Alte Dienste neu aufgelegt Ist „alles über IP“

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Alte Dienste neu aufgelegt Ist „alles über IP“
BREITBANDZUGANGSNETZE
Alte Dienste neu aufgelegt
Ist „alles über IP“ heute bereits möglich?
Marc Kahabka
Die Evolution der TK-Netze geht
immer schneller hin zu vollständig IPbasierten Netzen. Die Gründe für
diesen Trend sind erstens
kommerzieller Natur, da IP-Netze
den Ruf haben, günstiger und
effizienter zu sein als bisher
eingesetzte TDM-Netze. Zweitens sind
IP-Netze eine generische Plattform,
um neue Dienste einfach und schnell
bereitzustellen. Mit Hilfe
einleuchtender Beispiele beschreibt
der Beitrag, was zu tun ist, um die
verbliebenen TDM-Dienste wie X.21,
V.24 und 64-kbit/s-Festverbindungen
intelligent in die All-IP-Welt zu
überführen.
Marc Kahabka ist Vertriebsleiter Deutschland,
Österreich & Benelux bei Keymile in Hannover
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und leider oft auch Low-Quality-VoIPUnerwartet kommt die Entwicklung
nicht: Netzbetreiber sowie SystemherProdukten bekommt, sind dem Endsteller haben die Migration in Richverbraucher bestens bekannt. Auch
neue Dienste wie Video on Demand
tung IP bereits vor vielen Jahren geoder Videotelefonie erfreuen sich
startet. Bereits paketbasierte Dienste
wachsender Beliebtheit.
wie Internetzugang und Voice over IP
Aufgrund der Medienpräsenz ent(VoIP) werden schon seit längerem
steht oft der Eindruck, dass es im Festüber IP-Ethernet-Netze transportiert.
netz darüber hinaus keine anderen
Auch TDM-basierte Kernnetze (i.d.R.
Themen mehr gibt. Doch das ist trüin SDH-Technik) sind durch Ethernetgerisch, denn ein Blick in die Bücher
over-SDH-Technik bereits seit einigen
der Netzbetreiber zeigt, dass die verJahren in der Lage, paketbasierte Zumeintlich alten Dienste die Margen ergangsnetze effizient und zuverlässig
wirtschaften. Bezüglich des Umsatzanzubinden. Die aktuellen Herausforvolumens sind zwar die neuen Thederungen bestehen darin, die restlimen wie DSL oft dominierend, jedoch
chen in Betrieb befindlichen TDMhat der intensive Wettbewerb der
Dienste auch weiterhin in der All-IPletzten Jahre im Privatkundenmarkt
Welt zuverlässig und qualitativ hochzu einem radikalen Preisverfall gewertig bereitzustellen.
führt. Vor allem die neuen Dienste
Diese Dienste werden oft noch über
sind zu einem Volumengeschäft getraditionelle Zugangsnetze realisiert,
worden, bei denen nur wenig Gewinn
die über SDH-Kernnetze vernetzt sind
hängen bleibt. Ein großer Anteil des
und deren Nachbestückung bzw. ReErtrags wird woanders verdient (Bild 1).
paratur aufgrund ihres Alters nicht
mehr
möglich
oder sinnvoll ist.
Daraus folgt, dass
viele Zugangsnetzstandorte mit gemischter
Infrastruktur (TDM und
IP) an zwei getrennte Kernnetze
(SDH und Ethernet) angebunden
werden müssen. Bild 1: Transparente n x 64-kbit/s-Übertragung im Überblick
Das lässt bei vielen (ONU – Optical Network Unit, OLT – Optical Line Termination, DLU – Digital Line Unit, DiV – Digitale Vermittlungsstelle)
Betreibern die Betriebskosten in die Höhe schießen. Die
Was sind die sog. alten Dienste? Das
einfachste Beispiel ist die traditionelle
Frage lautet also: Wie bekomme ich
Telefonie. Mit ihr machen die großen
die sog. alten Dienste auf das neue,
hochmoderne IP-Netz? Oder sinnbildService Provider immer noch fast die
lich: Wie bekomme ich meine SchallHälfte ihres gesamten Umsatzes. Die
platten in den MP3-Player?
meisten Telefonnetze sind abgeschrieben, so dass die Marge an diesem
Geld wird mit Sprache verdient Umsatzanteil in der Regel deutlich höher ist als bei den neuen Diensten.
Technisch betrachtet wurde der TeleHighspeed-Internetdienste und das
fonanschluss bisher über die TDMgute alte Telefon, das inzwischen
Technik realisiert. Die Übertragung
mächtig Konkurrenz von Low-Cost-
NET 3/11
Alte Dienste neu aufgelegt
wird in einem PDH/SDH-Transportnetz
mit einem 64-kbit/s-Zeitschlitz je
Sprachkanal zwischen den beteiligten
Teilnehmern über die Vermittlungsstellen transportiert. Für die klassische
Übertragung dieses Dienstes benötigt
der Netzbetreiber im Zugangsnetz
neben dem DSLAM für DSL-Dienste
herkömmliche Schmalband-Übertragungssysteme wie z.B. Optical Network Units (ONU), Digital Line Units
(DLU) usw. sowie eine dedizierte SDHKernnetzanbindung.
Zugangsnetzelemente der neuesten
Generation basieren auf paketorientierter Ethernet/IP-Technik. Die meisten Geräte sind in der Lage, mehrere
unterschiedliche Diensteschnittstellen
aus nur einem Netzknoten zu realisieren – daher bezeichnet man sie im Zugangsnetz als IP-Multiservice-AccessNode (IP-MSAN). IP-MSANs können
normale
Telefonanschlussleitungen
terminieren und in IP-Signalisierung
umsetzen. Die Nutzdaten werden in
Ethernet-Rahmen verpackt, die Signalisierung (z.B. Rufton, Dreierkonferenz, Rufnummernanzeige) wird mittels SIP-Protokollen oder auch H.248/
MeGaCo realisiert (Bild 2).
IP-MSANs mit hybrider Backplane wie
die Milegate-Produktfamilie von Keymile sind in der Lage, TDM und IP in
einer Plattform zu vereinen und stellen somit die ideale Plattform zum Migrieren der POTS- und ISDN-Telefonie
auf IP-basierte Netze zur Verfügung.
Somit ist es in nur einem Zugangsnetzelement möglich, POTS- und
ISDN-Leitungen über V5.2-Schnittstellen auf eine TDM-basierte digitale
Vermittlungsstelle (DiV) zu führen und
gleichzeitig mittels VoIP-GatewayFunktionalität die Telefonleitungen in
eine VoIP-Umgebung (Softswitch, IMS
usw.) zu integrieren (Bild 3).
Migration der Datenfestverbindungen auf Ethernet/IP
Die Umsetzung des Telefoniedienstes
auf VoIP ist bereits vielerorts in Betrieb. Eine neue Herausforderung ist
die Migration der TDM-Datendienste.
Diese werden oft für sicherheitskritische Applikationen genutzt. Aber
auch Service Provider in öffentlichen
Netzen haben noch immer viele TDM-
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geräten zu ersetzen oder auf EtherDatenapplikationen wie die Anbinnet umzurüsten. Im schlimmsten
dung von Geldautomaten, von ECFall könnte dies sogar einen AusCash-Terminals im Einzelhandel, von
tausch der Endgeräte und einen BeFernwirktechnik oder von Nebensteltreiberwechsel bedeuten.
lenanlagen im Einsatz.
Die beste Lösung für den Betreiber ist
Betrachtet man die schmalbandigen
also, die vorhandenen Endgeräte weiDatendienste mit n x 64-kbit/s-Strukterhin einzusetzen und die Vorteile
tur, könnte der Eindruck entstehen,
der neuen IP-Technik ausschließlich
dass die Umstellung auf Ethernet/IP
ein Leichtes wäre.
Dem ist aber nicht
so, da es sich hierbei zum einen oft
um Applikationen
mit anspruchsvollen Übertragungsanforderungen handelt (Taktgenauigkeit, Delay usw.),
und zum anderen
eine hohe Verfüg- Bild 2: VoIP-Kommunikation: IP-MSANs können normale Telefonanschlussleitungen terminieren und in IP-Signalisierung umsetzen
barkeit garantiert
netzintern zu nutzen. Um dies zu tun,
werden muss.
bedarf es im Netz einer Konvertierung
Betriebswirtschaftlich betrachtet wäre
von TDM- auf IP-Technik. Sie sollte
es am einfachsten, wenn sich alle
idealerweise so früh wie möglich
Kundenschnittstellen und Applikatiostattfinden, aber auch nicht so, dass
nen mit alten TDM-Schnittstellen auf
der Endkunde sie direkt wahrnimmt.
standardisiertes Ethernet migrieren
Die beste Stelle ist daher der Zugangsließen. Manchmal funktioniert das
knoten.
auch, es gibt jedoch oft wichtige
Gründe, warum dies nicht sinnvoll ist:
• Kommerzielle Aspekte: Die TDMAnforderungen an das
Festverbindungsdienste sind oft
Zugangsnetz
hochwertige Dienste, die dem Betreiber eine gute Marge bescheren.
Soll der Endkunde ohne einen WechStellt man den Endkunden auf
sel der Endgeräte bzw. NetzabschlussEthernet/IP um, erwartet er, dass
technik angebunden werden, muss
„alles nun billiger wird“ und ist oft
die Gateway-Funktionalität im Zunicht bereit, den bisherigen „hogangsknoten enthalten sein. Innerhen“ Preis zu bezahlen.
halb des Zugangsknotens kommt es
• Kundenbindung: Kunden nutzen
im Wesentlichen auf drei Funktionen
gern die Gelegenheit, sich bei eian, ohne die eine Migration der TDMnem Servicewechsel des bisherigen
Datendienste sowie DatenfestverbinAnbieters über eventuell bessere
dungen kaum möglich ist (Bild 4):
Konkurrenzangebote zu informie• Terminierung der n x 64-kbit/s-Interren. Erhält der Kunde nun einen
faces und Umsetzung auf Ethernet„normalen“
Ethernet-Anschluss,
Transport: Die Bezeichnungen der
bekommt er diesen eventuell auch
n x 64-kbit/s-Schnittstellenstandards
von einem anderen Netzbetreiber
fangen i.d.R. mit den Buchstaben X
für weniger Geld und wechselt.
und V an (z.B. X.21, V.35). Hierbei
• Operative Aspekte: Handelt es sich
handelt es sich um Protokolle der
z.B. um einen Großkunden mit vieOSI-Schicht 1 (innerhalb der OSIlen TDM-Applikationen an unterSchichten werden meistens IP-Pakeschiedlichen Standorten (Geldautote transportiert). Die OSI-Schicht 1
maten, Anschluss von Supermarktsollte im Zugangsknoten terminierfilialen usw.), ist es bereits aus opebar sein, so dass eine Umsetzung
rativen Gründen schwierig, hunderder Daten auf eine effizientere,
te oder gar tausende von TDM-Endmodernere und kostengünstigere
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Alte Dienste neu aufgelegt
Ethernet-Transporttechnik möglich
wird. Sind die Daten auf Ethernet
umgesetzt, kann man sie mit den
üblichen Möglichkeiten in Schicht 2
und 3 optimal durch ein paketbasiertes Backbone-Netz transportie-
Sind diese drei Funktionen im Zugangsnetzelement enthalten, ist der
Betrieb von TDM-Festverbindungen in
einem All-IP-Netz realisierbar. Einige
TK-Netzbetreiber betreiben bereits
heute solche Komplettlösungen.
schnell durch die Komplexität der benötigten QoS-Techniken überlagert.
Aus diesen Gründen verwenden Betreiber sicherheitsrelevanter Netze wie
Energieversorger, Bahnbetriebe und
andere im Kernnetz ausgereifte SDH-
Bild 3 (links): IP-MSANs mit hybrider Backplane können TDM und IP in einer Plattform vereinen
Bild 4 (oben): Terminierung der n x 64-kbit/s-Schnittstellen und Umsetzung auf Ethernet-Transport sowie Emulation von PDH-Kanälen über IP
ren und dem Endkunden-Layer 2
oder 3 VPN-Produkte anbieten.
• Verschaltbarkeit von 64-kbit/s-Kanälen (Grooming, Switching): In manchen n x 64-kbit/s-Strecken sind die
Zeitschlitze nicht gleichmäßig belegt, viele leere Zeitschlitze werden
unnötigerweise mitgeführt und belegen Kapazität in einem übergeordneten Signal wie einer E1/G.704
(PDH)- oder STM-1(SDH)-Strecke.
Um diese Strecken möglichst optimal mit 64-kbit/s-Kanälen zu füllen,
ist eine Verschaltbarkeit dieser Kanäle wichtig. Dies findet im IPMSAN statt.
• Emulation von PDH-Kanälen über IP:
Werden in einem PDH-Signal TDMInformationen transportiert, ist es
unumgänglich, das Signal möglichst
unverändert über ein IP-Netz zu
übertragen, also „zu tunneln“. Die
Signalisierungs- sowie Nutzdatenschicht bleibt dabei unangetastet.
Die Schwierigkeit einer solchen
TDM-Emulation besteht in der Replikation der hohen technischen
Anforderungen einer TDM-Übertragung, wie Taktung, Vermeiden von
Jitter und dauerhafte Reservierung
von Bandbreite (also der Nachbildung einer „verbindungsorientierten Verbindung“) in einem Paketnetz.
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Wie verhält es sich jedoch mit Anwendungen in sicherheitsrelevanten Netzen? Würden ein IT- und TK-Verantwortlicher eines Bahnbetriebes die
elektronischen Stellwerke über Ethernet-Netze anschließen? Oder gar das
Betriebszentrum eines Atomkraftwerks? Oder wäre ihnen das zu riskant?
Ist „alles über IP“ heute
bereits möglich?
Auch für das Kernnetz sind die Anforderungen an TDM-over-IP-Anwendungen hoch. Auf Datenstrecken, die
TDM-emulierte Daten transportieren,
darf z.B. keine Überbuchung stattfinden. In ATM-Netzen wären diese Anforderungen mittels Einteilung in Verkehrsklassen realisierbar. In EthernetNetzen hingegen ist eine Bandbreitenreservierung grundsätzlich nicht
möglich. Die Reserven müssen entweder in die Netzplanung einkalkuliert
werden (das Netz sollte großzügig
überdimensioniert sein), oder es wird
ein zusätzliches Protokoll wie MPLS,
PBB/PBT oder ähnliches zwecks Sicherstellung von hochwertigem Quality of Service (QoS) eingeführt. Das
Letztere ist wiederum teuer und komplex im Betrieb. Der große Vorteil von
Ethernet – die Einfachheit – wird dann
Transporttechnik. Die Vorteile einer
kanalgebundenen Übertragung sind
kurz gefasst: extrem schnelle Umschaltzeiten, fest definiertes Delay,
Synchronisation, Interoperabilität der
Netzelemente und vieles mehr. Daher
ist es für neue IP-basierte Zugangsnetzlösungen auch in Zukunft sinnvoll, z.B. SDH-Kernnetze mit entsprechenden Uplink-Schnittstellen zu unterstützen.
Fazit
Die Unterstützung beider Welten, der
TDM- und der IP-Welt, ist für Betreiber von sicherheitsrelevanten Netzen
nach wie vor unumgänglich. Aber
auch für Betreiber öffentlicher Netze
ist dies in einem marktwirtschaftlichen Umfeld, in dem für TDM-Dienste
hohe Preise bezahlt werden, wichtig.
Neue Übertragungsnetze sollten daher ebenfalls die vermeintlich alten
Dienste weiter unterstützen, um die
Dienste mit einem hohen Gewinnanteil möglichst lange am Leben zu erhalten. Ein MP3-Player mit Plattenspieler ist daher im übertragenen Sinne für den jeweiligen Betreiber eine
elegante Variante, die bis zum endgültigen Abschluss der IP-Netz- und
Dienstemigration eine sinnvolle Investition darstellt.
(bk)
NET 3/11

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