gewöhnlichste, wird plötzlich viel
wichtiger, wird anders, wird etwas Besonderes.
Ist auch erst dann, sagt man im Clan, wenn mann mit absolute Klarheit, mit
komplette Entschlossenheit genau Die Mission Bescheid weißt. Aber davon wissen wir die
Kinder nicht viel. Ist das einzige, wovon die Erwachsene vermeiden, mit uns zu sprechen.
„Du bist zu jung, um darüber etwas zu wissen“, sagen sie.
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So wie in Filmen, in denen ein Außerirdischer auf die Erde kommt oder eine
Zeitreisende in unserer Zeit landet und alles mit verwunderten Augen sieht, so sieht
plötzlich die Welt für uns aus – wenn wir uns verlieben. Jede Ecke wird zu einem
magischen Ort, wo sich pausenlos Wunder auf turbulente Weise zu ereignen scheinen,
und zwar wie Autos in der Rushhour oder Insekten an einer Lampe in einer lauen
Sommernacht. Wenn einer von uns sich verliebt, braucht er gar nichts, um glücklich zu
werden – schon die Luft um uns herum reicht, um das wahre Glück tief in uns selbst
unwidersprechlich zu spüren.
Mama und Papa sind ein Beweis dafür. Sie sind absolut glücklich, zweifellos. Es
vergeht nie viel Zeit, ohne dass sie sich berühren und sich küssen. Sie sind immer gut
gelaunt, sie wollen jederzeit mit uns oder miteinander spielen, Spaß haben, Witze
erzählen oder einfach Geschichten des Clans austauschen. .
Es ist nicht so, dass sie nie streiten. Wenn sie einen ausfechten ist es schrecklich,
weil es dann ein echter, ehrlicher Konflikt ist. Aber wenn sie das machen, gehen sie an
einen anderen Ort, an dem sie allein sind und wo niemand das Geschrei hört. Wenn sie
zurückkommen sind sie versöhnt und verstehen sich wieder gut.
Ich spürte nicht nur Angst, sondern auch Bewunderung, als Ahl mir auf den Kopf
zusagte, dass ich verliebt bin. Mir war das eigentlich nicht bewusst aufgefallen. Auch wenn
ich längst bemerkt hatte, dass sich mein Leben komplett verändert hat, bin ich nicht auf
die Idee gekommen, dass ich mich verliebt haben könnte.
„Warum sollte ich mir Sorgen machen?“, fragte ich.
„Weißt du das nicht? Haben dir Mama und Papa nichts erzählt?“
„Was haben mir nicht erzählt?“
„Besser fragst du sie selbst, ja?“, sagte Ahl und stieg weiter die Treppe hinab.
Ich hätte ihn in diesem Moment fragen müssen, aber ich traute mich nicht.
Vielleicht brauchte ich noch Zeit oder wollte nur allein sein, um zu genießen, dass
ich verliebt war. Es war für mich überhaupt nicht der passende Moment zu erfahren, wovor
ich mir Sorgen machen müsste.
Zum Glück reden wir zu Hause über alles und ich vertraute darauf, dass mir eh alle
helfen würden – und ich mich keine allzu großen Sorgen machen müsste . Aber ich war
trotzdem verwirrt. Ich wusste nicht, ob ich Ahl bestellen sollte, um für mich die Gedanken
von Zak zu lesen, oder ob ich lieber Max fragen sollte, was Liebe bedeutet oder ob ich
Mell bitte, mir einen Schneesturm zu erschaffen, damit Zak und ich im Musikraum bleiben
müssten.
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Ich wusste nicht, was ich machen sollte, ich wollte nur zurück in die Schule gehen
und Zak einfach wiedersehen.
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Am Dienstag besuchte Papa das Haus dieser Familie des Clans, die vor kurzem in
unsere Stadt gezogen war. Der Vater der Familie hatte die Haare violett mit einer Locke
über der Stirn. Seine Gabe war es, mit allen Mitgliedern des Clans im gleichen Augenblick
kommunizieren zu können; und zwar so, dass er mit allen gleichzeitig in Verbindung treten
konnte. Mit ihm war es natürlich sehr einfach, unser Problem zu lösen, weil er in einem
einzigen Augenblick das Datum und die Uhrzeit der Zusammenkunft sofort mitteilen
konnte und alle diesen Termin rechtzeitig einplanen.
Die Zusammenkunft war so wichtig, dass wir erleichtert waren, dass dieser Mann
allen Bescheid geben würde. Um das zu feiern gingen wir alle zum Essen an den Strand .
Es gibt in der Nähe unseres Hauses einen sehr breiten Strand. Wir müssen nur die
Straße überqueren und ein kleines Stück laufen. Tagsüber fischen dort Menschen, aber in
der Nacht, wenn niemand da ist, picknicken wir oft im Mondlicht. Teller und Besteck bringt
Mama auf dem Luftweg an den Strand. Die Empanadas, die frittierten Hühnchen und das
Eis erschafft Papa. Wir brauchen selbst ganz wenig Dinge mitzubringen. Mell fragte uns
natürlich noch, welches Wetter wir am liebsten haben würden und so haben wir immer
eine schöne Zeit.
Mell ist sehr nett und hilft uns, wenn wir uns anderes Wetter wünschen. Vor allem
mir hilft sie, da wir zu Hause diejenigen sind, die am meisten Zeit miteinander verbringen.
Wir genießen es einfach, zusammen zu sein, sprechen über alles, und lachen viel.
Für sie ist es sehr einfach, Beachtung zu finden. Sie muss nur einen Sonnenstrahl
durch die Wolken zu sich führen. Sie könnte auch einen romantischen Sonnenuntergang
genau dann erschaffen, wenn der Junge kommt, den sie erwartet. Trotz allem ist sie nie
verliebt gewesen; vielleicht weil sie noch nicht jemand so Besonderes kennengelernt hat,
der sich auf ihren Sonnenuntergang so freut wie ich es tue. Da sie das Wetter beliebig
wechseln kann und da sie sehr zuvorkommend ist, hatte uns Mell, als wir den Strand zum
Mitternacht-Picknick erreichten, gefragt, welches Wetter wir uns wünschen. Wir hatten
Sehnsucht nach einer warmen Nacht voller Sternschnuppen, damit wir uns ganz viel
wünschen konnten.
„Voller Sternschnuppen?“, lachte Mell, „ist das euer Ernst?“
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In diesem Moment schien der Himmel taghell, so viele Sternschnuppen schickte sie
uns. „Ich höre eure Wünsche meine Damen und Herren“, verkündete Mell und rannte in
Richtung Küste.
Wir schrieen vor Aufregung und gingen zur Küste, wo wir ganz still blieben, um die
Sternschnuppen zu beobachten. Als das Sternschuppen-Spektakel lange Zeit später ein
Ende gefunden hatte, hatten wir bereits mehrere Male hintereinander die gleichen
Wünsche den Himmel gerichtet – wie Kinder, die endlich eine Art „Freifahrtschein“ zum
„Wünsche-Verschicken“ bekommen haben.
„Jetzt müssen wir uns aber auf unsere Arbeit konzentrieren“, sagte mein Bruder Ahl.
Er brachte hinter seinem rechten Ohr eine Strähne hervor, die auf seiner Wange gelandet
war und forderte uns fragend auf : „Wo fangen wir an?“
Wir sahen die Flugzeuge, die dicht über der Erde flogen, weil ja die Landebahn des
Flugplatzes hinter unserem Haus anfängt. Die Möwen, die sich durch das Licht von Mells
Himmelsspektakel erschrocken hatten, kamen zurück zum Strand, immer noch
orientierungslos, sie konnten einfach nicht verstehen, warum wieder Nacht geworden war,
obwohl es kurz zuvor wie Tag schien. Wir merkten langsam, dass wir hungrig waren, aber
bevor wir die Empanadas und die frittierten Hühnchen essen, die mein Vater auf einer
Decke erschaffen würde, saßen wir noch auf Holzstämmen und wollten zumindest ein
bisschen mit der Organisation anfangen.
„Vielleicht sollte Max uns allen erklären, worum es in der Zusammenkunft eigentlich
geht“, schlug mein Vater vor.
Als er zu sprechen anfing erinnerte ich mich, dass ich ihn noch fragen wollte, von
welchen Sorgen Ahl sprach, die ich mir über mein Verliebtsein nicht machen sollte. Aber
ich war immer noch unentschlossen, ihn, Mama oder Papa zu fragen.
„Einmal alle 19 Jahre“, erklärte Max „richtet sich der Vollmond in eine Reihe mit den
Planeten. Am Anfang eines solchen Tages trifft sich der Clan immer zur Zusammenkunft.
„Jede Familie stellt ihre Kinder vor. Diejenigen, die nach der letzten Zusammenkunft
geboren wurden (wie wir alle in unsere Familie) lernen die anderen Kinder sowie alle
Mitglieder des Clans kennen. Erst nach einem symbolischen Tanz, gehören die Kinder und
Jugendlichen offiziell zum Clan; erst ab diesem Moment werden wir wirklich Teil des
Clans.“
Max sah uns alle in die Augen, um sich zu vergewissern, dass wir alles verstanden
hatten. Wir nickten aufgeregt, ungeduldig weil wir noch mehr wissen wollten, wie diese
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Plastikdackel, die manche Opas im Auto haben und deren Köpfe mit jeder Bewegung des
Autos mitgehen.
„Außerdem müssen sich die Kandidaten beweisen …“, setzte Max fort, „…weil nicht
nur wir, sondern jeder mit einer eigenen Gabe geboren wird. Nur, dass die normalen Leute
nicht wissen, welche Gabe sie haben. Diejenigen, die sie entdecken, werden von dem
Clan eingeladen, um die Gabe, die sie bei sich entdeckt haben zu präsentieren. Wenn es
sich um eine tatsächliche Gabe handelt, und nicht um einen Trick, ist der Kandidat
angenommen und sein Name wird offiziell eingetragen, damit er eine neue Familie
aufbauen kann. Wir, die von Clan-Mitgliedern geboren wurden, sind nicht gezwungen
unsere Gabe zu zeigen, weil wir sie immer finden. Nicht, weil wir anders sind, sondern weil
unsere Eltern sich von unserer Geburt an bemühen, diese zu finden. Andere Eltern, die
nicht daran glauben, das so etwas möglich ist, suchen natürlich erst gar nicht danach.“
„Ja“, unterbrach Ahl. „Es ist wie bei einem Wissenschaftler, der nie eine Impfung
finden wird für eine Krankheit, von der er gar nicht weiß, dass sie existiert.“ Niemand von
uns fand den Vergleich treffend; wir guckten weiter zu Max – in diesem Moment war für
uns nur interessant, was er sonst noch zu sagen hatte.
Danach erzählte er das Schlimmste: das, was ich am liebsten nicht gehört hätte –
genau das, wonach Ahl mich gefragt hatte, ob ich es wusste und was ich gar nicht erklärt
haben wollte – Jetzt weiß ich warum.
„Es gibt noch einen Anlass für die Zusammenkunft: Die Teilnehmerinnen des Clans
suchen einen Freund und die Teilnehmer eine Freundin. Für alle wird dann ein Tanz
getanzt – ja, der Burée, den ihr so gut kennt. Der Burée ist der Tanz bei dem wir uns im
Clan kennenlernen.“
„Nein“, dachte ich, und begann zu ahnen, warum Ahl angedeutet hatte, dass ich mir
Sorgen machen müsste. Ich wollte auf gar keinen Fall zu der Zusammenkunft gehen. Um
mich zu verlieben, musste ich niemanden treffen, weil ich schon verliebt war, in einen
Musiker, der nicht zum Clan gehörte.
Alle fingen an zu essen. Ich war so verzweifelt, von dem, was ich gehört hatte, dass
ich empört fragte:
„Wie könnt ihr jetzt essen?“
„Wir haben genug Zeit, die Zusammenkunft vorzubereiten“, antwortete mein Vater,
der glaubte, dass ich deswegen so besorgt war. Ahl sah mich an, als ob er ahnte, was ich
hatte und plötzlich musste ich lachen.
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„Ja, wir haben noch Zeit“, bestätigte ich, mehr für Ahl als für die anderen.
„Egal welche Sorgen wir auch immer haben könnten, es lohnt sich nicht, deswegen
ein gemeinsames Essen nicht mehr richtig zu genießen,“ nahm Ahl mit vollem Mund und
leuchtenden Augen vorweg. Er hatte Recht: Die Empanadas und die frittierten Hühnchen
waren köstlich. Kurz danach hatte ich auch den Mund voll und war tatsächlich nicht mehr
in der Lage, jemanden wegen meiner Probleme anzusprechen.
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Es dauerte noch eine Woche bis zur Zusammenkunft und ich traf Zak jeden Tag. In
der Pause gingen wir zum Musikraum, wo ich auf dem Boden saß und ihm Beim Singen
zuhörte. Wenn er am Piano, mit dem Rücken zu mir, saß, nutzte ich die Gelegenheit und
flog unbeobachtet hinter ihm oder schwebte ein wenig über dem harten Boden, der auf
Dauer sehr unbequem war(vorher fand ich es schöner - da schwebte sie weil sie so
glücklich war. Jetzt schwebt sie weil der Boden so hart ist) . Ich war natürlich sehr
vorsichtig, weil ich nicht wollte, dass Zak etwas merkte, aber die Tatsache, dass ich meine
Gabe ausüben konnte, wenn er mit mir im gleichen Raum war, gab mir ein sehr schönes
Gefühl, eine Zugehörigkeit wie Hundebesitzer, wenn sie im Park aneinander vorbeilaufen
oder Star-Trek-Fans, die sich in der Stadt zufällig treffen und sofort eine Form der
Verbundenheit spüren.
Zak schien es seinerseits auch zu mögen, mit mir zusammen zu sein und Lieder für
mich zu singen. Er sagte, er mochte meine Augen: „Sie sind so groß und so dunkel wie
das Meer, das ich in der Nacht aus dem Fenster meines Zimmers sehe. Du hast OzeanSchwarz-Augen, Chica“.
Es war sehr aufregend mit ihm in den Musikraum zu gehen, allein mit ihm sein und
die wunderschöne selbst komponierten Melodien zu hören. Manchmal sang er heitere
Lieder, die von lustigen Geschichten erzählten und mich zum Lachen brachten. Manchmal
sang er Tangos oder betrübte Lieder, die mich den ganzen Tag so melancholisch
stimmten, als ob ein unsichtbares Nieseln in der Luft schwebte, so dass ich kurz davor
stand zu weinen . Sie erinnerten mich an das menschenleere Zentrum von Buenos Aires
in Sommernächten, die unter den Gebäuden versteckten Sonnenuntergänge in Madrid,
die geheimnisvollen, immer unsymmetrischen Dächer von Paris, die Nordsee Strände im
Winter, wenn sich Schnee und Wellen berühren und an die Luftfeuchtigkeit in der Karibik,
wenn der erste Regen der Saison nach langen trockenen Monaten endlich kommt.
Ich zerzauste spielerisch seine ohnehin chaotischen langen, schwarzen Haare;
lachte, als er sich darüber beschwerte und behauptete im Scherz, ich wäre nur neidisch
auf seine vielen Haare, weil ich ein Glatzkopf bin.
„Ich folge nur meinem Stil“, sagte er mit stolzer Pose.
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„Könntest du dich wenigstens irgendwann mal ordentlich kämmen“, lachte ich.
„Wie gesagt, ich folge meinem Stil. Und du hast es schon gesagt, du bist neidisch,
weil du keine Haare hast.“
„Gefalle ich dir etwas nicht?“
„Natürlich gefällst du mir, Chica, sogar, wenn du meine schönen Haare zerzaust wie
ein frecher Vogel.“
Pack deine Sachen und geh weg von hier
In Christus Namen versuch nicht, fortzufahren…,
sang Zak, ohne zu ahnen, dass ich neben ihm ein paar Millimeter über dem Boden
schwebte.
Wir hatten echt Spaß zusammen, obwohl ich immer noch besorgt war. Ich konnte
kaum aufhören darüber nachzudenken, was mir bevorstand.
Genau, als er Willkommen am Zug sang, hätte ich ihm beinahe erzählt, dass ich
mich in ihn verliebt hatte. Aber jedes Mal, wenn ich es erzählen wollte, machte Zak einen
Witz, sagte mir, dass ich ein frecher Vogel wäre oder er machte plötzlich ein ganz ernstes
Gesicht und erklärte, dass ich die hübscheste Kahlköpfige war, die er je getroffen hatte
und vielleicht auch das hübscheste Mädchen, das er kannte. Er sah mich lächelnd an und
spielte weitere Akkorde des Liedes.
Binde deine Haare zusammen
Komm zum Bahnhof …
sang er, als er ob er wusste, dass ich etwas ganz Ernstes zu sagen hatte.
...wenn du mich nicht begleitest, kannst du mich verabschieden.
Ich hörte auf und sah durchs Fenster stolz das Licht, das Mell erschaffen hatte. Die
Sonne schien, die Luft war trocken und plötzlich stieg eine Brise hoch, die nach Regen
roch und die Blätter wirbelten wie das Ablenkungsmanöver der Assistentin eines
anspruchsvollen Zauberers.
In den Spitzen der Bäume sprangen kleine Vögel mit ganz dünnen Beinen schnell
von einem Ast zum nächsten, als ob sie etwas suchten, das sie nicht finden konnten. Ab
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und zu flog eine Möwe vorbei, die sich verflogen hatte. Ich mochte es bei Zak zu sein. Das
mochte ich so sehr. Mir war klar, dass ich mit ihm reden musste, so klar wie die Tatsache,
dass ich den Clan vor niemanden erwähnen wollte.
Die Tage verflogen bedrohlich schnell und wir verbrachten jedes Mal mehr Zeit
zusammen. Jeden Nachmittag begleitete er mich nach Hause, wenn die Schule endete.
Wir verabschiedeten uns auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor meinem Haus
aber versuchten immer die Verabschiedung solange wie möglich herauszuzögern. Wir
taten so, als ob wir nur auf das Meer schauen wollten, dem Flug der Möwen hinterher
sehen wollten oder als ob wir schätzen wollen, wann der Regen kommt. Wir schwiegen,
als ob wir nur die Zeit wie ein lautes Metronom hören würden, das uns daran erinnert,
dass sie schnell vergeht.
Wir fingen an uns so nah zu fühlen und je näher wir uns fühlten, desto mehr Sorgen
machte ich mir, was die immer näher rückende Zusammenkunft uns bringen würde.
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Zu Hause wurde nur noch über die Zusammenkunft gesprochen. Alle waren mit den
Vorbereitungen sehr beschäftigt, sie schienen sich in dieser Atmosphäre voller Hektik,
Aufregung und Chaos richtig wohlzufühlen.
Es gab viel zu tun und obwohl ich versucht hatte, mit Mell zu sprechen, habe ich
den passenden Moment nicht gefunden, um in Ruhe mit ihr zu reden. Papa und Mama
waren von allen am meisten beschäftigt, genau wie Ahl, vielleicht weil er der Älteste war
oder der Einzige von uns, der zumindest über ein bisschen Organisationstalent verfügte.
Ich entschloss mich mit Max zu sprechen, da er alle Antworten kannte, die ich über den
Clan wissen wollte.
Außerdem war ich sehr beschäftigt mit der Suche nach einer passenden Location
für die Zusammenkunft. Ich musste mich beeilen, weil wir sie ja auch noch für die
Zusammenkunft alles herrichten und dekorieren wollten. Dann fiel mir ein, dass ich Zeit
gewinnen könnte, wenn ich den passenden Ort für die Zusammenkunft nicht finden würde.
Sie müssten dann das Treffen verschieben oder sogar absagen. Dann brauchte ich nicht
die anderen kennenzulernen, in die ich mich dann angeblich verlieben sollte. Aber ich
konnte bei etwas so Wichtigem nicht lügen. Und außerdem ist es bei uns im Clan
unmöglich etwas zu sagen, von dem wir wissen, dass es der Wahrheit nicht entspricht. Wir
sind ehrlich wie ein Fisch nass ist, wir haben keine Alternative.
In diesen Tagen flog ich auf der Suche nach einem guten Platz über die ganze
Stadt. Wir bevorzugten eine Location, die nah an unserem Haus war, aber das einzig
wirklich Wichtige war, dass wir die Party vor Fremden schützen mussten. Ein Wald oder
ein Berg könnte passen, aber das würde für niemanden bequem zu erreichen sein.
Unser Haus wäre ideal, da diejenigen, die mit dem Flugzeug kommen würden,
direkt vom Flugplatz zu Fuß kommen könnten. Und der Bahnhof ist auch nicht weit
entfernt. Aber das Risiko war zu groß und außerdem brauchten viele gar nicht zu reisen.
Da die Gaben im Clan vielseitig sind und jeder eine andere hat, musste es einer geben,
die wie die Fische schwimmt, so wie ich wie die Vögel fliege und einer, der sich mit seiner
mentalen Kraft fortbewegen kann. Vielleicht könnte sich jemand unsichtbar machen und
an einem ganz anderen Ort wieder auftauchen.. Da die meisten reisen müssten, wollte ich
einen gut erreichbaren Ort finden und machte ich mir große Sorgen, als ich in der Nacht
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von Mittwoch auf Donnerstag keinen passenden Ort gefunden hatte, obwohl ich so viele
Stunden geflogen war.
Mir fehlte außerdem die Konzentration. Ich flog eine Weile und plötzlich merkte ich,
dass ich eigentlich überhaupt keinen einzigen Ort wahrgenommen hatte. Ich wollte Zak
nicht verlieren und musste darüber mit jemandem sprechen. Ich suchte Max aus. Am
Donnerstag sagte ich ihm, dass ich mit ihm reden wolle. Wir verabredeten uns, nach der
Schule zusammen nach Hause zu gehen.
In der Pause erklärte ich Zak , dass ich ein Problem habe und an diesem Tag nicht
mit ihm nach Hause gehen kann. Wir waren wieder im Musikraum, der immer gut
aufgeräumt war, aber diesmal chaotisch aussah.
„Willst du mir nichts darüber
erzählen?“, fragte er.
„Nein, das ist das Einzige, was ich mit dir nicht besprechen kann.“ Mell fing an, es
regnen zu lassen (oder hat den Regen nicht verhindert) und ich war noch trauriger, weil
ich vor Zak kein Geheimnis haben wollte.
„Mach dir keine Sorgen. Wir haben sowieso das ganze Leben vor uns“, ermunterte
mich Zak. Vergeblich versuchte ich zu lächeln – er konnte nicht wissen, dass wir nur noch
ein paar Tage hatten.
Der Regen war kälter als die warme Luf. und ich fand es ungemütlich, weil plötzlich
alles dunkler geworden war. Jetzt bemerkte ich auch die chaotischen Tische, die
gekippten Stühle und die Essenreste, die überall herumlagen, weil irgendwelche Chaoten
unserer Schule hier waren und mit einem Musikraum nichts anderes anzufangen wissen,
als dort ihren Unfug zu treiben. Diese erbärmliche machte mich noch trauriger.
„Ich respektiere, wenn du mir es nicht sagen willst“, versicherte mir Zak „du musst
nur wissen, du kannst mit mir reden“.
„Nein. Ich kann nicht.“
„Das weißt du nicht.“
„Ich kann nicht…und basta.“
„Gut. Aber du irrst dich.“
Ich hätte ihm super gerne alles erzählt und ihm gesagt, dass wir gemeinsam über
die Stadt fliegen können, wenn ich ihn umarme, dass wir ganz einfach vor dem Regen, der
sich hinter den Fensterscheiben des Musikraums bemühte, mich eben noch traurig zu
stimmen, fliehen könnten. Aber uns wurde immer gesagt, dass wir uns schützen müssen,
und dass es zu riskant ist, wenn jemand, der nicht zu unserem Clan gehört, unsere Gabe
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kennt. Ich hatte viel zu verlieren oder zumindest glaubte ich das: schon bald würde ich
herausfinden, dass ich sogar viel mehr zu verlieren hatte, als ich dachte.
Nach der Schule ging ich mit Max, um ihn zu fragen, warum es ein Problem wäre,
wenn ich mich in jemanden aus dem Clan verliebe. Es hatte aufgehört zu regnen und der
aufkommende Nebel schien eher wie ein erstarrter Regen. Max sagte mir, dass ich mit
Mama und Papa sprechen sollte, damit sie es mir erklären konnten.
„Komm, Max; du weißt alles und kannst mir helfen“, flehte ich resolut an.
„Dafür sind Papa und Mama da.“ Max versuchte, sich rauszuhalten.
„Du auch, oder? Du kannst mir auch helfen und du weißt ganz genau, wir dürfen
alles machen, was wir wollen.“
„Ja, das stimmt, das ist sozusagen die Grundregel des Clans“, stimmte er
schließlich zu. Nur mit einer einzigen Bedingung: ich kann dir alles erklären, außer über
dich und deinen persönlichen „Fall“ zu sprechen. Das, was dir jetzt passiert ist, muss du
mit Papa und Mama klären, nicht mit mir,“ sagte er entschlossen.
„Gut. Dann machen wir es so“, akzeptierte ich. „Ich will nur wissen, was für ein
Problem ich eventuell haben könnte , wenn ich Zak weiter treffe.“
„Unsere Gaben“, erklärte mir Max, „hängen von der Familie ab. Wir haben sie, weil
wir in dieser bestimmten Familie geboren wurden. Wenn jemand den Clan verlässt und
sich in jemanden Normalen verliebt, verliert nicht nur seine Gabe, sondern die ganze
Familie verliert sie. Ich muss dir nicht erklären, was passieren könnte, wenn das vor der
Zusammenkunft geschieht.“
„Aber wie kann ich meine Gabe verlieren?“
„Ich habe dir gesagt, dass ich darüber nicht reden werde. Du musst Mama und
Papa fragen.“
„Aber ...“
„Niki Gnochi, Val…es tut mit leid.“
Inzwischen waren wir zu Hause angekommen. Endlich könnte ich mit Mama und
Papa reden. Aber sie waren nicht da. Sie hatten mit Ahl und Mell die andere Familie, die
uns bei der Organisation der Zusammenkunft hilft, besucht.
Ich bereitete das Abendbrot für Max und mich vor und half ihm danach Holzpuppen
zu bemalen, die er geschnitzt hatte. Weil Mama und Papa immer noch nicht kamen, ging
ich auf unsere Terrasse, um auf das Meer zu sehen. Auf der Promenade war Zak. Ich sah
zweimal hin, um mich zu vergewissern, dass ich es mir nicht wieder einbildete. Aber es
bestand kein Zweifel. Er war es.
Seltsame Frisuren Rodrigues Gesualdi
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„Ich gehe rüber, Max. Ich setze mich kurz ans Meer“, rief ich. „Wenn du etwas
brauchst kannst du mich rufen“.
Ich schloss die Tür und überquerte die Straße.
Seltsame Frisuren Rodrigues Gesualdi
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13
Zak saß genau vor dem Haus auf der Mauer der Promenade. Er spielte auf seiner
grünen Gitarre, die merkwürdigerweise exakt genau die gleiche grüne Farbewie seine
Augen hatte.
Er saß auf der Gitarrentasche; neben ihm wurde eine Tischdecke auf der
Betonmauer ausgebreitet, wo ich eine leere Packung Schokoladenkekse, eine Tüte
Gummibärchen und ein Glas Granatapfelsirup mit Sprudelwasser entdeckte. Auf dem
Boden lag halb geöffnet sein Rücksack, aus dem ein Haufen Notenblätter und eine
Flasche Sprudelwasser hinaus in die Welt zu schauen schienen, so wie Kanarienvögel,
die vor der ausgebreiteten Tür ihres Käfigs überlegend verweilten, ob die unbekannte
Freiheit wirklich die beste Option für sie wäre. Zak trug, wie immer, alles in schwarz. Er
hatte auf seinem schwarzen Leder-Chucks mit Liquid Paper „Die Toten Hosen“
geschrieben – auf dem einen war das Wort „Die" und auf dem anderen „Hosen“ deutlich
zu sehen; „Toten“ hatte er ganz klein auf der inneren Seite geschrieben.
Ich saß neben ihm. Er bot mir etwas zu trinken an und begrüßte mich. „Was für ein
Glück, dass du rausgekommen bist. Ich musste unbedingt mit dir sprechen und wollte dir
was zeigen. Mein Plan war, hier mit dir Abendbrot zu essen, aber ich habe alle Kekse
schon gegessen, sorry – jetzt sind es nur die Gummibärchen übrig geblieben.“
„Was wolltest du mir zeigen?“
„Ein Lied. Ich habe es für dich komponiert.“
„Das ist aber lieb von dir. Leider kann ich es jetzt nicht hören, weil ich mich noch um
eine andere Sache kümmern muss“.
Ich war total berührt, dass er ein Lied für mich geschrieben hatte und wollte es
unbedingt hören, aber ich musste zuerst mit Mama und Papa sprechen. „Sing lieber ein
anderes Lied. Oder wenn du möchtest, kann ich die andere Gitarre suchen, damit wir
zusammen spielen.“
„Ich kann ein anderes Lied singen. Es ist aber auch ein Liebeslied. Darf ich es
singen?“
„Mell kommt bestimmt bald zurück“, murmelte ich. Es war keine Antwort, ich dachte
nur laut, dass der Nebel zu plötzlich wich und eine auffällig tiefe Brise das Laub vom
Boden radikal wegwehte. Es wurde dunkel und die Noten, die Zak in der Hand hielt, flogen
Seltsame Frisuren Rodrigues Gesualdi
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weg. „Ich komme sofort wieder“, sprang er von der Mauer und lief hinter seinen Noten her.
Max überquerte in diesem Moment die Straße. Ein Flugzeug steuerte auf dem Meer die
Landepiste an. Max kam näher und Zak lief weiter. Der Wind wehte Max Pony ins Gesicht
und er strich ihn wie einen Theatervorhang zurück, auf und zu, ein und ein anderes Mal,
über die Szenen seines Gesichtes.
„Val, Mama und Papa sind angekommen und möchten mit dir sprechen, sie haben
mir gesagt, dass ich dich holen soll.“
„Gut, ich komme; aber erst in 10 Minuten “, antwortete ich. „Kannst du mir einen
Gefallen tun? Kannst du Mama bitten, dass sie mir die Gitarre schickt?“
„Mach ich“, sagte Max.
Ich sah die Gitarre durch die Luft kommen. Ich nahm sie und bedankte mich,
obwohl ich wusste, dass Mama mich nicht hören konnte.
Ich fing an, irgendwelche Akkorde zu spielen. Der Wind war ruhig geworden und
der Himmel wurde wieder klar. Ein Flugzeug flog ganz tief über uns; kurz danach setzte
das Fahrgestell auf dem Asphalt der Landebahn mit einem lauten Quietschen der Reifen
auf. Zak kam mit seinen Noten zurück.
„Ich habe sie endlich bekommen“, keuchte er und merkte, dass ich jetzt auch eine
Gitarre hatte. „Hattest du die versteckt?“, wunderte er sich und zeigte auf meine Gitarre.
„Ich hatte sie zu Hause“, antwortete ich ohne zu lügen. Er setzte sich ohne
nachzufragen wieder hin, spielte einige Akkorde und ich spielte mit. Ich erkannte eine
Melodie, die mir sehr gefiel, aber Mell unterbrach uns, als sie mit dem Fahrrad aus dem
Haus zu uns kam. „Wie geht‘s Zak?“, begrüßte sie ihn. „Was macht ihr?“
Sie stieg von dem Fahrrad ab und lehnte es gegen die Mauer . „Ey“, rief sie, als sie
das Glas mit dem Granatapfelsirup sah, „darf ich einen Schluck nehmen?“. Und bevor Zak
antworten konnte, trank sie das Glas leer. „Wie lecker“, sie gab ihm das Glas zurück. „Ich
gehe“, verkündete sie, aß alle Gummibärchen, die übrig geblieben waren und fragte:
„Braucht ihr noch was?“
„Ja“, antwortete ich, sprach aber nicht weiter. Der Wind wehte wieder, genau als
Zak das leere Glas in seine Tasche packte und die Tischdecke auf der Mauer flog davon
wie ein Geist, der um uns herum tanzte, um uns zu helfen.
„Uff, noch mal“. Zak sprang schnell in die Richtung , in die zuvor die Noten geflogen
waren.
„Danke“, sagte ich zu Mell, als wir allein waren, „ich wollte bei dir einen
Sonnenuntergang bestellen.“
Seltsame Frisuren Rodrigues Gesualdi
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„Mit vielen Wolken? Oder mit einem klaren Himmel? Mit Regen?“, fragte Mell.
„Ich vertraue deinem Geschmack, aber hör auf mit dem Wind, bevor Zak etwas
ahnt.“
Das Flugzeug war schon am Ende der Landebahn angekommen, es drehte sich
langsam ab, um vor dem Terminal zum Stehen zu kommen. „Ich kann dir einen prächtigen
Sonnenuntergang besorgen, aber du musst mir versprechen, dass du mir erzählen wirst,
was du mit diesem Jungen hast.“
„Ich wollte es dir erzählen, aber wegen der Zusammenkunft hatten wir ja gar keine
Zeit zu reden.“
„Welche Zusammenkunft?“, wollte Zak wissen, als er mit der Decke zurückkam.
„Ein Treffen“, wich Mell aus.
„Wir sprechen später, ja?“, sagte ich zu Mell.
„Abgemacht!“, rief sie und überquerte auf ihrem gelben Fahrrad die Straße.
Die Sonne fing an unterzugehen und die Wolken bildeten am Himmel Millionen
verschiedener Farben.
„Du hast wunderschöne Augen, weißt du das?“, beobachtete mich Zak. „Und sie
scheinen in diesem Licht so besonders.... Sie sind wie Stürme. Sie sind… riesig. Sie
erinnern mich an Bambi.“ Ich lachte. „Und außerdem mag ich wie du lachst“, sagte er und
er spielte einige Akkorde, denen ich mit meiner Gitarre folgte. Er begann zu singen:
Papieraugen-Mädchen
Wo gehst du hin ?
Bleib bis zum Tagesanbruch.
Ich sang die 2. Stimme und zupfte mit meiner Gitarre die Akkorde. Ich vermied ihm
in die Augen zu schauen, aber manchmal fiel es mir nicht leicht.
Kleine-Füße-Mädchen
renne nicht weiter.
Bleib bis zum Tagesanbruch.
Die Sonne ging wunderschön unter. Es gab Wolken in allen möglichen Farben, kein
Wind und keine Wellen; das Meer, das sehr glatt war, schien den Sonnenuntergang wie
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ein Spiegel zurückzustrahlen, so, als ob anstatt des Meeres ein weiterer Sonnenuntergang
an seiner Stelle wäre, gleich dem, der sich am Himmel abzeichnete – nur umgekehrt.
Max überquerte noch mal die Straße und sagte: „Val, Pa und Ma sagen, dass sie
auf dich noch warten...“, aber ich hörte nicht mehr, was er sagte, weil ein riesiges
Flugzeug landete, dessen Turbinen einen kolossalen Lärm machten.
„Ich komme gleich“, sagte ich zu Max, der schon wieder die Straße zurück
überquerte.
„Kein Grund zur Eile“, lächelte ich Zak an. „Wir können weiter spielen. Das Lied ist
so süß. Ich hätte gerne, dass auch das Leben so poetisch wäre.“
„Das Leben ist so poetisch, Chica..“, dann machte Zak eine Pause „..und sogar
besser – wenn wir zusammen sind.“
Träum langsam einen Traum
in meinen Armen
bis die Sonne vor dem Fenster aufgeht...
Zak sang und sah mir in die Augen, nachdem er ein kompliziertes Arpeggio auf
seiner Gitarre zupfte, das ich nachzumachen versuchte.
„Ich wünsche mir …“, fing er an, als das Lied zu Ende war.
„Ich weiß“, unterbrach ich ihn „ich wünsche mir auch dasselbe“,sagte ich zu ihm.
„Aber nicht jetzt. Und sei nicht traurig. Mir hat es total gefallen, dass du dieses Lied für
mich gesungen hast. Bald kannst du mir auch das andere Lied bestimmt singen“, hoffte
ich. Ich hob mich ein bisschen, um ihm etwas näher zu kommen, aber nur ganz wenig,
damit er nicht merken konnte, dass ich nicht auf der Mauer saß. „Ich muss gehen“, sagte
ich dann zu ihm, ganz tief in seine Augen schauend. Sie waren grün, aber aus dieser
Nähe betrachtend, konnte ich einige sanfte gelbe Tüpfchen erkennen.
Ich hatte Sehnsucht, ihn zu küssen, aber ehe ich seine Lippen berührte, spürte ich
etwas Komisches und küsste ihn stattdessen schnell auf die Wange. Ich glaube, ich wurde
dabei rot. Zak lächelte.
„Ciao“, verabschiedete ich mich. „Wir sehen uns später“, versprach ich und
überquerte mit meiner Gitarre die Straße. Eine Möwe, die über meinen Kopf flog, landete
resolut auf dem Dach des Hauses; von da aus beobachtete das Meer wie eine erfahrende
Matrosin, die keine Angst kennt.
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An diesem Abend ging ich ausnahmsweise durch die Haustür ins Haus. Mama und
Papa warteten im Salon auf mich.
„Val, wir wollten mit dir reden“, sagten sie zu mir. „Es gibt Etwas, das du wissen
musst. Max hat uns erzählt, dass du wegen deiner Gabe gefragt hast.“
„Ja, aber ich hatte bis jetzt keine Zeit, mit euch darüber zu sprechen. Mir gefällt ein
Junge, den ich vor kurzem kennengelernt habe. Ich glaube, ich bin verliebt. Ich habe mit
Max geredet, und der behauptete, dass ich meine Gabe, wenn ich mich in jemand
„Normalen“ verliebe. Was bedeutet das? Dass ich nicht verliebt bin? Denn ich kann immer
noch fliegen. Aber ich bin fast sicher, dass ich verliebt bin...“
„Es trifft nicht ganz zu, dass du deine Gabe verlierst, wenn du dich verliebst .“
„Und ihr? Wie habt ihr euch verliebt, ohne eure Gabe zu verlieren?“
„Das ist das, was wir dir erzählen wollten. Im Clan kann man sich nur auf eine
Weise verlieben....“
Ahl kam von draußen herein. Er hing seine Schultasche an die Garderobe und
betrat den Salon. „Hallo“, sagte er, „sprecht ihr über etwas Wichtiges? Wir sehen uns
später. Stört es nicht, wenn ich Flöte spiele? Nein? Super...“ sagte er, ging in die obere
Etage und kurz danach hörten wir die Flöte.
„Es gibt nur eine Art, sich zu verlieben, ohne die Gabe zu verlieren“, sagte Mama.
Ich hörte die Melodie, die Ahl spielte; viele Noten, sie gingen hoch, runter, hoch, runter, als
ob sie nicht mehr stoppen würden.
„Wir dürfen den anderen nicht küssen“, sagte Papa plakativ, „wenn wir jemanden,
der nicht zum Clan gehört küssen, verlieren wir das, was uns so besonderes macht“.
„Wollt ihr mir sagen, dass ich keinen Freund haben darf?“, fragte ich.
Mell kam rein: „Was macht ihr? Habt ihr über etwas Wichtiges gesprochen? Ich hab
was ganz Lustiges zu erzählen“, unterbrach sie und als niemand antwortete fragte sie
weiter: „Möchtet ihr allein bleiben? Ja? Ist Ok. Gut, ich gehe, aber nur wenn Val mir
verspricht, sie erzählt mir alles.“
„Mell“, schimpfte ich, obwohl ich ihr ohnehin alles erzählen würde. „Ist gut, ich gehe“
, verkündete sie. „Aber ihr verpasst eine lustige Geschichte, sage ich euch“.
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„ Dann“, setzte ich fort, als Mell gegangen war, „wolltet ihr mir sagen, dass ich
keinen Freund haben darf?“.
„Genau genommen ist der Punkt nicht, dass du keinen Freund haben darfst“, sagte
Mama, „du verlierst deine Gabe, wenn du jemanden, der nicht zum Clan gehört, küsst.“
„Das bedeutet, du hast ihn noch nicht geküsst“, beschließt Papa. Er überlegte hoch
konzentriert, spielte mit seinem langen Zopf, indem er ihn zwischen seinen Fingerspitzen
drehte und mit der anderen Hand um sie herum zu flechten schien, bevor er ihn nach
hinten warf.
„Nein, aber ich war nah dran.“
„Es tut mir Leid, dass wir dir nicht vorher etwas darüber gesagt haben; wir hätten
uns nicht vorstellen können, dass du dich verliebst, ohne dass wir es mitbekommen.“
„Gut, aber macht euch keine Sorgen. Wenn wir nicht so beschäftigt mit der
Zusammenkunft wären, hätte ich es längst erzählt oder ihr hättet es von selbst gemerkt.
Jetzt erklärt mir, was passiert, wenn ich ihn küsse.“
„Du wirst nicht mehr fliegen können. Du wirst nicht mehr sein, wer du bist. Deine
Haare werden wachsen, obwohl du sie jeden Tag schneiden wirst und niemand, der dich
anschaut, wird in dir etwas Außergewöhnliches sehen…“
„Und wenn ich das will? Was passiert, wenn ich mich entscheide, normal zu sein?“
„Wir werden dich verstehen und wir werden dich wie immer und für immer lieben.“
„Tatsächlich?“.
„Ja klar. Aber es gibt noch etwas: die ganze Familie verliert ihre Gabe. Wenn du
dich entscheidest, den Jungen in den du verliebt bist zu küssen, werden wir alle ohne
Gaben weiter bleiben! …“
„Nein!“, erschrak ich mich. „ So etwas werde ich euch niemals antun…“
„Wir werden auch ohne Mission leben müssen. Ohne Gaben werden wir unsere
Mission vergessen oder als sinnlos oder unmöglich betrachten“ sagte meine Mutter, aber
mein Vater erinnerte sie: „Val weiß nicht über die Mission Bescheid“ und dann wieder zu
mir:
„Du tust uns nichts an. Du hast die Regeln nicht erfunden; die haben mit deine
Entscheidung nichts zu tun. Wenn du es vorziehst, deine Liebe statt deine Gabe zu
behalten, dann brauchst du dir über uns keine Gedanken zu machen.“
„Aber würde es euch nicht stören, ohne Gaben zu leben? Und ohne Mission, wie
auf immer das ist.“
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„Doch, aber wir können dich nicht zu einer bestimmten Entscheidung zwingen. Es
gibt aber noch etwas, dass du nicht weißt. Das macht alles viel kompliziert. Aber dafür bist
du doch immer noch zu jung.“
Max öffnete die Salontür und sah uns lächelnd an.
„Max, wolltest du etwas?“, fragte Papa.
„Quatschen. Mir war langweilig.“
„Wir führen ein Gespräch mit deiner Schwester, lass uns bitte allein“, sagte Mama
und Max ging.
„Niki Gnochi“, grummelt er als er die Tür hinter sich schloss.
„Wir“, sagte Mama. „Haben uns auf einer Zusammenkunft kennengelernt und
haben wir uns auf den ersten Blick verliebt, wie alle im Clan sich verlieben. Seitdem sind
wir sehr glücklich. Wir sind uns so ähnlich… wir sind total glücklich miteinander. Nicht
einmal wäre uns die Idee gekommen, dass sich einer von uns in jemanden verlieben
könnte, der nicht aus dem Clan ist. Du könntest die Erste sein.“
„Wenn du möchtest“, sagte Papa, „könnten wir mit dem Clan in der Zusammenkunft
darüber reden...“
„Das nutzt nichts“, unterbracht ihn Mama. „es gibt keine Möglichkeit, dass wir
unsere Gabe behalten können.“
Ahl machte eine Pause und fing eine andere Melodie an, die ähnlich war wie die
andere, nur langsamer. Ich erkannte sofort die Suite von Bach, die Ahl spielte. Max kam
wieder rein, um zu quengeln, dass ihm langweilig war und ich ging, weil ich allein sein
wollte.
Ich überquerte die Straße und saß an derselben Stelle, an der ich eben noch mit
Zak war. Ganz wenige Flugzeuge kamen um diese Uhrzeit und es gab es fast keine Vögel
mehr, außer ein Paar, der sich verspätet hatte und eilig zurück zum Nest wollte. Ich
machte mir Sorgen um mich, um Zak, um meine Familie, um die Zusammenkunft. Ich
wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass alle ihre Gabe verlieren. Aber ich wollte auch
nicht das verlieren, was ich mit Zak zum ersten Mal in meinem Leben (und vielleicht auch
zum letzten Mal) gefunden habe.
Es war wahr, was Mama und Papa gesagt haben. Wir verlieben uns nicht wie die
anderen. Und wir verlieben uns immer auf den ersten Blick. Mir hatte es gereicht ihn auf
dem Schulhof zu sehen, um zu wissen, dass sich etwas in meinem Leben verändert hatte.
Aber es scheint nicht wahr zu sein, dass wir uns nur in diejenigen verlieben, die so sind
wie wir.
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Ein Flugzeug näherte sich in der Luft. Ich konnte die grellen Lichter sehen, während
es an Höhe verlor.
Ich sah den Himmel an und war mir etwas eingefallen, woran ich noch gar nicht
gedacht hatte: Zak hatte mir nie etwas darüber gesagt. Es könnte sein, dass ihm gar nicht
das passiert ist, was mir passiert ist. Es könnte sein, dass ich mich in jemanden verliebt
habe, der mich gar nicht liebt. Oder gut, er könnte mich wie eine gute Freundin mögen
oder ich könnte ihm ein bisschen gefallen oder es könnte ...
Eine Möwe flog nah an mir vorbei über das Meer. Der Himmel war fast komplett
dunkel, nur am Horizont über dem Meer war noch ein sanftes Licht zu sehen. Langsam
wurde das Licht heller und noch langsamer teilte es sich in zwei Hälften.
An zwei Stellen des Horizontes waren zwei Lichter sichtbar, die immer heller
wurden, rote Lichter, als ob es dort brennen würde. Das Meer kann aber nicht brennen.
Die Lichter wurden deutlich, bewegten sich vom Horizont aus hoch und kurz danach
formten sich daraus zwei rote Kreise, die sich vom Meer aus emporragten.
Als sie fast die Linie des Horizontes verlassen hatten, verstand ich, dass es ein
Mondaufgang war – besser gesagt, ein Doppelmondaufgang. Ich weiß nicht, ob ihr den
Mond jemals aus der Horizontlinie hochklettern gesehen habt. Er ist erst rot und sobald er
hoch geht wird er gelb und dann nach einer Weile weiß. Natürlich war es nicht der Mond,
sondern zwei Monde, total identisch: Zwillingsmonde, absolut gleich.
Und wenn der Mondaufgang so schön ist, könnt ihr euch vorstellen wie hübsch es
ist, wenn er zweimal zu sehen ist. Ich war so berührt, dass ich die Tränen aus meinen
Augen fühlte. Ich weinte nicht, waren nur Tränen, die aus meinen Augen kamen wie
Regentropfen, wie Herbst-Blätter, wie schweigende Schneeflocken, so still, so unerwartet.
Es war wie plötzlich tief traurig werden ohne richtig traurig zu sein.
Ich wusste nicht, ob Mell die Dopplelmonde gemacht hatte, eine optische
Täuschung vor mir stand oder ob die Welt sich durch meine Liebe verändert hatte und
jetzt viel hübscher, viel poetischer geworden ist.
Es interessierte mich auch nicht. Die Welt könnte sich verändern, so viel wie sie
will; für mich war ganz klar, dass ich mich nur verlieben könnte, wenn ich bleibe, genau
wie ich bin; mit meinen Welteinschätzungen, meine Vorlieben und meinen Interessen. Ich
konnte mir nicht vorstellen, verliebt zu sein, ohne die besonderen Menschen, von denen
ich umgeben bin – wie meine Schwester, die vielleicht aus Langeweile, aus Spiellust oder
weil sie durch das Fenster des Hauses gesehen hatte, wie ich auf das Meer schaute, extra
zwei Monde für mich an den Horizont stellte.
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Er war so wunderschön, dass ich mich sofort erleichtert fühlte, weil ich dadurch
verstanden hatte, dass ich diese poetische Welt nicht verlieren wollte. Wenn ich das nicht
mehr hätte, würde ich auch alles anderes verlieren, eingeschlossen meine Fähigkeit zu
lieben, meine Freude, die Monde zu staunen; sogar die Monde selbst.
Ich fühlte mich nicht besser aber definitiv erleichtert als ich mich in diesem Moment
entschied, was zu tun ist : ich werde Zak sagen, dass ich mich nicht in ihn verlieben darf.
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Ich ging zurück nach Hause, von meinen Sorgen befreit aber immer noch traurig. In
der Küche traf ich Mell, die mich anlachte.
“Hast du den Mondaufgang gesehen?”, fragte sie mich stolz, wie ein kleines Kind,
das sich getraut hatte, bei der Theatervorstellung des Kindergartens teilzunehmen.
Ich konnte aber nicht antworten, weil ich sofort in Tränen ausbrach. Mell umarmte
mich; ermutigte mich und sagte, dass das alles vorbei gehen wird.
„An Ende wird alles gut“, sagte sie zu mir. „Wenn nicht - dann ist es noch nicht das
Ende.“
„Wo hast du denn den Satz her?“ fragte ich misstrauisch.
„Aus einem Film “, gab sie zu.
Sie schlug vor, zusammen ans Meer zu gehen, um 2 oder sogar 20 Mondaufgänge
zu sehen.
„Wir können die Geburt eines Sternes mitverfolgen… und sie taufen. Oder einfach
einen Sonnenuntergang …oder 2.“
Ich sagte, dass ich keinen Sonnenuntergang sehen möchte und erzählte, was mir
passiert war. Mell hörte aufmerksam zu und blieb danach eine Weile schweigend in ihre
eigenen Gedanken versunken. Kurze Zeit später begann sie zu sprechen.
“Ich glaube, es könnte sich lohnen, wenn wir die Gabe verlieren, weil du verliebt
bist… Ich glaube, es wäre nicht schlimm… schließlich leben alle Leute ohne Gaben!”
“Ich weiß es nicht”, sagte ich, jetzt richtig verwirrt, denn das klang irgendwie
einleuchtend
“Wenn ich mich verlieben würde, würde ich es bestimmt akzeptieren, dass alle ihre
Gabe verlieren. Du musst nur sicher sein, dass du ihn wirklich liebst.”
Ich dachte nach und eine Weile später antwortete ich: “Mell, ich bin 15, wie kann ich
wissen, ob ich verliebt bin oder nicht.”
“Was?!”
“Ich meine, wie kann man überhaupt so etwas wissen? Wie können andere die
Liebe erkennen und überhaupt wie wäre das erste Mal möglich, wenn du die Liebe mit
Seltsame Frisuren Rodrigues Gesualdi
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nichts vergleichen kannst und niemand es schafft, es dir zu erklären , ehe du es nicht
selbst erlebst?”
Wir blieben beide still. Ich fühlte mich nicht wohl und plötzlich auch ängstlich.
Ich war irritiert und spürte wieder diese Traurigkeit, die keine war. Wieder flossen
aus meinen Augen Tränen, genauso wie beim Aufgang der beiden Mondeaufgänge.
“Ey!”, ermunterte mich meine Schwester. “Sei nicht traurig. Es ist nicht so schlimm.
Komm, wir gehen in mein Zimmer.”
Dann gingen wir hoch in ihr Zimmer und betrachteten aus ihrem Fenster, wie wieder
zwei Monde aus dem Meer aufgingen. Danach blieb ich zum Schlafen da, in ihrem
Zimmer. Wir legten uns hin, machten das Licht aus und redeten im Dunkeln noch lange
weiter. Erst viel später schliefen wir ein.
Mir wurde klar, dass ich keinen Grund hatte, mir solche Sorgen zu machen, solange
ich so eine Schwester habe, die so einfühlsam ist, die ich so liebe und mit der ich so
ähnlich bin.
Am frühen Freitagmorgen riefen wir Papa. Er war froh, dass er uns verwöhnen
durfte und er uns ein leckeres Frühstück ans Bett herbeizaubern konnte.
Als wir frühstückten fiel mir ein, dass meine Schwester mir helfen könnte, den Platz
für die große Zusammenkunft zu finden. Wir bräuchten an diesem Tag nicht in die Schule
zu gehen und stattdessen würden wir fliegen, genauso wie wir es als kleine Kinder getan
haben.
Außerdem könnten wir, wenn wir nicht zur Schule gingen, lange frühstücken und
über Zak sprechen.
Papa kam zweimal zu uns hoch. Das erste Mal, um uns zu fragen, ob wir die
Schule vergessen hatten und ein weiteres Mal, um zu fragen, ob wir noch etwas
bräuchten.
Wir wünschten uns noch mehr Granatapfelsirup und ein bisschen Eis und blieben
noch eine ganze Weile im Bett.
Mell fragte mich nach Zak. Wie er ist. Ob er lustig ist. Ob er klug ist. Sie fragte mich,
was ich mit ihm unternommen habe und warum ich ihn noch nicht geküsst hatte. Sie
fragte, ob er mir gegenüber seine Liebe gestanden hatte und beruhigte mich, als sie
sagte, dass alle längst gemerkt haben, wie verrückt er nach mir ist.
“Du kannst Ahl fragen, ob er seine Gedanken lesen soll”, schlug sie vor.
“Nein, das wäre wie tricksen. Ich bevorzuge die Unruhe des Nicht-Wissens.”
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“Mach dir keine Sorgen. Trotzdem, er ist verrückt nach dir. Und jetzt, aufstehen!
Sonst werden wir den ganzen Tag im Bett verbringen!”
Wir verließen fliegend das Haus. Mit Mell war es viel einfacher, weil uns der Wind
nicht störte, die Sonne nicht blendete und weder Regen noch schwarze Wolken unsere
Sicht beeinträchtigten.
Aber kein Ort war für uns gut genug für die große Zusammenkunft. Einige Zeit
später kamen wir entmutigt nach Hause. “Lass uns ein bisschen an den Strand gehen, um
uns auszuruhen”, schlug Mell vor.
Wir gingen an den Strand und Mell schob die Flut zurück, damit wir mehr Platz
hatten.
Dann war mir eingefallen, dass es einen Ort gibt, an den wir nicht gedacht hatten:
das Meer. Es ist ein wunderschöner Ort und das beste Versteck, das man sich vorstellen
kann.
“Ich hab es”, rief ich. “Wir machen es hier!”
“Hier? Am Strand?”, wunderte sich Mell, “dafür sind wir den ganzen Tag geflogen?”
“Es ist perfekt. Es ist nah. Es ist ein tolles Versteck und es ist wunderschön… Am
Tag der Zusammenkunft bildest du hier, um uns herum, einen Sturm, der uns vor den
anderen verbirgt und drinnen lässt du die Sonne scheinen. Was hältst du davon?”
Mell war einverstanden und wir gingen zurück nach Hause, um die anderen nach
ihrer Meinung zu fragen.
Alle rannten sofort zum Strand und fingen an zu überlegen, wie wir diese Stelle für
die Zusammenkunft gestalten könnten, aber ich flog zur Schule, um Zak noch zu
erwischen, ehe er die Schule verließ.
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„Hallo“, näherte er sich mir, als er mich gesehen hatte. „Was für eine schöne
Überraschung!“. Er kam zu mir, um mich auf die Wange zu küssen. Er blieb stehen,
betrachtete mich und lächelte. Ich wuschelte seine wilde Frisur noch ein Stück wilder.
„Guck mich nicht so an“, sagte ich, „du machst mich verlegen“.
Diesmal trug Zak ein schwarzes T-Shirt mit dem Gesicht von Bob Marley, worunter
„Liberation“ stand. Es erstaunte mich, wie sehr ich ihn mochte. Dieser eine Tag ohne ihn
reichte aus, dass seine Augen mir noch strahlender erschienen. Auf seiner Gitarre hatte er
einen Sticker mit dem Peace-Symbol und ein anderen Sticker mit der Aufschrift „Rust
Never Sleeps“. Er trug seine Gitarre mit der Leichtigkeit der Gewohnheit – für ihn war es
so normal, mit einer Gitarre zu laufen wie für andere mit einem Fahrrad zu fahren.
„Ich freue mich total, dich wieder zu sehen“, lächelte er.
„Ja“, murmelte ich, „ ich bin mir umgekehrt nicht so sicher.“
„Warum? Gibt es ein Problem?“
„Ja, ich fürchte, es gibt ein großes Problem.“
„Komm, wir gehen ein Stück zusammen und du erzählst mir davon.“
Wir liefen wortlos ein paar Straßen entlang, aber wir gingen nicht nach Hause,
sondern zum Park hinter dem Flughafen.“
Wir saßen unter einem riesigen Baum voller Vögel. Die Meisen pickten die Körner,
die auf dem Boden lagen. Tausende Sittiche, grün, hellblau und gelb zwitscherten,
schlugen mit den Flügeln und machten ziemlich viel Lärm.
„Ich habe zwei Dinge zu erzählen“, sagte ich zügig. „Dir könnten beide absurd
erscheinen … ich habe keine Ahnung, wie du darüber denkst.“
„Nichts was von dir kommt“, unterbrach mich Zak, „kann für mich absurd sein.“
„Das kannst du noch gar nicht wissen.“
„Doch ich weiß es.“
„Nein. Ich bin total überzeugt, dass du das jetzt noch nicht wissen kannst.“
„Aber bevor du es mir erzählst, möchte ich etwas klar machen: du weißt, dass du
mir alles erzählen kannst ...“
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„Ja, ich werde es dir erzählen, du musst mich nicht dazu überreden. Aber… gut…
Die Sache ist… es ist so: ich bin in dich verliebt. Aber ich kann nicht deine Freundin sein.
Ich will, dass wir uns nicht mehr sehen.“
„Bist du wirklich in mich verliebt?“
„Ja. Ich habe dir doch gesagt, dass dir das absurd erscheinen wird.“
„Nein. Ich finde es fantastisch. Ich wollte dir das Gleiche auch sagen, aber ich
machte mir Sorgen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Male ich kurz davor war dir zu
gestehen, dass ich in dich verliebt bin.“
Wir umarmten uns und aus meinen dunklen Augen flossen wieder die Tränen.
Zak sah mich an.
„Sei nicht so Chica“, er rieb kräftig an meiner Schulter. „Du musst dich vor nichts
fürchten. Ich verehre dich.“
„Ich verehre dich auch, aber darum geht es nicht.“
„Komm“, er drückte mich fest an sich.
„Gib mir einen Kuss.“
„Nein!!!!!!!!!!!!!!!!!!“, schrie ich und sprang 2 Meter von ihm weg.
„So schlimm ist das nun auch wieder nicht.“
„Entschuldigung. Aber ich kann dich nicht küssen.“
„Warum?“
„Weil ich nicht kann. Einfach so.“
„Aber warum?“
„Ich kann dir das nicht sagen. Es tut mir leid. Ich werde es dir niemals sagen.“
„Ok. Sag es mir nicht. Aber warum entscheidest du alles allein? Warum sprechen
wir nicht wenigstens darüber? Ich werde deine Meinung respektieren und du…“
„Du kannst du nicht wissen … ich … ich kann dir das nicht erzählen.“
„Und was wäre, wenn du mir ganz einfach vertraust? Komm, gib mir einen Kuss.
Ich verspreche dir, dass du kannst.“
„Nein. Dräng mich nicht. Ich habe dir alles gesagt, was ich sagen wollte. Ich liebe
dich und ich will dich nicht mehr sehen. Ciao“, sagte ich und ging schnell weg von ihm.
Da er sitzen blieb, konnte ich mich hinter dem Baum verstecken und hochfliegen.
Oben hielt ich inne, um ihn zu beobachten. Er war so schön. Er hatte seine Gitarre
aus der Tasche genommen und er spielte geistesabwesend einzelne Noten. Eine Meise
ließ sich auf einem Ast ganz in meiner Nähe nieder. Der Ast war sehr zerbrechlich; ein
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hellblauer Sittich kreischte von einem tiefer gelegenen Ast, um der Meise klar zu machen,
dass das sein Revier ist.
Ich habe den Baum verlassen und bin zum Meer geflogen, zurück nach Hause.
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Ich flog an unserer Promenade vorbei bis zum Strand. Mell hatte für einen leichten
Nebel gesorgt, der die Sicht zum Ufer verhinderte und hatte die Flut nach hinten verlagert,
um mehr Platz auf dem Sand zu schaffen.
Papa erschuf die Holzdielen für den Boden, Mama platzierte sie an die richtige
Stelle und alle befestigten die Elemente mit Nägeln, damit eine riesige Fläche entstehen
konnte, die Mama jetzt polierte, während sie mit Papa die Gästeliste, die die anderen
Clanteilnehmer ihr gegeben hatten, durchging.
„Gerade jetzt ist dieser Mann gegangen“, meinte Mell. „Du hättest ihn beinahe
getroffen.“
Mir gefiel der neu entstandene Ort sehr; ich flog ein bisschen herum, um mir alles
von oben anzusehen. Der Strand war viel sauberer als normalerweise und die große
Holzplattform schien so, als wäre dort ein riesiger Tanzsalon zentimeterhoch vom Sand
gestützt.
Einige Meter vom Wasser entfernt endete die Plattform. Es blieb eine freie
Sandfläche bis zum Meer, wo man spazieren gehen konnte. Sie hatten überall bunte
Lichter aufgestellt und hingehangen; das Einzige, was noch fehlte, waren die Tische, eine
Bühne für die Shows und eine Treppe, um die Mauer der Promenade zu überqueren.
Ich kam wieder herunter, gratulierte allen zu der hübschen Vorbereitung des
Strandes und entschuldigte mich, dass ich nicht mitgeholfen hatte.
„Du hast den Ort gefunden. Das war mehr als genug“, sagte Papa.
„Und du kannst noch etwas machen, weil wir die Aufgaben für den großen Tag jetzt
erst verteilen“, sagte Mama, „Ahl ist derjenige, der jetzt versucht, alles ein bisschen zu
organisieren.“
„So ist es“, sagte Ahl, „ich erzähle euch, wie die Aufgabenverteilung aussieht: der
Vater der anderen Familie gibt allen Bescheid, wie der Ort zu finden ist, weil es an diesem
Tag viel nebliger sein wird und niemand sonst die Treppe finden würde. Mell ist für den
Nebel zuständig und wird noch einen Sturm hinzufügen, der sich über die ganze Küste
ausbreiten wird – außer hier, wo eine warme ruhige Sonne scheinen wird. Papa und ich
werden die Gäste empfangen. Mama ist für die Dekoration zuständig. Max wird mit den
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Gästen, sobald sie eintreffen, plaudern, damit sie sich nicht langweilen. Wenn alle da sind
und am Tisch sitzen, wird Papa die Begrüßungsrede halten. Erst wird er die
Zusammenkunft erklären, dann wird er die Bewerber vorstellen und danach die
Kandidaten. Später fängt das Essen an und nach dem Essen beginnt die Party bis zum
nächsten Tag.“
„Und ich?“, fragte ich.
„Wir wussten nicht, dass du helfen wolltest … aber du könntest das Essen
servieren, da du die Schnellste von uns bist.“
„Ja, das ist okay.“
„Aber nur…“, Mama warf ihre bunten Haare nach hinten in die salzige Luft, “…nur
wenn du glaubst, du kannst helfen. Wenn du Sorgen hast, dann setzt dich nicht unter
Druck.“
„Ist schon okay. Arbeitet ruhig weiter.“
Alle widmeten sich wieder ihrer Arbeit, außer mir, weil ich mich plötzlich sehr traurig
fühlte. Plötzlich wünscht ich mir nur, allein zu sein.
Wie ihr schon bemerkt habt, gibt es einen Ort, an dem ich absolut allein bin, wo ich
nachdenken kann, wo ich die Welt, ohne Störung beobachte: in der Luft.
Ich sagte meiner Familie schließlich , dass ich mich für eine Weile absetzen würde
und flog los.
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Ich flog sehr hoch. So hoch, dass ich nicht einmal den Strand erkannte; dann flog
ich noch höher und immer weiter höher, als ob mich die Höhe vor der Traurigkeit retten
könnte.
Und erst jetzt, als ich allein war, nur ich , mitten im Himmel, dachte ich wieder über
mich und Zak nach.
Mich störte wirklich, dass er darauf bestand, mich zu küssen, als ich es nicht wollte.
Andererseits war ich sicher, er respektiere mich sehr und wusste ganz genau, was ich
sagte. Ich hätte nie gedacht, jemanden zu lieben, der mich nicht respektiert, aber bei ihm
spürte ich genau das Gegenteil , auch wenn er tatsächlich etwas wollte, dass ich nicht
wollte.
Vom Himmel her dachte ich an unser letztes Treffen, wie ein Kind, das seinen
Lieblingsfilm immer wieder sehen will und die Angestellten der Mediathek vergeblich
versuchen, die Eltern zu überreden, einen Film zum x-ten Mal auszuleihen.
Ich war sehr traurig, weil ich ihm gesagt hatte, dass wir uns nicht sehen können,
aber gleichzeitig war ich total froh, dass er mir seine Liebe gestanden hatte.
Als unter mir die Erde wie ein ferner homogener Teppich erschien (in
gleichmäßigem Grünblau mit weißen Wolken darauf), flog ich zum Park, wo ich Zak
zurückgelassen hatte.
Zwischen den Ästen des höchsten Baumes sah ich ihn an der gleichen Stelle wie
zuvor. Er spielte die Gitarre unter dem Baum voller Vögel und sang ein Lied in Englisch.
Ich wollte weg, aber stattdessen flog ich unbemerkt herunter und setzte mich
wieder neben ihn. Erst dann merkte ich, dass ich geweint hatte.
„Weinst du?“, fragte er mich, ohne darüber überrascht zu sein, dass ich plötzlich
neben ihm saß.
„Sagen wir so: ich habe einfachere Tagen erlebt. Und was hast du?“
„Ich mache mir Sorgen um dich.“
„Soll ich lieber gehen?“
„Nein. Ich bin zurückgekommen, um noch eine kleine Weile bei dir zu sein. Es
macht nichts. Es war traurig aber es ist schon vorbei.“
„Nimmst du deine Entscheidung zurück?“
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„Nein, ich wünschte ich könnte. Ich glaube nur, ich kann nicht traurig sein, wenn ich
neben dir bin.“
„Vielleicht muss du dir nicht so viele Gedanken machen. Warte, dass die Zeit
vergeht.“
„Was hast du gerade gesungen ?“
„Ein Lied von Bob Marley. Magst du Bob Marley?“
„Klar“, antwortete ich und er spielte die Akkorde von „No Women no Cry.“
Ich fühlte wie die Tränen in mir hochstiegen. Ich war nicht traurig, weil die
Traurigkeit tatsächlich in seiner Nähe verschwand, wie sich die tiefste Nacht neben einer
Strassenlaterne in Licht auflöst.
Das Lied war wunderschön und er sang den Text in einer Mischung aus Deutsch
und Englisch. Ich konnte natürlich auch Englisch, weil wir in unserer Familie in mehreren
Sprachen kommunizieren; wir reisen viel und wir kennen so viel Leute aus der ganzen
Welt, dass wir schon als Kinder viele Sprachen sprechen. Zak sang sehr süß und leise, als
ob er mir ein Taschentuch für meine Tränen überreichen würde.
No, women no cry,
nein, weine nicht mehr.
Nun, ich erinnre mich, when we used to sit ...
Ich hatte Angst, dass ich ihn nicht mehr sehen würde und fand es erstaunlich, wie
viel Schmerz die Liebe mitträgt.
Freunde, die wir haben, Freunde die wir verloren.
In dieser großartigen Zukunft
darfst du deine Vergangenheit nicht vergessen
so trockne deine Tränen, I said.
Wenn wir mit jemandem zusammen sind, der uns liebt, können wir auch ganz
schnell die Angst spüren, verletzt zu werden. Mit Zak spürte ich aber diese Angst nicht, ich
fühlte mich sicher und stark, wie eine kleine Löwin, die mit ihre Geschwistern spielt, wie
eine Kapitänin, die auf hoher See den Sturm durchgesegelt hat und endlich sicherin den
Hafen gelangt.
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Women, Little Darling vergieß keine Tränen
nein, weine nicht.
Little Sister, don‘t shed no tears
Weine doch nicht.
Zak hatte ein sehr sensible Art, mich zu begleiten. Ohne nachzufragen, was in mir
vorging, war er da für mich. Allein seine Anwesenheit und sein wunderschönes Lied half
mir, meine Stärke wieder zu spüren. Er zupfte mit der Gitarre ein süßes Solo und sang
danach weiter, während meine Tränen flossen.
Alles wird gut
Alles, alles wird gut
Everything‘s gonna be all right
Dann weine nicht mehr
No woman no cry ...
Als er das Lied zu Ende gesungen hatte, umarmten wir uns und ich fühlte mich sehr
wohl. Ich fühlte diese Sicherheit, das Vertrauen, diese Kapitän-ins-Hafen-Gefühl, die NestWärme-Gemütlichkeit Ich war stolz darauf, dass ich ihn kennengelernt hatte und genoss,
dass er mich sehr fest umarmte, dass er da war und mich mit süßen Liedern aufmunterte.
Ich weinte wieder, aber diesmal aus Glück. Meine Tränen benetzten sein T-Shirt auf
dem „Liberation" stand, ich strich seine Haare aus meinem Gesicht und sagte ihm, die
entscheidenen Wörter.
„Ich liebe dich“.
„Dann weine nicht mehr“, flüsterte er in mein Ohr und küsste mich auf die Wange,
näher an meinem Mund als ich es mir gewünscht hätte. Er sah mir in die Augen. Ich wurde
verlegen und fühlte mich unbehaglich und glücklich zugleich.
„Ich liebe dich auch. Und ich mag deine Augen mit Tränen.“
„Mach dich nicht lustig über mich“, sagte ich und blieb still, denn genau in diesem
Moment und aus dieser Entfernung bemerkte ich, was mich an seinen Augen so
faszinierte. Sie waren grün mit goldenen strahlenden Fleckchen und da waren dünne zarte
gelbe Strahlen um die Pupillen herum, die wie eine von Mell verfinstert Sonne aussahen.
„Aber jetzt dürfen wir uns nicht mehr sehen“, sagte ich.
„Wenn du es sagst. Aber wir haben noch Zeit.“
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Er strich mit seiner Hand durch meine kurzen Haare und näherte sich mir dabei ein
bisschen mehr. „Lass uns „Auf Wiedersehen“ sagen“, flüsterte er und küsste mich nah an
den Lippen, noch näher als eben. Theoretisch betrachtet handelte es sich nicht um einen
Mundkuss, aber es war auch definitiv kein Wangenkuss. Auf alle Fälle schaffte er es so,
mit seinen Lippen, meine ein wenig zu berühren: daran bestand kein Zweifel.
„Jetzt geh“, sagte ich und legte mich mit geschlossenen Augen ins Gras. Ich war
wie gelähmt vor Angst und bereute, was passiert war.
Ich wusste nicht wie viel ich ihn nicht küssen durfte, aber es fiel mir sehr schwer zu
glauben, dass dieser Kuss nicht zählte, um die ganze Gabe der Familie aufs Spiel zu
setzen. Wie ein Kind, das glaubt ein sicheres Versteck zu haben, wenn es sich die Hände
vor die Augen hält, lag ich im Gras, als ob das mich retten würde, das Glück meiner
Familie aufs Spiel gesetzt zu haben.
Eine Weile später öffnete ich die Augen und setzte mich. Zak war nicht mehr da.
Ich hatte Angst, dass ich meine Gabe verloren hatte, dass Ahl meine Gedanken
nicht mehr liest, wenn ich nach Hause komme; dass Papa mir kein Eis mehr geben
könnte, ohne einkaufen zu gehen oder Mell die Sonne nicht mehr für mich untergehen
lassen wird.
Ich hatte soviel Angst, dass ziemlich viel Zeit verging, bevor ich mich überhaupt
traute zu überprüfen, ob ich meine Gabe vielleicht verloren hatte.
Da ich auf dem Rücken lag, versuchte ich ganz langsam, mich vom Boden
abzuheben.
Und plötzlich war ich in der Rückenlage 20 Zentimeter hochgestiegen und dabei so
glücklich, dass ich super schnell durch die Luft bis zur Mitte des Meeres ; ich machte
Runde um Runde in der Luft und erschrak sogar ein paar Reiher , die nicht damit
gerechnet hatten, Menschen fliegen zu sehen. Dann flog ich sehr schnell zum Strand, an
dem meine Familie war.
Mell kam zu mir und fragte mich, wie es mir ging und ob ich nicht etwas zu sagen
hatte.
„Später“, antwortete ich. „Jetzt möchte ich, dass ihr mir zeigt, wie die
Vorbereitungen vorangehen.“
Mell sah mir amüsiert in die Augen. „Ein komisches Funkeln hast du in deinen
Augen. Hast du etwas angestellt?“
„Nichts Schlimmes, mach dir keine Sorgen. Komm, erzähl mir, wie hier alles läuft.“
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Nicht einmal die beste Familie der Welt mildert die Traurigkeit, die entsteht, wenn
man jemanden vermisst. Die liebevollste Familie, die großzügigste, die fröhlichste und
emphatischste Familie kann nicht vermeiden, dass wir uns nach der einzigen Person, die
uns genau so viel wie die Familie bedeutet, sehnen.
Ich musste ihn wiedersehen. Und wenn ich ihn nicht sehen konnte, wollte ich
ungestört und ohne Ablenkung nur an ihn denken. Ich habe irgendwann meine Familie am
Strand zurückgelassen und ging nach Hause, wo ich allein sein konnte um nur an ihn zu
denken.
Das Haus war dunkel und still. Die Nacht war genauso still und noch dunkler. Als
ich durch das Fenster in mein Zimmer eintrat, schien mir, dass jemand auf meinem Bett
lag.
„Wer ist da?“, fragte ich – leider vergeblich – , denn ich merkte, als ich genauer
hinsah, dass niemand da war. Seit mehreren Tagen hatte ich mein Bett nicht mehr
gemacht und es herrschte ein großes Durcheinander darin. Aber in meiner Bettwäsche
konnte ich genau die Spuren eines Körpers erkennen, der dort gelegen haben muss. Oder
bildete ich mir das ein? Von meinem Fenster hörte ich das Pfeifen eine Melodie von Charly
Garcia :
Wenn du Liebeslieder magst
und du magst diese neuen seltsamen Frisuren …
sang ich für mich selbst und stoppte abrupt, als ich merkte, dass das jenes Lied war, das
Zak in unserem Zufluchtsort, dem Musikzimmer, für mich gesungen hatte.
Auf dem Schreibtisch lag meine Trompete. Ich nahm sie und spielte ein paar Noten
von dem Lied, dann erfand ich eine simple Melodie und legte danach die Trompete zurück
an ihren Platz. Ich saß auf der Fensterbank und ließ meine Beine im offenen Fenster nach
draußen baumeln, den Vorteil vom Fliegen nutzend, da ich mir ja vorm Fallen
grundsätzlich keine Sorgen machen muss. Ich genoss die frische Luft, die dunkle Nacht,
die tiefe Dunkelheit direkt vor mir.
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Ich hatte das Gefühl, dass mich jemand vom dem Dach aus beobachtete. Aber als
ich mich noch mal umdrehte war niemand da. Bestimmt ist es genau das , was passiert,
wenn wir jemanden vermissen: wir glauben, dass jemand, der uns fehlt immer in der Nähe
ist.
Ich konnte aber ihn aber nicht weiter vermissen, weil meine Familie zurück vom
Strand kommend die Straße überquerte.
Sie liefen nicht. Mama bewegte ein Brett in der Luft schwebend, worauf die anderen
standen.
Ahl hörte mich denken und sah zu meinem Fenster. Er sagte Max Bescheid, der
Mell Bescheid sagte, die Papa Bescheid sagte, der Mama Bescheid sagte.
Ahl flüsterte Max ins Ohr und sortierte dabei seine langen Haare. Max versteckte
komplett sein Gesicht unter dem Pony und schrie zu Mell, die sich ein bisschen zur Seite
bewegte, damit sie nicht taub wurde von seiner lauten Stimme, und nahm sich eine
Sekunde, um nach mir zu sehen. Sie lächelte mich an, sie winkte mir zu und bewegte
ihren Kopf, damit ihre Frisur wieder richtig saß, die langen Haare auf die Seite von den
langen Haaren, die kurzen auf die Seite von den kurzen; ihre Haare waren so glatt, dass
es für sie sehr einfach war, die Frisur auf diese Art zurechtzumachen und es schien so, als
ob sich die Haare von ganz allein bewegten. Danach hing sie in Papas Arm und sprach zu
ihm, während sie auf mich zeigte.
Papa ordnete die Schleife, die die Spitze seines langes Zopfes zusammenhielt und
umarmte Mama, küsste sie und erzählte ihr, dass ich hier oben im Fenster saß. Mama
machte den roten Pony, den der Wind durcheinander wirbelte, auf eine Seite, um mich zu
sehen und steuerte das Brett bis zu meinem Fenster.
„Komm, nur du fehlst“, rief sie.
Ich stieg auf das Brett (es war eine Stufe einer Treppe von einer Baustelle), und
zusammen gingen wir hinunter zur Haustür.
Dort stiegen wir von dem Brett und gingen in das Haus. Als wir abgestiegen waren,
hob sich das Brett und flog zurück an den Strand, wo es sich wieder an seiner Stelle
platzierte, damit die Reihenfolge der Stufen vollständig blieb.
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An diesem Abend waren es noch fünf Tage bis zur Zusammenkunft und alle waren
sehr glücklich. Wir aßen zusammen und spielten danach die Suite von Bach, die uns so
gut gefällt.
Papa führte die Melodie mit der Geige und wechselte ab und zu die Tonlage als er
immer wieder eine andere Geige materialisierte. Mama spielte Kontrabass, ohne den
Bogen zu halten, der sich ganz von selbst bewegte – wie ein kleinen Hund, der auch ohne
Leine in der Nähe des großen Hundes bleibt und ständig um den großen Hund herum
hüpft. Ahl folgte mit seiner Flöte den hohen Tönen der Melodie und wechselte die Oktave,
ehe Papa die Tonleiter änderte, weil er es vorher schon wusste, welche Geige mein Papa
erschaffen wollte. Mell spielte Piano wie ein Cembalo, drückte die Pedale, damit die Noten
kürzer klangen und als zusätzliche Hilfe für einen besseren Effekt machte sie die Luft sehr
trocken. Genau auf den Takt, den Mama vorgab, hielt ich mit meiner Trompete lange
Noten, als ich mit meinem Körper in der Luft über die Köpfe der anderen flog. Max
zerstreute die Melodie mit seiner Klarinette in kuriose Arpeggiaturen, die eine Melodie
ergaben, die uns unbekannt war: er spielte ganz komplizierte Tonarten, von denen wir nie
gehört haben.
Als wir aufhörten, klatschten wir und ich verabschiedete mich, weil ich wieder allein
sein wollte.
Ich ging in mein Zimmer und beobachtete die Wolken, die vorüberflogen. Ein paar
Nachtvögel und ein einsames kleines Flugzeug schienen ganz still, wie vom Wind
getragen, hinabzusteigen.
Ich war gleichzeitig tief von einer dunkel Traurigkeit getroffen sowie von die hellste
glückliche Aufregung Geflügel. Meine Lungen fühlten sich wie Luftballons, als ich atmetet
und dachte, ich werde immer mit Zak sein, ich werde meine Liebe erleben können.
Beinahe wäre ich zu Zaks Haus geflogen, um ihm einen Kuss zu geben. Aber ich blieb
hier und beobachtete die Nacht, bis der Mond verschwand und die Morgendämmerung
des Samstags begann. Ab und zu hörte ich das Lachen der anderen, die immer noch im
Salon die Details der Zusammenkunft besprachen und durchplanten. Hin und wieder
spielten sie irgendein Stück und tanzten dazu.
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Da wir am Wochenende für die weiteren Vorbereitungen am Strand kein Risiko in
Kauf nehmen wollten, stellten wir uns unter das Kommando von Ahl, um den Rest der
Aufgaben zu organisieren, die wir in den wenigen Tagen, die wir noch hatten, erledigen
mussten.
Die ganze Familie war glücklich. Alle verbrachten den ganzen Tagen damit, über die
Zusammenkunft zu sprechen. Sie organisierten immer wieder die gleichen Dinge und
diskutieren Themen, die sie schon längst beschlossen hatten. Sie hatten soviel Spaß wie
wohl niemand sonst.
Dank der guten Stimmung zu Hause gelang es mir tagsüber, fröhlich zu sein, aber
nachts ging es mir nicht gut und ich flog vor Kummer weg. Da wir im Clan so wenig
schlafen, hatte ich viele Stunden für mich selbst und ich stellte mir vor, dass so die
nächsten 19 Jahre für mich werden würden: einsame Nächte an Samstagen, Flüge in der
Einsamkeit, lange, nicht endende Stunden, die ich alleine verbringe. Ich hätte mir
gewünscht, dass es anders wäre, aber es war zu spät, das zu ändern.
Es fehlten noch 4 Tage bis zur Zusammenkunft. Es war zu wenig Zeit, um Zak zu
vergessen. Und obwohl ich viele Stunden allein beim Fliegen verbracht hatte, musste ich
bei den Vorbereitungen helfen.
Am Sonntag blieben wir zu Hause. Papa und Mama brachten uns den Burée bei,
den Tanz, den alle, die nicht verliebt sind, bei der Zusammenkunft tanzen.
Es war nicht schwer, aber wir übten viel, da er uns gelingen musste. Außerdem
mögen wir tanzen und hatten große Freude am Üben, besonders Mama und Papa, die
ihre eigene Liebesgeschichte dabei wieder erlebten und Ahl und Mell, die ihre eigene
sehnsüchtig erhofften.
Ich versuchte mich glücklich zu geben, weil ich ihre gute Laune nicht verderben
wollte, mir gelang es, aber nur, weil ich mich bei ihnen immer wohl fühle. Ich war sehr
glücklich, weil ich mich entschieden hatte, Zak nicht zu verlieren. Es war aber für mich
sehr traurig zu wissen, dass diese würde für die ganze Familie das letzte Treffen des
Clans sein.
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Am Montag hatten wir alles nochmals herausgeputzt und den Sand, der sich am
Wochenende angesammelt hatte, weggeräumt. Wir dekorierten Kerzen und
Blumengestecke, wir bügelten die Tischdecken.
Am Dienstag gingen wir schon sehr früh an den Strand, um die Vorbereitungen zu
beenden. Wir blieben sehr lange, aber wir wollten nicht zum Abendessen dort bleiben, da
wir nichts mehr in Unordnung bringen wollten. Als wir zu Hause ankamen, aßen wir schnell
und gingen früh schlafen.
Aber niemand von uns konnte so richtig schlafen. Wir waren so aufgeregt, dass wir
unzählige Ausreden fanden, um das Bett zu verlassen. Fast die ganze Nacht waren im
Haus vorsichtige Schritte zu hören. Wir gingen, ein Glas Wasser trinken, Blumen giessen
oder die Zähne wieder und wieder putzen. Plötzlich hatten wir Hunger und liefen zum
Kühlschrank, wir saßen in der Küche mit einem Brot und bestimmt kam dann jemand
anderes mit der überflüssigen Frage: „Kannst du nicht schlafen?“, und setzte sich mit
einem ähnlichen Brot daneben - in der gleichen unversteckbaren Aufregung. An Ende
gelang es uns, ein paar Stunden zu schlafen; aber das ist für uns ja schon genug, weil die
Clan Mitglieder ja sowieso wenig schlafen . Das liegt daran, dass wir nur machen, was uns
gefällt, wir müssen uns also nicht vom vielen Stress erholen.
Am nächsten Tag wachten wir alle sehr früh, viel früher als sie Sonne schien, auf.
Wie vor einer langen Reise, gingen wir alle frühstücken, während es draußen komplett
dunkel war. Alle plauderten sehr fröhlich. Sie konnten kaum erwarten, dass die Zeit
vergeht. Ahl klopfte an die Stehuhren in den Fluren und fragte laut vor sich hin sich:
„Funktionieren noch alle diese alten Dinger eigentlich?“. Mell bat jedes Mal, wenn sie
Papa und Mama traf: „ Ihr wisst ja, dass es für mich ganz einfach ist, den heutigen
Sonnenaufgang genau jetzt zu starten, damit wir nicht mehr warten müssen bis heute
Abend“. Max war nicht so interessiert, die Zeit zu beschleunigen. Vielleicht weil er noch zu
jung ist, um die Liebe kaum erwarten zu können . Vielleicht aber auch, weil er bestimmt
sehr genau ahnt, dass das mit der Liebe, einerseits nicht einfach ist oder andererseits
doch sehr einfach.
Ich wünschte mir nur, die Zeit würde stoppen, damit der Moment der
Zusammenkunft nie kommt.
Aber die Sonne fing an, die Nacht durchzubrechen ohne Mells Einfluss und wir
gingen an den Strand.
Wir hatten bis zum letzten Details alles erledigt. Es war unglaublich zu sehen, wie
schnell diese verlassene Ecke zu einem festlichen, gemütlichen und prächtigen Saal
Seltsame Frisuren Rodrigues Gesualdi
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geworden war. Bevor wir eintraten, schauten wir uns das Ergebnis unserer Arbeit voller
Stolz an.
Überall gab es Lichter und Laternen; Kerzen und Blumen; Tischdecken und bunte
Kärtchen, auf denen die Namen der Gäste standen. Es war heiß. Die Gläser mit den
langen Stielen glänzten so stark wie der Boden, es gab Musik und unruhige Möwen, die
nah über uns herflogen.
Alles war perfekt. Wir hatten Granatapfelsirup mit Eis in großen Kristallkrügen
vorbereitet und warteten nur auf die Gäste.
Als erstes kam der Mann, der uns geholfen hatte. Er sagte, dass seine Familie
später nachkommen würde und bestellte ein Meloneneis.
„Guck“, schrie Mell in dem Moment, als dieser Mann an der Holzempore ankam,
„der Mond“.
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In der Stille der Morgendämmerung stieg der Mond in den Himmel, mit einem
intensiven und wunderschönen gelblichen Ton. Mittags würde die Sonne den Mond genau
am Zenit des Himmels treffen, genau in dem Moment, dem einzigen in 19 Jahren, an dem
sich alle Planeten in eine Reihe stellen. Der offizielle Start der Zusammenkunft. In dieser
Nacht, als der erste Vollmond des neuen Mondzyklus am Himmel mit alle seinen neuen
Kräfte die Mittagssonne trifft, müsste ich voller Traurigkeit den Burée tanzen.
Der Mann, den wir gerade kennengelernt hatten, war sehr freundlich; er hatte
dunkle, matte Haut. Er trug die Haare violett, kurz und sehr ordentlich, mit einer Locke auf
der Stirn – so perfekt, als ob es gemalt wäre. Wir bedankten uns sehr für seine Hilfe und
er betonte, dass es für ihn kein Aufwand war. Um das zu beweisen, demonstrierte er uns,
wie leicht er sich nur mit seinen Gedanken mit allen gleichzeitig absprechen konnte um
ihnen weiterzuhelfen, falls sich jemand verlaufen sollte oder etwas wissen musste: er hatte
1, 2, 3 mit dem Finger gezählt und genau in dem Moment, als er seine dritte Finger
gestreckt hatte, hörten wir alle in unseren Köpfen, genau als ob wir ein Hörbuch mit
unsichtbaren Kopfhörern hörten, seine Stimme, die fragte: „Hallo, ich bin’s nochmal, wollte
nur fragen, ob alles nach Plan läuft?“. Vor lauter Erstaunen klatschten wir alle spontan.
Danach kam eine Familie aus Norwegen. Der Vater konnte Gegenstände
verschwinden lassen (sogar Menschen) und die Mutter konnte die Laune eines jeden
wechseln, der sich in ihrer Nähe befand. Wir freuten uns alle, sie zu sehen. Einer der
Söhne konnte sich in einen Fisch verwandeln, wenn er ins Wasser ging und der andere
konnte sich in Wasser verwandeln.
Sie hatten ihre Haare bunt und bogenförmig frisiert. Jeder Bogen hatte eine andere
Farbe aber die gleiche Kurve; wenn sie dicht beieinander standen, bildeten sie einen
perfekten Regenbogen.
Wir hatten alles so vorbereitet, dass sich jeder sofort willkommen fühlen konnte.
Mama begrüßte ihre Gäste an der Tür, während sie in der Luft einen Torbogen aus
Blumen formte und Granatapfelsaftgläser hielt, die mehrere Meter hochstiegen, wieder
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herunterkamen und dabei ein wunderschönes buntes Tor bildeten, durch das die Gäste
hindurchkamen.
Sie war dafür zuständig, dass der Lampion, der am Eingang leuchtete, am brennen
blieb, damit die Gäste den Weg dorthin, durch Nebel und Regen, finden konnten.
Der Lampion war eine chinesische Laterne aus wasserfestem Papier, in dem eine
Kerze brannte, die viel Licht gab und mit den Farben auf dem Papier bunte
Lichtreflexionen in die neblige Atmosphäre warf.
Papa, Ahl und Max bildeten ein Team und erledigten mit leichter Eleganz, das
perfekte Willkommen für die Gäste. Sie begrüßten jeden in seiner eigenen Sprache mit
einem Lächeln und küssten die gerade angekommenen. Das schafften sie, indem Ahl die
Gedanken der Gäste las und leise ein paar Wörter in Maxs Ohr nachsprach. Da Max alle
Sprache kennt, konnte er sogar trotz der schlechten Aussprache, die Sprache erkennen
und in Papas Ohr genau die Grußwörter sagen, die dann Papa laut vor den Gäste
wiederholen konnte.
Währenddessen las Ahl die Gedanken von den ankommenden Gästen weiter, um
ihre Wünsche zu erfahren. Fast alle wollten einen gekühlten Granatapfelsirup, nur wenige
waren hungrig oder bevorzugten eine Tasse Tee. Ahl sagte Papa schnell, was der gerade
Angekommene sich wünschte, Papa bestellte es mit seinen Gedanken und überreichte es
mit einem Lächeln.
Max hatte seine Rolle für die Zusammenkunft intensiv mit allen möglichen
Gesprächspartnern in der Schule und auf dem Schulweg in den letzten Tagen geübt. Da er
alle Sprachen kannte, war er der einzige, der mit allen Gästen in ihrer eigenen Sprache
sprechen konnte. Und da er alle Themen auch kannte, sprach er über alles wie ein
höflicher Fachmann.
Mell hatte einen wunderschönen Blickfang geschaffen. Am Strand war es
angenehmen warm, und nur ein bisschen feucht – so wie nach einem Sommerregen.
Am klaren blauen Himmel stieg die Sonne auf der einen Seite und der Mond auf
der anderen Seite hoch. Erst an diesem Tag, nach 19 Jahren, würden sie sich für einen
Tag gemeinsam aufrichten.
Draußen, damit niemand von der Promenade uns entdecken konnte, deckte Mell
den ganzen Stadtteil mit einem heftigen Nebel ab. Niemand würde an diesem Tag an der
Promenade bei so einem Nebel laufen; sogar die Flugzeuge mussten einen langen
Umweg fliegen, damit sie am Flughafen landen konnten. Außer dem Nebel, nieselte es
hartnäckig; schwarze Wolken und Blitze kündigten einen heftigen Sturm an.
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Damit uns kein Schiff orten konnte, wehte auf dem Meer ein kräftiger Wind. Es
regnete, riesige Wellen stiegen hoch, die dicksten Bäume bogen sich wie flexibler
Bambus. Aber da wo wir waren, an unserem Strand, war es sehr ruhig und schön.
Nach den Grußwörtern meines Vaters und dem kurzen Gespräch mit meinem
Bruder Max kamen die Gäste an die Tische, wo dann auch meine Aufgabe anfing: da ich
die einzige war, die zur Theke, zu den Empanadas oder dem Eis viele Male schnell und
unermüdlich fliegen konnte, hatte ich mich ja bereit erklärt, an den Tischen die Gäste zu
bewirten.
Nach und nach kamen mit der Zeit alle. Einer konnte aus seinem Körper ein
anderen durchsichtigen Körper machen, der genauso aussah wie seiner, aber fast
unsichtbar war; ein anderer konnte sich in Flaschen und Lampen hineinschieben und ein
anderer hatte geheimnisvolle Getränke vorbereitet, die alle möglichen Kräfte hatten, sogar
die Kraft, keine Kräfte zu haben. Salman , der die Zukunft lesen konnte, kam auch; und
Star, dessen Gabe es ihm ermöglichte, dass die anderen Dinge vergessen.
Die Frisuren waren so außergewöhnlich, dass sogar wir staunten. Einer hatte
anstatt Haaren sanfte Seide, die mit dem Wind flog. Ein anderer formte Luftschlangen, die
mehrere Meter hoch in die Luft stiegen. Ein anderer konnte in jedem Moment seine Farbe
ändern und wieder ein anderer wechselte die Form und die Länge wie er wollte. Einer
konnte Wörter mit seinen langen Haaren formieren und ein weiterer Musikinstrumente, die
sogar sehr gut klangen.
Die Bewerber kamen schließlich auch. Falls sie es nicht schaffen, uns von ihren
Gaben zu überzeugen, war das für uns, dank Star, nicht weiter schlimm, weil er seine
Gabe des Vergessens einsetzen würde. Star hätte dann ganz einfach ihre Anwesenheit
aus ihrem Gedächtnis gelöscht.
Die Kandidaten waren natürlich auch da.
In dem ganzen Tumult konnte ich nicht alle erkennen (deswegen tanzen wir an der
Zusammenkunft den Burée), aber die, die ich sah, enttäuschten mich gewaltig.
Als ich auf Mell traf, spürte ich, dass es für sie genau das Gegenteil war. Sie wollte
sich so gerne verlieben, dass sie glaubte, alle die sie traf, waren die Richtigen: wie ein
Kind im Süßwarenladen, das nur eine Münze hat, aber damit jedes Bonbon, jede Praline
und jeden Lolly kaufen will.
Ahl nahm sehnsuchtsvoll den Moment vorweg, in dem er endlich die Liebe
kennenlernen würde und vergaß komplett, dass er für die Organisation der
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Zusammenkunft eigentlich zuständig war, vor allem, dass er Papa daran erinnern sollte,
was er am Mikrofon verkünden sollte.
Meinerseits war ich gleichzeitig traurig und froh, so unmöglich wie es schein; wie
ein heißer Tee, der im gleichen Augenblick auch ein Eistee sein könnte, so waren meine
widersprüchlichen Gefühle an diesem Tag. Mein Glück machte mich traurig, weil ich meine
Traurigkeit vergessen hatte und in meiner Traurigkeit fühlte ich mich isoliert, fast egoistisch
gegenüber dieser Menge an Leuten, die sich so glücklichen vor meinen Augen trafen,
kennenlernten und amüsierten.
Alle hatten tatsächlich eine tolle Zeit. Sie unterhielten sich in kleinen Grüppchen
und tauschten diese bunten Visitenkarten, die wir für jeden an seinem eigenen Platz
hinterlegt hatten; tranken Granatapfelsirup und sprachen in Millionen von Sprachen mit
Handzeichen, Skizzen und Mimik. Ein zierliches Mädchen mit wunderschönen blauen
Augen sprach sogar mit ihrem eigenen Körper. Als sie sich bewegte, verstand jeder (jeder
vom Clan natürlich), was sie sagte.
Schließlich bat Papa von der Bühne aus um Ruhe. Er sah in seinem ältesten Anzug
sehr gut aus und trug eine neue Fliege in derselben Farbe. Er verkündete ganz offiziell ein
„Herzliches Willkommen“ und gab den Beginn des ersten Teiles der Zusammenkunft an,
der dann bis zum wirklich richtigen Anfang dauern würde, wenn sich der Mond mit der
Sonne und den anderen Planeten aneinander gereiht hat … In diesem Moment würde
unser neuer Zyklus beginnen, das echte, bedeutende, 19-Jahre andauernde „Neue Jahr“.
Zuerst wurden die Bewerber überprüft.
Jeder Bewerber musste beweisen, dass er seine eigene Gabe gefunden hatte.
Einer nach dem anderen kam auf die Bühne. Dort hatte er, mit Hilfe der anderen, die ihm
gaben, was er zur „Präsentation“ brauchte, seine Chance für seine 15 Minuten Ruhm.
Wenn er es schaffte, uns zu überzeugen, dass er seine Gabe wirklich gefunden hatte,
wurde er im Clan aufgenommen.
Der erste, der sich geschickt frisiert hatte, zauberte aus seinem Hut ein paar
Tauben.
Genervt von Hochstaplern kannten wir längst ein paar ihrer Tricks. Wir tauschten
seinen Hut aus und er zauberte keine Tauben mehr heraus. Zu unserer Gewissheit
überprüften wir den Hut und fanden dort einen doppelten Boden, worin er seine
dressierten Tauben versteckte.
Star, der Belgier, der die Gabe des Vergessens besaß, wartete unter der Bühne bis
der Clan entschieden hatte, dasses sich um einen Betrüger handelte. Wir waren alle einer
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Meinung und Håken, der Vater der norwegischen Familie, ließ den Zauberer schließlich
verschwinden, nachdem Star ihn mit seiner Gabe des Vergessens eingehüllt hatte. Er
würde später in seinem Bett aufwachen ohne sich zu erinnern, dass er versucht hatte, uns
zu betrügen.
Ein sehr dicker Mann verkündete, dass er die ganzen Universen essen könnte.
Wir erlaubten ihm nicht mal ansatzweise, das zu probieren.
Ein anderer tat, als ob er die Zukunft sehen könnte.
Wir verlangten einen Beweis und er sah ein Erdbeben in die Anden voraus. In
diesem Moment stand Salman, der Under-Cover aus London , von seinem Platz auf.
„Können Sie voraussehen, was ich machen werde?!“ fragte er.
Der Mann blieb still und wir wussten, dass er Salman sagen müsste, dass der
Hochstapler nicht im Clan aufgenommen werden würde, aber da der Wahrsager das nicht
voraussagen konnte, musste er seine Niederlage zugeben.
Eine ganz dünne Frau verkündete, dass sie in der Lage sei, nicht zu existieren,
aber als wir sie in den Clan aufnehmen wollten, existierte sie nicht mehr und wir hatten
niemanden mehr da, den wir aufnehmen konnten.
Ein junger, fast zu sehr gepflegter Mann, wollte Wasser in eine sehr berühmte
Limonadenmarke verwandeln, aber niemand wollte aus dem Glas probieren, das er zum
Beweis vorzeigte, weil alle viel lieber noch einen Tee oder mehr Granatapfelsirup wollten.
Zuletzt sagte ein sehr attraktiver Junge, der aus Irland kam, dass er mit Vögeln und
dem Wind sprechen könnte. Er trug die Haare in einer tief dunklen Farbe, sehr glatt, offen
und lang bis zu den Hüften. Uns hat er so gut gefallen, dass wir ihn aus Lust, mit ein paar
Möwen sprechen ließen und ihn dann sofort aufgenommen hatten. Wir waren mit ihm sehr
glücklich, besonders Mell, die grundsätzlich wissen wollte, ob ein Bewerber, der gerade
aufgenommen wurde, den Burée tanzen durfte.
Wir haben eine Pause gemacht und alle konnten Empandas und frittierte Hühnchen
essen.
Der Mond kam um Mitternacht nahe an seine Position neben der Sonne. Alle
anderen Planeten folgten der Reihe nach.
Es fehlte nur noch wenig Zeit bis zu dem Moment, an dem ich wirklich richtig
unglücklich wurde.
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„Und jetzt …!“, rief Papa durch das Mikrofon, „… sind alle Kandidaten gerufen, auf
die Tanzfläche zu kommen. Der Burée beginnt.“
Aufgeregtes Gemurmel.. Hier und da, wie Geister um Mitternacht, erhoben wir
uns. . Wir, die so genannten Kandidaten, trafen zum ersten Mal in unserem Leben
aufeinander.
Wir bildeten zwei Schlangen. An einer Seite die Jungen, an der anderen, die
Mädchen.
Die Musik fing an; die gleiche, die seit Jahrhunderten alle 19 Jahre gespielt wird,
wenn die Planeten sich mit dem Mond aneinanderreihen.
Der Tanz ist sehr einfach: Eine Verbeugung zur Begrüßung, ein paar Schritte zur
Seite, einige nach hinten und andere nach vorne bis man ganz nah an den Tanzpartner
kommt, der die gleichen Schritte auf der gegenüberliegenden Seite spiegelverkehrt
wiederholt. Es folgt eine Pause in der man sich Zeit nimmt, den anderen in die Augen zu
sehen bis die Musik die Verabschiedungs-Verbeugung vorgibt. Danach machen die
Jungen zwei Schritte nach rechts und die Mädchen zwei nach links. Wir gelangen vor
einen anderen Kandidaten und die Schritte werden solange wiederholt, bis jeder mit jedem
getanzt hat.
Wir konnten alle den Tanz, weil unsere Eltern ihn uns beigebracht hatten. Der Tanz
entwickelte sich an diesen so besonderen Tag perfekt. Ein Paar bildete sich jeweils für ein
paar Takte und danach ein anderes; man konnte die Kandidaten ganz nah betrachten, die
Augenfarbe erkennen, sich über die seltsamen Frisuren wundern und die Eleganz des
Tanzens genießen.
Aber mir brachte das nichts, ich würde keinen Partner finden, weil ich schon verliebt
war. Und ihr wisst ganz genau, das sind keine guten Voraussetzungen, wenn man einen
neuen Jungen kennenlernen soll und dabei an einen anderen denkt.
Die Kandidaten schienen mir hässlich oder uninteressant oder langweilig oder sehr
groß oder sehr klein oder sehr alt oder kindisch.
Für mich waren alle entweder zu eingebildet oder zu unscheinbar, zu aggressiv
oder zu zuckersüß. Keiner interessierte mich. Ich sah sie noch nicht mal an; ich fragte
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mich nur, wie lange diese ganze Zeremonie dauern sollte, wann sie endlich enden würde
und wann ich nach Hause gehen könnte, um allein zu sein oder um irgendwohin zu
fliegen.
Ich dachte an Zak, um mir die Zeit zu vertreiben, um nicht so traurig zu wirken.
Vielleicht tanzte er in diesem Moment auf einer Party. Vielleicht war er mit Freunden oder
seiner Familie unterwegs, die ihm Freundinnen vorstellten, in die er sich verlieben könnte.
Wie bei mir. Aber ich würde mich nicht verlieben. Ich wartete nur bis die tanzende
Schlange zu Ende ging (und sie war beinahe zu Ende), um allein zu bleiben, 19 Jahre
mehr, ohne geküsst zu werden.
Ich war fast am Ende der Tanzschlange. In wenigen Takten würde der Burée enden.
Ich wollte nicht weinen, aber meine Augen vermissten Zak und fürchteten, ihn zu
vergessen, wenn ich ihn nicht mehr sehen könnte. Die Tränen flossen aus meinen Augen
ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte.
Aber als ich den Jungen sah, der als nächstes kam, änderte sich alles. Einen ganz
kurzen Augenblick reichte mir um zu wissen, ich war verliebt.
Ich hatte mich tatsächlich auf den ersten Blick verliebt, wie es bei uns im Clan
immer passiert.
Das habe ich sofort verstanden, als ich den Jungen, der vor mir stand, gesehen
hatte. Ich habe sofort verstanden, warum es nie ein Problem sein kann, wenn man sich in
jemanden verliebt. Mir war sofort klar, wir verlieben uns immer in jemanden des Clans. Ich
habe auch sofort verstanden, dass wenn die Liebe kommt, eindeutig ist, umverzweifelt
und wahr. Wie ein tropischer Regen, der mit voller Kraft auf uns hereinprasselt, ohne uns
Zeit zu lassen, unter irgendwelchen Dächern Zuflucht zu suchen. Wir können nicht einmal
denken, der Regen wäre nicht da oder es wäre eine Einbildung, wir träumen oder haben
uns geirrt. Wir wünschen uns sogar keine Zuflucht zu finden, einfach nur da sein zu
können, um das frische und gleichzeitig lauwarme Wasser zu geniessen, die Gerüche der
Erde und der Pflanzen zu erleben, die so duften, als würden sich alle Parfüms der Welt mit
mit dem uns umgebenen Wasser vermischen.
Dann die Musik, der fallenden Tropfen, wenn sie auf den verschiedenen Materialien
und Flächen niederfallen , die Feuchtigkeit unserer Haut, die sich entspannt anfühlt und
dann der Geschmack dieser Feuchtigkeit – wenn man ihn im Munde schmecken kann .…
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Ich sah den Jungen vor mir und lächelte. Ich war verliebt, das war eine Tatsache,
seit dem ersten Moment, als ich ihn in der Schule gesehen hatte. Weil der Junge, den ich
vor mir sah, als ich meinen Kopf nach der Verbeugung hochgehoben hatte war: Zak!
Ich wusste nicht, ob ich schreien musste oder fliegen oder ob ich ihn umarmen
sollte; ich machte mit Mühe den Rest der Schritte. Zak lächelte mich auch an. Zu meiner
Verwunderung – er sah nicht unruhig oder erstaunt aus.
Als der Tanz uns zueinander führte und wir uns in die Augen sahen, lachten wir
beide, weil ich erst dann verstanden hatte, was uns passiert war und weil ja, wir wussten
es eindeutig, wir waren verliebt.
Der Takt wechselte und wir mussten mit weiteren Kandidaten tanzen.
Als die Musik zu Ende ging umarmten wir uns inmitten des Tumultes der anderen
Paare, die sich trafen oder sich trennten.
Wir umarmten uns eine lange Zeit. Wir trauten uns nicht, uns in die Augen zu
schauen und wir wollten uns definitiv nicht wieder loslassen.
Es war wahr, dass wir sehr aufgeregt waren, weil wir uns hier begegnet waren, aber
gleichzeitig waren wir auch verlegen und trauten uns noch nicht, uns länger in die Augen
zu schauen; wir mussten uns daran gewöhnen, dass wir uns zum zweiten Mal auf den
ersten Blick verliebt hatten. Es war für uns ein sehr wichtiger Moment, dieses zweite Mal,
bei dem wir uns wieder ineinander verliebt hatten, vor allem, weil es dieses Mal für uns
beide ganz klar war.
Obwohl wir die Gleichen waren, war es für uns gar nicht einfach an das Vertraute
anzuknüpfen. Deswegen wollten wir uns noch nicht loslassen. Wir brauchten Zeit, damit
das Vertraute wieder zu uns zurückkam und wir uns wieder so nah fühlten wie an der
Promenade, wie in dem Park oder in dem Musikzimmer.
Nach einer Weile fühlten wir uns langsam wohler; nach noch einer Weile schafften
wir, uns in die Augen zu sehen. Wir fanden das beide zwar irgendwie lustig, aber uns blieb
auch das Lachen im Hals stecken und wir umarmten uns wieder. Wir schauten uns wieder
sehr tief in die Augen (ich sah die Mondfinsternis in seinen Augen; mit ein bisschen Mühe
hätte ich sogar meine Augen in seinen widergespiegelt gesehen), wir lächelten uns an. Wir
waren wieder zusammen. Uns das Gefühl war unendlich schön.
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Dann küssten wir uns. Noch mal.
Es war tatsächlich so, dass er mich an jenem Nachmittag im Park geküsst hatte. Ich
hatte das Gegenteil geglaubt, weil ich meine Gaben nicht verloren hatte, aber es war nicht
deswegen, dass ich sie nicht verloren hatte.
Wir blieben umarmt, unbeweglich, sprachlos. Erst da habe ich verstanden, wie sehr
ich mich danach gesehnt hatte, ihn umarmen zu können.
„Ich liebe dich“ ,sagte ich ihm, überzeugt von dem, was ich sagte.
„Klar. Im Clan wissen wir das mit einem Blick.“
Dann sahen wir uns in die Augen und ich sah die Mondfinsternis in seinen grünen
Augen mit den goldenen Pünktchen und ich sah, dass seine grünen Augen noch süßer
waren als beim ersten Mal und wir küssten uns noch mal.
Aus den Lautsprechern erklang Musik. Jetzt fing die Party definitiv an (und der
Mond schien gemeinsam mit der Sonne, in einer Linie mit allen Planeten).
„...wenn du die Liebeslieder magst – und du magst diese neuen seltsamen Frisuren
…“ flüsterte Zak in mein Ohr.
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Ich war so glücklich, dass ich ihn wieder küsste, ihn fest umarmte und mit ihm
fliegen ging, während um uns herum die Leute von den Tischen aufstanden um zu tanzen.
Als wir zurück zum Boden kamen, lächelte er mich an.
„Wusstest du das…?“, fragte ich ihn.
Dann verschwand er aus meinen Armen. Ich suchte ihn um mich herum und sah ihn
an einem Tisch sitzen. Er winkte mir zu und verschwand dann wieder. Genau im gleichen
Moment, in dem er verschwand, war er wieder in meinen Armen.
Dann verstand ich, warum ich manchmal das Gefühl hatte, ihn zu sehen und warum
er mir gesagt hatte, dass ich ihm vertrauen könnte und warum er mich geküsst hatte.
Seine Gabe war, dass er seinen Standort wechseln konnte, sobald er sich wünschte, an
dem einen Ort zu verschwinden, um an einem anderen Ort zu erscheinen.
„Das bedeutet…“, sagte ich, “du bist die ganze Zeit in meiner Nähe gewesen?
Warst du bei mir zu Hause auf dem Dach? Oder bist du auf der Promenade gewesen und
warst in jener Nacht auf meinem Bett und warst du tatsächlich Karneval in dem Club
Vorwärts?“.
„Ja, aber ich durfte es nicht sagen. Papa hat mir verboten, meine Gabe egal wem
auch immer zu zeigen. .“
„Ich sehe, ihr habt euch schon kennengelernt“, sagte der Mann, der uns bei den
Vorbereitungen der Zusammenkunft geholfen hatte. Er hatte violette Haare mit einer
Locke auf der Stirn und er konnte mit allen kommunizieren: er war Zaks Vater.
„Es freut mich, dass es jetzt raus ist“, sagte er zu uns und ging mit einem Mädchen
tanzen, dessen Körper sich in Feuer verwandelte.
In der Menge der Gäste, die die Tanzfläche bevölkerten, konnte ich Mell beim
Tanzen mit dem Jungen sehen, der mit den Vögeln gesprochen hatte.
Ich sah Ahl mit dem Mädchen, das mit dem Körper sprach und ich sah, dass sie
perfekt für ihn war und dass sich Ahl endlich verlieben konnte, weil sie die einzige Person
war, deren Wörter er mit seinen Gedanken nicht lesen konnte.
„Deswegen hatte ich erfahren, dass du aus dem Clan bist“, setzte Zak fort.
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„Als wir in die Stadt umgezogen sind, wussten wir noch nicht einmal, dass eine
andere Familie hier wohnt, die so ist wie wir.“
„Seit wann wusstest du es?“
„Ich habe Karneval im Club Vorwärts das erste Mal etwas geahnt, als ich dich mit
deiner Familie in Clan-Kleidung gesehen habe. Aber erst letzten Dienstag, als dein Vater
meinen Vater kennengelernt hatte, bestätigte er mir, das, was ich vermutet hatte.“
„Und warum bist du damals im Club plötzlich verschwunden?“
„Ich glaube ich hatte Angst; ich wusste nicht, wie ich dir erklären sollte, wer ich war
– oder vielleicht hatte ich Angst, dass ich mich irrte und du nicht die wärest , die ich
dachte, dass du wärest. Ich weiß es nicht, vielleicht warst du in jener Nacht einfach zu
schön.“
„Es ist, als ob wir uns zweimal ineinander verliebt haben“, sagte ich.
„Mindestens“, lächelte er mich an, „weil das nur der Anfang ist.“
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Und das war nur der Anfang wie Zak mir gesagt hatte. In jener Nacht saßen wir auf
den Holzdielen, wir schauten auf das Meer und sprachen über unsere Treffen, als wir noch
nicht wussten, wer wir waren; wir sprachen über die Zukunft, über unsere Familien, über
die Zusammenkunft, über Musik und viele alle Themen.
Wir fühlten uns zusammen sehr wohl und unsere Eltern waren noch glücklicher als
wir.
Auf den Holzdielen am Meer warteten wir auf die Ankunft des neuen Tages. Genau
in diesem Moment begannen die nächsten 19 Jahre, die wir zusammen erleben würden
und wir waren sehr glücklich darüber und sehr dankbar dafür.
Wisst ihr was? Nur wenige Menschen können sich einmal wirklich verlieben und wir
hatten uns sogar zweimal verliebt. Das war ein riesiges Glück für das wir uns bedanken!
So blieben wir der Rest der Party. Hand in Hand schauten wir auf das Meer, wir
küssten uns und erzählten uns so viele Dinge. Wir ließen uns nicht aus den Augen,
während die Party weiterlief und alle, die so glücklich auf der Party waren, gratulierten
unseren Eltern für diese gelungene Zusammenkunft . Alle tauschten sich Adressen aus,
sie versprachen sich, sich gegenseitig zu besuchen, alle umarmten sich, küssten sich und
sagten sich liebevolle Worte.
Pan, das Mädchen, das mit dem Körper sprechen konnte, ging einen Schritt weg
von Ahl, der sie bewundernd ansah, und tanzte vor uns, um uns in ihre Stadt einzuladen.
Auch Laz, der Junge, der mit den Vögeln sprechen konnte, und Mell umarmte, näherte
sich uns und sagte, dass er sehr glücklich ist, uns kennengelernt zu haben.
Langsam verabschiedeten sich alle. Einige Zeit später verabschiedeten wir uns
auch.
Aber schon am nächsten Tag sah ich Zak wieder und auch am Tag danach.
Endlich, während eines Sonnenuntergangs, extra für uns gemacht, hat Zak mir sein
Lied gesungen.
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Es war wunderschön. Darin sang er von meinen Augen, meinem Lächeln, meinen
kurzen Haaren.
Ich fühlte mich sehr gerührt, dass jemand mich so sehen konnte und noch mal
bedankte ich mich für das Glück, ihn getroffen zu haben und dachte, dass es sehr
ungerecht gewesen wäre, wenn ich ihn verloren hätte.
Abends, wenn ich fliege, sehe ich von oben die unbewegliche Lichter unseres
Hauses am Meer. Das Haus scheint mir so wie eine Insel, eine Insel, auf der man sich
wohlfühlen kann, worauf uns niemand anstarrt, als ob wir anders wären und wo ich
glücklich sein kann, wenn ich vom Fenster aus aufs Meer schaue oder Zak umarmend in
den Sonnenuntergang fliege.
Wir verstehen uns gut und verbringen viel Zeit zusammen. Abends sitze ich vor
dem Kamin und höre Zak, der an Mells Piano ein Lied spielt. Das Lied erzählt von einem
schönen Mädchen mit großen dunklen Augen, in denen sich grüne verliebte Augen
spiegeln; ein Mädchen mit einem strahlenden Lächeln, ganz kurzen Haaren, und eine
Geschichte zu erzählen.
Das Mädchen aus dem Lied bin ich. Und meine Geschichte habe ich euch erzählt.
Ihr weißt schon: „Jeder denkt, seine Familie ist etwas Besonderes. Ich auch, aber meine
Familie ist besonders“. Ich bin sicher, ihr versteht, was ich meinte. Meine Familie ist zwar
besonderes, aber ich bin fest davon überzeugt: Die Liebe ist immer für alle gleich.
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